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Horst Junker

Die Beliebigkeit der Nachhaltigkeit in der betrieblichen Umweltinformatik

1992 begann der Aufbruch in Rio de Janeiro.Auf dem dortigen Weltgipfel wurde die nach-haltige Entwicklung ausgerufen … und alle, allefolgten diesem Ruf. Konsequent wurden vielfäl-tige Aktivitäten gefordert und entwickelt – un-ter dem Rubrum der Agenda 21 bis hinunter aufdie lokale Ebene, zahlreiche NGOs machtenund machen sich für eine nachhaltige Entwick-lung stark.

Auf der politischen Ebene ist die Forderungnach einer nachhaltigen Entwicklung allerdingsinzwischen zur Beliebigkeit verkommen. Nach-haltigkeit wird bestenfalls als verbale Keule inpolitischen Auseinandersetzungen geschwun-gen. Die seinerzeit postulierte Trias einer so-wohl ökonomischen als auch ökologischen undsozialen Entwicklung – die sogenannte TripleBottom Line – als unabdingbare, sich in ihrenKomponenten notwendigerweise ergänzendeGanzheitlichkeit ist im politischen Prozess ver-loren gegangen. Der Begriff der Nachhaltigkeitist heute weitgehend sinnentleert und hat sichverselbstständigt. Gegenwärtig ist so ziemlichalles nachhaltig – beispielsweise wird uns versi-chert, dass die aktuelle wirtschaftliche Entwick-lung nachhaltig sei.

Obwohl gesamtgesellschaftlich die Not-wendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung ak-zeptiert ist, ist sowohl im politischen Raum alsauch in den Unternehmen jenseits von Sonn-tagsreden und Lippenbekenntnissen wenig Be-mühen erkennbar. Nicht einmal die sich aus derNachhaltigkeit zwingend ergebende Forderungnach einer Harmonisierung von Ökonomie undÖkologie wird vorangetrieben. Unternehmenund ihre Lobbyisten haben es bis heute erfolg-reich verstanden, zu verdeutlichen, dass die Re-alisierung ökologischer Maßnahmen in ihrenBetrieben nicht tragbare, negative ökono-

mische Auswirkungen hat, die ihrer globalenWettbewerbsfähigkeit abträglich sei. Umwelt-schutzbemühungen werden ausschließlich alsKostenfaktor identifiziert und mit dem Schlag-wort »Umwelt kostet« belegt.

Wenn auch die Wirtschaft bislang denNachweis für die Richtigkeit dieser Aussageschuldig geblieben ist, kann sie aber so langenicht als abwegig betrachtet werden, als Um-weltschutzmaßnahmen im Wesentlichen durchden Einsatz sogenannter End-of-Pipe-Technolo-gien getragen werden. Beispielsweise werdenMaßnahmen zur Emissionsreduktion meist da-durch realisiert, dass am Ende eines ansonstenunveränderten Fertigungsprozesses zusätzlichetechnische Maßnahmen – mit dem Ziel der Er-füllung rechtlicher Vorgaben – ergriffen wer-den, um Umweltschädigungen zu vermindern.Somit werden Umweltschutzmaßnahmen ad-ditiv, nicht integrativ ergriffen.

Auf diese Weise ist der Weg zu einer Harmo-nisierung von Ökonomie und Ökologie verbaut,und es zeigt sich, dass die von den Unterneh-men vorgetragene Notwendigkeit einer nach-haltigen Entwicklung in ihrem betrieblichen All-tag nicht wirklich gelebt wird.

Etwa gleichzeitig mit dem Beginn einerweltweiten Popularisierung des Nachhaltig-keitsgedankens wurden in Deutschland ersteVersuche unternommen, die wissenschaftlicheDisziplin einer betrieblichen Umweltinformatik(BUI) aufzubauen, ohne dass deren Ergebnissein der Praxis der Unternehmen hinreichend be-achtet wurden. Das mag unter anderem darinbegründet sein, dass die frühe BUI die Ergebnis-se der Nachhaltigkeitsdiskussion faktisch nichtzur Kenntnis genommen hat. Vielmehr ließ siesich hauptsächlich von der Fragestellung leiten,wie das Aufgabenspektrum des betrieblichen

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operativen Umweltmanagements durch IT un-terstützt werden kann. Insbesondere sah undsieht sie sich vor die Aufgabe gestellt, den staat-licherseits gesetzten Verpflichtungen so nach-zukommen, dass die Unternehmen in einemrechtssicheren Rahmen agieren können.

Auch vonseiten der BUI wird bei ihren Sys-tementwicklungen das Ziel einer Harmonisie-rung von Ökonomie und Ökologie weitgehendaußer Acht gelassen. Zwar wird argumentiert,dass jenseits der Unterstützung der Rechtskon-formität Softwaresysteme entwickelt werden,die dem betrieblichen Umweltschutz dadurchdienen, dass sie auf der betrieblichen Inputseitezur Material- und Energiereduktion und auf derOutputseite zur Minderung von Emissionenund Abfällen beitragen und somit mittelbarauch kostenwirksam sind. So richtig diese Fest-stellung auch sein mag, eine gemeinsame,gleichzeitige und gleichwertige Berücksichti-gung ökonomischer und ökologischer Ziele hat– ähnlich wie aufseiten der Unternehmer wie-derum ohne konkrete Nachweise – die Theseaufgestellt: »Umweltschutzsoftware rechnetsich.«

Damit stehen sich in der Unternehmens-wirklichkeit zwei Thesen konträr gegenüber.Nimmt man die Machtverhältnisse in den Un-ternehmen zur Kenntnis, dann ist augenfällig,welche der beiden Thesen das Unternehmens-handeln bestimmt.

Die Daseinsberechtigung einer wissen-schaftlichen Disziplin wird im Wesentlichendurch ihre gesellschaftliche Akzeptanz be-stimmt. Solange diejenigen, die der These nach-hängen, dass Umweltschutz kostenträchtig sei,im gesellschaftlichen Spektrum die deutlichgrößeren Machtpotenziale besitzen, hat die BUI– so wie sie bislang betrieben wird – einen sehrschweren Stand. In einem Überblick über dierund zwei Dekaden der Existenz dieser Disziplinist zu erkennen, dass die Euphorie der frühenJahre deutlich geschwunden ist, was sich bei-spielsweise an der beständig geringer werden-den Publikationsdichte festmachen lässt. Die

frühen Protagonisten haben sich weitgehendverabschiedet und sich anderen Themen zuge-wandt – wohl auch wegen geringer Resonanzihrer Ergebnisse in der betrieblichen Praxis.

Damit wird erkennbar, dass sich die BUI of-fenbar verrannt hat. Die mangelnde Akzeptanzbzw. die Verkürzung des Nachhaltigkeitsbe-griffs ausschließlich auf Umweltphänomenehat ihr massiv geschadet. Sie mag noch effizien-te Ergebnisse erarbeiten, doch sie arbeitet nicht(mehr) effektiv.

Die BUI, für die nicht »Green IT«, sondern »ITfor Green« im Fokus ihres Aufgabenspektrumsstehen muss, bedarf einer radikalen Rückbesin-nung. Ihre Prämissen und – soweit vorhanden –ihre Konzepte sowie ihre Aufgabenschwerpunk-te müssen infrage gestellt werden. Ein »weiterso« – wie in den letzten zehn Jahren – führthoffnungslos in eine Sackgasse. Auf diese Artund Weise ist die Disziplin dabei, sich überflüs-sig zu machen.

Eine »radikale« Rückbesinnung hat an dieWurzeln zu gehen und das gesamte bislang eta-blierte Wissenschaftsgebäude infrage zu stel-len. Es erscheint nunmehr dringend geboten,die Ergebnisse der seit 20 Jahren geführtenNachhaltigkeitsdebatte aufzugreifen, für dieBUI zu operationalisieren und daraus einen Aus-gangspunkt holistischer, grundsätzlicher Über-legungen zu machen. Damit hat sie die Chance,wieder an gesellschaftlicher – und betrieblicher– Akzeptanz und Relevanz zu gewinnen und ih-ren Stellenwert im Wissenschaftsgebäude zu-rückzugewinnen. Zudem kann die BUI so aucheinen Beitrag dazu leisten, dass der Nachhaltig-keitsbegriff weiter konkretisiert und seiner ge-genwärtigen Beliebigkeit entzogen wird.

Prof. Dr. Horst JunkerIMBC GmbHOstendstr. 2512459 [email protected]


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