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    Einbildungskraft (Mentis imaginationes) enthalten an sich betrachtet keinen Irrtum (Eth. II prop. 17 schol.), dieser entstehe erst dadurch, dass wir falsche Urteile ber die Sinnes-daten machten. Der Standpunkt Spinozas ist also klar formuliert. Deshalb verwundert es, wenn Verf. schreibt, dass die inadquaten Ideen nicht etwas Nichtiges sind, sie haben ihre immanente Notwendigkeit und Positivitt (143). Hier wird aus der Imagination als einem positiven Vermgen darauf geschlossen, dass es auch in den inadquaten Ideen etwas Positives gbe. Ebenso gut knnte man argumentieren: Weil das Vermgen des Rechnens etwas Positives ist, so enthlt auch ein falsches Rechnungsergebnis etwa 2 + 2 = 5 etwas Positives.

    Ungeachtet dessen, dass fr Spinoza das Unwahre nicht aus der Imagination sondern aus dem Urteil entsteht, sympathisiert der Verf. mit den modernen Spinozisten (v.a. mit Deleuze), die die Produktivitt der Falschheit hervorheben, im Gegensatz zu traditi-onellen Deutungen, nach denen das Vorstellungsvermgen [] oft zu einer Quelle der Falschheit vereinfacht wurde (144). Die daraus resultierende Aporie will Verf. mittels des von iek entlehnten Begriffs der Krmmung (98), bzw. der Torsion (206f) auflsen: Das Unvollendete bzw. das Negative sei eher als Krmmung denn als Manko zu deuten (120). Als ein Beispiel, das den besonderen ontologischen Status der Krm-mung belegen soll, gelten ihm Schulden, die, solange sie nicht zurckbezahlt sind, ein[en] Behlter des nicht aktualisierten Seins, ein[en] Speicher der Potenzialitt (99) bilden. Mit solchen Bildern gelingt es Verf. jedoch nicht, den Begriff der Krmmung nher zu explizieren, er meint lediglich, dass Manko und Krmmung zwei alternative Konzepte seien, um eine Transformation als etwas dem Sein selbst Innerliches (177) zu denken, wobei ersteres noch im Banne der alten Metaphysik verbleibe (185), whrend die Idee der konstituitiven Verschobenheit des Seins, der Krmmung, sich von Hei-degger und Deleuze herleiten (186f) lasse.

    Das Fazit luft darauf hinaus, es gebe bei Spinoza im Unterschied zu Hegel keine Dialektik des Negativen im Sinne eines Prozesses; der Spinozismus verharre stets beim Blickpunkt des Umschlagspunktes (206f). Dies kann zwar als eine interessante Deutung gelten, sie bewirkt jedoch kaum Klarheit ber den Status des Negativen bei diesen Philosophen etwa ob das Prinzip der Krmmung nur als ein Erkenntnismittel oder gar ontologisch zu denken sei. Vesa Oittinen (Helsinki)

    Gandler, Stefan, Frankfurter Fragmente. Essays zur kritischen Theorie, Peter Lang, Frankfurt/M 2013 (123 S., br., 19,95 )

    Die Fragmente werden als Gedankenreste gekennzeichnet, die aus Frankfurt in die neue Heimat Mexico-City gerettet wurden, und erst dort, fernab der gesellschaftlichen und politischen, auch universitren Realitt der postfaschistischen Bundesrepublik, wieder zusammen gesetzt werden konnten. Daher fragt Verf. im ersten Kapitel: ist Mexiko gar Frankfurt nher als Frankfurt sich selbst? (41). Ausgangspunkt dieser geo-graphisch-politischen Verschiebungen ist die Feststellung, dass die Frankfurter Schule tot sei (19), was Verf. u.a. mit eigenen Erfahrungen Ende der 1980er und in den frhen 1990er Jahren als Asta-Vorsitzender begrndet, als Vertreter des Asta bei einem Festakt der Universitt ausgeladen und mit Polizeigewalt an der Teilnahme gehindert wurden, ohne dass dies von den Nachfolgern der Kritischen Theorie, Jrgen Habermas und Axel Honneth kritisiert wurde (14ff). Durch das universitre Umfeld in Mexico City, in dem der Marxismus viel grere Relevanz hat als in deutschen Universitten, war es erst fr den Verf. wieder mglich, die Anregungen der ersten Generation der Kritischen Theorie produktiv umzusetzen.

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    Im ersten Kapitel wird der Bruch der Frankfurter Schule mit der klassischen Linken festgemacht an dem Bruch mit dem festen Glauben an die fortschrittlich-revolutionre Rolle des Proletariats (22). Marx konnte laut Verf. noch nicht wissen, dass sich in dieser Produktionsweise Irrationalismus fest mit instrumenteller Vernunft verbinden wrde (24). Als Konsequenz knne die kritische Theorie weder Aussagen ber die Zukunft noch ber die konkreten Mglichkeiten gesellschaftlicher Vernderungen machen, sondern nur die Fehler benennen, die nicht wiederholt werden drfen (29). In den Elementen des Antisemitismus entwickeln Adorno und Horkheimer laut Verf. eine Reflektion auf die Vernunft diese bedrfe der Erinnerung und einer kritischen berprfung der eigenen Projektionen, um emanzipative Vernunft zu bleiben. Somit gehrt zur emanzipativen Vernunft die Reflektion ihrer nicht-rationalen Grundlagen (38ff).

    Kernstck des Bchleins ist ein Essay zu Walter Benjamins ber den Begriff der Geschichte, insbesondere zu seinem von Paul Klees Bild angeregten Engel der Geschichte. Warum ein Engel? Weil Benjamin die Theologie in den Dienst des histori-schen Materialismus stellen wollte, da das Sichtbare nicht alles ist und die gegenwrtige herrschende Macht nicht die einzige (47). Benjamin bertrgt diese himmlischen Ideale der Theologie auf die Jetztzeit und sucht nach Brchen und anderen Logiken in dieser. Der Engel schaut zurck, weil allein die Vergangenheit erkennbar ist und nur so eine Ver-bindung mit den Kmpfen frherer Generationen der beherrschten Klassen mglich ist. Dass der Sturm vom Paradiese her weht und uns von diesem entfernt, zeige die Fortbe-wegung des Engels als eine entfremdete Bewegung, eine die er macht, ohne sie kontrol-lieren zu knnen, stehe daher fr den kapitalistischen Fortschritt, der uns aufgezwungen wird wir knnen nicht [] sehen, wohin wir uns bewegen, denken wir seien aktiv, weil wir handeln, haben aber keine Kontrolle ber Form und Ziel dieser Handlungen (62f). Whrend nach Marx die Revolutionen die Lokomotiven der Weltgeschichte sind, bezeichnet Benjamin die Revolutionen als Griff nach der Notbremse (70). Verf. sieht die revolutionre Aktion als eine Unterbrechung der leeren Zeit, als etwas auerhalb dieser totalitren Normalitt und dennoch nicht auerhalb der Geschichte (67). Die Relevanz des von Benjamin betonten Verhltnis mit der Vergangenheit (68) verdeutlicht Verf. am Beispiel des Neozapatismus und seinen Symbolen des indigenen Widerstands. Zentral sei hier die Verbindung von Tradition und universalen Idealen: Die Tradition auf eine nicht-folkloristische Weise wieder aufzunehmen, knnte das sein, was Walter Benjamin den Tigersprung ins Vergangene nennt, doch dieser Sprung bedeutet nicht, sich von der Mglichkeit einer radikal von der existierenden Gesellschaft [] unterschiedenen zu verabschieden [] Revolutionr sein schlsse demnach die Fhigkeit mit ein, die vergangenen Generationen zu sehen und von ihnen zu lernen. (74). Die irrefhrende Vermengung von Tradition und Traditionalismus sei Grundlage der Debatten, die Gleichheit und Differenz als Alternativen diskutieren (74). Benjamins Orientierung der Klassenkmpfe am Bild der geknechteten Vorfahren (79) werde von sozialen Bewegungen besttigt, die bis heute von kolonialer Herrschaft geprgt sind.

    In weiteren, krzeren Kapiteln geht es um Helmut Dubiel als Erbe der Kritischen Theorie und die politische Relevanz der Debatten um Differenz und Identitt. Verf. kriti-siert Dubiels Versuch, sich selbst und Axel Honneth als dritte Generation der Kritischen Theorie einzufhren und dabei unter Verweis auf die vernderten gesellschaftlichen Ver-hltnisse die Radikalitt ihrer Kritik preiszugeben. Dubiels Abtrennung des deutschen Faschismus von der Bundesrepublik bersehe, dass die Kritik der ersten Generation der Kritischen Theorie erstens den Nationalsozialismus in die Geschichte der brgerlichen Gesellschaft einbette, was erst ihre Radikalitt ausmache, und zweitens bereits in der

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    Dialektik der Aufklrung ihre Gesellschaftskritik keineswegs auf den deutschen Faschis-mus begrenze, sondern auch auf den nordamerikanischen Kapitalismus ausweite. Indem Dubiel den Faschismus auf historisch-epochale Traumata reduziere (105), degradiere er ihn wieder zum Betriebsunfall, wogegen die erste Generation der Kritischen Theorie angetreten war.

    Abschlieend wendet sich Verf. postmodernen Interpretationen von Differenz und Identitt zu und kritisiert, dass das Wechselspiel der Logiken von Differenz und Gleichheit strker in der politischen konomie des Kapitalismus verankert werden msse (115ff). Die berbetonung des Merkmals der Differenz falle auf das Beharren des Rassisten herein, der das Fremde, das nicht Vertraute ablehne, wo es doch, wie von Adorno und Horkheimer gelernt werden knne, eher um Hass auf das allzu Bekannte in einem selbst (119) gehe. Folglich knne der Hass auf den Anderen auch nicht durch die Akzeptanz seiner Differenz verschwinden, sondern nur durch die Anerkennung der eigenen Widersprche und somit durch die berwindung der Abhngigkeit von den gesellschaftlichen Normen (120). Dagegen verwische der Begriff der Identitt diese internen Widersprche: Der Mensch ist nur als Toter mit sich identisch. (121) Analy-sen, die sich vor allem um die Begriffe Differenz und Identitt drehen, bringen laut Verf. die existierenden Zwangsverhltnisse zum Verschwinden, die nicht durch die Schaffung von neuen Identitten, sondern nur durch die Emanzipation der Gesellschaft als sol-cher (124) abgeschafft werden knnten.

    Der Essay zu Benjamins Thesen zur Geschichte und die philosophischen Miniaturen legen berzeugend dar, warum die Anstze der Frankfurter Schule trotz zahlreichen Ver-suchen ihrer Verharmlosung auch heute noch zur radikalen Kritik von unterdrckerischen Verhltnissen und zur Reflexion auf den Zusammenhang von Psychischem und kapitalis-tischer Produktionsweise ntzliche Ausgangspunkte bieten. Jrg Nowak (Berlin)

    Kramer, Ingo, Symptomale Lektre. Louis Althussers Beitrag zu einer Theorie des Dis-kurses, Passagen Verlag, Wien 2014 (160 S., br., 17,90 )

    Worin besteht Althussers spezifischer Beitrag zu einer Theorie des Lesens? Trotz eines gestiegenen Interesses an seinem Werk gehre die Theorie der symptomalen Lek-tre bis heute zu den dunklen Flecken der Althusserrezeption (4). Dass auf neuere Diskussionen wenig Bezug genommen wird, schadet nicht unbedingt, denn Verf. macht sich gradlinig argumentierend daran, das althussersche Lektreverfahren auseinander zu nehmen: Welche methodologischen Implikationen birgt sein Verfahren, das versucht, dem Raum zwischen den Zeilen das Verborgene zu entlocken (16), indem es eine eigenartige Zusammenfhrung von Erkenntnistheorie und Leseprozessen (17) wagt? Was heit es berhaupt, das umgangssprachlich so bezeichnete Lesen zwischen den Zei-len als wissenschaftliche Praxis und Methode der Interpretation zu begreifen?

    Der erste Teil widmet sich Bezgen zu Psychoanalyse, Linguistik und Struktura-lismus sowie dem daraus resultierenden Import von Begriffen in das althussersche Kategoriensystem (18). Hervorgehoben wird die Bedeutung des Begriffs Symptom und seine Verschrnkung mit zahlreichen anderen Begriffen des rezipierten Vokabulars: Indem Althusser den Begriff des Symptoms whlt, vermeidet er die Problematik der Unterscheidung von Metapher und Metonymie, Syntagma und Paradigma sowie der zwi-schen Verschiebung und Verdichtung (52). Kurzum: Der Begriff des Symptoms fasse zahlreiche Bedeutungen und Schnittfelder der Referenzen Althussers zusammen und werde ihm damit zum Grundtheorem fr die Analyse tieferliegender Bedeutungs- und Kausalzusammenhnge. Derart gewappnet gelinge ihm die Dechiffrierung der abwe-


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