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118 ZTA 2 / 2015 Die PSI-Theorie ist eine jüngere neurokognitive Persönlichkeits- theorie. Sie ist eine experimentelle Theorie und nicht schulbezo- gen. Wie wir sehen werden, ist es interessant und sinnvoll, die PSI auf die TA anzuwenden und Wechselbeziehungen zwischen beiden Systemen darzustellen. In den 1990er-Jahren begann Julius Kuhl, Direktor des Instituts für Persönlichkeitspsychologie Osnabrück, seine Theorie der Per- sönlichkeits-System-Interaktion (PSI-Theorie, im Folgenden kurz PSI) zu veröffentlichen. Sie war aus seinen Forschungsarbeiten zur Willenssteuerung entstanden. Ich lernte sie zunächst innerhalb des Handbuchs zum PSSI-Test 1 kennen. Dann stieß ich 1998 auf ei- nen Artikel dazu in einem Handbuch zur Entwicklungspsycholo- gie von Heidi Keller, und endlich konnte ich die experimentellen Hintergründe in voller Breite in „Motivation und Persönlichkeit“ nachlesen. Inzwischen gibt es mehrere gute Darstellungen. Da ist einmal Kuhls „Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie“ und in praktisch lesbarerer Form „Die Kraft aus dem Selbst“ von Storch und Kuhl. Julius Kuhl ist experimentell arbeitender Persönlichkeits- und Kognitionsforscher und hat in den 1990er-Jahren eine Theorie der Persönlichkeit veröffentlicht. Theorie hat hier eine sehr anspruchs- volle Bedeutung, denn er verwendet den Begriff im naturwissen- schaftlichen Sinn. Demnach ist eine Theorie eine Theorie, wenn sie viele experimentelle Einzelbefunde zu einem zusammenhängenden System vereinigt, in dem diese Einzelbefunde auf grundlegende 1 Persönlichkeits-Stil-Störungs-Inventar Horst Kaemmerling PSI trifft TA FOCUS

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118 ZTA 2 / 2015

Die PSI-Theorie ist eine jüngere neurokognitive Persönlichkeits-theorie. Sie ist eine experimentelle Theorie und nicht schulbezo-gen. Wie wir sehen werden, ist es interessant und sinnvoll, die PSI auf die TA anzuwenden und Wechselbeziehungen zwischen beiden Systemen darzustellen.

In den 1990er-Jahren begann Julius Kuhl, Direktor des Instituts für Persönlichkeitspsychologie Osnabrück, seine Theorie der Per-sönlichkeits-System-Interaktion (PSI-Theorie, im Folgenden kurz PSI) zu veröffentlichen. Sie war aus seinen Forschungsarbeiten zur Willenssteuerung entstanden. Ich lernte sie zunächst innerhalb des Handbuchs zum PSSI-Test1 kennen. Dann stieß ich 1998 auf ei-nen Artikel dazu in einem Handbuch zur Entwicklungspsycholo-gie von Heidi Keller, und endlich konnte ich die experimentellen Hintergründe in voller Breite in „Motivation und Persönlichkeit“ nachlesen. Inzwischen gibt es mehrere gute Darstellungen. Da ist einmal Kuhls „Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie“ und in praktisch lesbarerer Form „Die Kraft aus dem Selbst“ von Storch und Kuhl.

Julius Kuhl ist experimentell arbeitender Persönlichkeits- und Kog nitionsforscher und hat in den 1990er-Jahren eine Theorie der Persönlichkeit veröffentlicht. Theorie hat hier eine sehr anspruchs-volle Bedeutung, denn er verwendet den Begriff im naturwissen-schaftlichen Sinn. Demnach ist eine Theorie eine Theorie, wenn sie viele experimentelle Einzelbefunde zu einem zusammenhängenden System vereinigt, in dem diese Einzelbefunde auf grundlegende

1 Persönlichkeits-Stil-Störungs-Inventar

Horst Kaemmerling

PSI trifft TA

FOCUS

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Variablen zurückgeführt und so einfacher erklärt werden können. Eine Theorie vereinfacht daher die Zusammenhänge und ist in sich wieder hochgradig durch die zahlreichen Einzelbefunde abge-sichert. Kuhl hat z. B. auch eine Vorstellung über die Entwicklung von Persönlichkeitstypen in seinem STAR-Modell vorgestellt, was er zurückhaltender als Modell bezeichnete, denn die hier vorge-stellten Zusammenhänge sind plausibel, aber eben noch nicht aus-reichend abgesichert. In diesem Sinn sind die Transaktionsanalyse und auch die Psychoanalyse Persönlichkeitsmodelle, und umfas-sendere Theorien sind innerhalb der Psychologie etwas seltenes.

Mit der PSI ist Kuhl ein theoretischer Durchbruch gelungen.

Kuhl unterscheidet sieben verschiedene Funktionsebenen der Persönlichkeit, die sowohl innerhalb der Evolution als auch in-nerhalb der Reifung eines Individuums aufzuzeigen sind und zu-nehmend Freiheitsgrade eröffnen. Das reicht von fundamentalen Gewohnheits- und Konditionierungsvorgängen, in denen Reak-tionsverkopplungen ohne jede Einsicht hergestellt werden, über eine vorwiegend emotionale Steuerung bis hin zum Verstehen von größeren Zusammenhängen und der Orientierung an stabi-len und komplexen Motiven. Diese Entwicklung ist an die Rei-fung kognitiver Systeme gebunden. Heute weiß man, dass über die Myelinisierung der Nervenfasern mit der Heranreifung eines Kindes sukzessive komplexere neuronale Strukturen in die Steu-erung einbezogen werden, die der Mensch so nach und nach zu beherrschen lernt.

Dieser Vorgang des Erwachsenwerdens ist schwierig und anstren-gend, auch wenn er biologisch gut vorbereitet ist. In seinem Be-streben, sich und seine Welt zu beherrschen, muss der Heranwach-sende lernen, verschiedene kognitive Systeme zu benutzen und sie situationsangemessen einzusetzen. Die Analyse dieser kognitiven Systeme und deren Interaktion hat der Theorie ihren Namen gege-ben: „Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktion“ – PSI.

Dass unser Gehirn kein homogenes Gebilde ist, sondern zahlreiche Untersysteme aufweist, die miteinander interagieren, ist bekannt. Da sind z. B. die Stammhirnsteuerungen unserer vegetativen Funk-

FOCUS

In diesem Sinn sind die

Transaktionsanalyse und

auch die Psychoanalyse

Persönlichkeitsmodelle, und

umfassendere Theorien sind

innerhalb der Psychologie

etwas seltenes.

1. Ein kurzer Überblick über die PSI

120 ZTA 2 / 2015

Horst Kaemmerling: PSI trifft TA

Die PSI ist eine

Handlungstheorie und erklärt

die Steuerung des Verhaltens.

2. Die Nieder­inferenten Systeme – IVS und OES

Einordnung des IVS

tionen. Da ist das limbische System mit seiner Wahrnehmungsin-tegration und der Generierung emotionalen Verhaltens. Da sind das Kleinhirn und die motorischen Endkerne. Und schließlich die beiden Hemisphären, die je unterschiedlich sind und in sich je-weils unterschiedliche Funktionsbereiche umfassen, z. B. den der Sprachsteuerung, der Wahrnehmung, der Motorik, der Problem-lösung usw..

Die PSI ist eine Handlungstheorie und erklärt die Steuerung des Verhaltens. Insofern ist sie eine Basistheorie für jede Psychothera-pie. In ihrem Mittelpunkt stehen vier kognitive Systeme. Zwei fun-damentale Systeme stehen dem Menschen bereits von Geburt an zur Verfügung und reifen innerhalb der frühen Kindheit zu ihrer vollen Funktionsfähigkeit heran. Über diese beiden Systeme lernt ein Mensch, sich vorwiegend im Geltungsbereich seiner Sinne und Emotionen zu bewegen. Kuhl nennt sie niederinferent, weil sie Daten nur in schmaler Bandbreite bearbeiten können, also weni-ger intelligent sind. Zwei andere Systeme erreichen erst innerhalb der Pubertät ihre volle Funktionsfähigkeit und erschließen einem Menschen ein großes Kontextwissen und die Bewältigung kom-plexer Handlungsaufgaben. Kuhl nennt sie höherinferent, weil sie Daten in großer Bandbreite bewältigen können, also intelligenter sind. Diese vier kognitiven Systeme haben unterschiedliche Aufga-ben in der Handlungssteuerung.

Die beiden niederinferenten Systeme sind das „intuitive Verhal-tenssystem“ (IVS) und das dissonanzsensible „Objekterkennungs-system“ (OES). Sie dienen der fundamentalen Verhaltenssteuerung und haben eigene Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmodalitäten.

Das intuitive Verhaltenssystem (IVS) ist die Energiezentrale der Person. Zu ihm gehören neurobiologisch die Basalganglien, die mit Teilsystemen des sensorischen Kortex und einem rechtspari-etalen Raumverstehen vernetzt sind. Sie haben auch Verbindungen zum limbischen System, das einen großen Anteil an der Generie-rung unserer Gefühle hat. In diesem System wird Information über neuronale Netze parallel-distributiv (ganzheitlich) verarbeitet. Im bewussten Erleben wirkt diese Verarbeitung daher intuitiv und kann nicht analytisch verstanden werden.

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FOCUS

Das IVS im eigenen Erleben

Dieses System müssen wir aktivieren, um uns selbstmotiviert in Bewegung zu setzen. Hier erleben wir unsere Handlungsenergie. Inhaltlich gehören zum IVS automatisierte motorische Handlungs-pläne. Das sind gelernte und allmählich subkortikal gewordene Fertigkeiten, für die wir keine planenden Anstrengungen mehr be-nötigen. Dazu kommen viele angeborene soziale Grundfertigkei-ten, wie das Beeltern der Kinder, unsere meisten Gefühle bis hin zu den archetypischen Bildern und Rollen, wie sie C.G. Jung nennt: Animus und Anima, Vater, Mutter, Kind u. a. Solche Muster, man denke nur an das bekannte Kindchenschema aus der Verhaltens-forschung, sind biologisch tief im Menschen verankert und leiten ihn, oft ohne dass er sich ihrer bewusst ist. Um ihr unruhiges klei-nes Kind zu beruhigen, wechselt eine Mutter beispielsweise intuitiv in eine höhere Stimmlage, ohne das planen zu müssen.

Unter der Dominanz dieses Systems erleben wir alles sehr sinnes-nah. Wir erleben die Umwelt als positiven Handlungsraum. Da sind die Farben, Töne und Gerüche, da ist der Raum als gefühlte Ausdehnung der Welt. Alle Dinge besitzen eine Art Aufforderung zum Zugreifen, Benutzen und Erleben. Alles wirkt plastisch und zusammenhängend. Reaktionen können so schnell erfolgen, dass wir sie wie automatisch erleben, doch ohne irgendeine Verfrem-dung. Da ist oft kein Nachdenken zwischen Sehen und Tun. Wenn wir uns leicht, unbekümmert und energievoll bewegen, uns sicher auf Ziele ausrichten, mit Begeisterung dabei sind, dann ist dieses System aktiviert. Hier ist unsere Aufmerksamkeit weit gerichtet, sodass wir uns durch ganze Szenerien bewegen.

Konkret: Stellen wir uns z. B. ein Kind in seinem Spiel vor. Es sieht die Dinge in seiner Umgebung und ergreift Besitz von ihnen, um seine Ideen in Taten umzusetzen. Das Kind wirkt frei und voller Energie. Beim Erwachsenen ist dieses Zentrum meist stärker in komplexe Handlungen integriert, sodass man es seltener allein für sich wirkend erlebt. Dennoch ist es auch beim Erwachsenen gut zu identifizieren. Dies ist unser Verhaltenszentrum. Man kann sagen: Hier liegt unsere Energiezentrale. Dieses Zentrum vermittelt am stärksten den Eindruck von Vitalität und Lebendigkeit.

Hier sehen wir den Baum, auf den man klettern, das Meer, in das man hineinspringen, Steine, aus denen man etwas bauen kann.

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Horst Kaemmerling: PSI trifft TA

Einordnung des OES

Das OES im eigenen Erleben

Der Himmel ist weit und die Welt voller Aufforderungen. Das geht in unsere Sinne, in unsere Hände und Füße. Schnell und wie von selbst gehen die Bewegungen von der Hand. Spontan stellen wir uns als Erwachsene auf den Dreijährigen ein und wechseln die Tonlage, wenn wir einen Achtjährigen vor uns haben. Unmittelbar verstehen wir die Welt.

Das handelnde System des IVS hat als Gegenspieler ein auf Be-obachtung spezialisiertes System. Wenn wir in diesen Beobach-tungsmodus wechseln, bremsen wir die Handlungsimpulse und verändern unsere Aufmerksamkeit. Die Wahrnehmung engt sich ein, denn sie dient nun nicht mehr dazu, uns in flüssiger Bewegung zu halten, sondern die Umwelt nach besonderen und beunruhigen-den Einzelheiten abzusuchen. Wir nehmen Situationen nicht mehr ganzheitlich wahr, sondern obkjektzentriert. Anstelle eines Zu-sammenfließens aller Sinnesorgane konzentrieren wir uns auf ein-zelne Sinne wie das Sehen, das Hören usw. Denn dieses System, die Zentrale der Gefahrenaufmerksamkeit, arbeitet mit einer sequen-ziellen (schrittweisen) Informationsverarbeitung. Daher treten aus dem OES die Einzelsignale klar ins Bewusstsein. Kuhl nennt es das System der dissonanzsensiblen Wahrnehmung und bezeichnet es als das Objekterkennungssystem (OES).

Auch dies System lässt sich neurobiologisch mit einem Netzwerk sensorischer Teilsysteme in Verbindung bringen. Dazu gehören pa-rietale, occipitale und besonders linksseitige inferotemporale Kor-texgebiete, die an der Integration von Einzelempfindungen und von wiedererkennbaren Objekten beteiligt sind. Während das IVS Handlungsräume integrieren soll, dient das OES dazu, Einzelsig-nale kontextunabhängig sicher zu erkennen, um ein gefährliches Signal schnell zu erfassen.

Unter der Dominanz dieses Systems stehen Einzelwahrnehmungen im Vordergrund. Stellen wir uns z. B. ein spielendes Kind vor. Es wurde bei einer seiner Aktionen erschreckt. Es unterbricht seine Bewegungen und hemmt damit seine Spontaneität. Die Art seiner Wachheit verändert sich. Es sieht die Welt mit ihren Dingen nicht mehr als Möglichkeiten seines Tatendrangs, sondern als Raum von Gefahren. Seine Aufmerksamkeit wird nun auf einzelne Signale ge-richtet. Auf ein Geräusch, eine Stimme, das knackende Eis, den

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FOCUS

3. Die höher­inferenten Systeme – EG und IG

brechenden Ast. Jetzt steht genau dieses Moment im Mittelpunkt. Knackt es irgendwo noch mal? Sieht man Risse im Eis? Gibt es verdächtige Geräusche, Bewegungen, Veränderungen?

In diesen Zustand wechselt auch ein Kind, das kritisiert wird. Es erstarrt motorisch und kontrolliert Einzelbewegungen, um nichts verkehrt zu machen. Die eingeengte Aufmerksamkeit auf einen Bewegungsablauf kann allerdings dazu führen, dass man mit der anderen Hand etwas umstößt. Oder ein Kind, das Schularbeiten machen muss. Es bemüht sich z. B., sich nicht zu verschreiben. Minutiös folgt sein Auge der Handbewegung. In diesen Beobach-tungszustand wechselt jemand nicht nur, wenn ihn Gefahrensigna-le erreichen, sondern auch bewusst, wenn er gezielt Fehler sucht. Wir können diesen Zustand später auch gut beim Erwachsenen beobachten, dort allerdings oft eingebettet in weiter gespannte Zu-sammenhänge.

Da ist der Hund, der einen beißen könnte. Oder der Fehler im Diktat, der nicht hätte passieren dürfen. In der Prüfung sieht man das unzufriedene Gesicht des Prüfers, die Falte auf seiner Stirn. Zu Hause das Türschloss, das nicht in Ordnung ist, und drinnen auf dem Tisch das schmutzige Glas. Die Welt zerfällt in Einzelheiten, die bedacht werden wollen, die Sorgen machen, vielleicht bedroh­lich sind. Vorsichtig sein, kein Raum für Tanzen und Springen, wohl aber für schnelles Reagieren, wenn etwas verkehrt läuft.

Diese beiden Systeme – IVS und OES – dominieren in der Entwick-lung eines Menschen die Kindheit, denn die höherinferenten Syste-me werden erst nach und nach im Rahmen der Ummantelung der Nervenfasern hinzugeschaltet. Sie können auch parallel aktiviert werden, wobei eines meistens dominiert.

Wechseln wir nun zu den beiden erst in der Pubertät ausgereif-ten höherinferenten Systemen über. Diese sind das Extensionsge-dächtnis (EG) und das Intentionsgedächtnis (IG). Höherinferent bedeutet, dass hier Daten in großer Bandbreite aufgenommen und verarbeitet werden können. Eine familiäre Situation mit ihren Hin-tergründen, ein betriebliches Problem, eine schwierige Entschei-dungssituation, abstraktes Wissen. Dies ist der Bereich, wo unsere

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Horst Kaemmerling: PSI trifft TA

Einordnung des Fühlens bzw. des EG

Das Extensionsgedächtnis ist

unser Systemverstehen.

Aus einem biografischen

Wissen wird hier ein

systemisches Wissen.

Gedankenwelt entsteht, wo wir Theorien entwickeln oder Situa-tionen beurteilen können. Es ist der Bereich von Geist und Wis-sen. Auch bei diesen beiden Systemen findet sich der Unterschied zwischen ganzheitlicher (parallel distributiver) und fokussierter sequenzieller Informationsverarbeitung.

Wir lernen jeden Tag und nennen das Erleben und haben Er-lebnisse. Wir unterscheiden damit sprachlich zwischen unserem Wissen und unseren Erlebnissen oder Erfahrungen. Erlebnisse werden zu einem zusammenhängenden, aber nach einiger Zeit größtenteils unbewussten Informationsnetz versponnen. Eine wichtige Funktion hat hier der Hippocampus, der komplexe Erfahrungen zwischenspeichern und sie dann in kortikale Asso-ziationsfelder einspeisen kann. Dies ist unser biografisches Ge-dächtnis. Der Begriff ist allerdings etwas irreführend, denn dieses kognitive System hat nicht die Aufgabe, ein Logbuch des Lebens anzufertigen, sondern soll die anfallenden Erlebnisse zu einem Welt- und Selbstwissen verdichten. Dabei entstehen ausgedehnte Erfahrungs- und Wissenslandschaften. Dieses Gebilde schier un-endlicher Erfahrungen und Einsichten nennt Kuhl daher unser Extensionsgedächtnis (EG).

Extensionsgedächtnis deshalb, weil es assoziativ so ausgedehnt ist. Innerhalb des EG werden zu den Kognitionen auch die zugehö-rigen Körperempfindungen, Motive und Gefühle einbezogen und zu einem Teil unseres Erfahrungsnetzes. Das Extensionsgedächtnis ist in der Lage, fortlaufend Erfahrungen aufzunehmen und diese als dynamische Systeme abzuspeichern. In einem Unternehmer, der lange Zeit seinen Betrieb geleitet hat, entsteht so nach und nach ein intuitives Modell seines Unternehmens. Ähnlich entwickelt jeder Mensch interne Modelle anderer Wirklichkeitsbereiche, in denen er längere Zeit lebt und handelt. Diese Modelle erlauben ihm, in-tuitiv die Möglichkeiten und Folgen seines Verhaltens zu erfassen. Aus einem biografischen Wissen wird hier ein systemisches Wissen.

Wegen dieser hohen systemischen Erfassungsfähigkeit komplexer Zusammenhänge bezeichnet Kuhl das EG als unsere höchste Intel-ligenzform. Seine Funktion ist das Fühlen. Fühlen bedeutet etwas anderes als Gefühle, die in den niederinferenten Bereichen generiert werden. Die Fülle unseres Extensionsgedächtnisses ist verbal nicht

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FOCUS

Das Selbst ist das System,

aus dem heraus wir Motive

oder gar Lebensziele spüren

können.

Das Fühlen im eigenen Erleben

auszuschöpfen. Dazu sind diese assoziativen Verbindungen zu viel-schichtig. Im System des EG bewegt sich ein Mensch fühlend durch „implizite ganzheitlich organisierte Wissenslandschaften“. Wie das IVS ist auch das EG ein parallel-distributiv arbeitendes kognitives System, das rational nur schwer zu analysieren ist und das dem Be-wusstsein komplexe Ideen als intuitive Problemlösungen anbietet.

Im Zentrum dieses Wissens steht das Wissen um die eigene Stel-lung in der Welt, mit den eigenen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Ängsten. So entsteht ein umfassendes Schema, das Kuhl als unser Selbst bezeichnet. Das Selbst integriert unsere wirklichen Erfah-rungen und Annahmen über uns und unterscheidet sich damit von unseren expliziten Annahmen über uns, die im Ich, unserer be-wussten Handlungszentrale, gespeichert werden. Das Selbst ist das System, aus dem heraus wir Motive oder gar Lebensziele spüren können. Wegen seiner Vielschichtigkeit können wir uns auch in sich ändernden Situationen zwischen Motivaspekten bewegen und so den Wechsel von Situationen optimal nutzen. Weil das Fühlen körperliches, emotionales und bewusstes Wissen verbindet, ist es auch für unser psychosomatisches Funktionieren zuständig. Neu-robiologisch ist beim Fühlen an den rechten präfrontalen Kortex (Stirnhirn) zu denken, mit seinen Vernetzungen zu Assoziationsfel-dern der rechten Hemisphäre und seinen Verbindungen zur emoti-onalen und zur Körpersteuerung.

Kennzeichnend für die Dominanz dieses Systems ist das ganzheit-liche Erleben. Da sind mein Körper, die Dinge um mich herum, meine Gefühle, viele interessante Gedanken. Das geht mit einem Gefühl von Weite und Offenheit einher. Wenn etwas nicht funkti-oniert, kann ich mich rasch auf andere Möglichkeiten umstellen. Im Fühlen bin ich schwingungsfähig. Die Motorik ist gleichzeitig kontrolliert und spontan. Der Körper wird nicht so sehr benutzt, sondern erlebt. Die Emotionalität ist integriert, ohne dass die Af-fekte die Kontrolle über mein Verhalten erlangen. Komplexe Situ-ationen und Systeme, wie eine Organisation, ein Betrieb, andere Menschen, erfasse ich nach einiger Zeit der Erfahrung wie aus dem Bauch heraus. Ich brauche vielleicht längere Zeit, um mich auf ein Problem einzustellen, dann aber beginne ich plötzlich zu ver-stehen. Zusammenhänge verstehe ich, ohne dass ich genau sagen kann, wie ich darauf gekommen bin.

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Horst Kaemmerling: PSI trifft TA

Einordnung des Denkens oder des IG

Das Intentionsgedächtnis ist

unser Zielverständnis.

Befreiend ist es, sich selbst zu verwirklichen, sich in dem zu erle­ben, was man tut. Wem das nicht möglich ist, der fühlt sich ent­fremdet, eingezwängt. Menschen können ganz verschiedene Ziele spüren. Schön ist es, nach Jahren der lernenden Unsicherheit mit routinierter Sicherheit seinen Beruf auszufüllen. Wie von selbst fallen einem die Lösungen ein. Verlieren wir diesen Kontakt, wird das Leben seltsam flach.

Wir kommen nun zum vierten unserer kognitiven Makrosysteme. Das Denken ist der Ort unserer bewussten Wahrnehmung und der begrifflichen Ordnung unseres Sprechens. Hier findet unser rati-onales Verstehen der Welt statt. Das ist das System, das wir am stärksten mit unserem erwachsenen Menschsein verbinden. Neu-robiologisch ist an den linken präfrontalen Kortex (Stirnhirn) zu denken mit seinen Vernetzungen zu Assoziationsfeldern der linken Hemisphäre. Mit dem Körper und den Gefühlen ist das Denken kaum vernetzt. Als sequenziell arbeitendes System sind seine Ar-beitsschritte dem Bewusstsein jederzeit zugänglich.

Das Denken stellt uns unser explizites Wissen abgreifbar zur Ver-fügung. Es wird daher auch als deklaratives Gedächtnis bezeich-net. Das Denken als Wissenssystem zu verstehen ist zu kurz ge-fasst. Sein eigentlicher Sinn besteht in der Zielerreichung. Kuhl nennt es daher das Intentionsgedächtnis (IG), denn hier werden aktuelle Ziele festgehalten und Strategien der Zielerreichung über-legt und fixiert. Das ist notwendig, wenn Ziele nicht unmittelbar und intuitiv über das IVS erreichbar sind. Das deutet schon auf einen Unterschied zum Extensionsgedächtnis. Während wir dort die Fülle unserer Möglichkeiten fühlen können, konzentrieren wir uns im Denken auf einzelne isolierte Ziele mit ihren Erreichungs-möglichkeiten. Wir haben es nicht mit einer ganzheitlichen, son-dern – wie beim OES – mit einer auf Einzelheiten ausgerichteten Funktion zu tun. Das Denken arbeitet sequenziell und analytisch. Darin liegt auch seine Stärke. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf einzelne Objekte und verstehen deren Zusammenwirken und können logische Unstimmigkeiten erkennen.

Die Fähigkeit zur logischen Stimmigkeitsprüfung ist eine wichtige Qualität des Denkens. Das Denken arbeitet wie das OES sequen-ziell, d. h. schrittweise. Aber während das OES als niederinferen-

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FOCUS

Das Denken im eigenen Erleben

4. AffekteDie erste Modulations­hypothese

tes System sinnesnah arbeitet, kann das Denken größere und auch abstrakte Zusammenhänge erfassen und hier logische Fehler ent-decken. Über das Extensionsgedächtnis kann ich erfassen, ob ein Beruf zu meiner Persönlichkeit passt, ob er richtig für mich ist. Mithilfe des Denkens werde ich herausfinden, was ich tun muss, um in einen solchen Beruf hineinzukommen. Eng mit dem Den-ken verbunden liegt im linken präfrontalen Kortex auch das Ich-Bewusstsein, als bewusste Exekutive unseres Handelns.

Diese Fähigkeit logischer Analyse hat die Menschen immer wie-der beeindruckt. Sokrates und auch Buddha haben versucht, über sorgfältiges Argumentieren zu den höchsten Erkenntnissen vorzu-dringen. In der Aufklärung erschien der Weg der Vernunft und Rationalität als der Weg schlechthin, den vielen Irrationalitäten des Menschen konstruktiv zu begegnen. Hier scheint der Mensch wirklich erwachsen zu werden. Peter Bieri verbindet mit dem Den-ken den Raum, in dem wir „das Handwerk der Freiheit“ erlernen können. Gleichzeitig spüren wir beim denkenden Menschen eine gewisse Enge, eine Schwierigkeit, herzlichen Kontakt herzustellen. Man findet oft auch ein Versagen, dem Leben ein Sinngefühl geben zu können, und eine gewisse Hilflosigkeit bei komplexen Entschei-dungen, die das Denken überfordern.

Rational und trocken, aber auch von beruhigender Klarheit ist die-se Art, sich in der Welt zu orientieren. Die Dinge sind richtig oder verkehrt oder noch unklar. Am besten lassen wir alle Aufgeregtheit hinter uns und finden die eine, richtige Antwort. Probleme lassen sich wie Knoten auflösen und sauber durchdenken. Dann findet sich die korrekte Lösung. Auch Werte sind einfach und eindeutig. Vielleicht Elternmaximen. Und doch bleibt das Herz irgendwie leer. Wenn sie es mit Mehrdeutigkeiten zu tun bekommen, reagie-ren Menschen in diesem System manchmal mit hilfloser Wut. Und besonders jene Menschen, die rationale Richtigkeit missachten, machen sie ratlos.

Jede der vier kognitiven Systeme hat in der Gesamtsteuerung eine andere Aufgabe. Deshalb kommt es darauf an, diese Systeme si-tuationsnah unterschiedlich zu aktivieren bzw. zu hemmen. Diese Aufgabe erfüllen die Affekte. Wir haben zwei affektive Systeme,

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Horst Kaemmerling: PSI trifft TA

Positiver Affekt bahnt den

Willen und hemmt das

Denken.

Experimentell zeigt es sich,

dass bei zunehmendem

positivem Affekt Menschen

in der Tat weniger komplex

denken.

Die zweite Modulations­hypothese

je für positiven und negativen Affekt. Beide Systeme arbeiten oft antagonistisch, können aber auch gleichzeitig aktiviert werden.

Positiver Affekt entsteht bei der Annäherung an attraktive Ziele und mobilisiert den Handlungsvollzug, indem er das IVS aktiviert. In elementarer Form können wir das bei jedem Kind beobachten, das ein Geschenk sieht und darauf zurennt. Auch der Erwachse-ne braucht, um selbstbestimmt handeln zu können, diese affektive Aktivierung des IVS. Bricht der positive Affekt, z. B. im Rahmen einer Depression, weitgehend zusammen, können auch einfachste Handlungen kaum noch vollzogen werden. Positiver Affekt bricht regelmäßig ein, wenn Frustrationen emotional eine Nichterrei-chung des Ziels ankündigen.

Positiver Affekt hemmt gleichzeitig das Denken, weil Denken und Handeln zwei verschiedene Funktionskreise darstellen. Er balan-ciert dadurch beide Systeme in einer antagonistischen Weise aus. Ich erinnere mich, dass ich als jugendlicher Schachspieler gerade kurz vor dem Ziel am meisten gefährdet war, gefährliche Momente zu übersehen, und mir dadurch so manche Niederlage eingehandelt habe. Experimentell zeigt es sich, dass bei zunehmendem positivem Affekt Menschen in der Tat weniger komplex denken. Wird nun bei Frustration der positive Affekt gehemmt, so wird das Denken enthemmt. Der Einfluss des Denkens auf das Handeln wird grö-ßer. Um zu lernen, mit schwierigen, d. h. nicht intuitiv lösbaren, Aufgaben erfolgreich umzugehen, muss ein Mensch lernen, seinen handlungsaktivierenden Affekt so zu steuern, dass er einerseits sei-ne Energie unter Frustration nicht verliert, andererseits sein prob-lemlösendes Denken nicht hemmt. Er tut das durch eine abwech-selnde mentale Zielaktivierung und Schwierigkeitsaufmerksamkeit. Ist er überintuitiv, so bewegt er sich meist nur auf der Ebene leichter Ziele; ist er affektiv zu sehr gehemmt (überanalytisch), so findet er aus handlungsvorbereitendem Denken nicht heraus.

Die Wahrnehmung von Gefahr aktiviert negativen Affekt und konzentriert die Aufmerksamkeit auf das OES. Negativer Affekt hemmt das EG. Das ist sinnvoll, weil unter Gefahr nicht die Kon-gruenz des Handelns mit den Bedürfnissen des Selbst wichtig ist, sondern die Beseitigung einer aktuellen Gefährdung. Zudem sind die niederinferenten Systeme schneller als die höherinferenten. Ist

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FOCUS

Lernfenster

5. Die Bedeutung der PSI für die TA

die Gefahr beseitigt, so fällt der negative Affekt ab und das EG wird wieder aktiviert. In der Gefahr verliert daher ein Mensch vo-rübergehend seinen Zugang zu den intuitiven Wissenslandschaften des EG. Das ist sinnvoll, wird aber immer dann gefährlich, wenn das im EG vorhandene Wissen zur Problemlösung dringend nötig ist. Ein Prüfungskandidat, der eine Antwort nicht sicher weiß, sie aber assoziativ finden könnte, ist unter der Angst vor dem eigenen Versagen oft nicht mehr in der Lage, seine eigenen Wissensmuster zu benutzen. Im Normalfall führt negativer Affekt aber zu einer Balance zwischen Risikowahrnehmung und Motivation, die sich je nach Affektivität verschieben kann.

Interessant ist die Plastizität besonders der höherinferenten Syste-me, die sich im Augenblick ihrer Teilhemmung eröffnet. Wird das EG nach einer Phase der Hemmung wieder aktiviert, so findet in der Phase seiner Teilaktivierung und gleichzeitig noch andauern-den Dominanz des OES ein Informationsaustausch zwischen bei-den Systemen statt. Kuhl spricht von einem Lernfenster, das sich hier öffnet und dafür sorgt, dass das EG sich strukturell an eine gefährliche Realität anpasst. Die fundamentalen Systeme „erden“ im Rhythmus des Affektwechsels die höherinferenten Systeme. Konkret heißt das, dass ein Mensch in Krisen dadurch lernt, dass er den Schmerz an sich heranlässt und ihn sinnvoll einordnet. Das funktioniert nicht über das Denken, sondern nur über das für emo-tionale Bedeutsamkeiten zugängliche Fühlen. Andererseits sollte ein Mensch auch lernen, die hemmende Wirkung schmerzhafter Erfahrungen zu begrenzen, um nicht durch Kränkungen, Beschä-mungen und Ängste in seinem Handeln gelähmt zu werden. Das kann er durch eine bewusste Aktivierung des EG, weil das EG an-tagonistisch gegenüber negativem Affekt wirkt. Konkret bedeutet das: Wenn es einem Menschen gelingt, einem Schmerz einen Sinn zu geben oder ihn in seiner Bedeutung zu begrenzen, nimmt der Schmerz ab.

Die PSI beschreibt eine neuronale Struktur mit ihren Prozessen und ist nicht auf bestimmte Inhalte bezogen. Im Kern beschreibt sie eine kognitive Architektur der Persönlichkeit und deren affek-tive Steuerung. Diese Prozessorientierung bringt sie in eine neutra-le Position gegenüber anderen Therapieschulen. Der Umgang mit

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Horst Kaemmerling: PSI trifft TA

Auch die Transaktionsanalyse

beschreibt eine kognitive

Architektur der

Persönlichkeit und deren

affektive Steuerung.

schwierigen Zielen, die Lähmung des eigenen Wollens, die Fähig-keit, komplexe Systeme zu verstehen und mit ihnen umzugehen, – das kann auf jeden zugehörigen Inhalt angewandt werden.

Auch die Transaktionsanalyse beschreibt eine kognitive Architek-tur der Persönlichkeit und deren affektive Steuerung, wobei sie in erster Linie die Eltern als Quelle dieser affektiven Steuerung aus-macht. Aber auch hier können wir zum besseren Verständnis auf die vier kognitiven Modi zurückgreifen. Es ist daher sinnvoll, beide Darstellungen des Psychischen miteinander zu vergleichen. In erster Linie bieten sich die Ichzustände und das damit verbundene Ins-tanzenmodell für diesen Vergleich an. Im Anschluss daran könnte man auch die anderen Teilgebiete der Transaktionsanalyse unter-suchen, also die Skripttheorie, die Transaktionsanalyse im engeren Sinn und die Spieletheorie. Das soll hier jedoch nicht geschehen. Zur Vertiefung des hier Dargestellten verweise ich auf meine beiden ersten Bände „Psychologie“ (Kaemmerling 2012, 2015).

Gravierende und oft lebenslang anhaltende Probleme entstehen bei einer nicht überwundenen kindlichen kognitiven Deutung des eigenen Lebensraums. Werden diese (nicht angemessenen) kindlichen Deutungen beim Erwachsenen aktiviert, so spricht man in der Transaktionsanalyse von einer Aktivierung des Kind-Ichzustands. Handelt jemand hingegen aus seiner ungestörten er-wachsenen Kompetenz heraus, so spricht man vom Erwachsenen-Ichzustand als leitender Instanz. (Den Eltern-Ichzustand lasse ich hier erst einmal beiseite.) Aus der Sicht der PSI überlagern sich hier zwei Momente. Da ist einmal ein zeitlicher Aspekt. Innerhalb einer biografischen Entwicklung stören bei einem K / ER-Konflikt alte Problemverarbeitungsmechanismen aktuelle erwachsene. Und dann gibt es einen neurosystematischen Aspekt. In den ersten fünf Lebensjahren dominieren allein die niederinferenten Systeme das Verhalten des Kindes. Wenn wir vom Kind- und vom Erwachse-nen-Ichzustand sprechen, sprechen wir einerseits von früher und jetzt und andererseits von der Dominanz niederinferenter Systeme beim Kind und von der Kontrolle des Verhaltens durch hochinfe-rente Systeme beim Erwachsenen.

In seiner Entwicklung muss ein Mensch das Zentrum seiner Steu-erung von den niederinferenten Systemen hin zu den hochinferen-

ZTA 2 / 2015 131

FOCUS

Wenn die Transaktions­

analyse vom Kind­Ichzustand

spricht, dann meint sie in

der Regel die Dominanz

niederinferenter Systeme.

ten Systemen verlagern. Das ist ein schwieriger Prozess, den wir Erwachsenwerden nennen. Störungen, wie sie u. a. die Transakti-onsanalyse beschreibt, stellen Störungen dieses Funktionswandels dar. Zu ihrer Darstellung benutzt die TA gerne und erfolgreich das Ichzustands-Modell. Darüber ist viel geschrieben worden. Ich lasse aber bewusst die Diskussion um die Ichzustände und ihre Bedeu-tung fort. Es erscheint mir sinnvoller, die psychische Architektur, wie sie die Transaktionsanalyse beschreibt, auf die Architektur der Psyche aus Sicht der PSI zu beziehen. Wir werden sehen, dass sich die Zusammenhänge dann recht übersichtlich, wenn auch kom-plex, gestalten.

Es ist zunächst wichtig, sich klarzumachen, dass die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen mit einem Systemwechsel, einer neu-ronalen Erweiterung einhergeht. Entsprechend ist auch der Wechsel zwischen K und ER mit einem Wechsel makrokognitiver Systeme verbunden. Der Zusammenhang ist folgender: Wenn die Transak-tionsanalyse vom Kind-Ichzustand spricht, dann meint sie in der Regel die Dominanz niederinferenter Systeme. Ein Kind funkti-oniert ausschließlich auf niederinferenter Ebene und besetzt die Vorformen erwachsener Instanzen, das K1, das ER1 und das EL1. Beim Erwachsenen sind verschiedene Formen der Regression in den Kind-Ichzustand zu unterscheiden. In der pathologischen Regres-sion wechselt jemand aus seinem Erwachsenen-Ichzustand in den Kind-Ichzustand, weil frühe affektive Muster (z. B. Skriptentschei-dungen) dominieren und diesen Wechsel erzwingen. Deren Affekte hemmen das erwachsene Denken und aktivieren das IVS bzw. OES.

In einer gesunden Regression findet ebenfalls ein Systemwechsel statt, wenn zum Beispiel in einer Paarbeziehung punktuell und ab-wechselnd ein Partner regrediert und vom anderen entsprechend versorgt wird. Eltern und Erzieher können sich aus dem Erwach-senen-Ichzustand heraus kindlich verhalten, wenn sie mit Kindern spielen. In diesem Fall findet ein neuronaler Systemwechsel nur in geringem Ausmaß statt. Beim Jugendlichen, der an seinem ei-genen Gestaltwandel arbeitet, kommt es zu häufigen spontanen Wechseln zwischen Ichzuständen und der wechselnden Dominanz von hochinferenten und niederinferenten Systemen. Diese Wechsel sind hilfreich, um eine Vernetzung der Makrosysteme zu erreichen. Das IVS (Intuitive Handlungssystem) ist aber auch Teil erwach-

132 ZTA 2 / 2015

Horst Kaemmerling: PSI trifft TA

Funktionsmodell

senen Verhaltens. Bei normalen erwachsenen Handlungsabläufen wechselt ein Mensch, wenn er Handlungsenergie freisetzt, spontan ins IVS. In diesem Fall spricht die Transaktionsanalyse nicht von Kind- und Erwachsenen-Ichzustand. Lediglich im Egogramm wird die Leichtigkeit der Systemaktivierungen als Ichzustands-Aktivie-rungen auf der Funktionsebene (Verhaltensmodi) erfasst.

Interessant ist noch folgender Fall. Der pathologische Wechsel kann auch als gesunde Form der Regression gewollt herbeigeführt werden. In der Therapie werden absichtlich störende Schemata aktiviert bzw. auftretende verstärkt, um sie verändern zu können. Man kann das eine gesunde Regression zum Zweck der Ausei-nandersetzung mit alten Botschaften nennen. Das geschieht z. B. in der Skriptarbeit. Hier müssen z. B. frühe Entscheidungen erst aktiviert werden, damit sie verändert werden können. Das wird normalerweise im Rahmen der biografischen Zeitachse geschehen. Man geht in der Fantasie in eine Situation aus der Kindheit hi-nein, aktiviert damit das Störungsschema und stellt es in seinen ursprünglichen Kontext.

Aus der PSI ergeben sich eine Erklärung und eine weitere Perspek-tive. Voraussetzung für eine Neuentscheidung ist die willentliche Regression auf das niederinferente Systemniveau, sodass dysfunk-tionale Schemata in ihrer Bedürfnisstruktur erlebt werden kön-nen, gleichzeitig aber das hochinferente Systeme, wieder Kontrolle über diese Muster erlangen kann. Der Klient kann dann die Rich-tung dieser Schemata verändern, indem er das Schema bewusst aufnimmt und als motorisch-vegetatives-motivationales Erlebnis spürt und nun verändert. Dabei ist besonders der motivationale Aspekt wichtig. Die Veränderung ist möglich, weil in einer solchen willentlich bewussten Haltung sowohl das niederinferente als auch hochinferente Systeme, aktiviert sind und zwischen beiden Syste-men Informationen ausgetauscht werden. Der Austausch muss lange genug dauern und tief genug sein, damit ein Umbau gesche-hen kann. Dieser Aspekt ist besonders dort hilfreich, wo frühe Er-lebnisse nicht mehr kognitiv erreichbar sind, der Klient daher nur am Skriptschema selbst arbeiten kann.

Gehen wir weiter zum Funktionsmodell. Die Transaktionsanalyse unterscheidet hier zwischen einem freien (fK) und einem angepass-

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FOCUS

Die zunächst verwirrend

erscheinende Sprachvielfalt

innerhalb der TA erhält

so eine sinnvolle und gut

verständliche Transparenz.

ten (aK) Kind. Wechselt ein Mensch zwischen diesen Funktions-zuständen, so wechselt er auch zwischen den neuronalen Makro-systemen IVS und OES. Dabei impliziert die Transaktionsanalyse auch den von der PSI erwarteten Affektwechsel. Es gibt eine Ach-se vom positiv fürsorglichen Modus (EL) zum positiv spontanen Modus (K), die durch positiven Affekt gekennzeichnet ist. Und umgekehrt eine Achse von negativ einengendem Modus (EL) zum negativ angepasstem Modus (K), die durch negativen Affekt ge-kennzeichnet ist.

Der Wechsel zwischen den Ichzuständen wird hier durch Erlaub-nis (positiver Affekt) oder Kritik (negativer Affekt) herbeigeführt. Eine geringe Expression des fK im Egogramm deutet auf gerin-gen negativen Affekt und einen schwachen Zugang zu spontanen Handlungen und damit auf Schwierigkeiten bei der Umsetzung selbstbestimmter Handlungen hin. Ein überaktives fK deutet auf Schwierigkeiten im Umgang mit schwierigen, d. h. frustrationsrei-chen, Zielen, weil das Handeln zwar leicht, aber der Wechsel aus dem Handeln (IVS) ins Denken (IG) schwerfällt. Das Handeln do-miniert einseitig. Eine Expression des aK deutet auf einen ängstli-chen und im freien Ausdruck eingeschränkten Zustand, wie er bei einer Aktivierung des OES bei gefährlichen Signalen zu erwarten ist. Die zunächst verwirrend erscheinende Sprachvielfalt innerhalb der TA erhält so eine sinnvolle und gut verständliche Transparenz.

In der Transaktionsanalyse nicht abgebildet ist die Unterteilung der hochinferenten Systeme in ein Intentions- und ein Extensions-gedächtnis. Das berührt eine Schwachstelle in der Explikation des ER. In der Transaktionsanalyse würden wir sagen: Der Erwach-senen-Ichzustand verfügt über ein systemübergreifendes Integra-tionsvermögen psychischer Funktionsbereiche. Ein erwachsener Mensch zeigt ein reifes emotionales Verhalten. In der PSI lassen sich zwei Aspekte des ER aufzeigen. Während das systemische EG ein System darstellt, das mit allen psychischen und psychosoma-tischen Funktionsbereichen vernetzt ist, ist das analytische IG ein System, das auf die Stabilisierung von Zielen und deren Erreich-barkeit konzentriert ist. Das Denken ist emotionsfern. Es steht sogar dem IVS emotionshemmend gegenüber und ist systemisch begrenzt, denn es ist nicht mit der Körpersteuerung und den Ge-fühlen vernetzt. Für die ganzheitliche Verarbeitung von Lebenser-

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Man sollte in der

Transaktionsanalyse

funktionsanalytisch zwischen

einem denkenden und einem

fühlenden Erwachsenen­

Ichzustand unterscheiden.

Unterschied zwischen Fühlen

und Gefühlen

fahrungen ist das Netzwerk des Fühlens (EG) zuständig. Das „rei-fe emotionale Verhalten“, von dem die Transaktionsanalyse beim Erwachsenen spricht, kommt daher zunächst nur dem hochver-netzten Fühlen zu, nicht aber dem Denken, einem ebenfalls reifen erwachsenen Verhalten.

Man sollte in der Transaktionsanalyse funktionsanalytisch zwi-schen einem denkenden und einem fühlenden Erwachsenen-Ich-zustand unterscheiden. Darüber hinaus findet die weiter unten dargestellte Integration der Makrosysteme statt, sodass die Integ-ration in der PSI ein sehr vielschichtiger Prozess ist. Wenn in der Transaktionsanalyse vom „integrierten“ (Berne 1961) oder reifen „Erwachsenen“ gesprochen wird, so kann sich das in der PSI so-wohl auf die Integrationsfähigkeit des EG beziehen (auf dessen systemische Fähigkeit und die Fähigkeit, negativen Affekt einzu-binden) als auch auf die Integration der Makrosysteme insgesamt (s.u.). Die Integration im ER wird damit in der PSI anders und komplexer dargestellt als in der Transaktionsanalyse.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf den Unterschied zwi-schen Fühlen und Gefühlen hinweisen. Gefühle sind Verarbei-tungsmöglichkeiten vorwiegend unseres limbischen Systems, über die das Kind bereits Bedürfnisse, Ziele und Handlungen vorrati-onal vernetzen kann. Sie sind in ihren Grundformen angeboren, werden dann aber weiterentwickelt. Aus ihnen entfalten sich auch unsere sozialen Motivsysteme. Gefühle sind daher tragende Mo-mente unserer Orientierung und ihrer Herkunft nach den niederin-ferenten Systemen zuzuordnen, von wo sie vom EG aufgenommen und in komplexes Handeln integriert werden. Ihre Schwachstelle ist die assoziative, vorrationale Verknüpfung, die dazu führt, dass die Wut auf den Chef auf die tröstende Ehefrau übertragen werden kann.

Das Fühlen hingegen ist eine Funktion des EG. Hier werden hoch-vernetzte Systeme erfasst und auf mögliche Problemlösungen hin abgefragt bzw. erfühlt. Ein in seinem Beruf erfahrener Manager fühlt, dass ein Produkt besser laufen wird als ein anderes, und stellt die Produktion entsprechend um. Hier werden Berufs- und Lebenserfahrungen eingesetzt, die ganzheitlich angefragt und er-fühlt werden können. Viele komplexe Entscheidungen können in

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FOCUSletzter Instanz nur über diese Fühlfunktionen gefällt werden. In Abgrenzung zum Denken kann man sagen, dass das Fühlen dort aktiviert wird, wo die Menge der Einzelinformationen das Denken überfordert.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die von der PSI be-schriebene neuronale Struktur auch in der TA gut zu erkennen ist. Durch dieses Wissen können die Struktur- und Funktionsvorstel-lungen der TA bereichert werden.

• Die Besetzung des ER ist immer an die Fähigkeit gebunden, über EG und IG die niederinferenten Systeme in einen erwei-terten Kontext von Selbsterkenntnis, Realität und sozialen Be-zügen einzubinden (Top-down-Modulationsfähigkeit). Je nach Entwicklung können die niederinferenten Systeme unterworfen oder modulierend integriert werden.

• Die niederinferenten Systeme sind nicht identisch mit dem Kind-Ichzustand. Wird dieser aber besetzt, so werden immer niederin-ferente Systeme aktiviert. Umgekehrt sind die niederinferenten Systeme auch Teil erwachsenen Verhaltens.

• Funktionsanalytisch gilt: Das IVS ist nicht identisch mit dem fK, weil das IVS auch Voraussetzung erwachsener Willenshandlun-gen ist, aber die Expression des fK ist immer an eine Aktivierung des IVS gebunden. Beide, IVS und fK, gelten als je handlungs-energetisches Zentrum.

• Analog gilt: Das OES ist nicht identisch mit dem aK, weil es Teil erwachsenen Risikoverhaltens ist, aber die Expression des aK ist immer durch eine Aktivierung des OES und eine Hemmung des EG und des IVS gekennzeichnet.

• Die PSI zeigt, dass man das ER in ein denkendes und fühlendes ER weiter ausdifferenzieren kann und dass dabei spezifische In-tegrationsprobleme innerhalb des ER sichtbar werden.

• Das in der PSI geforderte Affektmanagement wird in der TA vielfältig sichtbar. Spontan ist Affekt in der Eltern-Kind-Achse durch erlaubnisgebende bzw. unterstützende Energie einerseits und kritische und eingrenzende Energie andererseits als Basis-steuerung zwischen den Ich-Zuständen wirksam. Innerhalb der Therapie wird positiver Affekt (Ich bin o.k. – du bist o.k.) ver-wirklicht, weil er eine Voraussetzung für selbstkongruente Ent-wicklungen und gute Handlungsfähigkeit ist.

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Integration ist ein vertikaler und ein horizontaler Prozess

Es war bislang noch keine Rede vom Eltern-Ichzustand. Dem EL ist kein spezifisches kognitives Makrosystem zuzuordnen. Der El-terneinfluss wird in der PSI so beschrieben: Die bedürfnisnahe und lösungsorientierte Zuwendung der Mutter beruhigt das Kind. Kuhl spricht von einer Systemkonditionierung durch die Mutter, durch die das Kind lernt, seine affektive Beruhigung mit seinen Wahrneh-mungs- und Handlungsressourcen zu verbinden. So entsteht unter der sicheren Bindung an die Mutter eine eigene Selbstsicherheit und Handlungsfähigkeit des Kindes. Man kann davon ausgehen, dass die fürsorglichen Zuwendungen als positiver Affekt im IVS und die kritischen Zuwendungen als negativer Affekt im OES ver-ankert werden (EL1). Wenn im OES sehr starke affektive Kräfte gebunden sind, kann das die Entwicklung einer erwachsenen af-fektregulierenden Fähigkeit über das EG erschweren.

Die Vorstellung von einem integrierenden Erwachsenen-Ich bestä-tigt sich auch aus der Sicht der PSI. Er wird hier aber etwas anders ausdifferenziert. Die Unterscheidung in kognitive Makrosysteme macht eine ganze Reihe von Integrationsprozessen möglich und notwendig. Jede dieser Verbindungen ist für spezifische Leistungen erforderlich. 1. Da ist einmal die systemfähige Kraft des EG selbst, die komple-

xere Strukturen erfassen kann als das kindliche IVS. Das EG ist das Zentrum des integrativen ER.

2. Dadurch ergibt sich als weitere Integrationsaufgabe die zwi-schen EG und IG. Defizite zeigen sich, wenn ein Mensch Schwierigkeiten hat, von Einzelheiten abzusehen, d. h. vom analytischen Denken in ein ganzheitliches Denken zu wechseln oder umgekehrt: aus einem ganzheitlichen Denken in analyti-sche Genauigkeit. Der erste Wechsel wäre z. B. immer nötig, wenn die Menge der Informationen das analytische Denken überfordert. Das analytische Denken des IG kann z. B. nicht mehr in einem Therapieprozess ein Symptom, das Leben des Klienten und die eigene emotionale Situation zusammenhän-gend erfassen. Hier muss der Therapeut lernen, aus seinem analytischen Denken herauszutreten und eine ganzheitliche Wahrnehmungsposition einzunehmen, wie sie für das EG ty-pisch ist. Oder: Ein Small Talk zwischen Kollegen braucht, wenn er nicht in Floskeln erstarren soll, den Wechsel ins EG. (Hierfür gibt es schöne Beispiel bei Storch & Kuhl 2012.)

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FOCUS

Dieser Wechsel zwischen

analytischer Sicht des

Denkens und ganzheitlicher

Sicht des Fühlens

ist eine horizontale

Integrationsaufgabe.

der vertikale Wechsel von

Gefahrenerkennung (OES)

und Fühlen (EG)

Umgekehrt kann das EG die Richtigkeit von isolierten Zusam-menhängen nicht wirklich gut erfassen und neigt dann dazu, verschwommen zu denken. Hier muss der Wechsel ins analy-tische Denken funktionieren. Ein Mensch muss dabei lernen, analytisches Denken und ganzheitliches Fühlen miteinander zu verzahnen. Dieser Wechsel zwischen analytischer Sicht des Denkens und ganzheitlicher Sicht des Fühlens ist eine horizon-tale Integrationsaufgabe. Sie ist spannend und sehr befriedi-gend und führt in kreative Denkprozesse.

3. Eine andere Integrationsaufgabe kommt aus der Notwendig-keit, die vertikalen Prozesse miteinander zu integrieren. Da ist einmal der Wechsel von Handeln und Denken (IVS und IG). Um effektiv handeln zu können, brauchen wir einen flüssigen Wechsel zwischen handlungsanstoßender und gefühlsgetrage-ner Zielorientierung (IVS) und planender und analytischer Weg-erfassung (IG). Kuhl hat hierzu eine sehr interessante Theorie der Willensbildung vorgelegt. Ein Ziel muss danach zunächst positiv affektiv im IVS realisiert werden. Ist die Zielerreichung zu kompliziert (man muss Vorbereitungen treffen, sparen, ler-nen), dann muss dieser Zielerreichungsaffekt gehemmt werden, damit eine innere Ruhe entsteht, die umfangreichere Planungen und Vorbereitungen möglich macht. Damit man aber in diesen Vorbereitungen nicht hängen bleibt, muss dann wieder ein af-fektlösender Entschluss erfolgen, der das IVS erneut aktiviert. Diese Handlungstheorie ist für die TA interessant, weil sie über die positive Erlaubnis zum Erfolg hinaus auch den Affektwech-sel betont, ohne den die Planungsphase nicht durchgehalten und wieder verlassen werden kann.

4. Und dann ist da der vertikale Wechsel von Gefahrenerken-nung (OES) und Fühlen (EG). Der sinnerhaltende Kontakt zum Selbst (EG) ist in der Lage, schmerzhafte Erfahrungen zu verarbeiten, und umgekehrt ist die Offenheit für schmerzhafte Erfahrungen und Risiken eine Voraussetzung für die Reifung der Selbstfunktionen. Hier finden auch Traumabearbeitungen statt, wie sie oft bei einer posttraumatischen Belastungsstörung nötig sind. Dabei werden sowohl das OES aktiviert als auch gleichzeitig das kontextfähige EG. Indem die traumatisierende Erfahrung immer wieder auf größere Kontexte bezogen wird und der traumatischen Erfahrung vielleicht sogar ein Sinn abgewonnen werden kann, gewinnt ein Mensch aus dem EG

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Horst Kaemmerling: PSI trifft TA

Im Nebeneinander von

Aktivierung und Hemmung

gewinnt das Handeln

Präzision und Sicherheit.

heraus seine Kontrollfähigkeit über die emotionalen Prozesse innerhalb des OES zurück. (Oben wurden schon die innerhalb der Skriptarbeit stattfindenden Integrationsprozesse erwähnt.)

5. Auch die intuitive Handlungskraft (IVS) und die risikobezo-gene Vorsicht (OES) können integriert werden. Im Nebenei-nander von Aktivierung und Hemmung gewinnt das Handeln Präzision und Sicherheit. Wir kennen das aus der motorischen Steuerung. In der Sprache der TA ist das eine Verbindung zwi-schen fK und aK. Dabei verbinden sich Aktivität und Vorsicht. Das wird in der TA selten beschrieben, ist aber eine sinnvol-le Entwicklung auf dem Weg von kindlichem Spiel zum Leis-tungsverhalten.

6. Und schließlich sind auch noch die diagonalen Verknüpfungen wichtig. Die im EG bewusst werdenden Ziele können direkt das IVS ansprechen und dort in Handlungen umgesetzt werden. In umgekehrter Richtung können automatisierte Handlungen über das EG in komplexere Zusammenhänge eingebettet wer-den. Ein Fußballer muss sein hoch automatisiertes intuitives Verhalten innerhalb eines strategischen Kontextwissens abru-fen können. Beide Wissensressourcen müssen ganzheitlich ver-ankert sein.

7. Umgekehrt regt das aktivierte OES das Denken zu Grübelakti-vitäten an. Das kann allerdings leicht in ineffiziente kognitive Unruhezustände führen, ist aber zunächst eine problemlösende Aktivität. Hier muss das System lernen, Gefahrensituationen mit zielgerichtetem Denken zu verbinden. Umgekehrt lernt je-mand im Controlling, sein Denken zu fokussieren und seine dissonanzsensible Wahrnehmung auch außerhalb von Bedro-hungssituationen permanent wachzuhalten.

Der zunächst etwas blasse Begriff eines integrierten Erwachsenen-Ichs wird zu einem breiten Feld von Entwicklungen, die sich gut beschreiben lassen. Wenn diese Entwicklungen ausbleiben, so führt das zu erkennbaren Defiziten. Vielleicht erschreckt diese Anforde-rung an ständiges Wachsen manchen Leser. Dazu möchte ich nur sagen, dass jede Integration wie eine Befreiung und Bereicherung ist. Das ist in der PSI nicht anders als in der TA. Die Ablegung von Skripteinengungen fühlt sich sehr gut an und ebenso die Integrati-on von Denken und Intuieren und Fühlen und Empfinden. In Er-gänzung zur TA ergeben sich so zahlreiche Integrationsaufgaben;

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FOCUS

Mit der PSI erhält die TA

ein erweitertes empirisches

Fundament, das erfreuli­

cherweise oft die Intuitionen

von Berne bestätigt.

Zusammenfassung

Summary

auch außerhalb kindlicher Skriptbegrenzungen oder elterlicher Verbote und Gebote.

Es wäre interessant, nun auch die anderen Teilgebiete in der TA aus der Sicht der PSI zu beleuchten. Das aber würde einen Zeit-schriftenartikel sprengen. Ich habe daher (im Rahmen meiner Do-zententätigkeit) eine allgemeine Darstellung der Psychologie ange-fangen. Der gerade erschienene zweite Band (Kaemmerling 2015) behandelt u. a. die PSI einschließlich der hier aufgezeigten Paralle-len zur TA. Im dritten Band wird der soziale Aspekt des Mensch-seins im Vordergrund stehen. Dort ist dann Raum, auf das EL und die Lehre der Transaktionen in der TA zu sprechen zu kommen.

Mit der PSI erhält die TA ein erweitertes empirisches Fundament, das erfreulicherweise oft die Intuitionen von Berne bestätigt. So-gar seine nur vorsichtig geäußerte Vermutung, die Ichzustände sollten auch mit psychischen Organen in Verbindung zu bringen sein, bestätigt sich. Übrigens kann auch die immer wieder infra-ge gestellte bildhafte Sprache der TA innerhalb der PSI begrün-det werden. Während eine weitgehend am Denken orientierte Sprache kaum in der Lage ist, einen Menschen ganzheitlich zu erreichen, kann die erlebnisnah formulierte TA direkt EG und IVS ansprechen. Sie unterscheidet sich dadurch positiv von den Theoriesprachen der empirischen Psychologie. (Wie auch von der der PSI. Auch diese Arbeit ist dafür ein Beispiel. Sie ist eher abs-trakt und nur an wenigen Stellen erlebnisnah formuliert.) Die TA erweist sich so als mächtiges und gut begründbares psychisches Konzept.

Die PSI-Theorie von J. Kuhl ist eine neuropsychologische Persön-lichkeitstheorie, die das Struktur- und Funktionsmodell der TA auf einen neuronalen Hintergrund beziehen kann. Das rückt die Ichzu-standslehre der TA in ein neues Bild. Besonders für das ER ergeben sich reichere Deutungsmöglichkeiten.

The PSI-Theory of J. Kuhl is a neuropsychological theory of per-sonality with interesting implications for TA and their egostates, especially the Adult.

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Horst Kaemmerling – PSI trifft TA

Literatur

Horst Kaemmerling,

CM (CTA) und

psychologischer

Psychotherapeut, ist

zu erreichen unter

[email protected]

• Bieri, Peter (2012): Das Handwerk der Freiheit. München: Hanser.

• Kaemmerling, Horst 1986): Die Magie des Trinkens. ZTA 1 und 2.

• Kaemmerling, Horst (1989): Hirnarchitektur und Ichzustände. In: Lesebuch DGTA­

Kongress 1989 Regensburg. Hannover: INITA, S. 57–80.

• Kaemmerling, Horst (1993): Hirnarchitektur und Ichzustände. ZTA, S. 5–51.

• Kaemmerling, Horst (2012): Psychologie – der Mensch auf der Suche nach seiner Iden­

tität. Bd. 1: Leid, Lust, Liebe. E­Book bei ciando.

• Kaemmerling, Horst (2015): Psychologie – der Mensch auf der Suche nach seiner Iden­

tität. Bd. 2: Geist und Wissen. E­Book bei ciando.

• Kuhl, Julius & Kazén (1997): Manual zum PSSI. Göttingen: Hogrefe.

• Kuhl, Julius (2001): Motivation und Persönlichkeit. Göttingen: Hogrefe.

• Kuhl, Julius (2009): Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie. Göttingen: Hogrefe.

• Kuhl, Julius (1998): Entwicklung und Persönlichkeit. In: Heidi Keller (Hrsg.) Lehrbuch

der Entwicklungspsychologie. Bern: Huber.

• Storch, Maja & Kuhl, Julius (2012): Die Kraft aus dem Selbst. Bern: Huber.