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Ohne das kritische Echo aufmerksamer, persönlich betrof-fener Leser kann Literatur nicht bestehen. Sie braucht diegeistige Auseinandersetzung, gelegentlich auch die schar-fe Polemik, um auf die Zeitgenossen wirken zu können.Marcel Reich-Ranicki ist zweifellos einer der brillantestenKenner und Kritiker deutscher Gegenwartsliteratur. Mitseinen kompromißlosen Stellungnahmen ist er für Freundewie Gegner zum Maßstab geworden. Wer die Lese-Erleb-nisse der siebziger Jahre noch einmal überprüfen möchteoder einen roten Faden durch das Literaturgeschehen die-ses bewegten Jahrzehnts sucht, findet hier eine kritischeChronik, deren Lektüre in jedem Fall Vergnügen bereitet.

Marcel Reich-Ranicki, Professor, Dr. h. c. mult., geboren1920 in Wioclawek an der Weichsel, ist in Berlin aufge-wachsen. Er war von 1960 bis 1973 ständiger Literaturkri-tiker der Wochenzeitung »Die Zeit« und leitete von 1973

bis 1988 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« dieRedaktion für Literatur und literarisches Leben. 1968/69

lehrte er an amerikanischen Universitäten, 1971 bis 1975

war er Gastprofessor für Neue Deutsche Literatur an denUniversitäten Stockholm und Uppsala, seit 1974 Honorar-

professor in Tübingen, 1991/92 Heinrich Heine-Gastpro-

fessur an der Universität Düsseldorf. Von 1988 bis 2001

leitete er das »Literarische Quartett«. Ehrendoktor derUniversitäten in Uppsala, Augsburg, Bamberg, Düsseldorf,Utrecht und München. Goethepreis des Jahres 2002.

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Marcel Reich-Ranicki

Entgegnung

Zur deutschen Literaturder siebziger Jahre

Deutscher Taschenbuch Verlag

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September 19823., erweiterte Auflage April 1993

4. Auflage Dezember 2002Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

O 1981 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart(jetzt München)

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagfoto: O Bettina Strauss

Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-13029-6

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An und für Joachim Fest

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Wir sind nicht dazu da, öffentliche Billets douxzu schreiben, sondern die Wahrheit zu sagen,oder doch das, was uns als Wahrheit erscheint.Denn die Anmaßung liegt uns fern, uns als eineletzte, unfehlbare Instanz anzusehn, von der auskein Appell an Höheres denkbar ist. Wer auf-merksam liest, wird deshalb, in steter Wieder-kehr, Äußerungen in diesen unseren Kritikenfinden, wie etwa: »es will uns scheinen«, »wirhatten den Eindruck«, »wir geben anheim«. Dasist nicht die Sprache eines absoluten Besserwis-sers. Allen Empfindlichkeiten kann unsereinsfreilich, von Metier wegen, nie und nimmergerecht werden.

Theodor Fontane (1871)

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INHALT

Vorwort 13Zu dieser Ausgabe 15

ANMERKUNGEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

DER SIEBZIGER JAHRE 17

MARIE LUISE KASCHNITZ

Die sprachgewaltige Lektion der Stille 37

HANS ERICH NOSSACK

Der hanseatische Poet 42

ELIAS CANETTI

Marrakesch ist überall 47Das Leiden eines Knaben 54

WOLFGANG KOEPPEN

Wahrheit, weil Dichtung 60

MAX FRISCH

Der Klassiker der SkizzeEin Buch der Liebe

6772

HILDE DOMIN

Die Poesie und das Glockenläuten 79

ALFRED ANDERSCH

Ein Kammerspiel inmitten der Katastrophe . 85

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10 Inhalt

WOLFGANG HILDESHEIMER

Leider kein Striptease 93

HEINRICH BOLL

Nachdenken über Leni G. 99Der deutschen Gegenwart mitten ins Herz 107Vom armen H. B. 116Mehr als ein Dichter 125Nette Kapitalisten und nette Terroristen 134

HORST KRÜGER

Die Wollust der Unbefangenheit 143Das Feuilleton — wo ist es geblieben? 149

HERMANN KANT

Die zusammengelegte Schlauheit 158Die Entwilderung eines Deutschen 163

INGEBORG BACHMANN

Die Dichterin wechselt das Repertoire 169

MARTIN WALSER

Sein Tiefpunkt 175Sein Glanzstück 179Seine Rückkehr zu sich selbst 182

GÜNTER GRASS

Eine Müdeheldensoße 190Von im un synen Fruen 199Gruppe 1647 209

GÜNTER DE BRUYN

Zwei verschiedene Schuhe 218

GÜNTER KUNERT

Die Geschichte einer zunehmenden Verfinsterung . 228

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Inhalt 11

CHRISTA WOLF

Eine unruhige Elegie 240Ein trauriger Zettelkasten 249

PETER RÜHMKORF

Der Prediger mit der Schiebermütze 255

THOMAS BERNHARD

In entgegengesetzter Richtung 266

ADOLF MUSCHG

Boden unter den Füßen 278Der Rattenfänger von Zürich 284

MANFRED BIELER

Eine schnoddrige Berliner Romanze 292

UWE JOHNSON

Die Sehnsucht nach dem Seelischen

300

ULRICH PLENZDORF

Der Fänger im DDR-Roggen 310

SARAH KIRSCH

Der Droste jüngere Schwester 319

HANS JOACHIM SCHÄDLICH

Auf hohem Seil und ohne Netz 333

WOLF BIERMANN

Der Dichter zwischen allen Stühlen 340

JUREK BECKER

Roman vom Getto 351Die Liebe, die Literatur und der Alltag 355Aus Anlaß eines mißlungenen Buches 363

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12 Inhalt

NICOLAS BORN

Die Flucht vor dem Kollektivgespenst 370Der Durchbruch zum wirklichen Sehen 376

HERMANN BURGER

Ein Tüftler mit Format

384

PETER HANDKE

Die Angst des Dichters beim Erzählen 389Wer ist hier infantil? 396Sein Weg zu Gott 403

BOTHO STRAUSS

Gleicht die Liebe einem Monolog? 412

ANHANG

Nachweise und Anmerkungen 417Verzeichnis der behandelten Bücher 430Personenregister 433

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VORWORT

Die in dem Buch »Entgegnung« gedruckten Aufsätzesind zwischen 1968 und 1979 entstanden und wurden, vonzwei Ausnahmen abgesehen, zunächst in der Wochenzei-tung »Die Zeit» und (seit 1974) in der »Frankfurter Allge-meinen Zeitung« veröffentlicht. Der Band läßt aber, sohoffe ich, erkennen, daß er nicht nur eine Zusammenstel-lung oder eine Auswahl bereits vorhandener Arbeiten bie-tet: Mit dem Gedanken an dieses Buch verfaßt, sollen dieAufsätze zusammen ein einheitliches Ganzes bilden — ebendie Entgegnung eines Kritikers auf die deutsche Literaturunserer Tage.

Die Gegenstände, von denen hier die Rede ist, werdenum ihrer selbst willen betrachtet und sind zugleich alsBeispiele und Symptome zu verstehen. Das soll heißen:Nicht alle charakteristischen Bücher und Autoren jenerJahre wurden hier abgehandelt, aber alle, die abgehandeltwurden, sind, meine ich, charakteristisch für diese Zeit.

Vollständigkeit wurde nicht angestrebt, ein Grundrißder deutschen Literatur der siebziger Jahre war nicht beab-sichtigt: Statt eines Panoramas erhält der Leser eher Mo-saiksteine, nicht überblicke werden ihm offeriert, sondernEinblicke ermöglicht, und zwar solche, die sich von vorn-herein auf begrenzte Themen konzentrieren. Nur in den»Anmerkungen zur deutschen Literatur der siebzigerJahre«, die diesen Band einleiten, habe ich versucht, einesummarische Zusammenfassung zu skizzieren und auf ei-nige Aspekte und Tendenzen der Literatur unserer Zeithinzuweisen.

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14 Vorwort

Alle hier vereinten Aufsätze beschäftigen sich mit so-eben erschienenen Büchern. Es sind spontane und dennochum Distanz bemühte Äußerungen; sie dokumentieren— wie Literaturkritik eh und je — zeitbedingte Reaktionen.Deshalb werden sie hier, auch wenn ich bisweilen miteinzelnen Formulierungen nicht mehr ganz einverstandenbin, stets ungekürzt und unverändert gedruckt: Nachträg-liche Korrekturen hätten diese Arbeiten verfälscht.

Das gilt natürlich auch für jene Kritiken, die einigeUnzufriedenheit in der literarischen Welt ausgelöst habenund mitunter scharf attackiert wurden. So hat man mir beiverschiedenen Gelegenheiten vorgeworfen, meine ent-schiedene Ablehnung des Romans »Jenseits der Liebe« vonMartin Walser sei ungerechtfertigt oder jedenfalls allzuschroff, während manche Beobachter meine Befürwortungder Novelle »Ein fliehendes Pferd« desselben Autors fürallzu enthusiastisch hielten und gar als eine Art Wiedergut-machung verstehen wollten.

Nein, eine Wiedergutmachung hatte ich nicht im Sinn.Indes sind die Argumente meiner Kontrahenten, die glaub-ten, mir Übertreibung ankreiden zu müssen, nicht unbe-dingt aus der Luft gegriffen. Nur scheint es mir ange-bracht, an ein so knappes wie verblüffendes Wort vonAuguste Rodin zu erinnern: »Man soll übertreiben.« Undjene großen deutschen Kritiker der Vergangenheit, beidenen wir immer wieder in die Schule gehen sollten — ichmeine ebenso Lessing wie die beiden Schlegels, wie Börneund Heine, wie Theodor Fontane und Alfred Kerr —,

haben oft genug und bewußt übertrieben und überspitzt.Denn wovor sich der Literaturwissenschaftler hüten

sollte, das darf sehr wohl der Kritiker: Ähnlich wie derPamphletist hat er das Recht und bisweilen sogar diePflicht zu übertreiben und zu überspitzen. »Wer wahr seinwill« — schrieb Karl Jaspers —, »muß wagen, sich zu irren,sich ins Unrecht zu setzen, muß die Dinge auf die Spitze

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Vorwort 15

treiben oder auf des Messers Schneide bringen, damit siewahrhaft und wirklich entschieden werden. « 1

Vielleicht darf man ein vielzitiertes Wort von HeinrichBöll' abwandeln und sagen: Der Kritiker muß zu weitgehen, um zu zeigen, wie weit die Literatur gegangen ist.

Frankfurt am Main, im Februar 1979 M. R.-R.

Zu dieser Ausgabe

Da der Band »Entgegnung« schon im Frühjahr 1979erschienen ist, konnte er natürlich keine Resonanz auf die1979 publizierten `Bücher bieten. Und so entsprach derBand nicht ganz seinem Untertitel: »Zur deutschen Litera-tur der siebziger Jahre«. Eine Ergänzung schien alsogeboten.

Die vorliegende erweiterte Neuausgabe enthält zusätz-lich neun Arbeiten: Kritiken der aus dem Jahre 1979stammenden Romane und Erzählungen von Heinrich Böll,Günter Grass, Nicolas Born, Hermann Burger und PeterHandke, Aufsätze über die Lyrik von Sarah Kirsch, GünterKunert und Peter Rühmkorf sowie schließlich eine Skizzeüber das Feuilleton und Horst Krüger.

Aber nach wie vor gilt, was im Vorwort zur erstenAusgabe dieses Buches gesagt wurde: Statt eines Panoramaserhält der Leser eher Mosaiksteine, nicht überblicke wer-den ihm offeriert, sondern Einblicke ermöglicht. Dochhoffe ich, daß das Bild, das sich aus diesen Mosaiksteinenergibt, jetzt genauer und somit gerechter ist.

Frankfurt am Main, im Oktober 1980 M.R.-R.

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ANMERKUNGENZUR DEUTSCHEN LITERATUR

DER SIEBZIGER JAHRE

IReden wir offen: Es ist eine ebenso heikle wie undank-

bare Aufgabe, die deutsche Literatur der siebziger Jahre zucharakterisieren. Dies allerdings sollte nicht als Werturteilverstanden werden. Denn die Schwierigkeiten, die sie jenenbereitet, die eine übersichtliche Ordnung schaffen möch-ten, hängen mit ihrer Eigenart zusammen, müssen abernicht unbedingt gegen die Qualität sprechen.

Niemand wird ernsthaft bezweifeln wollen, daß in die-sen Jahren zahlreiche Schriftsteller mit großem Talent amWerk waren und daß viele bemerkenswerte oder wichtigeoder ganz einfach schöne Bücher veröffentlicht wurden.Indes haben wir es in der Regel mit isolierten, offenbar imAbseits entstandenen Arbeiten zu tun. überdies fällt esauf, daß sie meist aus der Feder von Autoren stammen, diesich längst als Außenseiter begreifen oder zumindest imLaufe der siebziger Jahre immer mehr in die Außenseiter-rolle geraten sind.

Sofort könnte man einwenden, das sei im Grunde immerso gewesen: Schriftsteller sind Einzelgänger und müssen essein, sie produzieren in der Einsamkeit, wenn nicht gar inresignierter oder trotziger Abgeschiedenheit. Gewiß, aberderartige in einer mehr oder weniger freiwilligen Isolationgeschriebene Bücher ließen zu anderer Zeit Gefühle undGedanken, Hoffnungen und Befürchtungen erkennen, dietrotz noch so großer individueller Unterschiede gemeinsa-me Kennzeichen aufwiesen. Jedes Buch war wie eine Insel.Doch viele dieser Inseln bildeten Archipele.

Das ist jetzt anders. So will es jedenfalls scheinen. Das

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18 Anmerkungen zur deutschen Literatur der Gegenwart

Bild, das sich uns bietet, wirkt unübersichtlich und verwir-rend, ja sogar chaotisch: Die Zeiten, da die literarischenAusnahmeerscheinungen die Regeln der Literaturgeschich-te sichtbar machten und bestätigten, sind vorbei. Jetzt istdie Ausnahme die Regel.

Wir haben beachtliche Einzelfälle, aber keine Schulenoder Gruppen. Wir sehen Leistungen, aber keine Richtun-gen. Es gibt neue künstlerische Errungenschaften mit Stil;aber es gibt keinen Stil der neuen künstlerischen Errungen-schaften. Wenn die deutsche Literatur der siebziger Jahreauf einen Nenner zu bringen ist, so höchstens auf den, daßsie sich auf keinen Nenner bringen läßt. Oder auch: Wirhaben Bücher, aber wir haben keine Literatur.

Stimmt das wirklich? Und worauf wäre es zurückzufüh-ren? Warum ist der Eindruck, den die schriftstellerischeProduktion der siebziger Jahre hinterläßt, so wider-spruchsvoll und disparat? Weshalb sehen wir überall Aus-nahmen und nirgends Zusammenhänge, lauter Außenseiterund keine Repräsentanten?

IIIm Oktober 1967 fand in einem zwischen Nürnberg und

Bayreuth idyllisch gelegenen Gasthaus eine Tagung der»Gruppe 47« statt. Wie üblich auf den Tagungen dieserGruppe lasen Autoren — unter anderen Günter Eich, Sieg-fried Lenz, Günter Grass und Jürgen Becker — aus ihrenneuen Arbeiten vor. Andere bekannte Schriftsteller (wieWolfgang Hildesheimer, Wolfdietrich Schnurre, HelmutHeißenbüttel, Peter Rühmkorf, Peter Härtling) nahmenzumindest an der auf die Lesungen folgenden Kritik teil.Es war alles wie eh und je bei der »Gruppe 47«.

Allerdings konnte man damals eine ungewöhnliche Dis-krepanz beobachten: Während nämlich die Texte, die manzu hören bekam, fast alle unpolitisch waren, während diekritische Auseinandersetzung mit diesen Texten auf deren

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Anmerkungen zur deutschen Literatur der Gegenwart 19

Form und Sprache abzielte, standen im Mittelpunkt dermeist erregten Debatten in den Pausen und Nächten aktu-elle politische Fragen. Mehr noch: die aufmerksam lau-schenden Tagungsteilnehmer wurden plötzlich durchSprechchöre aufgeschreckt. Vor den Fenstern des Gasthau-ses »Pulvermühle« hatten sich eigens zu diesem Zweckangereiste Studenten der unweit gelegenen Universität Er-langen, zumal Mitglieder des Sozialistischen DeutschenStudentenbundes, aufgestellt. Mit Lautsprechern ausgerü-stet, riefen sie unermüdlich: »Dichter! Dichter!« und lie-ßen zwischendurch Luftballons zerknallen.

Nicht wenige der verblüfften Tagungsteilnehmer, meistübrigens entschieden linke Schriftsteller wie Martin Wal-ser, Erich Fried und Reinhard Lettau, beeilten sich, diejugendlichen Demonstranten, von denen sie auch aufTransparenten als »Dichtergreise« verhöhnt wurden, ihrerwärmsten Sympathien zu versichern und natürlich auchihrer Bereitschaft zum freundschaftlichen Gespräch.Gleichwohl ist es trotz mehrfacher Versuche zu keinemDialog gekommen — vielleicht deshalb, weil man nichtrecht erfahren konnte, worüber die Studenten, die immerwieder verkündeten »Wir wollen diskutieren«, denn ei-gentlich diskutieren wollten. Sicher war nur, daß sie dieSchriftsteller für zu wenig links hielten und von ihnen einstärkeres politisches Engagement verlangten, unter ande-rem (so hieß es auf den zum Tagungsort mitgebrachtenhektographierten Flugblättern) gegen »Disziplinierungs-tendenzen im Gesamtprozeß der spätkapitalistischen Ge-sellschaft«'.

Zugegeben: Was sich im Oktober 1967 vor jenem Gast-haus in der Fränkischen Schweiz abgespielt hat, ließ sichnicht ganz ernst nehmen. Aber so albern dieser Vorgangauch war, so mutete er doch gleichnishaft an: In ihm kamein für die Bundesrepublik der späten sechziger Jahrecharakteristisches Spannungsverhältnis zum Vorschein.

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20 Anmerkungen zur deutschen Literatur der Gegenwart

Mit der Tagung in der »Pulvermühle« wurde nicht nurdie Geschichte der »Gruppe 47« abgeschlossen, sondernauch die der deutschen Nachkriegsliteratur. Die unerwar-tete Konfrontation, der bald viele ähnliche folgten — übri-gens oft mit sehr ähnlichen Verständigungsschwierigkei-ten —, lähmte oder zerstörte das schon seit einiger Zeitschwächliche Selbstvertrauen oft gerade derjenigen, denenwir in dem vorangegangenen Jahrzehnt die wichtigerenBeiträge zur deutschen Gegenwartsliteratur verdankten.

Viele Schriftsteller, die meist ohnehin befürchteten, ineine Sackgasse geraten zu sein und die mehr oder wenigerverzweifelt nach neuen Wegen und Möglichkeiten Aus-schau hielten, nahmen sich nun den beschwörenden Appellder oppositionellen Studenten und ihrer Gesinnungsgenos-sen zu Herzen: Während die einen, »vom Selbstzweifelangenagt und durch Sprechchöre verschüchtert, die her-kömmliche Imponier- mit einer neu eingeübten Demutsge-ste vertauschen « 2 wollten (so Hans Magnus Enzensberger),gingen die anderen prompt und forsch auf die Suche nacheiner Barrikade.

Vernachlässigten sie jetzt die Literatur, um sich derPolitik stärker als bisher widmen zu können? Oder wolltensie sich vielleicht der Politik so intensiv widmen, weil siemit dem Dichten nicht mehr recht vorankamen?

Auf jeden Fall zeugte das Tempo, in dem sich manchevon ihnen umfunktionieren ließen, von einer Krise, an dersie offenbar schon vorher gelitten hatten. Nur so ist es zuverstehen, daß sich viele Literaten ohne Reue und ohneHemmungen einer politischen und gesellschaftlichen Be-wegung anschlossen, deren Verhältnis zur Kunst und zurLiteratur eher ironisch und oft geringschätzig war, die aberSchriftsteller, zumal namhafte, gern in ihren Reihen sah.

Auf die literarische Welt gewannen nun Einfluß allerleiIntellektuelle und, häufiger noch, Pseudointellektuelle, die,meist selber bürgerlicher Herkunft, bei jeder Gelegenheit