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ebook suhrkamp

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Philippe ist fünfzehn, als ihm Louise, eine Freundin der Fami-lie, ein über Jahre gehütetes Geheimnis enthüllt. Die Grimberts sind Juden und haben das Leben im besetzten Paris keineswegs so unbeschadet überstanden, wie sie Philippe bislang glauben machen wollten. Der als Einzelkind aufgewachsene Philippe wird an eine von allen verdrängte Vergangenheit seiner Familie herangeführt, in der es den großen Bruder seiner Phantasie tat-sächlich gegeben hat.

Aus der Sicht des Nachgeborenen erzählt Philippe Grimbert die dramatische Geschichte einer jüdischen Familie im Paris der deutschen Besatzung – seine Geschichte.

»Ein Generalschlüssel zum Verständnis von Familie und Identität … Ein fesselndes Stück Literatur.«

Niklas Bender, Frankfurter Allgemeine ZeitungPhilippe Grimbert wurde 1948 in Paris geboren. Er ist Psycho-analytiker und Autor.

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Philippe GrimbertEin Geheimnis

RomanAus dem Französischen von

Holger Fock und Sabine Müller

Suhrkamp

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Titel der französischen Originalausgabe: Un secretUmschlagfoto: Thurston Hopkins/

Hulton Archives/getty images

© Editions Grasset & Fasquelle, 2004© der deutschen Übersetzung

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewskiwww.suhrkamp.de

eISBN: 978-3-518-73561-9

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

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Ein Geheimnis

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F�r Tania und Maxime,f�r Simon.

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I

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Als Einzelkind hatte ich lange Zeit einen Bruder. MeineFerienbekanntschaften, meine Spielgef�hrten mußtenmir aufs Wort glauben, wenn ich ihnen dieses M�rchenauftischte. Ich hatte einen Bruder. Schçner als ich, st�r-ker als ich. Einen �lteren Bruder, erfolgreich und un-sichtbar.War ich bei einem Freund zu Besuch, wurde ich im-

mer neidisch, wenn die T�r aufging und ein anderer er-schien, der ihm ein wenig �hnelte. Zerzaustes Haar, einspçttisches L�cheln, mit zwei Wortenwurde er mir vor-gestellt: »Mein Bruder.« Ein R�tsel, dieser Eindring-ling,mit dem alles geteilt werdenmußte, sogar die Liebe.Ein echter Bruder. Einer, demman �hnlich sah, in dessenGesicht man gemeinsame Z�ge entdeckte, eine wider-spenstige Str�hne oder einen Wolfszahn, ein Zimmer-genosse, den man in- und auswendig kannte, dessenStimmungen, Vorlieben, Schw�chen, Ger�che einemvertraut waren. F�r mich, der ich allein �ber das Reichunserer Vier-Zimmer-Wohnung herrschte, ein wunder-liches Wesen.

Obwohl ich die Liebe und Z�rtlichkeit meiner Elternmit niemandem teilenmußte, schlief ich unruhig, w�lztemich mit schlimmen Tr�umen im Bett. Ich weinte, so-bald die Lampe ausgeknipst wurde, ich wußte nicht,wem die Tr�nen galten, die �ber mein Kopfkissen liefenund in der Nacht versanken. Da ich mich sch�mte, ohnedie Ursache daf�r zu kennen, mich oft grundlos schul-dig f�hlte, zçgerte ich den Augenblick des Einschlafens

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hinaus.Meine Kinderwelt liefertemir t�glich Anl�sse zuTraurigkeit und �ngsten, die ich in meiner Einsamkeithegte. Es mußte jemand her, der diese Tr�nen mit mirteilte.

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Eines Tages war ich dann nicht mehr allein. Ich hattemich nicht davon abbringen lassen, meine Mutter indas alte Dienstm�dchenzimmer unter dem Dach zu be-gleiten, das wir als Abstellkammer benutzten und wosie ein wenig aufr�umenwollte. Ich entdeckte dieses un-bekannte Zimmer mit seinem muffigen Geruch, seinenwackligenMçbeln und Stapeln vonKoffernmit rostigenSchlçssern. Sie hatte den Deckel eines Koffers ange-hoben, in dem sie alte Modemagazine zu finden hoffte,die fr�her ihre Zeichnungen verçffentlicht hatten. Alssie dort auf einem Stapel Decken einen kleinen Hundmit Bakelitaugen liegen sah, zuckte sie kurz zusammen.Der Pl�sch war abgewetzt, die Schnauze staubig, under trug ein gestricktes Hundedeckchen. Ich hatte ihnmir sofort geschnappt und an die Brust gedr�ckt; alsich aber dasUnbehagenmeinerMutter sp�rte, verzichte-te ich darauf, ihn in mein Zimmer mitzunehmen, undlegte ihn wieder zur�ck.In der darauffolgenden Nacht preßte ich zum ersten

Mal meine nasse Wange an die Brust eines Bruders. Sowar er in mein Leben getreten, und ich w�rde ihn niemehr allein lassen.

Seit jenem Tag lebte ich in seinem Schatten, wandelte ichauf seinen Spurenwie in einem zu großen Anzug. Er be-gleitete mich zum Spielplatz, in die Schule, und jedem,den ich traf, erz�hlte ich von ihm. Zu Hause erfand ichsogar ein Spiel, damit er an unserem Familienleben teil-haben konnte: Ich bat darum, auf ihn zu warten, bevor

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wir uns zu Tisch setzten, ihm einzuschenken, bevormanmir einschenkte, seine Feriensachen einzupacken, be-vor meine gepackt wurden. Ich hatte mir einen Brudergeschaffen, hinter dem ich mich verstecken konnte,einen Bruder, dessenLast ichmit ihremganzenGewichttrug.

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Somager, kr�nklich und blaß ich auchwar, ichwollte un-bedingt der Stolz meines Vaters sein. Von meiner Mut-ter wurde ich abgçttisch geliebt, schließlich war ich dereinzige, der unter ihren durchtrainierten Bauchmuskelnherangewachsen, zwischen ihren sportlichen Schenkelnzur Welt gekommen war. Ich war der erste und der ein-zige. Vor mir, niemand. Bloß eine Nacht, ein Meer vonDunkelheit, ein paar Schwarzweißfotos, auf denen dieBegegnung zweier ruhmreicher, in allen Disziplinen derLeichtathletik gest�hlter Kçrper festgehalten war, diesp�ter den Bund f�rs Leben schlossen, um mich zu zeu-gen, mich zu lieben und mich zu bel�gen.

Ihren Erz�hlungen nach hatte ich schon immer diesenin unserem Land sehr gebr�uchlichen Namen. MeineAbstammung verurteilte mich nicht mehr zum sicherenTod, ich war nicht mehr jener d�rre Zweig an der Spitzeeines Stammbaums, den es zu kappen galt.Meine Taufe fand so sp�t statt, daß ich mich noch gut

erinnern kann: an die Handbewegung des Priesters, denAbdruck des nassen Kreuzes auf meiner Stirn, das Ge-f�hl, als ich mich an den Priester schmiegte und unterdem bestickten Ende seiner Stola aus der Kirche hinaus-trat. Ein Bollwerk, das mich vor dem himmlischen Zornbewahren w�rde. Sollte der Sturm von neuem losbre-chen, w�rde mich der Eintrag ins Taufregister sch�tzen.Ichwußte davon nichts; still und gehorsam spielte ich dasSpiel mit, bem�hte michwie alle, die mit mir feierten, zuglauben, daß wir nur ein Vers�umnis nachholten.

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Das unauslçschliche Zeichen, das mein Geschlechts-organ trug, schrumpfte zur Erinnerung an einen not-wendigen chirurgischen Eingriff. Da war nichts mehrvon einem Ritual, es war eine ganz normale Entschei-dung, getroffen aus rein medizinischen Gr�nden. SogarunserNachname hatte seineNarben: Auf Ersuchenmei-nes Vaters waren zwei Buchstaben amtlich ausgewech-selt worden, und durch die andere Schreibweise schluger tiefe Wurzeln auf franzçsischem Boden.

So setzte sich das Vernichtungswerk im verborgenenfort, das die Schl�chter einige Jahre vor meiner Geburtbetrieben hatten: Es begrub alles unter sich,was geheim-gehalten und verschwiegenwurde, verst�mmelte die Fa-miliennamen, erzeugte L�gen, die Schamblieb. Obwohldie Verfolger besiegt waren, triumphierten sie noch im-mer.

Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen kam die WahrheitzumVorschein. Es warenKleinigkeiten: ein paar Scheib-chen unges�uerten Brots, die in goldbraun gebackenesR�hrei getaucht wurden, ein Samowar in moderner Ge-staltung auf dem Kaminsims im Wohnzimmer und, imB�fett verschlossen, ein Kerzenleuchter zwischen demTafelgeschirr. Und immer wieder diese Fragen: Regel-m�ßig erkundigte man sich nach der Herkunft des Na-mens Grimbert, machte sich Gedanken �ber seine rich-tige Schreibweise; man grub das »n« aus, das durch ein»m« ersetzt worden war, man stçberte das »g« auf, dasvon einem »t« verdr�ngt werden sollte, und wenn ichzu Hause von solchen Mutmaßungen berichtete, wisch-

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te mein Vater sie mit einer Handbewegung beiseite. Wirh�tten immer so geheißen, h�mmerte er mir ein, dieseSelbstverst�ndlichkeit dulde keinen Widerspruch: DieSpur unseres Familiennamens sei bis ins Mittelalter zu-r�ckzuverfolgen, hieß nicht eine Figur des Roman deRenart* schon Grimbert?

Ein »m« f�r ein »n«, ein »t« f�r ein »g«, zwei winzi-ge Ver�nderungen. Aber das »aime« (liebe) hatte das»haine« (Haß) verdeckt; da ich des »j’ai« (ich habe) be-raubt war, gehorchte ich von nun an dem Gebot des»tais« (schweig).* Ich stieß zwar st�ndig gegen dieseschmerzhafte Mauer, hinter der meine Eltern sich ver-schanzt hatten, aber ich liebte sie zu sehr, um dasWagniseinzugehen, die Grenzen zu �berschreiten, an alte Wun-den zu r�hren. Ich war entschlossen, nichts zu erfahren.

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Lange Zeit hat mein Bruder mir bei der �berwindungmeiner �ngste geholfen. Ich sp�rte den Druck seinerFinger an meinem Arm, seine Hand, die durch meinHaar fuhr, und schçpfte daraus die Kraft, Hindernissezu �berwinden.Wenn ich auf der Schulbank seine Schul-ter an meiner sp�rte, f�hlte ich mich sicher, und wennich abgefragt wurde, fl�sterte er mir oft die richtige Ant-wort ins Ohr.

Er trug den Stolz der Rebellen zur Schau, die sich �beralles hinwegsetzten, der Pausenhofhelden, die dem Ballhinterherflogen, der Eroberer, die �ber die Z�une klet-terten. Unf�hig, mich mit ihnen zu messen, lehnte ichmit dem R�cken an der Wand, bewunderte sie und war-tete auf das befreiende Klingeln, um endlich wieder zumeinen Heften zu kommen. Ich hatte mir einen siegrei-chen Bruder ausgesucht. Niemand konnte ihn �bertref-fen, er gewann in allenDisziplinen,w�hrend ichmeinemVater meine Schw�che zeigte und die Entt�uschungignorierte, die in seinem Blick lag.

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Meine innig geliebten Eltern: Jeder Muskel an ihnengl�nzte wie die Statuen, die mich in den G�ngen desLouvre betçrten. Meine Mutter machte Turmspringenund Bodenturnen, mein Vater Ringen und Ger�tetur-nen, beide spielten Tennis und Volleyball. Zwei Kçrper,die wie dazu geschaffenwaren, sich zu begegnen, zu ver-m�hlen, fortzupflanzen.Ich war die Frucht dieser Sportlichkeit, aber mit einer

morbiden Freude pflanzte ich mich vor dem Spiegel auf,um meine M�ngel aufzulisten: spitze Knie, ein hervor-springendes Becken, spindeld�rre Arme. Und ich regtemich �ber das Loch unter meinem Solarplexus auf, indas eine Faust hineingepaßt h�tte, das meinen Brust-korb aushçhlte, als h�tte ein Schlag ihn f�r immer einge-dr�ckt.

Arztpraxen, Ambulanzen, Krankenh�user. Der Desin-fektionsmittelgeruch �berlagerte kaum den des beißen-den Angstschweißes, eine verderbliche Atmosph�re, zuder ich mein Scherflein beitrug, indem ich unter demStethoskop hustete, meinen Arm f�r die Spritze frei-machte. JedeWoche ging meine Mutter mit mir zu einerdieser mir schon vertrauten Untersuchungen, half mirbeim Ausziehen, um mich mit meinen Symptomen ei-nem Spezialisten zu �berlassen, der sich anschließendzu einem leisen Zwiegespr�ch mit ihr zur�ckzog. Ge-faßt saß ich auf dem Untersuchungstisch und warteteauf dasUrteil: einEingriff in n�chster Zeit, eine langwie-rige Behandlung, bestenfalls Vitamine oder Inhalatio-

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nen. Ich habe Jahre mit der Behandlung dieser schw�ch-lichen Anatomie verbracht. Unterdessen protzte meinBruder auf unversch�mteWeisemit seinen breiten Schul-tern, der sonnengebr�unten Haut unter seinem blondenFlaum.

Reck, Trainingsbank, Sprossenleiter, mein Vater trai-nierte t�glich in einem Zimmer unserer Wohnung, daser in einen Turnraum umgewandelt hatte. Auch wennmeine Mutter weniger Zeit dort zubrachte, machte siedoch ihre Aufw�rm�bungen, lauerte auf die geringsteErschlaffung, um ihr sofort entgegenzuwirken.

Beide f�hrten zusammen einen Großhandel in der Ruedu Bourg-l’Abb�, in jenem Karree eines der �ltestenStadtviertel von Paris, das dem Handel mit Trikotagenund Strickwaren vorbehalten war. Die meisten Sportbe-kleidungsgesch�fte ließen sich von ihnen mit Trikots,Turnanz�gen und Sportunterw�sche beliefern. Ich setz-te mich an die Kasse neben meine Mutter, um die Kun-den zubegr�ßen.Manchmal half ichmeinemVater, trip-pelte ihm hinterher in das eine oder andere Lager, sahzu, wie er m�helos Stapel von Kartons anhob, die mitSportfotos geschm�ckt waren: Turner an den Ringen,Schwimmerinnen, Speerwerfer, die sich in denWarenre-galen auft�rmten.DieM�nner trugen das leicht gewellte,kurze Haar meines Vaters, die Frauen hatten die dunkle,wallende und von einem Band geb�ndigte Haarprachtmeiner Mutter.

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Einige Zeit nach meiner Entdeckung in der Abstellkam-mer hatte ich darauf gedrungen, noch einmal in dasehemalige Dienstm�dchenzimmer hinaufzugehen, unddiesesMal konntemichmeineMutter nicht davon abhal-ten, den kleinen Hund mitzunehmen. Noch am selbenAbend setzte ich ihn auf mein Bett.

Wenn ich mit meinem Bruder Streit hatte, fl�chteteich mich zu meinem neuen Freund, Sim. Wie war icheigentlich auf seinen Namen gekommen? War es derstaubige Geruch des Pl�schs? Lag es am Schweigenmei-ner Mutter, an der Traurigkeit meines Vaters? Sim, Sim!Ich ging mit meinem Hund in der Wohnung spazierenund weigerte mich, die Verwirrung meiner Eltern zurKenntnis zu nehmen, wenn ich ihn beim Namen rief.

Je �lter ich wurde, um so gespannter wurde das Verh�lt-nis zu meinem Bruder. Ich erfand Streitigkeiten zwi-schen uns, ich lehnte mich gegen seine Autorit�t auf.Ich wollte ihn zum Nachgeben bewegen, aber ich gingselten als Sieger aus unseren Auseinandersetzungen her-vor.

Im Laufe der Jahre hatte er sich ver�ndert. Aus dem Be-sch�tzer war ein spçttischer, manchmal ver�chtlicherTyrann geworden. Dennoch erz�hlte ich ihm weitervon meinen �ngsten, meinen Niederlagen, w�hrend ichmich vom Rhythmus seiner Atemz�ge in den Schlafwiegen ließ. Er hçrte sich meine Geheimnisse wortlosan, aber sein Blick ließ mich zu einem Nichts schrump-

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fen, er mustertemeine Schw�chen, hob die Bettdecke an,verkniff sich ein Lachen. Da packte mich die Wut, undich ging ihm an die Gurgel. Zur�ck in deine Nacht,feindlicher Bruder, falscher Bruder, Schattenbruder! Ichstreckte meine Finger in seine Augen und dr�ckte mitaller Kraft gegen sein Gesicht, um es im Treibsand desKopfkissens zu versenken.

Er lachte, und wir w�lzten uns unter der Bettdecke, er-fanden in der Dunkelheit unseres Kinderzimmers dieZirkusspiele neu. Verstçrt von der Ber�hrung, stellte ichmir vor, wie zart seine Haut war.

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