Workshop held at Eating Disorders Alpbach
2012, Health Promotion and Prevention in
Eating Disorders and Obesity, The 20th
International Conference, October 18-20, 2012
Funded by Fonds Gesundes Österreich
Psychiatrische Diagnostik und Therapie als Teil eines ambulanten interdisziplinären essstörungsspezifischen Behandlungskonzeptes
Dr. Monika Paulis Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Intakt Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen
Ziel des Workshops
• Bedeutung psychiatrischer Diagnostik und Therapie bei Essstörungen näherbringen
• Eine Auswahl der häufigsten psychiatrischen Komorbiditäten bei Essstörungen beschreiben
• Praktischen Einblick in meinen fachärztliche Alltag bei intakt geben
• medikamentöse Therapiemöglichkeiten beschreiben
• Plädoyer für Interdisziplinarität halten
Anliegen der Teilnehmer
Häufigste psychiatrischen Begleiterkrankungen bei Essstörungen
Bulimie > Binge eating > Anorexie
• Depression
• Angststörungen
• Zwangsstörungen
• Substanzmissbrauch und –abhängigkeit
• Persönlichkeitsstörungen
• Postraumatische Belastungsstörung • Impulskontrollstörungen
• ADHS
Komorbiditätsrate bei Bulimie: 95%
Diagnose
• Wiederholte „Essanfälle“ mit Gefühl des Kontrollverlustes
• Wiederholt gegensteuernde Maßnahmen
Purging/Non-Purging • Figur und Gewicht haben
übermäßigen Einfluss auf Selbstbewertung
• 3 Monate lang, 2x/Woche
Komorbidität
• Depressio 50%,
• soziale Ängste 41 %
• Sucht30%, Impulskontrollstör. • Posttraumatische Bel.stör. 1-52%
• emotional instabile 21%,
Persönlichkeitsstör. • Perfektionismus,
Leistungsdrang, Überanpassung
Binge eating disorder: Komorbiditätsrate bis 79 %
Diagnose
• Heißhungeranfälle mit Kontrollverlust OHNE gegensteuernde Maßnahmen
• 2 Essanfälle/Woche über 6 Monate • Starker Leidensdruck
Scham-, Schuldgefühle • Extrem hastiges Essen • meist alleine, BMI 30-
40
Komorbidität
• Depression 32 %
• soziale Ängste 40%, generalisierte Ängste 15%, Panikstörung 22%
• ängstlich vermeidende, zwanghafte, emotional instabile Persönlichkeitsstörungen
ca bei 10 %
psychiatrische Komorbidität bei Anorexie 56% 56 % der AN hat mind. 1 weitere Seelische Störung
Diagnose • BMI ≤ 17,5 • Selbstinduzierter
Gewichtsverlust durch Nahrungsrestriktion
Erbrechen, Laxantien, Diuretika, SD-Hormone
• exzessiver Sport • Körperschemastörung • Endokrine Störungen
Komorbidität • Depression 40%,
• Angst 26%,
• Zwang 23%
• restriktiver AN: zwänglich, vermeidend selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
• bulimischer AN: emotional instabil, Sucht • perfektionistisch, überangepasst,
leistungsorientiert • CAVE Suizidalität
State of the Art Diagnostik und Therapie bei Essstörungen
= biopsychosozial bedingte Erkrankungen Interdisziplinäres Behandlungskonzept • Nieder- und höherschwellige Beratung • Internistische / allgemeinmedizinische Betreuung • Psychiatrische Diagnostik und Therapie fixer Baustein des
Gesamtbehandlungsplanes • Psychotherapie • Ernährungsberatung, Homöopathie, Bewegungstherapie • Beratung von Angehörigen, Prävention
„Gemeinsam an einem Strang ziehen“
Voraussetzungen für gelungene interdisziplinäre Zusammenarbeit:
Grenzen des eigenen Leistungsspektrums zu kennen
Behandlungsspektrum anderer Berufsgruppen kennen und wissen, wie man diese integrieren kann
Das Wohl des Patienten immer im Auge behalten (ziel- und auftragsorientiert im Sinne der Patientinnen)
Keine Berührungsängste mit anderen Behandlern haben
regelmäßige Besprechungen, Austausch im Team
„Gemeinsam an einem Strang ziehen“
Ziele der psychiatrischen Erstordination
• Gegenseitiges Kennenlernen Vertrauensaufbau, Abbau von Ängsten und Vorurteilen, Vermittlung von Interdisziplinarität
• Diagnostik der Essstörung
• Diagnostik zusätzlicher psychiatrischer Komorbidität • Therapieempfehlung:
– Psychotherapie/Medikation/Kombination aus beidem – Ambulant /stationär – Vereinbarung von klare Rahmenbedingungen bei ambulanter
Therapie und schwer kranken Patienten
Therapeutische Grundhaltung bei psychiatrischer Arbeit
Bezüglich Essstörung: „früher bestmögliche Lebensbewältigungsstrategie“: Gestörtes Essverhalten im Sinne einer Entpathologisierung nachzuvollziehen und nicht zu verurteilen, Empathie vermitteln, Gelassenheit gegenüber der Symptomatik zeigen „Jetzt aber nicht mehr hilfreich sondern hinderlich“ Gleichzeitig Ernstnehmen des Leidensdrucks, oder auch der möglichen Lebensbedrohung Sachliche Information bezüglich der Folgen und Risiken „ therapeutisches Fenster für Behandlung schaffen“ Externalisieren der Erkrankung:
Erkrankung vom Betroffenen separieren • Magersucht, Bulimie als Biest vorstellen, das bekämpft werden muss • Erkrankung ist nur ein Teil des Betroffenen „ ich glaube jetzt spricht die Magersucht aus dir“
Diagnostik der psychiatrischen Komorbidität
Erhebung der aktuellen Lebenssituation + Lebensgeschichte Erhebung des aktuellen psychopathologischen Status 1. Einschätzung von Bewusstsein, Konzentration, kognitiven Fähigkeiten 2. Beurteilung des formalen und inhaltlichen Denkablaufes, Ausschluss
psychotischer Symptomatik (Halluzinationen, Wahn), Dissoziationsgefühle, Derealisationsgefühle, Depersonalisation,
3. schwere Körperschemastörungen, Dysmorphophobien 4. Stimmungslage, Affizierbarkeit, Befindlichkeit, Antrieb, Schlafstörungen, 5. Ängste, Zwänge, Impulskontrolle, Traumatisierung 6. Suizidalität, Selbstverletzungstendenzen, Selbst/Fremdgefährdung 7. Suchtverhalten: Alkohol, Drogen, Abführmittel, Diuretika, Appetitzügler… 8. Krankheit- und Behandlungseinsicht, Compliance 9. Familienanamnese
Diagnosestellung und Beurteilung der Schwere der Erkrankung
Depression
• Gedrückte Stimmung,
Interessensverlust, Anhedonie • verminderter Antrieb
• Ermüdbarkeit, Aktivitätsverlust, sozialem Rückzug • Konzentrationsstörungen, Schuldgefühle,
Hoffnungslosigkeit, Suizidgedanken • Angst, innere Unruhe, • Schlafstörungen und Appetitverlust/-steigerung • Symptome müssen mind. 2 Wochen bestehen • Leicht/mittel/schwere Depression
Einschätzung von Suizidalität
• Vage oder konkrete Suizidgedanken? • Distanzierungsfähigkeit und Paktfähigkeit Was hält den Betroffenen noch zurück? Hat er noch Hoffnung? – wie
könnten die nächsten Tage verlaufen? Kann er Vereinbarungen treffen? • Isolation / soziale Kontakt / familiäre Unterstützung vorhanden?
Akzeptiert er Hilfe? Wer weiß von SMG?
• Ausmaß der affektiven Einengung: Wie erreichbar ist er im Gespräch? Affektflachheit beunruhigender als Verzweiflung
• SMV in Vergangenheit, Suizide in Familienanamnese, im Umfeld?
• psychische Erkrankungen: Depression, Angst, Alkohol CAVE Anorexie narzisstische Krisen der Adoleszenz, Verlusterlebnissen
Merke
• Wenn Sie das Gefühl haben ihr Gegenüber könnte an Selbstmord denken, bitte fragen Sie ihn danach!
• Suizidgedanken bedeuten noch keine Suizidabsicht!
• Suizidabsicht ist noch kein unwiderruflicher Entschluss!
Angststörungen bei 57-64 % aller Essstörungen
soziale Phobie bei bis zu 41 % der BN Patientinnen
Furcht vor der prüfenden Betrachtung durch andere Menschen
(Sprechen vor anderen, Angst zu Erröten, Zittern…), bestimmte soziale
Situationen (Essen, Sprechen in Öffentlichkeit) werden gemieden, Angst
vor anderen zu versagen, kann zu vollständiger Isolierung führen
Generalisierte Angststörung bei 45 % der AN Patientinnen
anhaltende Befürchtungen, Sorge über zukünftiges Unglück (Angst einem
selbst oder Familie könnte etwas zustoßen), schlechte Vorahnungen,
Verspannungen, Nervosität, Schwitzen, Zittern, Schwindel (vegetative
Übererregbarkeit)
Angststörungen
Panikstörung bei 22% der BED
schwere Angstattacken aus dem „Nichts“: Herzklopfen, Brustschmerz, Atemnot, Schwindel, Furcht zu sterben, wahnsinnig zu werden kann zu Vermeidung spezifischer Situationen führen
Zwangsstörungen
• Zwangsgedanken: quälende, unsinnige Vorstellungen, Impulse, gegen die man sich nicht wehren kann oft schambesetzte sexuelle, aggressive, blasphemische Inhalte, ferner Themen der Symmetrie, Kontamination und des Hortens • Zwangshandlungen (Zwangsrituale) wiederholte stereotype Handlungen ohne Sinn, meist vorbeugend um drohendes Unheil abzuwenden, wenn man Zwang widersteht folgt große unerträgliche Angst z.B. Kontrollzwang, Waschzwang, Reihenfolgen, Ordnungszwänge, Sammelzwänge
Zwanghafte Züge und Zwangsstörungen
häufig bei Essstörungen
• Am häufigsten bei AN (24 %) aber auch BN und BED Zwangsstörungen oft schon vor Essstörung vorhanden (v.a bei AN) • zwanghafte Symptome bei AN und BN: Symmetrie, Exaktheit und Ordnung Zweifel und Prüfen (Kontrolle) Perfektionismus daraus entwickeln sich im Verlauf der Essstörung zwanghafte Verhaltensweisen Ernährung, Essen, Gewicht und Sport betreffend: Zwangsrituale beim Essen, andere zum Essen zwingen Gewichtskontrolle, Body checking behavior (kontrollierendes Verhalten bezogen auf Körper) zwanghaftes Vermeiden Körper zu berühren nach Essen zwanghaft Sport betreiben, zwanghaftes Trainieren • Oft auch in Familienanamnese Zwangsstörungen
Klinische Symptomatik der Borderlinestörung
Problem der Affektregulation
Überflutende Emotionen, Gefühlswirrwarr, widersprüchliche Gefühle
Unangenehme Spannungszustände, Dissoziation. Impulsivität, Wut,
Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität
Kein sicheres Gefühl dafür „ wer sie wirklich seien“, „weit entfernt von sich“ Chronische Leere, neg Körperbild (hasse meinen Körper)
Zwischenmenschliche Probleme „Idealisierung und Entwertung“
Schwierigkeiten Nähe und Distanz zu regulieren, Gefühl „ anders als alle anderen zu sein“, ausgeprägte Angst verlassen zu werden, Angst vor Nähe
Dissoziative Symptomatik
Depersonalisation, Derealisation, Flashbacks, magisches Denken, „Pseudohalluzination“ Selbstschädigende Verhaltensmuster
Schneiden, Suiziddrohungen, Essanfälle, bulimisches und anorektisches Verhalten, Substanzmissbrauch = selbstschädigende Methoden zur Reduktion von Spannungszuständen
Komorbidität Essstörung und BDL
Gleichzeitiges Vorhandensein von Essstörung und BDL gestaltet Behandlung kompliziert!
Spezielle Ausbildung und klinische Erfahrung mit BDL empfehlenswert
Literaturempfehlung
Martin Bohus, Borderlinestörung, Hogrefe Verlag 2002
Posttraumatische Belastungsstörung
• Traumatisierung ist Prädiktor für Essstörung • Frauen mit PTSD haben 3fach höheres Risiko
eine Bulimie zu entwickeln • Am häufigsten bei Bulimie • Kombination aus PTSD, BDL und Bulimie: meist großes Leid, erfordert erfahrene Therapeutin oder sehr gute Supervision
Kontraindikationen / besondere Vereinbarungen für ambulante Behandlung bei
bestimmten Krankheitsbildern
• ernstliche akute Selbst- und Fremdgefährdung • Psychotische Symptomatik • ausgeprägte Borderline-Symptomatik • Suchterkrankungen, • mangelnde Paktfähigkeit • bei niedrigem BMI
Medikamentöse Begleittherapie der AN
• NUR bei Komorbidität! (Depression, Angst, Zwang, Schlafstörung…)
• geringe Evidenz für Olanzapin bei starken Zwangssymptomen, extremer Gewichtsphobien, erheblich aufs Essen eingeschränktem Denken,
Behandlungsverfahren 1. Wahl
= Psychotherapie
Keine ausreichenden Beweise dass Pharmakotherapie zur Gewichtszunahme bei AN führt Hinweise dass nach Gewichtszunahme Gewicht besser gehalten wird bei antidepressiver Therapie
Wann Medikamente bei BN?
Grundsätzlich bei jeder BN-Patientin auch ohne Komorbidität: Fluoxetin möglich = das einzig zugelassene Medikament zur Behandlung der BN, allerdings nur in Kombination mit Psychotherapie (S3-Leitlinien: Diagnostik und Therapie der Essstörungen der DGPM 2011)
Fluoxetin reduziert die Häufigkeit der Ess/Brechanfälle abhängig von Akzeptanz/Wunsch der Patientin bei chronischem Krankheitsverlauf bei mangelndem psychotherapeutischem Therapieerfolg Verträglichkeit besonders indiziert bei: Komorbidität mit Depression, Zwang, Angst
Fluoxetin Hemmt präsynaptischer die
Wiederaufnahme von Serotonin = SSRI
Nebenwirkungen: Häufig in ersten 1-2 Wochen: Appetitlosigkeit, gastrointestinale Symptome, bei höherer Dosierung: innere Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen Gelegentlich: sexuelle Dysfunktion Sehr selten: allerg. Hautreaktionen – sofortiges Absetzen Wirkung setzt erst nach 2-4 Wochen ein EKG und Laborkontrollen! Wechselwirkungen!
Für Pharmakotherapie der BED ist kein Medikament zugelassen
• SSRI: Sertralin – Grad A Evidenz • Topiramat Grad 2 Empfehlung (auch für BN) aber Cave NW: cognitive NW, Halluzinationen • Behandlung von Komorbiditäten Martin Aigner, Janet Treasure et al. Guidelines - World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP). Guidelines of the PharmacologicalTreatment of Eating Disorders. World Journal of Biological Psychiatry 2011
Weitere Indikationen für Psychopharmaka
• Schlafstörungen: Trittico, Antidepressiva, Baldrian, Hopfen, Dibondrin, Dominal, CAVE: Benzodiazepine
• Spannungszustände bei Borderline: Quetiapin, Trittico, SSRI, • Stimmungsschwankungen bei bipolaren Erkrankungen und BDL:
Stimmungsstabilisierer, Olanzapin, Seroquel, SSRI • Dissoziative Zustandsbilder (PTSD): Sertralin, Trittico, Quetiapin
• Krisen, ausgeprägte Angst, Panikstörung, Suizidalität: Benzodiazepine nur vorübergehend bei Behandlungsbeginn SSRI, Trittico, Quetiapin • Depression, Angst, Zwang: SSRI, SNRI, Quetiapin
• Schwere Zwänge, wahnhaft anmutende Körperschemastörungen pseudopsychotische Symptome: Olanzapin, Quetiapin
Was können wir gemeinsam tun?
1. Das Problem erkennen und genau verstehen wollen
2. Das Problem benennen (Diagnosestellung)
3. Gemeinsam Lösungsmöglichkeiten sammeln und in die
Tat umsetzen: Anstreben, dass sich alle Beteiligten einig sind. Teambesprechungen
4. Bilanz hinsichtlich des Erfolges ziehen