Download - Heinz Emmenegger. Messer Sieben. Roman
Messer Sieben fehlt. Schwegler bemerkt es morgens um sechs vor neun,
kurz vor dem Aufschließen. Messer Sieben ist Schweglers meistbenutztes
Messer. Mit Messer Sieben filetiert er. Mit Messer Sieben schneidet er
Stücke. Messer Sieben ist Schweglers dritte Hand. Messer Sieben fehlt
und Schwegler ahnt Schlimmes. Messer Sieben ist immer ordentlich
aufgehängt gewesen zwischen Messer Sechs und Messer Acht. Nie hätte
Schwegler Messer Sieben verlegt. Messer Sieben ist entwendet worden,
heimlich, nächtens, böswillig, unheilig. Messer Sieben ist vom Unheil
befallen worden, ist wankelmütig gemacht worden, ist Schwegler entwen-
det worden, hat sich von Schwegler abgewendet. Es wird sich vielleicht
nie weisen, was Schein daran ist. Niemand ist unschuldig, auch Messer
Sieben nicht, schon gar nicht Messer Sieben, auch wenn es nie getötet
hat, nur filetiert und Stücke geschnitten. Es hat genug Schuld auf sich
geladen, um sich das Blut auf seiner Haut jeden Abend von Schwegler
wegmachen zu lassen und dann zu den anderen Messern gehängt zu wer-
den, wo es hing, die ganze Nacht hindurch.
Messer Sieben ist auf Abwegen. Messer Sieben entdeckt seine wahre und
tiefste Schuld, seine Schneidigkeit, seine Entschlusskraft, seine Gabe,
messerscharf zu analysieren. Messer Sieben wird sich in einen Fall ver-
wickeln.
Schwegler weiß das sofort und sein eigenes Blut sackt ihm ab vor Schreck.
»Messer Sieben«, denkt er, »Messer Sieben«, spricht er, »was hast du
vor?« Schwegler sieht im Geiste Frau Meier in ihrem Blute liegen, Messer
Sieben daneben. Ausgerechnet Frau Meier, seine treueste Kundin, nicht
seine beste, aber seine treueste, seine PR-Frau.
Schwegler wagt es nicht, auch Pfister, ebendiesen besten Kunden, in des-
sen Blut liegen zu sehen, Messer Sieben daneben. Nein, das kann er sich
nicht vorstellen. Warum bloß? »Warum bloß stelle ich mir Frau Meier in
ihrem Blut vor?«, fragt er sich und schämt sich derart, dass er hochschau-
en muss und sein Blick auf der Straße der noch lebenden Frau Meier ge-
wahr wird, die treu und pünktlich um neun ihre kleine Portion tägliches
Frischfleisch abzuholen gedenkt. Schweglers Blut schießt wieder hoch
bis in den seit Generationen vererbten Metzgerkopf. Da oben peinigt es
ihn, in guter Absicht zwar, in erleichternder Absicht über Frau Meiers fe-
sches Witwenleben, aber Schweglers Schädel hält es auf und Schweglers
gesundes Gewicht ihn selbst nieder.
»Morgen, Herr Schwegler, frisch sehen Sie aus.«
Schwegler lächelt, die Tür ist offen gewesen, Frau Meier eingetreten. Wer
nur hat die Tür aufgeschlossen? Wohl der Dieb von Messer Sieben, der
Verführer von Messer Sieben?
»Morgen, Frau Meier. Hab heut wieder mal kalt geduscht. Etwas schlecht
geschlafen, morgens eine kalte Dusche und sofort ist man hellwach. Was
darf‘s denn sein?«
»Heute hab ich Besuch, mein Sohn kommt mit Familie vorbei. Ich hab an
einen Kalbsbraten gedacht.«
»Drei Jungen hat er?«
»Ja.«
»Na, eineinhalb, dann gibt‘s für Sie morgen noch was.«
»Ja ja.«
»Eigentlich wär die Kalbsbratenaktion ja für morgen gedacht. Aber ich
ziehe das für Sie etwas vor und geb‘s Ihnen heut schon günstiger.«
»Aber Herr Schwegler.«
»Das ist richtig so. Gute Kundschaft mag der Metzger.«
Schwegler nimmt Messer Acht zur Hand und schneidet den Braten der-
art, dass in etwa noch das richtige Stück für Herrn Berchtold übrig bleibt,
der um zehn sein wöchentliches Stück Kalbsbraten zum Alleinessen ab-
holen wird, und denkt dabei, dass Herr Berchtold und Frau Meier her-
vorragend zusammenpassen würden, wenn sie sich nur erst kennenler-
nen könnten, hier bei Schwegler, was durch Herrn Berchtolds und Frau
Meiers sturen Einkaufsplan bis jetzt nie zustande gekommen ist. Vor al-
lem aber denkt Schwegler an Messer Sieben, das einfach ideal ist für alle
Arbeiten. Schwegler würde am liebsten alles mit Messer Sieben machen,
sogar das Ausbeinen, auch wenn Messer Vier da um einiges praktischer
ist. Messer Sieben liegt ihm am Herzen, denkt er und muss schmunzeln.
»Sie schmunzeln so, Herr Schwegler, das tut Ihnen wirklich gut, diese
kalte Dusche. Und dann geben Sie mir noch ein Herz für den Hund.«
»Kennen Sie eigentlich den Herrn Berchtold?«, muss Schwegler fragen.
»Den Herrn Berchtold? … Also, nein.«
»Der Herr Berchtold kommt immer genau eine Stunde nach Ihnen zu mir.
Das ist mir jetzt grad wieder mal aufgefallen.«
»Ah ja, so.«
»Also meine Uhr könnte ich zumindest vormittags verschenken. Kommt
Frau Meier, muss der Laden offen sein. Kommt Herr Berchtold, ist schon
ein Viertel um, dann um Mittag kommen die Mittagskunden, die noch
rasch was haben müssen und lange überlegen, was es denn sein soll. Ge-
gen eins wird‘s ruhig und der Laden schließt sich beinahe von alleine.«
»Schon schön, so eine Metzgerei, Herr Schwegler. Und ich muss Ihnen
doch wieder mal ein Kompliment machen. Wie Sie alles so hübsch her-
richten. Gute Ware haben Sie sowieso. Das weiß offenbar nicht nur ich zu
schätzen, zumindest Herr Berchtold scheint da gleicher Ansicht zu sein.
Den werd ich also nie sehen. Da würd ich Ihren morgendlichen Fahrplan
ja ganz durcheinanderbringen. Sie laden mir da richtig Verantwortung auf.«
»So war das natürlich nicht gemeint. Nein, nein. Kommen Sie ruhig mal
um zehn. Genau, kommen Sie morgen um zehn vorbei. Neugierig sind
Sie doch.«
»Also Herr Schwegler, Sie sind mir einer. Aber es stimmt schon, bin
schon neugierig.«
Frau Meier rötet sich. Schwegler lächelt etwas süßsäuerlich, das ist nun
doch ein bisschen gewagt gewesen, der Kundschaft gegenüber. Frau Mei-
er aber hat es geschluckt und Schwegler inzwischen Braten für Frauchen
und Herz für den Hund schön eingepackt.
»Wissen Sie, Frau Meier, manchmal überlege ich mir, eine kleine Apéro-
Bar einzurichten. Da drüben hätte es noch Platz.«
Wieder errötet Frau Meier. »Ja also, Sie sprühen ja vor Ideen, Herr
Schwegler, da müsst ich denn doch meine Einkaufspläne etwas revidie-
ren.«
»Sind nur Ideen. Aber Sie fänden es eine gute Idee?«
»Doch doch, aber grad um fünf ist doch gar viel los. So eine Apéro-Bar
öffnet doch um fünf?«
»Genau, aber so würde es sich vielleicht rentieren, eine Hilfe einzustel-
len, die mir hinter der Theke zur Hand geht und die Weißweine serviert.«
»Ah ja, stimmt eigentlich.«
»Wissen Sie, Frau Meier, das wär nichts Großes. Etwas Weißen, etwas
Rohschinken, etwas Tartar, so in der Art.«
»Schön, ja.«
»Sechsundzwanzigvierzig.«
»Hier bitte.«
»Danke.«
»Hin und wieder muss man etwas Abwechslung ins Leben bringen, sie-
benundzwanzig, dreißig, fünfzig.«
»Das wird toll, Herr Schwegler. Dann morgen mal um zehn.«
»Ich wünsch Ihnen einen schönen Tag, Frau Meier.«
»Danke, ich Ihnen auch.«
Frau Meier entschwindet aufgewühlt und ohne zurückzuschauen.
Schwegler hält die Tür lange offen und denkt sich: »Eigentlich noch gut
erhalten, zwar einiges älter als ich, aber gut erhalten.« Schwegler erin-
nert sich an das Gartenfest in Pfisters Garten, als Frau Meier kurz rüber-
kam und fantastisch tanzte. »Eigentlich eine tolle Frau.« Und Schwegler
stellt sich vor, wie sie Herrn Berchtold küsst, diesen etwas dürren und
verschmitzten Mann, der nun immer älter wird und sicher froh wäre um
etwas Hilfe von Frau Meier, die noch fesch genug ist, um auch Schwegler
einiges zu bieten, wenn er sich wieder etwas optimistischer selbst betrach-
ten darf, und eigentlich darf er das, schon im Vergleich mit den anderen
Waschlappen in seinem Alter, außer Pfister, ein toller Kerl, etwas jünger,
aber ruhig, irgendwie angenehm ruhig und eine zufriedene Frau zu Hau-
se, im Gegensatz zu ihm, Schwegler, dessen Frau hat flüchten müssen,
die er in die Flucht geschlagen hat, einfach unerträglich gefunden hat.
Aber jetzt wär er vielleicht langsam wieder reif für so eine Frau, so eine
mit etwas Pepp. Eine, die ein Messer führen kann, dass es schön ist, zu-
zuschauen. So was hatte seine Exfrau nie gekonnt, daran hatte er sich
als Erstes und Letztes gestoßen, geschnitten eigentlich, dieses unschöne
Führen des Messers hatte Schweglers Schönheitssinn arg verletzt, immer
wieder, das war es gewesen, nicht zuletzt darum hatte er sie verstoßen,
grauenhaft. Messer Sieben, hat etwa Marie-Louise, seine Exfrau, Messer
Sieben entführt?
Messer Sieben denkt sich auch seinen Teil. Es liegt da, blutbesudelt, und
fühlt sich stumpf und matt, auch etwas schwerer als geputzt und aufge-
hängt neben Messer Sechs und Acht. Messer Sieben ist es nicht gewohnt,
so lange ungeputzt und ungenutzt im Blut herumzuliegen. Messer Sie-
ben bereut. Es bereut etwas, das ihm noch nicht so ganz klar erscheinen
will, nicht verwunderlich in dem blutverschmierten, herumliegenden Zu-
stand. Die Ungewissheit über das Ende ebendieses Zustandes ist Messer
Sieben nicht gut bekommen. Es ist es gewohnt, blutbeschmiert herumzu-
liegen, aber Schwegler regelt immer wieder alles, reinigt Messer Sieben
für die nächste Kundschaft oder dann fürs gesellige Hängen über Nacht.
Nun aber ist nichts gewiss. Im übelsten Fall würde Messer Sieben über
Jahre blutbesudelt, später von eisenhaltigen Blutkrusten maseriert, hier
herumliegen. Die anderen Fälle waren auch nicht eben erfreulich, und
Messer Sieben will nicht daran denken oder kann es nicht, weil es zu
wenig Erfahrung außerhalb der schweglerschen Welt hat oder schlicht
etwas beschränkt ist, das darf man hier sicher gefahrlos sagen, wo kämen
wir hin, würde so ein Messer uns verstehen, aber bleiben wir trotzdem
vorsichtig und schließen nichts aus. Also, Augen auf.
Solche offenen Augen hat zum Beispiel Herr Kummer. Herr Kummer be-
wohnt ein zwei Zimmer großes Appartement, von dessen Wohnzimmer
aus er rechter Hand Schweglers Metzgerei sieht, die er noch nie betreten
hat, da Vegetarier seit seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag vor drei-
undvierzig Jahren, und linker Hand die Vierzimmerwohnung von Herrn
Berchtold, mit dem er hin und wieder ein paar Worte wechselt, zum Bei-
spiel beim Gang zum Gemüsemarkt, wo Herr Berchtold ihm auf dessen
eigenem Gang zu Schwegler um zehn Uhr begegnet.
Dass Herr Berchtold jeden Tag zu Schwegler läuft, hat Herrn Kummer
immer schon bedrückt, aber mit diesem Bedrücken lebt er nun seit seinem
fünfundzwanzigsten Geburtstag, wenn nicht schon seit Geburt. Auch ist
der Metzger Schwegler Herrn Kummer nicht etwa zuwider. Herr Kummer
hat sogar schon die Bekanntschaft mit dem Metzger Schwegler gemacht,
als dieser auf der Straße mit Herrn Berchtold zusammen geschwatzt hat.
Herr Kummer wurde sodann dem Metzger Schwegler vorgestellt, wobei
sogar zur Sprache kam, weshalb Herr Kummer nie den Laden des Herrn
Schwegler aufsuche, der ihm so nahe wäre, wo doch hingegen der Ge-
müsemarkt zwanzig Minuten Gehzeit bedeute, was Herr Kummer, rank
und schlank, natürlich nur als willkommenen Dienst an seiner Gesund-
heit auffasst. Herr Berchtold dagegen, obwohl ebenfalls von noch guter
Konstitution, fährt immer mal gerne mit seinem in Ordnung gehaltenen
Ford Granada Cabrio aus, hat Herrn Kummer sogar einmal aufgeladen,
als dieser mit einem Rucksack voller Gemüse auf dem Heimweg war, was
Herr Kummer immer noch etwas bereut, andererseits als Abwechslung
empfunden hat, die man sich durchaus mal gönnen darf, und vor allem
als Entgegenkommen gegenüber der Schwäche eines Mitmenschen.
Herr Kummer beobachtet auch immer Frau Meier um neun Uhr, da er
sich zu dieser Zeit einen Tee auf dem kleinen Balkon genehmigt, falls
das Wetter es erlaubt. Herr Kummer kennt auch Pfister aus dem Quar-
tierturnverein, dem Pfister seit Neuestem angehört und in den er durch
Herrn Berchtold eingeführt worden ist. Der Junge hat Herrn Kummer
einen guten Eindruck gemacht, auch wenn man ihm den Fleischfresser
sofort ansah.
Und Herr Kummer hat, das sei nun gesagt, wirklich Kummer. Die Welt
ist ihm nicht hold, nicht gefügig, ist es immer weniger, seit verlorener ju-
gendlicher Elan und verlorenes Engagement, überhaupt etwas verlorene
Libido ihn nicht mehr unter Gleichgesinnte tragen im Kampf gegen Tier-
fabriken oder für Freikörperkultur und derartige Dinge.
Herr Kummer bemerkt an sich eine gewisse Isolation von der Welt, die
andere mit dem Quartiermetzger besser kaschieren als Herr Kummer mit
dem Gemüsehändler, der nicht im Quartier wohnt, herumfährt oder gar
turnt, sondern auf dem Land lebt und Herrn Kummer leider noch nie zu
sich nach Hause eingeladen hat. Herr Kummer sieht sich manchmal sogar
als Opfer oder letzter Soldat in diesem ausgesprochenen Fleischfresser-
quartier, das im Sommer enorme Schwaden an giftiger Grillluft produ-
ziert, denen er nur ausweichen kann durch gelegentliches Campieren auf
südlichen Nudistencamps, auf denen Grillen wegen akuter Waldbrand-
gefahr verboten ist. Oder er muss warten, bis die reinigenden Sommerge-
witter die Schwaden wieder aus der Luft auswaschen, bedauerlicherweise
in Böden hinein, die Herrn Kummers Nahrungsbasis bilden. So muss
Herr Kummer allerlei ertragen und erträgt es auch, so gut er kann.
Herr Berchtold klemmt sich die Einkaufstüte mit der lustigen Werbung
des Supermarkts unter den Arm und tritt aus seinem, ihm gehörenden
Mehrfamilienhaus, das vier ihm Miete zahlende Familien beherbergt.
Oben rechts wohnt der Besitzer, Herr Berchtold selbst, dessen Mut-
ter schon bei der Mutter von Metzger Schwegler ihr Fleisch einkaufte,
während Schweglers Vater noch eigenhändig hinten im Schlachtraum,
wo nun Schweglers Modelleisenbahn steht, Kälber, Kühe, Schweine
und Schafe um deren Leben brachte. Auch Herr Berchtold holte sich als
Nochjunggeselle sein Fleisch bei Schweglers Mutter ab und akzeptierte
die fuglose Übernahme durch den Sohn, der doch einiges jünger war als
Herr Berchtold.
Herr Berchtold schickte vorübergehend auch seine Frau zum Metzger.
Nun, sie nahm es aus ihrer Sicht natürlich selber in die Hand oder wies
jeweils einer ihrer zwei Töchter diese Aufgabe zu, die beide nun in einer
anderen Stadt glücklich verheiratet sind und je drei Kinder aufziehen.
So kann es kommen, dass Herr Berchtold mit einem Enkelkind, vor al-
lem mit Tobias, hin und wieder zu Metzger Schwegler geht und dessen
Modellbahn betrachten darf, was ein Privileg und eigentlich fast nieman-
dem bekannt ist, dass nämlich der Metzger Schwegler eine solche Mo-
dellbahn führt. »Sagen Sie es nicht weiter«, hat Herr Schwegler zu Herrn
Berchtold gesagt, und daran hat er sich gehalten, der Herr Berchtold, der
im Übrigen ein netter Vermieter ist und nun auf dem Weg zu Schweg-
ler zum Vegetarier Kummer hochschaut, der gerade seinen Tee bei hüb-
schem Wetter auf den kleinen Balkon trägt und da auf dem sehr kleinen
Holztisch abstellt. Herr Berchtold nickt ihm zu, in der Annahme, dass
Herr Kummer, da er nun die Tasse hält, die andere Hand nicht zum Gruß
heben möchte, und lässt das Gestikulieren, hat er das doch viele Male
schon gemacht und wird es hoffentlich noch weitere viele Male machen.
Nach dem Gruß senkt er etwas beschämt den Kopf, da er nun schließ-
lich bald da eintritt, wo Herrn Kummers Zölibat es diesem nicht zulässt,
ebenfalls einzutreten, in Schweglers Metzgerei.
Als Erstes bemerkt Herr Berchtold bei diesem Eintritt in Schweglers
Laden, dass Messer Sieben fehlt, und ist darob selber sehr verwundert,
denn Messer Sieben hängt ja sowieso nie bei den anderen Messern, son-
dern liegt hinter der Theke, wo es gar noch nicht ersichtlich ist für Herrn
Berchtold. Doch der Gebrauch von Messer Sechs und auch Acht anstatt
Sieben und deren Liegen hinter der Theke anstatt Hängen bei den ande-
ren Messern interpretiert Herr Berchtold so, dass Messer Sieben fehlt.
Etwas stimmt einfach nicht, so reflektiert jedenfalls Herr Berchtold und
schaut erst jetzt Schwegler an, bei dem vielleicht etwas abzulesen wäre,
und tatsächlich ist da eine Unruhe, versteckt und nur für einen Kenner
wie Herrn Berchtold zu bemerken, eine Unruhe, die das gewöhnliche
Maß an Unruhe in Schwegler drin übersteigt oder gar etwa eine neue
Art von Unruhe aufzeigt, wenn man denn von Arten von Unruhen reden
kann und nicht etwa nur von Arten von Objekten, die ein gewisses Maß
an Unruhe zeigen, aber solches hat Herr Berchtold keine Zeit zu denken,
obwohl er sich in seiner Jugend hin und wieder solches gedacht hat, im
Alter aber nun doch weniger Zeit dafür findet, was ihn wiederum öfter
beschäftigt, dass er nun im Alter weniger Zeit findet zu Substanz-Modus-
oder Subjekt-Prädikat-Betrachtungen und dergleichen. Aber auch dieser
Gedanke des Alterns beschäftigt ihn momentan kaum, das Fehlen von
Messer Sieben oder zumindest der Eindruck, dass es fehle, füllt seinen
Kopf ziemlich aus, und als er zwischen Realität und Einbildung des Feh-
lens von Messer Sieben hin- und herschwankt und deshalb gerade am
Hingleiten zur Reflexion über das Obige ist, da begrüßt ihn Schwegler,
den er schon so lange kennt, mit »Herr Berchtold« und zieht alle Aufmerk-
samkeit auf die eigentliche Sache, die Fleischschau und den anschließen-
den Kauf. Herr Berchtold nämlich muss das Fleisch immer lange betrach-
ten, weiß nie im Voraus, was er zu kaufen und zu essen gedenkt, lässt sich
einfach inspirieren, steht immer erst vor Schweglers Theke, lässt auch
mal anderen Kunden den Vortritt, um in Ruhe die Auslage zu betrachten,
die Schwegler fünf Minuten vor zehn immer besonders hübsch und in-
teressant zurechtmacht, zum Beispiel mit einem frisch angeschnittenen,
richtig appetitlichen großen Stück Entrecote oder einem Messer, norma-
lerweise Messer Sieben, das in die entsprechende Richtung weist, heute
eben in Richtung des von Schwegler vorgesehenen Kalbsbratens, wenn
es denn da wäre. Herr Berchtold weiß das irgendwie und kommt immer
um zehn, kommt aber auch um zehn, weil er um neun das Gefühl hat,
dass erst die Kunden bedient werden müssen, denen es eilt, die tatsäch-
lich zum Mittagessen einen niedrig gegarten Braten essen möchten, und
um elf wiederum jene, die sich bald beeilen müssen, um auch schnellere
Mittagsgerichte herzustellen, so kommt Herr Berchtold um zehn, denn
niedrig gegarten Braten isst er sowieso nur zum Abendessen.
»Messer Sieben ist Schweglers meistbenutztes Messer. Mit Messer Sieben filetiert er. Mit Messer Sieben
schneidet er Stücke. Messer Sieben ist Schweglers dritte Hand. Messer Sieben fehlt und Schwegler
ahnt Schlimmes.«
Eines Morgens in Herrn Pfisters Viertel stellt der Metzgermeister Schwegler fest,
dass sein geliebtes Messer Sieben nicht mehr am gewohnten Platz hängt. Messer Sieben
ist eigene Wege gegangen und zeigt erstaunliche und erschreckende Fähigkeiten. Das
ganze Nachbarschaftsgefüge gerät durcheinander, und dies schlägt Wellen bis nach Af-
rika.
Der pensionierte Versicherungsinspektor und Ex-Fremdenlegionär Berchtold fühlt sich
berufen, nochmals seine kriminologischen Talente zu schärfen, und sein vegetari-
scher Nachbar Kummer versucht als frischgebackener Rentner, sich doch noch zum
Fleischesser zu wandeln. Auch eine flotte Altersliebe scheint sich anzubahnen und im
Untergrund geschehen seltsame und grausige Dinge. Herr Pfister und seine Frau Heidi
versuchen zu moderieren, aber Messer Sieben ist außer Kontrolle.
Gebunden ISBN 978-3-905801-96-5E-Book ISBN 978-3-905801-97-2
www.salisverlag.com