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François Dosse Geschichte des Strukturalismus Band 1 : Das Feld des Zeichens, 1945-1966 Aus dem Französischen von Stefan Barmann JUNIUS

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Band 1 : Das Feld des Zeichens, 1945-1966Aus dem Französischen von Stefan Barmann

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François Dosse

Geschichte des Strukturalismus Band 1 : Das Feld des Zeichens, 1945-1966

Aus dem Französischen von Stefan Barmann

JUNIUS

Die Publikation des vorliegenden Werkes wurde gefördert vom Ministère français de la Culture et de la Francophonie.

Junius Verlag GmbH Stresemannstraße 375 22761 Hamburg

© der deutschen Ausgabe 1996 by Junius Verlag GmbH © der französischen Ausgabe 1991 by Éditions La Découverte Alle Rechte vorbehalten Aus dem Französischen von Stefan Barmann Lektorat : Frauke Hamann Umschlaggestaltung : Florian Zietz Satz : H & G Herstellung, Hamburg Druck : Druckhaus Dresden Printed in Germany 1996 ISBN 3-88506-266-6 1. Auflage November 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Dosse, François : Geschichte des Strukturalismus / François Dosse [Aus dem Franz. von Stefan Barmann]. - Hamburg : Junius. Einheitssacht.: Histoire du structuralisme <dt.> ISBN 3-88506-268-2 Bd. 1. Das Feld des Zeichens : 1945 - 1966. - 1. Aufl. - 1996 ISBN 3-88506-266-6

Für Florence, Antoine, Chloé und Aurélien

»Der Strukturalismus ist keine Methode, er ist das erwachte und unruhige Bewußtsein des modernen Wissens. «

Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge

Inhalt

Einführung 9

Teil I : Die fünfziger Jahre : die epische Epoche Die Verfinsterung eines Sterns : Jean-Paul Sartre 23

Die Geburt eines Helden: Claude Levi-Strauss 32 An der Nahtstelle von Natur und Kultur: der Inzest 43 Fragen Sie nach dem Programm : Mauss 54

Ein Freischärler: Georges Dumézil 62

Die phänomenologische Brücke 69 Der Saussuresche Schnitt 77 Inspirator und Wegbereiter: Roman Jakobson 90 Eine heimatlose Disziplin: die Linguistik 100

Die Tore von Alexandria 111

Die »Mutter« des Strukturalismus: Roland Barthes 117 Die epistemische Herausforderung 127 Der Rebell: Jacques Lacan 145 Der Appell von Rom (1953): zurück zu Freud 156

Das Unbewußte: ein symbolisches Universum 173 RSI: die Häresie 185 Der Ruf der Tropen 195 Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel F o u c a u l t . . . . 217 Die Krise des Marxismus : Tauwetter oder Frost ? 239

Der strukturale Weg der französischen Ökonomieschule . . 249 Wie schön ist die Struktur! 258

Teil II: Die sechziger Jahre 1963-1966: die Belle Époque Die Anfechtung der Sorbonne: Alt und Neu im Widerstreit 281 1964: der Durchbruch für das semiologische Abenteuer 296 Das Goldene Zeitalter des formalen Denkens 308 Die großen Zweikämpfe 327 Die signifikanten Ketten 350 Das mythologische Universum 366 Afrika: ein Prüfstein des Strukturalismus 386 Die Zeitschriften 399 Ulm oder Saint-Cloud: Althu oder Touki? 414 Althussers Sprengsatz 425 Die Erneuerung des Marxismus 447 Das Lichtjahr 1966: I. Das strukturale Jahr 456 Das Lichtjahr 1966: II. Faszination Foucault 475 Das Lichtjahr 1966: III. Die Ankunft der Kristeva 493

Teil III: Ein französisches Fieber

Zur Stunde der Postmodernität 503 Der Einfluß Nietzsches und Heideggers 522 Die Wachstumskrise der Sozialwissenschaften 544

Dank 563

Anmerkungen 567 Personenregister 609

Einführung

Der Strukturalismus hat in Frankreich während der fünfziger und sechziger Jahre einen in der Geistesgeschichte dieses Landes bei­spiellosen Erfolg erlebt. Das Phänomen Strukturalismus hat den größten Teil der Intelligenzija in solchem Maße an sich binden können, daß die wenigen Widerstände oder Einwände, die sich während des — wie man ihn nennen könnte — strukturalistischen Moments regten, zunichte gemacht wurden.

Die Gründe für diesen spektakulären Erfolg liegen hauptsäch­lich darin, daß der Strukturalismus sich zugleich als eine strenge Methode darstellte, die Anlaß zu Hoffnungen auf manche ent­scheidende Vorstöße in Richtung Wissenschaft geben konnte, aber auch und grundlegender noch in der Tatsache, daß der Strukturalismus ein besonderer Moment in der Geschichte des Denkens war, den man als Hochzeit des kritischen Bewußtseins bezeichnen kann. Erst aus dieser Verbindung heraus ist zu begrei­fen, warum so viele Intellektuelle sich im selben Programm wie­dererkannten. Ein Programm, das so vielstimmige Begeisterung auslöste, daß sogar der Trainer der Fußballnationalmannschaft in den sechziger Jahren eine »Strukturalistische« Umorganisierung seiner Mannschaft ankündigte, um ihre Ergebnisse zu verbes­sern.

Der Triumph des strukturalistischen Paradigmas ergibt sich zunächst aus einem besonderen historischen Kontext, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch das allmähliche Ein­schwenken des Abendlandes auf eine erkaltete Zeitlichkeit gekennzeichnet ist. Er ist aber auch das Ergebnis des bemer­kenswerten Aufschwungs der Sozialwissenschaften, der mit der

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Vormachtstellung der Sorbonne als Sachwalterin der Lehre und Spenderin der klassischen humanistischen Wissenschaften in Wi­derstreit geriet. Eine regelrechte unbewußte Strategie der Ent­grenzung des herrschenden Akademismus schien damals in ei­nem strukturalistischen Programm auf, das eine Doppelfunktion als Protest und als Gegenkultur versah. Es ist die Leistung des strukturalen Paradigmas gewesen, unterdrücktem Wissen am Rande der kanonischen Institutionen Raum zu geben.

Als Ausdruck eines gewissen Maßes an Selbsthaß, der Ableh­nung der traditionellen abendländischen Kultur wie des Drangs zur Modernisierung bei der Suche nach neuen Modellen korre­spondiert die Protestäußerung des Strukturalismus deutlich ei­nem Moment der abendländischen Geschichte. Entgegen der Glorifizierung der alten Werte zeigte sich der Strukturalismus ex­trem empfänglich für alles, was in dieser abendländischen Ge­schichte verdrängt worden war, und es ist kein Zufall, wenn die beiden richtungweisenden Wissenschaften dieser Zeit — Anthro­pologie und Psychoanalyse — sich vorrangig dem Unbewußten, der Kehrseite des manifesten Sinnes, dem unzugänglichen Ver­drängten in der abendländischen Geschichte zuwenden.

Zu diesem Zeitpunkt fungiert die Linguistik als führende Wis­senschaft, sie gibt in der wissenschaftlichen Erkenntnis den Ton für die Sozialwissenschaften ganz allgemein an. Der Strukturalis­mus ist auf diesem Gebiet Bannerträger der Modernen in ihrem Kampf gegen die Alten. Auch war er für zahlreiche engagierte In­tellektuelle das Instrument einer Entideologisierung, die mit den Enttäuschungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein­herging. Eine besondere, von Ernüchterung gekennzeichnete politische Konjunktur und der Zustand einer Wissenschaft, die einer Revolution bedurfte, um eine Reform zum Erfolg zu bringen : beides ermöglichte es dem Strukturalismus, eine ganze Generation zu versammeln, die hinter dem strukturalen Raster die Welt entdeckte.

Diese großangelegte Suche nach einem Ausweg aus der exi-

Einführung 11

stentiellen Verzweiflung bewirkte eine Tendenz zur Ontologisie-rung der Struktur, die sich nun im Namen der Wissenschaft, der Theorie als Alternative zur alten abendländischen Metaphysik darstellte. Darin bestand der maßlose Ehrgeiz einer Periode, in der man die Grenzlinien, die Schwellen des Vorgegebenen ver­schob, um sich auf die neuesten, durch den Aufschwung der So­zialwissenschaften eröffneten Wege vorzuwagen.

Dann plötzlich schlug all dies um : Anfang der achtziger Jahre ereilte den Strukturalismus ein unheilvolles Schicksal. Die mei­sten französischen Heroen dieses Epos traten von der Bühne der Lebenden ab, als hätten die Theoretiker vom Tode des Menschen sich alle gleichzeitig um eines spektakulären Abgangs willen da­hinraffen lassen. Nicos Poulantzas begeht am 3. Oktober 1979 Selbstmord durch einen Sprung aus seinem Fenster, nachdem er sich gegen den Vorwurf verwahrt hat, Pierre Goldmann verra­ten zu haben. Roland Barthes wird nach einem Mittagessen mit Jacques Berque und François Mitterrand, damals Erster Sekretär der Sozialistischen Partei, in der Rue des Ecoles von einem Wä­schereilieferwagen angefahren. Er trägt nur ein leichtes Schädel­trauma davon, läßt sich aber sterben, wie die Zeugen berichten, die ihn im Hôpital de la Pitié-Salpêtrière besucht haben; er schei­det am 26. März 1980. In der Nacht des 16. Novembers 1980 erwürgt Louis Althusser seine treue Gattin Helene. Der heraus­ragende Vertreter des strengsten Rationalismus wird für unzu­rechnungsfähig erklärt und in die Nervenheilanstalt Saint-Anne eingeliefert, ehe ihn auf Betreiben seines damaligen philosophi­schen Lehrmeisters Jean Guitton eine Klinik bei Paris aufnimmt. Der Mann des Wortes, der große Schamane der modernen Zei­ten, Jacques Lacan, verstirbt, an Aphasie leidend, am 9. September 1981. Nur wenige Jahre später wird Michel Foucault, auf dem Höhepunkt der Popularität und mitten in der Studienarbeit, da­hingerafft. Er schrieb an einer Geschichte der Sexualität, und diese schlug ihn schonungslos mit der neuen Krankheit des Jahr­hunderts: Aids. Er stirbt am 25. Juni 1984.

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Durch diese außergewöhnlichen Tode innerhalb weniger Jahre hat sich der Eindruck vom Ende einer Epoche verstärkt. Manche gehen sogar so weit, die Begebenheiten im Zusammenhang zu se­hen und hinter der Verbindung dieser tragischen Schicksale die Offenbarung der Ausweglosigkeit eines gemeinsamen und ge­meinhin strukturalistisch genannten Denkens zu erkennen. Das Sichentfernen eines spekulativen Denkens von der Wirklichkeit habe in die Selbstzerstörung geführt. Eine solche Verknüpfung ist natürlich in noch stärkerem Maße konstruiert als diejenige der sechziger Jahre, die das strukturalistische Gespann der vier bzw. diesmal fünf Musketiere Michel Foucault, Louis Althusser, Ro­land Barthes, Jacques Lacan und ihrer aller Leitfigur, Claude Lévi-Strauss, zum Medienruhm führte.

Nichtsdestoweniger stellt dieser kollektive Untergang eine Wendemarke in der französischen Geisteslandschaft dar. Der Abgang der Meisterdenker, dem noch der von Jean-Paul Sartre hinzuzufügen ist, läutete eine neue Periode der Infragestellung ein. Ein Hauch von Nostalgie kam bereits Anfang der achtziger Jahre auf, als man gerne von neuem an diese Denker erinnerte, wobei die Mischung aus Distanz und Faszination sich gerade dem Ausnahmecharakter ihres Schicksals verdankt. Während man mancherorts dem Strukturalismus bereitwillig den Toten­schein ausstellte, regte sich der Leichnam noch mächtig, schenkt man der Erhebung Glauben, die die Zeitschrift Lire im April 1981 durchführte. Einigen hundert Schriftstellern, Journalisten, Leh­rern und Professoren, Studenten und Politikern wurde die Frage gestellt: »Welches sind die drei lebenden Intellektuellen französi­scher Sprache, deren Schriften Ihrer Meinung nach den tiefsten Einfluß auf die Entwicklung der Ideen, der Literatur, der Künste, der Wissenschaften usw. ausüben?« Bei den Antworten stand an erster Stelle Claude Lévi-Strauss (101), an zweiter Stelle Ray­mond Aron (84), an dritter Stelle Michel Foucault (83) und an vierter Stelle Jacques Lacan (51).

Woher kommt der Begriff des Strukturalismus, der so viel

Einführung 13

überschwengliche Begeisterung und Ungemach hervorgerufen hat ? Abgeleitet von Struktur (auf lateinisch structura, vom Verb struere), hat er anfangs architektonische Bedeutung, denn die Struktur bezeichnet »die Art und Weise, wie ein Gebäude gebaut ist« (Dictionnaire de Trévoux, Ausgabe von 1771). Im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts verändert und erweitert sich der Sinn des Terminus Struktur in Analogie zu den Lebewesen: So wird bei Fontenelle der menschliche Körper ebenso als Konstruktion auf­gefaßt wie bei Vaugelas oder Bernot die Sprache. Der Terminus bekommt damals den Sinn einer Beschreibung der Art und Weise, wie die Teile eines konkreten Seins sich in einer Gesamt­heit organisieren. Er umfaßt vielfältige Anwendungsmöglichkei­ten: Man spricht unter anderem von anatomischen, psychologi­schen, geologischen und mathematischen Strukturen. Wirklich erobert hat sich das strukturale Verfahren das Feld der Human­wissenschaften erst in einer späteren, jüngeren Phase, nämlich seit dem 19. Jahrhundert mit Spencer, Morgan und Marx. Nun ist die Rede von einem dauerhaften Phänomen, das die Teile eines Ganzen auf komplexe Weise in einem abstrakteren Sinne mitein­ander verbindet. Der Terminus Struktur, der bei Hegel noch nicht vorkommt und bei Marx, abgesehen vom Vorwort zur Kri­tik der politischen Ökonomie, selten verwendet wird, bekommt seine Weihen Ende des 19. Jahrhunderts durch Durkheim (Die Methode der Soziologie, 1895). Zwischen 1900 und 1926 dann ent­steht das Gebilde, das das Vocabulaire von André Lalande als Neologismus verbucht: der Strukturalismus. Psychologen haben den Strukturalismus hervorgebracht, um gegen die funktionelle Psychologie des beginnenden Jahrhunderts anzugehen; doch der wirkliche Ausgangspunkt des strukturalistischen Verfahrens in seinem modernen, alle Humanwissenschaften umfassenden Sinn liegt in der Entwicklung der Sprachwissenschaft. Verwendet Saussure in den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft den Begriff Struktur nur an drei Stellen, so wird in erster Linie die Prager Schule (Trubetzkoy und Jakobson) die Begriffe Struktur

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und Strukturalismus einbürgern. Die Bezugnahme auf den Ter­minus Strukturalismus als Gründungsprogramm — eine im späte­ren durch sein Vorgehen verdeutlichte Bestrebung — fordert der dänische Sprachwissenschaftler Hjelmslev, der 1939 die Zeit­schrift Acta linguistica gründet, deren erster Artikel von »struk-turaler Sprachwissenschaft« handelt. Von diesem linguistischen Kernbereich aus wird der Begriff Mitte des 20. Jahrhunderts eine echte Revolution aller Humanwissenschaften auslösen, und sie werden sich dabei nach eigener Einschätzung als Wissenschaften beweisen.

Wunder oder Fata Morgana? Ist die Geschichte der Wissen­schaften nicht die Geschichte eines Friedhofs ihrer Theorien ? Si­cher, aber das bedeutet keineswegs, daß die jeweils abgelaufene Epoche keine Wirksamkeit mehr hätte, sondern einfach, daß ein Programm seine Fruchtbarkeit verliert und sich dann einer not­wendigen methodologischen Erneuerung öffnet. Im Fall des Strukturalismus läuft diese Transformation allerdings Gefahr, in die Fallen zu geraten, die die vorangegangene Methode vermie­den hat. Deshalb muß zunächst ihr ganzer Reichtum, ihre ganze Fruchtbarkeit wiederhergestellt werden, ehe man ihre Grenzen erfaßt. Dieses Abenteuer werden wir bestehen, denn die Vor­stöße des Strukturalismus haben es trotz mancher Sackgassen er­laubt, auf die menschliche Gesellschaft einen so gründlich ande­ren Blick zu werfen, daß es nicht mehr möglich ist, so zu denken, als hätte diese Revolution nicht stattgefunden.

Als ein Teil unserer Geistesgeschichte hat der Strukturalistische Moment eine besonders fruchtbare Periode der humanwissen­schaftlichen Forschung eröffnet. Das Wiederherstellen dieser Geschichte ist ein komplexer Vorgang, denn die Konturen des strukturalistischen Bezugsrahmens sind besonders verschwom­men. Um Zugang zu den Hauptorientierungen dieser Periode zu bekommen, müssen wir die Pluralität der Verfahren und Perso­nen umfassend rekonstruieren und zugleich nach ein paar kohä-

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renten Kernpunkten suchen, die die Matrix eines Verfahrens jen­seits der Vielfalt seiner Gegenstände und Fachgebiete erkennen läßt. Wir müssen die vielschichtigen Ebenen aufschlüsseln, die Strukturalismen hinter dem Etikett »strukturalistisch« differen­zieren, die sowohl theoretischen wie fachlichen Spieleinsätze auf dem intellektuellen Feld beleuchten und die Mannigfaltigkeit in­dividueller Gedankengänge rekonstruieren, die sich nicht auf eine als Gesamtmasse betrachtete Geschichte reduzieren lassen. Als Kontingenzen zufälliger, aber maßgeblicher Begegnungen bietet sich diese Geschichte als ein Zusammenhang von Begriffen und Lebensstoff dar. Sie bezieht mehrere Erklärungsfaktoren ein und kann in keinem Fall auf ein monokausales Schema reduziert wer­den.

Es existieren mehrere Formen der Aneignung des Strukturalis­mus im Feld der Sozialwissenschaften. Jenseits des Spiels der An­leihen, der Entsprechungen, deren Kontinuität wir — gemäß dem Ratschlag, den Roland Barthes künftigen Historikern des Struk­turalismus mit auf den Weg gab — zu erkunden haben werden, kann man eine die Fachgrenzen überschreitende Unterscheidung treffen: auf der einen Seite ein szientistischer Strukturalismus, namentlich vertreten von Claude Lévi-Strauss, Algirdas Julien Greimas oder Jacques Lacan, der mithin gleichermaßen die An­thropologie, die Semiotik und die Psychoanalyse beträfe; und auf der anderen, daran angrenzend, ein geschmeidigerer, wandelba­rerer, schillernderer Strukturalismus mit Roland Barthes, Gérard Genette, Tzvetan Todorov oder Michel Serres, den man als se-miologischen Strukturalismus bezeichnen könnte. Schließlich existiert auch ein ins Historische gewendeter Strukturalismus, dem Louis Althusser, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean-Pierre Vernant und in weiterem Sinne die dritte Generation der Annales zuzurechnen wären. Jenseits dieser Un­terschiede läßt sich jedoch eine Gemeinsamkeit in Sprache und Zielsetzung erkennen, die mitunter den Eindruck erweckt, man lese dasselbe Buch, trotz der stilistischen und fachlichen Unter-

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schiede eines Barthes, eines Foucault, eines Derrida, eines Lacan. Der Strukturalismus ist die Koine einer ganzen Generation von Intellektuellen gewesen, auch wenn es unter seinen verschiede­nen Vertretern keine Verpflichtung auf eine Lehre, geschweige denn eine Schule oder Kampfgemeinschaft gegeben hat.

Auch Perioden zu skizzieren ist nicht einfach. In den fünfziger Jahren ist ein unaufhaltsames Fortschreiten der Bezugnahme auf Strukturphänomene zu erkennen, das sieh in den sechziger Jah­ren zu einer regelrechten strukturalistischen Mode auswächst, die den größten Teil des intellektuellen Feldes erfaßt. Die zentrale Marke, von der aus die strukturalistische Tätigkeit am stärksten auf das intellektuelle Feld einwirkt, ist das Jahr 1966. Hinsichtlich der Intensität, der Ausstrahlung, des Aufscheinens des Univer­sums der Zeichen, das sich über alle etablierten Fachgrenzen hinaus vollzieht, ist es die Glanzzeit dieser Periode. Bis 1966 er­fährt die strukturalistische Tätigkeit einen scheinbar unaufhaltsa­men Aufschwung, ist sie in der Aufstiegsphase. Ab 1967 setzt die Rückströmung ein, beginnen die Kritiken, die Distanzierungen vom in der Presse allseits beweihräucherten strukturalistischen Phänomen. Die Rückströmung geht also dem Ereignis '68 vor­aus, sie ist latent schon 1967 vorhanden, als die vier Musketiere nicht aufhören, auf Abstand zum strukturalistischen Phänomen zu gehen.

Hinter dieser Rückströmung zeigt freilich der universitäre Forschungsbetrieb einen anderen Zeitverlauf, der sich nicht auf Modeeffekte beschränkt: Die universitären Forschungen ver­vielfältigen sich gerade in dem Augenblick, als man eine Leiche zu begraben meint — festzustellen ist die Auferstehung eines Pro­gramms, das an Medienglanz verlor, was es an pädagogischer Nachhaltigkeit gewann. Auch hier ist der Zeitverlauf nicht ein­deutig, es muß etlichen zeitlichen Verschiebungen zwischen den verschiedenen Disziplinen der Humanwissenschaften Rechnung getragen werden. Manche, wie die Linguistik, die Soziologie, die Anthropologie oder die Psychoanalyse, haben im Strukturalis-

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mus das Mittel gefunden, sich mit einem wissenschaftlichen Modell zu wappnen. Andere, tiefer im universitären Feld ver­wurzelte und stärker von epistemologischen Turbulenzen abge­schirmte Bereiche wie die Geschichte werden sich später wandeln und das strukturalistische Programm zum Zeitpunkt seines allge­meinen Abflauens aufnehmen. Bei allen zeitlichen Verschiebun­gen und Schwankungen im Austausch der Fachbereiche auf dem intellektuellen Feld hat der Strukturalismus es jedenfalls möglich gemacht, zahlreiche Dialoge zu knüpfen, fruchtbare Kolloquien und Forschungen zu vervielfältigen und den Arbeiten und Fort­schritten der Nachbardisziplinen rege Aufmerksamkeit zu schenken. Es war eine intensive Periode, beeinflußt von Denkern, von denen viele mit ihren Forschungen in ihrer eigenen gesell­schaftlichen Praxis anzusetzen versuchten — eine echte Revolu­tion, die noch heute unsere Weltsicht bestimmt.

Die derzeitige Periode, die manche das Zeitalter der Leere und andere das der Postmoderne nennen, leitet eine Auffassung vom Menschlichen ein, in der eine binäre, illusorische Opposition zum Zuge kommt zwischen der Auflösung des Menschen im Strukturalismus einerseits und ihrer Kehrseite, der Vergöttli­chung des Menschen, andererseits, die man heute als Reaktion darauf erlebt. Der Schöpfermensch jenseits der Zwänge seiner Zeit verweist auf den Tod des Menschen als sein Doppel. Der Mensch, das verlorene Paradigma der strukturalen Auffassung, lebt in seiner den Sozialwissenschaften vorgängigen, narzißti­schen Gestalt wieder auf. Die große strukturale Welle hat die Hu­manwissenschaften an Ufer gespült, an denen sie der Geschicht­lichkeit entrückt sind. Eine große Wende kündigt sich an — im Sinne der Rückkehr zu einer alten Schreibweise, im Namen des Niedergangs des Denkens, des Verlusts unserer Werte, des Rück­zugs auf unser Erbe. Vergangenes kehrt wieder: Man entdeckt aufs neue den diskreten Charme der Landschaften von Vidal, die Helden der Geschichte von Lavisse, die Meisterwerke des na­tionalen Kulturschatzes von Lagarde und Michard. Über diese

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Rückkehr einer bestimmten Tradition des 19. Jahrhunderts hin­aus führt uns der derzeitige Rückzug in die Nähe des 18. Jahr­hunderts, in dem der Mensch als Abstraktion begriffen wird, als frei von Zwängen der Zeit, als Herr des rechtlich-politischen Sy­stems, in dem sich seine Vernünftigkeit verwirklicht.

Kann man so denken, als hätten die kopernikanisch-galileische Revolution, die freudianischen, die marxistischen Brüche und die von den Sozialwissenschaften geleisteten Vorstöße nicht stattge­funden ? Die Sackgassen des Strukturalismus deutlich zu machen, soll keinen Rückweg ins goldene Zeitalter der Aufklärung bedeu­ten, sondern im Gegenteil eine Bewegung auf die Zukunft hin, auf die Konstituierung eines historischen Humanismus. Unter diesem Gesichtspunkt kommt es darauf an, die falschen Gewiß­heiten und echten Dogmatismen, die reduktionistischen, mecha­nischen Verfahrensweisen zu ermitteln und nach der Tauglichkeit der von den Sozialwissenschaften verwendeten fachübergreifen­den Konzepte zu fragen. Dabei geht es nicht darum, irgendein Allzweckverfahren, irgendein informelles Magma zu gewinnen, sondern aus der laufenden Brownschen Bewegung die Prolego-mena einer Wissenschaft vom Menschen zu beziehen, die sich von bestimmten Konzepten, von operativen strukturierenden Ebenen aus entwickeln müßte.

Die Errungenschaften der Sozialwissenschaften sind hier auf­gerufen, dem Hervortreten eines Humanismus des Möglichen zu entsprechen, der um die transitorische Gestalt des »dialogen« Menschen kreist. Ein Überschreiten des Strukturalismus nötigt zunächst zu einer Rückbesinnung auf diese Denkströmung, die ihre Methode auf dem gesamten Feld der Sozialwissenschaften weithin verbreitet hat. Es sind die Etappen seiner hegemonischen Eroberung nachzuzeichnen, der Prozeß der Adaption einer Me­thode auf die fachliche Vielheit der Wissenschaften vom Men­schen herauszustellen, die Grenzen und Sackgassen zu erfassen, an und in denen sich dieser Versuch der Erneuerung des Denkens erschöpft hat. Um die Geschichte dieser französischen intellektu-

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eilen Entwicklung der fünfziger und sechziger Jahre aufzuzei­gen, haben wir die Hauptwerke dieser Periode herangezogen und sie mit dem heutigen Blick ihrer Urheber und Schüler wie auch mit der kritischen Sicht anderer Schulen und Strömungen kon­frontiert. Wir haben eine Vielzahl von (in das Corpus dieser Geschichte eingearbeiteten) Gesprächen mit Philosophen, Lin­guisten, Soziologen, Historikern, Anthropologen, Psychoanaly­tikern und Wirtschaftswissenschaftlern geführt, um zu erfahren, welchen Stellenwert der Strukturalismus in ihrer Forschungsar­beit einnimmt, welche Beiträge er geleistet hat und mit welchen Mitteln er unter Umständen zu überwinden wäre. Diese Unter­suchung1 läßt jenseits der Vielheit der Standpunkte die zentrale Bedeutung des strukturalistischen Phänomens erkennen und er­laubt den Versuch einer Periodisierung.

Im Hinblick auf die Dekonstruktion der abendländischen Me­taphysik immer weiter zu schreiten, den Riß bis in die Funda­mente der Sémiologie zu treiben, von jedem Signifikat, jedem Sinn zu leeren, um ein besseres Zirkulieren eines reinen Signifi­kanten zu erreichen : dieser Modus der Kritik gehört einem Mo­ment des Selbsthasses in der abendländischen Geschichte an, den wir dank einer allmählichen Versöhnung der Intelligenzija mit den demokratischen Werten hinter uns gelassen haben. Aber so dem kritischen Zeitalter zu entschlüpfen, darf keine bloße Rück­kehr auf das bedeuten, was ihm voraufgegangen ist, denn der Blick auf das Andere, auf die Differenz hat sich dadurch unwider­ruflich gewandelt und bedarf deshalb dieser Rückbesinnung auf eine Periode, die mannigfache Aufschlüsse geliefert hat und zu ei­nem unumgänglichen Bestandteil der Erkenntnis des Menschen geworden ist.

Teil I : Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Die Verfinsterung eines Sterns : Jean-Paul Sartre

Um zu triumphieren, mußte der Strukturalismus töten — wie in jeder Tragödie. Die Leitfigur der Nachkriegsintellektuellen aber war Jean-Paul Sartre. Er genoß seit der Befreiung besondere öf­fentliche Aufmerksamkeit, weil er die Philosophie auf die Straße holte. Doch von dort schallen ihm nach und nach neue Themen entgegen, vorgetragen von einer aufstrebenden Generation, die ihn zusehends an den Fahrbahnrand drängt.

In diesen für das strukturalistische Phänomen, wie man es spä­ter nennen wird, entscheidenden fünfziger Jahren erlebt Sartre eine Reihe von ebenso schmerzlichen wie dramatischen Zerwürf­nissen, die ihn, trotz seines unbestrittenen öffentlichen Erfolgs, im Laufe der Jahre in die Isolation treiben. Eine der Ursachen für diese Zwistigkeiten liegt darin, daß Sartre seine Jahre des Unpoli­tischseins, der Blindheit tilgen wollte, in denen er sich nach guter XMgwe-Tradition [Vorbereitungsklasse für die École normale supérieure, A.d.U.] vermauert hatte und die ihn gegenüber dem Aufkommen der nazistischen Greuel taub und stumm, gegen­über den sozialen Auseinandersetzungen der dreißiger Jahre achtlos und gleichgültig gemacht hatten. Von der eigenen Ge­schichte eingeholt, versucht Sartre, die früheren Versäumnisse wettzumachen, indem er sich 1952, mitten im Kalten Krieg, der KPF anschließt, also genau zu dem Zeitpunkt, als eine ganze In­tellektuellengeneration sich angesichts der fortdauernden Ent­hüllungen über die Geschehnisse in der Sowjetunion zunehmend von der Partei distanziert. Die schöne Einmütigkeit, die zur Zeit des Rassemblement démocratique révolutionnaire [Sammelbe­wegung der Linken, A.d.U.] herrschte und die André Breton, AI-

24 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

bert Camus, David Rousset, Jean-Paul Sartre und einige andere Intellektuelle1 am 13. Dezember 1948 auf einer Tribüne im Salle Pleyel zum Thema »Internationalismus des Geistes« versam­melte, wird zersplittern.

Für Sartre setzt nun die Zeit der Zerwürfnisse ein. Die Turbu­lenzen des Kalten Krieges schlagen sich im Redaktionsstab der Temps Modernes nieder. »Billancourt nicht in Verzweiflung stür­zen« wird Sartre teuer zu stehen kommen, der sich 1953 in einer erbitterten Polemik von einem maßgeblichen Mitarbeiter, Claude Lefort, der tragenden Säule der Zeitschrift, trennt.2 Die­ser Polemik sind zwei weitere Zerwürfnisse von Gewicht voran­gegangen, zunächst mit Camus, dann mit Etiemble, und es folgt der Bruch mit einem seiner engsten Freunde, dem Temps-Modernes-Mitarbeiter der ersten Stunde, Maurice Merleau-Ponty. Das Zweigespann Sartre-Merleau-Ponty hatte bis dahin so ungetrübt funktioniert, daß die beiden »zeitweise geradezu austauschbar gewesen waren«3. Merleau-Ponty verläßt Les Temps Modernes im Sommer 1952 und veröffentlicht wenig später, 1955, Die Aben­teuer der Dialektik, worin er Sartre des ultrabolschewistischen Voluntarismus bezichtigt. Wenn auch andere Gedankenaben­teuer ohne Sartre begonnen werden, übt dieser dennoch nach wie vor starke Faszination auf die junge Generation aus : »Mehr als einem von uns ließ in meinem Lycée in den fünfziger Jahren Das Sein und das Nichts das Herz höher schlagen«, schreibt Régis De-bray.4 Unterdessen wird der Existentialismus angefochten, und das Rededuell, das Sartre und Althusser 1960 an der École nor­male supérieure in der Rue d'Ulm vor Jean Hyppolite, Georges Canguilhem und Maurice Merleau-Ponty austragen, geht nach Aussage Régis Debrays, der damals Staatsexamenskandidat in Philosophie war, zugunsten von Louis Althusser aus. Sartre wird trotz seines Ruhms als Vorzeigefigur der Vergangenheit gelten, als Verkörperung der enttäuschten Hoffnungen der Befreiung, und dieser Ruf wird ihm so hartnäckig anhaften, daß er dessen erstes Opfer wird.

Die Verfinsterung eines Sterns : Jean-Paul Sartre 2 5

Ist die Verfinsterung von Sartres Stern das Ergebnis politischer Faktoren, so rührt sie auch aus einer neuen Konstellation auf dem intellektuellen Feld: dem Aufstieg der Humanwissenschaften, die einen institutionellen Raum beanspruchen, um einen dritten Weg zwischen Literatur und exakten Wissenschaften zu bahnen. Daraus ergibt sich eine Verlagerung der Fragestellungen, die Sar­tre, von seiner politischen Nachholarbeit in Anspruch genom­men und seinem Philosophenstandpunkt treu, nicht mitvollzieht. Letzterer hatte ihm bislang nur Gratifikationen und Anerken­nung eingebracht. Mit Was ist Literatur? stellt Sartre zwar 1948 die Frage nach dem Autor und seinem Publikum, seinen Motiva­tionen, aber er setzt dabei die Eigenheit, die Existenz der Litera­tur als feststehend voraus. Gerade dieses Postulat jedoch wird Ende der fünfziger Jahre bezweifelt, ja bestritten werden.

Der Sturz der Leitfigur Sartre wird die Philosophen in eine Krise treiben, sie einem Moment der Verunsicherung, des Zwei­fels aussetzen, und sie werden sich zur Zuspitzung ihrer kri­tischen Fragestellung insbesondere der an Bedeutung gewin­nenden Sozialwissenschaften bedienen. Diese Infragestellung entzündet sich am Existentialismus als Philosophie der Subjek­tivität, als Philosophie des Subjekts. Der Saftresche Mensch exi­stiert nur durch die Intentionalität seines Bewußtseins, er ist zur Freiheit verurteilt, denn »die Existenz geht der Essenz voraus«. Einzig die Entfremdung und die Unaufrichtigkeit versperren die Wege der Freiheit. Ein Roland Barthes, der sich in der unmittel­baren Nachkriegszeit als Sartrianer definiert, wird sich nach und nach von dessen Philosophie lösen, um sich dann mit ganzer Kraft am strukturalistischen Abenteuer zu beteiligen. Subjekt und Bewußtsein treten zugunsten von Regel, Code und Struk­tur in den Hintergrund.

26 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Jean Pouillon : der Mann der Mitte

Jean Pouillon symbolisiert diese Entwicklung und gleichzeitig den Versuch, das, was sich antinomisch ausnehmen mag, zu ver­söhnen. Er, der Vertraute Sartres, wird ganz allein die Brücke schlagen, die die Verbindung zwischen Les Temps Modernes und L'Homme ermöglicht, also zwischen Sartre und Claude Lévi-Strauss. Jean Pouillon hat Sartre bereits 1937, mithin sehr früh kennengelernt, und die beiden Männer pflegten trotz unter­schiedlicher intellektueller Werdegänge zeitlebens eine ungetrüb­te Freundschaft. Pouillons Laufbahn ist zumindest eigentümlich : »Während des Krieges bin ich Philosophielehrer gewesen, und Sartre fragte mich dann 1945 : Macht es Ihnen Spaß, Philo zu ge­ben? Ich antwortete ihm, daß es mir nichts ausmache, vor den Schülern den Hanswurst zu spielen, aber ärgerlich seien die Kor­rekturen der Hausaufgaben und die schlechte Bezahlung. Da sagte er mir, ich solle einen befreundeten Kommilitonen aufsu­chen, der etwas ausfindig gemacht hätte, was es noch immer gibt : den Untersuchungsbericht der Nationalversammlung. Da dem­nach die Legislative über ihr eigenes Budget abstimmt, ist sie ge­genüber ihren eigenen Beamten großzügiger. Sie wurden besser bezahlt und hatten im allgemeinen sechs Monate Urlaub. Ich be­stand dann die Prüfung und machte gleichzeitig, wonach mir der Sinn stand, schrieb in Les Temps Modernes. Zweifellos aus diesem Grund hat mich Lévi-Strauss 1960 gebeten, mich um L'Homme zu kümmmern, denn ich machte ja nicht Karriere. Keiner sah mich mit scheelen Augen an, und ich sah auch keinen mit schee­len Augen an.«5

Jean Pouillon weiß nichts von Ethnologie, bis 1955 die Trauri­gen Tropen erscheinen. Sartre ist begeistert und wendet sich im Redaktionskomitee der Temps Modernes an Jean Pouillon, damit er die Besprechung übernehme: »Warum nicht Sie?« Statt bloß ein lobendes Papier über die Qualität des Buches abzugeben, geht Jean Pouillon der Sache auf den Grund und beschließt, eine

Die Verfinsterung eines Sterns : Jean-Paul Sartre 2 7

regelrechte Studie anzufertigen, wobei er sich stärker mit dem Fortgang von Claude Lévi-Strauss' Denken auseinandersetzt als mit seinem Endprodukt der Traurigen Tropen. So liest er alles, was Claude Lévi-Strauss bis dahin geschrieben hat, Die elementa­ren Strukturen der Verwandtschaft und die Artikel, die erst später, 1958, unter dem Titel Strukturale Anthropologie in Buchform er­scheinen werden. Jean Pouillons Artikel sprengt also den Rahmen einer Rezension, er versucht, den Stand von Claude Lévi-Strauss' Denken zu ermitteln und erscheint 1956 in Les Temps Modernes.6

Was auf den ersten Blick als eine zufällige Abschweifung, ein momentanes Ausscheren in andere Breitengrade erscheint, wird für Jean Pouillon, darüber hinaus jedoch für eine ganze Genera­tion, ein Lebensengagement, eine Hinwendung zu neuen, stärker anthropologischen Fragestellungen, die die klassische Philoso­phie hinter sich lassen. Jean Pouillon entdeckt die Auseinander­setzung mit der Frage der Alterität: »Der andere muß als essen­tiell anderer gesehen werden«7, und macht sich das strukturale Verfahren zu eigen, das eine Überschreitung des Empirischen, des Beschreibenden, des Erlebten erlaubt. Bei Claude Lévi-Strauss trifft er auf ein strenges Modell, das mit seiner Berechen­barkeit das Konstruieren »mathematisierbarer Verhältnisse«8

ermöglicht. Er übernimmt die Position von Lévi-Strauss vollstän­dig, die dahin geht, das linguistische Modell zu favorisieren, um die enge Verbindung zwischen Beobachter und beobachtetem Gegenstand aufzulösen : »Durkheim sagte, daß man die sozialen Tatsachen wie Dinge behandeln müsse [...]. Man muß sie also, Durkheim paraphrasierend, wie Wörter behandeln.«9

Einen regelrechten Übertritt erlebt man da Mitte der fünfziger Jahre, allerdings mit dem kleinen Vorbehalt, daß Jean Pouillon sich Claude Leforts kritischer Argumentation bezüglich der Hintanstellung der Geschichtlichkeit bei Lévi-Strauss anschließt. In dieser Hinsicht bleibt er den Sartreschen Positionen zur histo­rischen Dialektik treu und setzt der synchronischen Logik des Schachspiels die diachronische Logik des Bridge entgegen. Von

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diesem Vorbehalt abgesehen, widmet Jean Pouillon sich fortan vollständig dem Strukturalismus und der Anthropologie und be­sucht die Seminare von Claude Lévi-Strauss in der Fünften Sek­tion der Ecole des hautes études. Von einer Buchbesprechung zu einer existentiellen Wahl gelangt, folgt Jean Pouillon dem Ruf der Tropen. Er bekommt ein paar Kredite und macht sich 1958 auf Anraten von Robert Jaulin, der ihm dieses Land als ethnologisch noch unerschlossenes Terrain vorstellt, in den Tschad auf.

War sich Sartre bewußt, daß er an dem Ast sägte, auf dem er saß ? Sicherlich nicht, wie Jean Pouillon erklärt10 : Sartre irrte hin­sichtlich der Tragweite der Traurigen Tropen, die ihm gefallen hatten, weil sie der Gegenwart des Beobachters in der Beobach­tung Rechnung tragen und sich auf die Kommunikation mit den Eingeborenen stützen. Daß er für eine weniger erklärende als vielmehr einsichtnehmende Ethnologie empfänglich war, diesem Mißverständnis verdankt man die Bekehrung Jean Pouillons, der das mit der hübschen Formel von der »Fruchtbarkeit der Miß­verständnisse« umschreibt. Bei seiner Tschad-Reise untersucht Pouillon sieben bis acht Gruppen von jeweils höchstens zehntau­send Personen und stellt dabei durchweg unterschiedliche Orga­nisationsweisen, eine niemals gleiche Aufteilung der politisch-re­ligiösen Zuständigkeiten fest, wohingegen »der Wortschatz, das Lexikon stets gleich, identisch war« n. Um diese Differenzen be­greiflich zu machen, war der Rückgriff auf die Struktur eine not­wendige Durchgangsstufe, Struktur nicht als im konkreten Leben dieser oder jener Gruppe realisiert, sondern als Permutations­möglichkeit, als Logik dieser Grammatik, die es überhaupt erst gestattet, verschiedene mögliche Realisierungen zu verstehen.

1960, als der erste Band der Kritik der dialektischen Vernunft erscheint, lädt Claude Lévi-Strauss, der in Jean Pouillon einen der besten Spezialisten für das Denken Sartres an der Hand hat, ihn ein, das Buch in seinem Seminar vorzustellen. Pouillon verwendet drei zweistündige Seminare auf die Lektüre der Kritik der dialek­tischen Vernunft, und — ein Zeichen für das Interesse, das Sartre

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immer noch weckt — das Publikum dieser Sitzungen, die im allgemeinen nur dreißig Teilnehmer anziehen, verwandelt sich in eine »kompakte Menschenmenge, die den Saal in Beschlag [nahm] [...]. Unter ihnen erkannte ich Leute wie Lucien Gold­mann.« 12 Wenn Jean Pouillon bestrebt war, Sartre und Claude Lévi-Strauss zu versöhnen, muß er eine gewisse Enttäuschung verspürt haben, als 1962 am Schluß vom Wilden Denken Claude Lévi-Strauss' Entgegnung auf die Kritik der dialektischen Ver­nunfterschien. Trotz der Heftigkeit dieses Angriffs — wir werden darauf zurückkommen — verlor Pouillon nicht die Hoffnung und stellte die beiden Werke 1966 in L'Arc als einander komplementär und inkommensurabel dar, ein Blickpunkt, den er noch heute einnimmt: »Es ist angebracht, beide mit ungetrübtem Blick zu betrachten, denn wenn der eine bei einer Sache ist, ist es der an­dere nicht.«13

Während Jean Pouillon sich einer vielversprechenden Human­wissenschaft, der Anthropologie, zugewandt hatte, blieb Sartre gegenüber den vielfältigen Herausforderungen der verschiede­nen Humanwissenschaften sehr distanziert. Die Philosophie des Bewußtseins, des Subjekts führte ihn dazu, die Linguistik als eine Unterwissenschaft zu betrachten und sie nachgerade grundsätz­lich zu umgehen. Die Psychoanalyse verträgt sich schlecht mit seiner Theorie der Unaufrichtigkeit und der Freiheit des Sub­jekts, und in Das Sein und das Nichts (1943) betrachtet er Freud als Anstifter einer mechanistischen Doktrin. Dennoch sollte er auf gänzlich abenteuerliche Weise in das Freudsche Labyrinth gelangen. 1958 tritt nämlich John Huston an Sartre heran und beauftragt ihn mit einem Drehbuch über Freud. Dieser Holly­wood-Auftrag zwingt Sartre, Freuds gesamtes Werk sowie seine Korrespondenz zu lesen. Am 15. Dezember 1958 schickt er Hu­ston ein fünfundneunzigseitiges Exposé, und ein Jahr später stellt er das Drehbuch fertig. Aber die beiden Männer zerstreiten sich. Huston, der das Drehbuch zu schwerfällig, zu langweilig findet, will, daß Sartre es ausdünnt, doch der erweitert es jedes Mal und

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zieht letztlich seinen Namen aus der Produktion Freud zurück. Sartre hat sich also Ende der fünfziger Jahre mit dem Freudianis­mus vertraut gemacht ; doch obwohl die Psychoanalyse nach und nach sein Interesse gewinnt, wird er sich ihrem zentralen Begriff des Unbewußten stets verschließen, da er von dem Postulat aus­geht, daß der Mensch zur Gänze in der Praxis verstanden werden kann, was er später mit seinem gleichfalls unvollendet gebliebe­nen Flaubert nachzuweisen versucht. Gewiß waren »die zwei Kannibalen« u Sartre und Claude Lévi-Strauss nicht an einen Ort zusammenzubringen, ohne Gefahr zu laufen, daß der eine den anderen gefressen hätte. So war es die geschichtliche Leistung des Menschen Jean Pouillon, jeden Versuch von Anthropophagie zu vereiteln.

Die Krise des engagierten Intellektuellen

Das dritte Feld, auf dem Sartre sich Anfechtungen ausgesetzt sieht, ist seine Konzeption des engagierten Intellektuellen, eine französische Tradition, die auf die Dreyfusaffäre zurückgeht. Diese Tradition hat Sartre bis zu dem Augenblick überzeugend verkörpert, in dem man zu der Ansicht kommt, daß der Intellek­tuelle nicht mehr in allen Belangen seinen Standpunkt darlegen könne, sondern sich streng an sein Fachgebiet zu halten habe. Die kritische Arbeit des Intellektuellen wird nun als begrenzter gese­hen, wobei sie aber an Pertinenz gewinnt, was sie an Interven­tionsmöglichkeit einbüßt. Dieses Zurücktreten des Intellektuel­len im Namen der Rationalität entspricht auch einem Auszug aus, ja sogar einer Verweigerung gegenüber der Geschichte im weiteren Sinn : »Der Strukturalismus tritt rund zehn Jahre nach Kriegsende auf den Plan, aber der Krieg endete nun einmal in ei­ner erstarrten Welt. 1948 droht eine Neuauflage; zwei Blöcke ste­hen sich gegenüber, der eine ruft Freiheit, der andere Gleichheit. All dies hat zu einer Verneinung der Geschichte beigetragen.«15

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Zwei große Gestalten des Strukturalismus machen das Abriik-ken vom Sartreschen Engagement deutlich: Georges Dumézil und Claude Lévi-Strauss. Auf die Frage, ob er sich nie der Tradi­tion des engagierten Intellektuellen nahe gefühlt habe, antwortet Georges Dumézil : »Nein, ich habe sogar fast eine Abneigung ge­gen diejenigen, die diese Rolle innehaben. Besonders gegen Sar­tre.« 16 Hier kommt das Desengagement aus einem grundreaktio­nären Ansatz, der nichts mehr von der Zukunft erwartet und die Welt mit einer unheilbaren Sehnsucht nach der tiefsten Vergan­genheit anschaut : »Das nicht bloß monarchische, sondern dyna­stische Prinzip, das den höchsten Staatsposten vor Launen und Ambitionen sichert, schien mir und scheint mir immer noch der verallgemeinerten Wahl vorzuziehen, in der wir seit Danton und Bonaparte leben.«17 Ein solches Zurücktreten von jeder Stellung­nahme im Zeitgeschehen, von jeder Parteinahme stellt man auch bei Lévi-Strauss fest, der auf die Frage nach dem Engagement antwortet : »Nein. Ich bin der Meinung, daß meine intellektuelle Autorität, in dem Maße, wie man mir überhaupt welche zuer­kennt, auf dem Arbeitsbeitrag, auf den Skrupeln an Strenge und Genauigkeit beruht.«18 Er setzt einen Victor Hugo, der sich für fähig halten konnte, alle Probleme seiner Epoche zu beurteilen, gegen die Jetztzeit, die zu komplex, zu zersplittert sei, als daß man beanspruchen könne, sich in ihr allein zurechtzufinden und zu engagieren. Die Figur des Philosophen erlischt als fragendes Subjekt, als Subjekt der Problematisierung der Welt in ihrer Viel­gestaltigkeit. Damit rückt Sartre aus dem Gesichtskreis, und das Feld bleibt den klassifizierenden und oftmals deterministischen Humanwissenschaften überlassen.

Die Geburt eines Helden : Claude Lévi-Strauss

Der Strukturalismus wird unterdessen mit Claude Lévi-Strauss identifiziert. In einem Jahrhundert, in dem die intellektuelle Ar­beitsteilung einem immer kleinteiligeren Wissen Vorschub leistet, ist er das Wagnis eingegangen, das Gleichgewicht zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen herzustellen. Hin- und hergeris­sen zwischen dem Willen, die der Wirklichkeit zugrundeliegen­den inneren Logiken zu rekonstruieren, und einer poetischen Sensibilität, die ihn stark mit der Natur verbindet, hat Lévi-Strauss bedeutende intellektuelle Synthesen nach dem Vorbild musikalischer Partituren verfaßt.

Der 1908 Geborene steht in seinem familiären Umfeld inmit­ten künstlerischen Schaffens. Sein Großvater ist Geiger, sein Va­ter und einer seiner Onkel sind Maler. Als Jugendlicher verbringt Claude Lévi-Strauss seine ganze Freizeit mit Besuchen von Anti­quariaten; und als seine Eltern ein Haus im Hochland der Ceven-nen kaufen, entdeckt er, der Städter, mit Entzücken eine für ihn exotische Natur. In langen, zehn- bis fünfzehnstündigen Wande­rungen durchstreift er die ländliche Gegend. Diese Doppelpas­sion, Kunst und Natur, wird seine Stellung zwischen zwei Wel­ten, seine umwälzende Denkweise und die wesentlich ästhetische Ambition seines Werkes prägen. Allerdings entzieht er sich den Betörungen der Sensibilität, die er zwar nicht verleugnet, aber durch die Konstruktion umfassender logischer Systeme zu be­grenzen versucht. Darin begegnet man seinem bei allen Schwan­kungen der Mode unbeirrten Festhalten an seinem strukturalen Ausgangsprogramm.

Sein Interesse an der Natur paart sich bald mit einer Öffnung

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hin zur sozialen Welt. Schon in der Schule engagiert er sich im so­zialistischen Kampf. Frühzeitig eignet er sich Kenntnisse des Werks von Karl Marx an, dank des jungen belgischen Sozialisten Arthur Wanters, der eines Sommers in das Haus der Familie ein­geladen wird und ihn dort mit siebzehn veranlaßt, Marx zu lesen : »Marx hat mich auf der Stelle fasziniert. [...] Ich habe mich sehr bald darangemacht, das Kapital zu lesen.«1 Eine solide Grund­lage gibt Lévi-Strauss seinem Engagement jedoch vor allem unter dem Einfluß von Georges Lefranc, in der Gruppe für sozialisti­sche Studien während seiner Khagne-Xeit. Er meldet sich mit so vielen Diskussionsbeiträgen und Referaten zu Wort, daß er bereits im Jahre 1928, als er zum Generalsekretär der Fédération des étudiants socialistes [Vereinigung sozialistischer Studenten, A. d. Ü.] gewählt wird, wichtige Aufgaben wahrnimmt. Gleich­zeitig ist er Ende der zwanziger Jahre Sekretär eines sozialisti­schen Abgeordneten, Georges Monnets, muß jedoch 1930 diese anstrengenden Verpflichtungen aufgeben, um das Staatsexamen in Philosophie vorzubereiten. Von Begeisterung kann keine Rede sein. Seine Lehrer, Léon Brunschvicg, Albert Rivaud, Jean La-porte und Louis Bréhier, lassen ihn gründlich unzufrieden: »Im Grunde bin ich wie ein Zombie durch das Gelände gestreunt.«2

Dessen ungeachtet besteht er 1931 die agrégation in Philosophie als Drittbester.

Mit seinem sozialistischen Engagement ist es bald darauf vor­bei: Ein leichter Autounfall und ein vergeblich erwarteter Brief lassen ihn anderen Sinnes werden. Dem politischen Engagement des Pazifisten, der er war, bricht das Trauma von 1940, der »selt­same Krieg« und die »merkwürdige Niederlage«, wie Marc Bloch sie nennt, die Spitze. Er zieht daraus die Lehre, daß es gefährlich ist, »politische Realitäten im Rahmen formaler Ideen zu fassen«3. Er wird diesen Fehlschlag nie verwinden und keinerlei politisches Engagement mehr zeigen, auch wenn sein Ethnologenstand­punkt jenseits seiner eigenen Bekundungen politische Dimensio­nen besitzt. Aber diese Wende ist wichtig. Anstatt auf die zu-

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künftige Welt zu blicken, wendet sich Lévi-Strauss nostalgisch der Vergangenheit zu, auf das Risiko hin, so anachronistisch, so zeitversetzt zu erscheinen wie Don Quijote, der die Leidenschaft des Zehnjährigen gewesen ist.

Der Ruf der See

Seine Ethnologenlaufbahn beginnt, wie er in den Traurigen Tro­pen erzählt, an einem Sonntag im Herbst 1934 mit einem Telefon­anruf von Célestin Bougie, dem Direktor der École normale su­périeure, der ihm vorschlägt, sich als Soziologieprofessor an der Universität von Säo Paulo zu bewerben. Célestin Bougie glaubt naiverweise, in den Vororten von Säo Paulo gebe es zahlreiche In­dianer, und legt Lévi-Strauss nahe, seine Wochenenden auf ihr Studium zu verwenden. Er reist nach Brasilien ab, freilich nicht auf der Suche nach Exotik: »Ich verabscheue Reisen und For­schungsreisende«4, sondern um die spekulative Philosophie hinter sich zu lassen und sich endgültig der jungen und seinerzeit noch randständigen Disziplin der Anthropologie zuzuwenden. Mit Jacques Soustelle hatte er damals schon ein derartiges Bei­spiel vor Augen. Mit dem, was er in zwei Jahren hat zusammen­tragen können, veranstaltet er eine Ausstellung in Paris und be­kommt Kredite, die es ihm ermöglichen, eine Expedition zu den Nambikwara zu organisieren. Seine Arbeiten finden in einem kleinen Kreis von Fachleuten Beachtung, namentlich bei Robert Lowie und Alfred Métraux. 1939 nach Frankreich zurückgekehrt, muß Lévi-Strauss erneut aufbrechen, diesmal, um den deutschen Besatzern zu entkommen, ins Exil. Im Rahmen eines großan­gelegten Plans zur Rettung europäischer Gelehrter, den die Rok-kefeller Foundation gefaßt hat, erhält er eine Einladung der New School for Social Research in New York.

Er überquert den Atlantik auf einem den Umständen entspre­chenden Schiff, dem Capitaine Paul-Lemerle, in Begleitung ande-

Die Geburt eines Helden: Claude Lévi-Strauss 35

ren Gesindels, wie die Gendarmen sich ausdrückten, darunter André Breton, Victor Serge und Anna Seghers. Auf amerikani­schem Boden angekommen, gibt man Lévi-Strauss in der New School zu verstehen, daß er seinen Namen werde ändern müssen. Für die Dauer seines Amerika-Aufenthalts heißt er fortan, um jegliche Verwechslung mit der Jeansmarke auszuschließen, Claude L. Strauss : »Kaum ein Jahr vergeht, ohne daß ich nicht [sie], im allgemeinen aus Afrika, eine Jeans-Bestellung erhalte.«5

Von solch drolligen Unannehmlichkeiten einmal abgesehen, wird dank der folgenreichen Begegnung zwischen Lévi-Strauss und seinem sprachwissenschaftlichen Kollegen an der New School, Roman Jakobson, der wie er Exilant ist und in französischer Sprache Vorlesungen zur strukturalen Phonologie hält, New York zum entscheidenden Ort für die Ausarbeitung einer struk-turalistischen Anthropologie. Beider Begegnung wird sich intel­lektuell wie persönlich als besonders ergiebig erweisen. Daraus entsteht ein freundschaftliches Einvernehmen, das fortdauern wird. Jakobson besucht die Vorlesungen von Lévi-Strauss über die Verwandtschaft, und Lévi-Strauss verfolgt Jakobsons Vor­lesungen über Laut und Bedeutung: »Seine Vorlesungen waren eine Art Blendung.«6 Aus der Symbiose ihrer jeweiligen For­schungen wird die strukturale Anthropologie entstehen. Auf Jakobsons Rat hin beginnt Lévi-Strauss 1943 mit der Abfassung seiner Doktorarbeit, die später zu einem Hauptwerk wird : Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft

1948 in Frankreich zurück, übernimmt Lévi-Strauss einige zeitweilige Verpflichtungen: zunächst als Lehrbeauftragter am CNRS [Centre National de la Recherche Scientifique; Zentralin­stitut für wissenschaftliche Forschung, A. d. Ü.], dann als stellver­tretender Direktor des Musée de l'Homme. Schließlich wird er dank der Unterstützung von Georges Dumézil in der Fünften Sektion der École pratique des hautes études auf den Lehrstuhl für »Religionen nicht-zivilisierter Völker« berufen, eine Bezeich­nung, die er infolge von Diskussionen mit farbigen Hörern rasch

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ändert. »Man konnte ja wirklich nicht sagen, daß Leute, die zu uns in die Sorbonne kamen, >nicht-zivilisiert< waren.«7 Sein Lehrstuhl erhält daraufhin den Namen »Religionen schriftloser Völker«.

Der wissenschaftliche Anspruch

Doch der Strukturalismus in der Anthropologie ist nicht durch Urzeugung dem Hirn eines Gelehrten entsprungen. Vielmehr re­sultiert er aus einer besonderen Situation der entstehenden An­thropologie und im weiteren Sinne aus dem Aufkommen des Wissenschaftsbegriffs bei der Erforschung von Gesellschaften. In dieser Hinsicht schreibt sich der Strukturalismus, auch wenn Lévi-Strauss hier auf Abstand geht und Neuerungen einführt, in die positivistische Nachfolge Auguste Comtes und seines Szien-tismus ein — nicht allerdings in die des Comteschen Optimismus, der in der Geschichte der Menschheit ein stufenweises Fort­schreiten der Spezies zum positiven Zeitalter sieht; aber daß eine Erkenntnis dann von Interesse ist, wenn sie das Modell der Wis­senschaft belehnt oder sich in Wissenschaft, in Theorie umwan­deln läßt, dieser Comtesche Gedanke wird weiterentwickelt: »Darin zeigt sich ein Abgehen von der traditionellen Philoso­phie«8, das für den von Lévi-Strauss eingeschlagenen Weg be­zeichnend ist. Die andere Seite des Comteschen Einflusses liegt in der Globalität seines Anspruchs, in seinem »Holismus«9. Bei Auguste Comte findet sich die gleiche Verwerfung der Psycholo­gie wie später bei Lévi-Strauss. Auf dem Feld der im beginnenden 20. Jahrhundert hervortretenden Soziologie vertritt diese globali­sierende Ambition Durkheim, der ihren Gegenstand auf die Wis­senschaft vom Menschen eingrenzt. Wenngleich Lévi-Strauss nach Brasilien gereist ist, wenngleich er für die Ethnologie ge­wonnen wurde, die insofern gegen Durkheim aufbegehrte, als dieser kein Mann der Feldforschung war, kann sich in den dreißi­ger Jahren seine soziologische Bildung nur aus dem Durkheimis-

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mus speisen. Und man kann mit Boudon sagen, daß »auf Seiten der Anthropologen der Holismus gewissermaßen mit der Mut­termilch eingesogen worden ist«10.

Für Durkheim wie für Comte bildet die Gesellschaft ein nicht auf die Summe seiner Teile reduzierbares Ganzes. Auf dieser Grundlage wird sich die soziologische Disziplin konstituieren. Der zunehmende Erfolg des System- und danach des Strukturbe­griffs knüpft an die wissenschaftlichen Umgestaltungen insge­samt an, wie sie um die Jahrhundertwende in den verschiedenen Disziplinen vonstatten gehen, und insbesondere an deren Fähig­keit, die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den konstitutiven Elementen ihres je eigenen Gegenstandes zu erklären. Diese Um­gestaltung betrifft die Soziologie genausogut wie die Sprachwis­senschaft, die Ökonomie oder die Biologie. Lévi-Strauss kann also nicht umhin, sich in der Nachfolge Durkheims anzusiedeln. Greift er nicht übrigens 1949 ausdrücklich F. Simiands Heraus­forderung der Historiker aus dem Jahre 1903 wieder auf? Aller­dings verfährt Lévi-Strauss in umgekehrter Reihenfolge wie Durkheim. Zu dem Zeitpunkt, als er Die Methode der Soziologie (1895) schreibt, beschließt Durkheim, schriftliche Quellen zu be­vorzugen und den vom Ethnographen zusammengetragenen Auskünften zu mißtrauen. Es ist die Ära des historischen Positi­vismus. Erst nachträglich, um 1912, stellt Durkheim beide Me­thoden, die historische und die ethnographische, einander gleich, wobei dieses Einlenken durch die Gründung von L'Année socio­logique beschleunigt wird. Für Lévi-Strauss hingegen, der seine minuziösen Feldforschungen in Brasilien begonnen hat, geht die Beobachtung vor, geht sie jeder logischen Konstruktion, jeder Konzeptualisierung voran. Ethnologie ist für ihn zuvörderst Eth­nographie: »Die Anthropologie ist vor allem eine empirische Wissenschaft. [...] Die empirische Untersuchung bedingt den Zugang zur Struktur.« n Die Beobachtung ist gewiß kein Selbst­zweck — Lévi-Strauss wird auch gegen den Empirismus strei­ten —, aber eine unverzichtbare erste Stufe.

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Gegen Funktionalismus und Empirismus

Lévi-Strauss' erster großer Untersuchungsgegenstand, das In­zestverbot, ist übrigens für ihn der Anlaß, sich von Durkheims Darlegungen zum selben Thema12 zu distanzieren. Gegenüber einer Deutung, die das Inzestverbot einer überholten Mentalität, einer Furcht vor dem Menstruationsblut und abgelegten Glau­bensinhalten zuweist und es somit in ein heterogenes Verhältnis zu unserer Moderne setzt, sucht Lévi-Strauss, der sich nicht mit einer geographischen und zeitlichen Eingrenzung des Phäno­mens begnügt, nach den zeitlosen, universellen Wurzeln, die die Fortwirkung dieses Verbots erhellen. Auch wenn Lévi-Strauss in der Nachfolge von Auguste Comte, Emile Durkheim und Marcel Mauss steht, darf man nicht vergessen, daß Marx für ihn eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Wir haben gesehen, daß er sich sehr frühzeitig und gründlich mit ihm beschäftigte und seine da­malige Militanz sich dieser Kenntnisnahme verdankte. Neben Freud und der Geologie gibt er Marxens Lehre als eine seiner »drei Lehrmeisterinnen«13 an. Von Marx lernt er, daß die manife­sten Realitäten deshalb keineswegs die signifikantesten sind und daß es am Forscher liegt, Modelle zu konstruieren, um Zugang zu den Grundlagen der Wirklichkeit zu finden und über den sinnlich wahrnehmbaren Schein hinauszugelangen : »Marx [hat] gelehrt, daß die Sozialwissenschaft ebensowenig auf der Grundlage von Ereignissen aufbaut, wie die Physik von Gefühlsregungen aus­geht.« u

Marxens Lehre getreu, verwahrt er sich in strikter Orthodoxie dagegen, die bestimmende Rolle des Unterbaus, der Infrastruk­turen verhehlen zu wollen, auch wenn er eine Theorie des Über­baus, der Superstrukturen konstruieren will: »Wir vertreten aber keineswegs die Ansicht, daß ideologische Wandlungen soziale Wandlungen erzeugen. Einzig die umgekehrte Reihenfolge ist wahr.«15 Die marxistische Durchdringung, der unterschwellige Dialog mit Engels wird im Laufe der Jahre verschwinden. Doch

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am Ausgangspunkt, in Brasilien, scheint Lévi-Strauss vor allem als Marxist aufzutreten. Er sagt in diesem Zusammenhang zu Eri-bon, daß die Brasilianer enttäuscht gewesen seien, einen nicht-durkheimschen Soziologen ankommen zu sehen. Was konnte man damals anderes sein als Durkheimianer ? »Ich glaube, daß er Marxist war. Er hatte sich angeschickt, der offizielle Philosoph der SFIO [Section Française de l'Internationale Ouvrière ; Fran­zösische Sektion der Arbeiter-Internationale, A. d. Ü.] zu werden [...]. Offenbar hat sich in Brasilien etwas ereignet, was bewirkte, daß er sich veränderte; es muß die Berührung mit dem Terrain gewesen sein, aber nicht allein das.«16

Mit der Anthropologie konfrontiert, verwirft Lévi-Strauss die beiden Wege, die sich ihm als die einzigen Forschungsmöglich­keiten in diesem Bereich bieten: die Evolutionstheorie und Diffusionstheorie sowie den Funktionalismus. Zwar bewundert er die Qualität von Malinowskis Feldforschung, seine Unter­suchungen über das Sexualleben in Melanesien oder über die Argonauten, denunziert jedoch deren Kult des Empirismus und Funktionalismus: »Aber die Vorstellung, daß die empirische Be­obachtung einer beliebigen Gesellschaft erlaubt, zu universellen Motivierungen zu gelangen, taucht in seinem Werk beständig auf wie ein Element der Verfälschung, das die Tragweite von Bemer­kungen, deren Lebendigkeit und Reichtum man im übrigen kennt, vermindert und abwertet.«17 Der Funktionalismus Mali­nowskis gerät nach Lévi-Strauss' Ansicht in die Falle der Diskon­tinuität, der Vereinzelung. Indem diese Analyse soziale Struktu­ren mit sichtbaren sozialen Beziehungen verwechselt, bleibt sie an der Oberfläche der Dinge und geht am Wesen der sozialen Phänomene vorbei. So kommt Malinowski bezüglich des Inzest­verbots nicht über biologische Überlegungen zur Unvereinbar­keit von Verwandtschaftsgefühlen und Liebesbeziehungen hin­aus. Einem strukturalen Verfahren schon etwas näher, hatte Radcliffe-Brown den Begriff der sozialen Struktur bereits bei der Untersuchung der australischen Verwandtschaftssysteme einge-

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setzt. Er hatte versucht, jedes System methodisch zu klassifizie­ren, es in seiner Besonderheit auszuloten und anschließend für die menschlichen Gesellschaften insgesamt gültige Verallgemei­nerungen zu treffen : »Die Analyse versucht, die Mannigfaltigkeit (von zwei- bis dreihundert Verwandtschaftssystemen) auf eine wie immer geartete Ordnung zurückzuführen.«18 Lévi-Strauss meint freilich, daß Radcliffe-Browns Methodologie zu deskriptiv und empiristisch bleibe und letztlich mit Malinowski eine funk-tionalistische Interpretation teile, die der Oberfläche der sozialen Systeme verhaftet bleibe.

Während er sich von der Strömung des angelsächsischen Em­pirismus zurückzieht, findet Lévi-Strauss seine anthropologi­schen Lehrmeister bei den Erben der deutschen historischen Schule, die sich von der Geschichte abgewandt haben und für ei­nen kulturellen Relativismus eintreten: Lowie, Kroeber und Boas, »Autoren, denen ich stets verpflichtet bleiben werde«19. In R.H. Lowie sieht er den Pionier, der 1915 den vielversprechenden Weg für die Untersuchung der Verwandtschaftssysteme bereitet hat: »Manchmal kann die eigentliche Substanz des sozialen Le­bens streng anhand der Klassifikationsweise der Verwandten und Schwiegerverwandten analysiert werden.«20 Was Franz Boas an­belangt, so hat Lévi-Strauss ihn bei seiner Ankunft in New York sogleich zu treffen versucht. Boas war damals die überragende Gestalt der amerikanischen Anthropologie, und seine Wißbe­gierde und Forschungsarbeit waren grenzenlos. Lévi-Strauss er­lebte den Tod des großen Meisters bei einem Mittagessen, das Boas zu Ehren von Rivet organisiert hatte, der die Fakultät von Columbia besuchte: »Boas war sehr vergnügt. Mitten in der Unterhaltung stieß er plötzlich den Tisch zurück und fiel nach hinten um. Ich saß neben ihm und beeilte mich, ihn wieder aufzu­richten. [...] Boas war tot.«21 Boas' Hauptbeitrag und sein Ein­fluß auf Lévi-Strauss bestanden darin, daß er den Akzent auf die Unbewußtheit der kulturellen Phänomene legte und daß er den Kern für die Intelligibilität dieser unbewußten Struktur in den

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Gesetzen der Sprache ansiedelte. Der linguistische Anstoß ging bereits 1911 von der Anthropologie aus, und er hat den Ertrag der Begegnung von Lévi-Strauss und Jakobson begünstigt.

Die Einführung des linguistischen Modells

Lévi-Strauss ist ein Neuerer im strengen Sinn gewesen, indem er das linguistische Modell in die Anthropologie eingeführt hat, während sie bis dahin in Frankreich den Naturwissenschaften an­gegliedert und als somatische Anthropologie über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg beherrschend gewesen war. Überdies stehen die Modelle der Naturwissenschaften Lévi-Strauss unmit­telbar vor Augen, da er, als er 1948 nach Frankreich zurückge­kehrt ist, stellvertretender Direktor des Musée de l'Homme wird. Dennoch übernimmt er dieses Verfahren nicht, sondern sucht ein Modell für Wissenschaftlichkeit in den Humanwissenschaften, genauer gesagt, in der Linguistik. Weshalb dieser grundlegende Umweg? »Ich versuche eine Antwort: Die biologische, somati­sche Anthropologie war mit Rassismen aller Art dermaßen kom­promittiert, daß man an diese Disziplin schwerlich anknüpfen und jenes Traumgebilde von einer Generalwissenschaft, einer all­gemeinen, sowohl das Somatische wie das Kulturelle integrieren­den Anthropologie errichten konnte. Nun hat aber eine histori­sche Ablösung der somatischen Anthropologie stattgefunden, so daß sich eine theoretische Debatte erübrigte. Claude Lévi-Strauss kam, und die Geschichte hatte den Platz freigemacht.«22 Der durch Lévi-Strauss geschaffene Bruch ist um so aufsehenerregen­der, als der naturalistische und biologistische Strang der französi­schen Anthropologie weithin den Ton angab ; diese Disziplin be­trieb die Erforschung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und gründete sich deshalb auf einen im wesentlichen biologischen Determinismus. In dieser Hinsicht hat der Krieg ei­nen Wandel bewirkt, und Lévi-Strauss kann sich ohne ideologi-

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sches Risiko die Fachbezeichnung Anthropologie zu eigen ma­chen und die französische Anthropologie auf das Niveau des semantischen Feldes der angelsächsischen Anthropologie heben, indem er sie auf eine Leitdisziplin stützt : die Linguistik.23

An der Nahtstelle von Natur und Kultur: der Inzest

1948 nach Frankreich zurückgekehrt, verteidigt Claude Lévi-Strauss also seine »thèse«, Die elementaren Strukturen der Ver­wandtschaft, und seine »thèse complémentaire«, La Vie familiale et sociale des Nambikwara [Hauptthese und Ergänzungs- bzw. Nebenfachthese gehören zum französischen Promotionsverfah­ren, A.d.Ü.], vor einem Prüfungsausschuß, dem Georges Davy, Marcel Griaule, Emile Benveniste, Albert Bayet und Jean Escarra angehören. Das Erscheinen der Dissertation in Buchform im Jahr daraufl ist eines der Hauptereignisse der Geistesgeschichte nach dem Krieg und ein Eckstein in den Fundierungen des strukturali-stischen Programms. Noch vierzig Jahre später sehen die An­thropologen in diesem Ereignis den Beginn eines neuen Zeit­alters : »Am wichtigsten, am grundlegendsten erscheinen mir Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, wegen des wissen­schaftlichen Anspruchs, der hier in die Analyse des sozialen Ge­menges eingebracht wird, wegen der Suche nach dem umfassend­sten Modell, um damit Phänomenen Rechnung zu tragen, die auf den ersten Blick scheinbar nicht denselben Analysekategorien unterliegen können, und wegen des Übergangs von einer Proble­matik der Verwandtschaft zu einer Problematik der Verbindun­gen.« 2

Wenn die französische anthropologische Schule mit der Veröf­fentlichung der Doktorarbeit von Lévi-Strauss eine regelrechte epistemologische Revolution erfährt, so sind auch andere Kreise, darunter die Philosophen, geblendet. Beispielsweise Olivier Re-vault d'Allonnes, ein junger agrégéder Philosophie: »Das ist ein bedeutender, ja ausschlaggebender Moment. Ich war gerade an

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das Lycée von Lille berufen worden, nachdem ich 1948 meine agrégation in Philosophie abgelegt hatte, und dieses Buch war für mich eine fundamentale Erleuchtung. Ich sah damals in den Ele­mentaren Strukturen der Verwandtschaft eine Bestätigung von Marx.«3 Der Impuls reicht also über den kleinen Kreis der An­thropologen hinaus und zeitigt zugleich nachhaltige Wirkung. Fast zehn Jahre nach ihrer Veröffentlichung entdeckt ein ange­hender Student der École normale supérieure 1957 mit heller Be­geisterung Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft: Em­manuel Terray. Angetreten als Philosoph, liebäugelt er bereits mit der Anthropologie, hegt den Wunsch, Frankreich zu verlassen, das sich mitten im Kolonialkrieg befindet, den er verurteilt und gegen den er sich engagiert. Da bekommt er, da das Buch schwer zu beschaffen war, Die elementaren Strukturen der Verwandt­schaft von seinem Freund Alain Badiou geliehen: »Alain hat mir dieses Buch geliehen, und ich habe hundert Seiten daraus abge­schrieben, die ich noch immer besitze. Und als ich mit dem Ab­schreiben der hundert Seiten fertig war, konnte Alain in Anbe­tracht der Mühe, die das bedeutete, nicht umhin, mir sein Buch zu schenken. Deshalb besitze ich die Erstausgabe. Für mich war es damals — und dazu stehe ich noch heute — ein in seinem Be­reich vergleichbarer Vorstoß wie das Kapital von Marx oder Die Traumdeutung von Freud.«4 Es ist Lévi-Strauss' Fähigkeit, Ord­nung in ein scheinbar der völligen Inkohärenz, dem Empirischen anheimfallendes Gebiet zu bringen, was den jungen Philosophen verführt, und diese Begeisterung stärkt ihn in der Wahl seiner Laufbahn : der Anthropologie.

Die universale Invariante

Auf der Suche nach Invarianten, mit denen sich in den sozialen Praktiken Universalien aufweisen lassen, stößt Lévi-Strauss auf das Inzestverbot als ein jenseits der Vielgestaltigkeit menschli-

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eher Gesellschaften unveränderliches Verhalten. Er nimmt ge­genüber der traditionellen Betrachtungsweise insofern eine grundsätzliche Verlagerung vor, als das Phänomen stets in Ter­mini moralischer Untersagungen und nicht aufgrund seines so­zialen Nutzens gedacht worden ist. So hält Lewis Henry Morgan das Inzestverbot für einen Schutz der Spezies vor den schädli­chen Auswirkungen blutsverwandter Ehen. Für Edvard Wester-marck erklärt es sich aus dem durch tägliche Gewöhnung verur­sachten Verschleiß des sexuellen Verlangens — eine These, gegen die Freud mit seiner Ödipus-Theorie angegangen ist. Die Lévi-Strausssche Revolution besteht nun darin, dieses Phänomen zu entbiologisieren, es zugleich aus dem einfachen Schema der Kon-sanguinität und aus moralisch-ethnozentrischen Betrachtungs­weisen herauszulösen. Die strukturalistische Hypothese nimmt hier eine Verschiebung des Gegenstands vor, um ihm ganz den Charakter einer Transaktion, einer Kommunikation zurückzuge­ben, die sich mit der Heiratsverbindung einstellt. Somit werden die Verwandtschaftsbeziehungen als erste Grundlage der gesell­schaftlichen Reproduktion erkennbar.

Um sich nicht im Labyrinth der vielfältigen Heiratsbräuche zu verlieren, löst Lévi-Strauss das Problem mathematisch und definiert eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, die er als die elementaren Verwandtschaftsstrukturen bezeichnet: »Unter elementaren Strukturen der Verwandtschaft verstehe ich [...] Systeme, welche die Heirat mit einem bestimmten Typus von Verwandten festlegen; oder, wenn man es lieber will, Systeme, die zwar alle Mitglieder der Gruppe als Verwandte definieren, diese jedoch in zwei Kategorien unterteilen: mögliche Gatten und verbotene Gatten.«5 Die elementaren Strukturen ermögli­chen es, von einer Nomenklatur ausgehend, den Kreis der Bluts­verwandten und der Schwiegerverwandten zu bestimmen. So sind in diesem Strukturtypus Ehen mit Geschwistern und Paral­lelvettern und -kusinen geächtet und solche mit Kreuzvettern und -kusinen bzw. in manchen Fällen genauer matrilinearen

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Kreuzvettern und -kusinen vorgeschrieben. Gesellschaften teilen sich also in zwei Gruppen : die der möglichen Gatten und die der verbotenen Gatten. Bei den Australiern, die Lévi-Strauss unter­sucht, findet man dieses System erneut : das Kariera-System oder das Aranda-System. Im Kariera-System ist der Stamm in zwei lo­kale Gruppen geteilt, die wiederum jeweils in zwei Sektionen un­terteilt sind, und die Zugehörigkeit zu den lokalen Gruppen wird patrilinear übertragen, wobei der Sohn jedoch immer der anderen Sektion zufällt. Es liegt also zum einen eine Wechselfolge der Ge­nerationen vor und zum anderen ein Allianzsystem, das mit der bilateralen Kreuzkusine verknüpft ist (bilateral ist die Kusine in­sofern, als sie sowohl Tochter der Vaterschwester als auch des Mutterbruders des Ego sein kann). Das Aranda-System funktio­niert ähnlich, jedoch mittels Heiratsklassen. Es handelt sich hier um symmetrische Allianzen, die Lévi-Strauss als Form des einge­schränkten Tauschs klassifiziert. Diese Tauschform steht im Gegensatz zu gleichfalls elementaren Systemen, die jedoch eine unbegrenzte Anzahl von Gruppen und unilaterale Allianzen auf­weisen; in diesem Fall liegt ein verallgemeinerter Tausch vor: »Während ein System bilateraler Verbindungen mit zwei Linien funktionieren kann, bedarf es in einem System mit unilateralen Verbindungen mindestens dreier Linien : wenn A die Gattinnen in Β nimmt, muß sie ihre Frauen einer dritten Linie C geben, wel­che die ihren eventuell an Β geben und somit den Zyklus schlie­ßen kann.«6 Im Gegensatz zu diesen elementaren Verwandt­schaftsstrukturen, die darauf ausgerichtet sind, die Allianz im Rahmen der Verwandtschaft zu wahren, sind für andere, semi­komplexe Strukturen wie die Crow-Omaba-Systeme, Allianz­verbindungen nicht vereinbar mit Verwandtschaftsverbindungen. In diesem Fall kann nicht in einen Clan eingeheiratet werden, der seit Menschengedenken dem eigenen Clan bereits einen Gatten gegeben hat.

Lévi-Strauss geht also von einer Analyse in Termini der Filia­tion, der Konsanguinität ab und zeigt, daß die Vereinigung der

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Geschlechter Gegenstand einer Transaktion ist, die von der Gesellschaft vorgenommen wird; sie ist eine soziale, kulturelle Tatsache. Das Verbot wird nicht mehr als rein negative Tatsache wahrgenommen, sondern im Gegenteil als positive, gesell­schaftsschaffende Tatsache. Das Verwandtschaftssystem schließ­lich wird als einem — im Sinne der Arbitrarität des Saussureschen Zeichens — willkürlichen Repräsentationssystem zugehörig ana­lysiert.

Indem Lévi-Strauss den Naturalismus überwindet, der die Vorstellung vom Inzestverbot umgab, und es zum Prüfstein für den Übergang von der Natur zur Kultur macht, führt er eine maßgebliche Verschiebung durch. Das Soziale erwächst aus jener Organisation des Tauschs, die mit dem Inzestverbot zusammen­hängt, so daß diesem eine entscheidende Bedeutung zukommt: »Das Inzestverbot ist der Ausdruck für den Übergang von der natürlichen Tatsache der Konsanguinität zur kulturellen Tatsache der Allianz.« 7 Dieses Verbot ist der entscheidende Eingriff bei der Entstehung der sozialen Ordnung. Es kann durch seine mitt­lere Lage und seine stiftende Rolle weder allein auf die Ebene der natürlichen Ordnung bezogen werden, deren universalen und spontanen Charakter es besitzt, noch allein auf die Ebene der kulturellen Ordnung, die durch eine Norm, besondere Gesetze und zwingenden Charakter gekennzeichnet ist. Das Inzestverbot gehört somit beiden Bereichen zugleich an, es liegt an der Naht­stelle von Natur und Kultur. Es bildet die unerläßliche willkürli­che Regel, die der Mensch anstelle der natürlichen Ordnung setzt. Im Inzestverbot gibt es besondere Regeln, einen normati­ven Code (Kultur) ebenso wie einen universalen Charakter (Na­tur) : »Das Inzestverbot ist gleichzeitig an der Schwelle der Kul­tur, in der Kultur und, in gewissem Sinne [...], die Kultur selbst.«8

Die elementaren Strukturen, die aus diesem Verbot erwachsen, sind nicht als Naturtatsachen zu betrachten, die aufgrund von Beobachtung wahrzunehmen und wiederzugeben wären, son­dern unterliegen einem Entzifferungsgitter, oder, mit Kant ge-

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sprachen, einem Schema, von dem nicht alle Termini oder alle Ansichten gegenwärtig sein müssen, damit es operational funk­tioniert.« 9 Lévi-Strauss leistet mit dieser beispielhaften Untersu­chung die Befreiung der Anthropologie von den Naturwissen­schaften und weist sie von vornherein dem Bereich der Kultur zu.

Die Begegnung mit Jakobson

Zu dieser Umstellung verhilft Lévi-Strauss die strukturale Sprachwissenschaft. Insofern hat die Phonologie das Feld des Denkens in den Sozialwissenschaften von Grund auf umge­schichtet. Diese Entlehnung ist für Lévi-Strauss der kopernika-nisch-galileischen Wende vergleichbar : »Die Phonologie muß für die Sozialwissenschaften die gleiche Rolle des Erneuerers spielen wie zum Beispiel die Kernphysik für die Gesamtheit der exakten Wissenschaften.«10 Die wachsenden Erfolge der phonologischen Methode deuten auf die Existenz eines wirksamen Systems hin, dessen Haupterkenntnisse sich die Anthropologie aneignen muß, um sie auf das komplexe Feld des Sozialen anzuwenden. Lévi-Strauss wird sich also ihre Gründungsparadigmen ein ums andere zu eigen machen. Ziel der Phonologie ist es, über die Stufe der bewußten Sprachphänomene hinauszugehen; sie begnügt sich nicht damit, die Termini im einzelnen in den Blick zu neh­men, sondern will sie in ihren inneren Beziehungen erfassen; sie führt den Systembegriff ein und versucht, allgemeine Gesetze aufzustellen. Dem gesamten strukturalen Verfahren ist dieser An­spruch eingeschrieben. Lévi-Strauss verdankt diesen Beitrag dem Austausch, den er mit Roman Jakobson in New York hat : »Ich war damals eine Art naiver Strukturalist. Ich praktizierte Struktu­ralismus, ohne es zu wissen. Jakobson hat mir die Existenz eines bereits in einer anderen Disziplin aufgestellten Korpus von Leh­ren eröffnet : der Linguistik, die ich nie betrieben hatte. Für mich war das eine Erleuchtung.« n Indes beschränkt sich Lévi-Strauss

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nicht darauf, seinem Wissenskontinent einen neuen anzufügen, sondern er verleibt ihn seiner Methode ein, so daß er ihre Ge­samtperspektive von Grund auf verändert: »Wie die Phoneme sind die Verwandtschaftsbezeichnungen Bedeutungselemente, wie diese bekommen sie ihre Bedeutung nur unter der Bedin­gung, daß sie sich in Systeme eingliedern.«12 Lévi-Strauss, der in New York die Vorlesungen von Jakobson besucht hat, wird für deren Buchausgabe 1976 das Vorwort schreiben.13

Die zwei großen Lehren, die er daraus für die Anthropologie zieht, betreffen zum einen die Suche nach Invarianten jenseits der Vielheit der vorgefundenen Varietäten und zum anderen die Aus­schaltung jeglichen Rückgriffs auf das sprechende Subjekt, also die Vorrangigkeit der unbewußten Phänomene der Struktur. Diese beiden Leitlinien eignen sich nach Lévi-Strauss ebenso für die Phonetik wie für die Anthropologie. Beide Disziplinen ver­lassen dabei nicht etwa zugunsten eines systematischen Formalis­mus den Boden der konkreten Realität, und Lévi-Strauss beruft sich auf diesem Gebiet auf das Verfahren des russischen Phonolo-gen Nicolai Trubetzkoy: »Die heutige Phonologie beschränkt sich nicht auf die Erklärung, daß die Phoneme immer Glieder ei­nes Systems sind, sie zeigt konkrete phonologische Systeme und hebt ihre Struktur hervor.« u Der strukturalistische Anthropo­loge muß also dem Linguisten auf dem von der strukturalen Sprachwissenschaft vorgezeichneten Weg folgen, denn sie hat auf die erschöpfende Erklärung der sprachlichen Evolution verzich­tet und sich um das Herausfinden differentieller Abweichungen zwischen den Sprachen bemüht. Diese Auseinanderlegung des komplexen Baustoffs der Sprache in eine begrenzte Anzahl von Phonemen kann dem Anthropologen bei seiner Annäherung der in den primitiven Gesellschaften geltenden Systeme nur nützlich sein; auch er muß dekonstruieren, die beobachtbare Wirklichkeit reduzieren und dabei einer gleichfalls begrenzten Anzahl von Va­riablen nachgehen. Dies gilt etwa für die Heiratssysteme, die sich um die Beziehung zwischen Deszendenzregel und Wohnsitzre-

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gel gliedern werden, eine Beziehung, die ebenso willkürlich ist wie das Saussuresche Zeichen. Indem er sich von Jakobson leiten läßt, übernimmt Lévi-Strauss zugleich den Saussureschen Ein­schnitt. Wenn er zum Beispiel Saussures berühmte Unterschei­dung zwischen Signifikant und Signifikat aufgreift, paßt er sie dem Feld der Anthropologie an und weist dem Signifikanten die Stelle der Struktur und dem Signifikat die der Bedeutung zu, während es bei Saussure um die Entgegensetzung von Laut und Begriff geht. Auf dieser Ebene findet also eine Umwandlung des Modells statt; was aber die Beziehungen zwischen Synchronie und Diachronie betrifft, folgt Lévi-Strauss dem der Saussure­schen Linguistik eigenen Vorrang der Synchronie völlig, und diese Entlehnung impliziert schon die späteren Polemiken gegen die Geschichte. Mit der Übernahme des phonologischen Modells »zündet Claude Lévi-Strauss die Kritik an der Effizienz des hi­storischen Ansatzes oder des Bewußtseins im Zuge der wissen­schaftlichen Erklärung der sozialen Phänomene«15. Fasziniert von der Ergiebigkeit ihres Modells, geht Lévi-Strauss also bei den Linguisten in die Schule : »Wir möchten von den Sprachwissen­schaftlern das Geheimnis ihres Erfolges erfahren. Könnten nicht auch wir diese strengen Methoden, deren Wirksamkeit der Sprachwissenschaftler jeden Tag feststellen kann, auf das kom­plexe Feld unserer Untersuchungen [...] anwenden?«16 Freilich hieße es Lévi-Strauss verkennen, dächte man an einen schlichten Rücktritt des Anthropologen, der im Linguisten seinen Meister gefunden hat. Ganz im Gegenteil schreibt sich diese Entlehnung in eine umfassende Perspektive ein, welche wiederum die Lin­guistik in einen allgemeineren Plan eingliedert, dem die Anthro­pologie vorstünde. Die Interpretation des Sozialen ergäbe sich somit aus einer »Kommunikationstheorie«17 auf drei Ebenen: Austausch der Frauen zwischen den Gruppen aufgrund der Ver­wandtschaftsregeln, Austausch von Gütern und Dienstleistungen aufgrund der ökonomischen Regeln und Nachrichtenübermitt­lung aufgrund der Sprachregeln. Da diese drei Niveaus sich in ein

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globales anthropologisches Projekt einfügen, ist bei Lévi-Strauss eine ständige Analogie zwischen den beiden Methoden gegeben : »Das Verwandtschaftssystem ist eine Sprache«18; »nehmen wir also an, es existiere eine formelle Übereinstimmung zwischen der Sprachstruktur und der Struktur des Verwandtschaftssystems«19. Somit wird die Linguistik von Lévi-Strauss in den Rang einer Leitwissenschaft, eines innovativen Denkmusters erhoben. Sie soll es der Anthropologie erlauben, sich auf das Kulturelle und das Soziale zu gründen und sich von ihrer Vergangenheit als so­matische Anthropologie freizumachen. Diese strategische Rolle nimmt Lévi-Strauss dank Jakobson schon sehr früh wahr, so daß man Jean Pouillon nicht folgen kann, wenn er den Einfluß der Linguistik bei Lévi-Strauss auf den Gedanken reduziert, daß »die Bedeutung immer eine Bedeutung der Position ist«20. Schon in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft findet man die beiden Hauptantriebspole des strukturalistischen Paradigmas: die Linguistik, aber auch die formalisierte Sprache per Definition, die Mathematik. Lévi-Strauss kann die Dienste der strukturalen Mathematik der Bourbaki-Gruppe dank einer Begegnung mit André Weil, dem Bruder von Simone Weil, in Anspruch nehmen, der den mathematischen Anhang des Buches schreibt. Lévi-Strauss erkannte in dieser mathematischen Transkription seiner Entdeckungen die Fortführung einer Umstellung analog zu der­jenigen, die Jakobson vollzogen hatte: Die Aufmerksamkeit ver­schiebt sich von den Termini der Beziehung vorrangig auf die Be­ziehung zwischen diesen Termini selbst, unabhängig von ihrem Inhalt. Diese doppelte Ergiebigkeit, diese doppelte Zufuhr an Strenge und Wissenschaftlichkeit in eine unfertige Sozialwissen­schaft, die noch in den Kinderschuhen steckte und keineswegs Fuß gefaßt hatte, ließ den Traum entstehen, endlich, gleichauf mit den exakten Wissenschaften, bei der letzten Entwicklungsstufe der Wissenschaftlichkeit angelangt zu sein: »Man erweckt den Eindruck, daß die Humanwissenschaften sich zu vollwertigen Wissenschaften entwickeln werden wie die Physik von Newton.

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Bei Claude Lévi-Strauss klingt so etwas an. [...] Der Szientismus wird glaubhaft, weil die Linguistik als etwas Wissenschaftliches im Sinne der Naturwissenschaften erscheint. [...] Das ist im An­satz der Schlüssel zum Erfolg.«21 Ein ergiebiger Weg, gewiß, aber auch der Schlüssel zu den Träumen und Gespinsten, die zwanzig Jahre lang im Bereich der Humanwissenschaften gehegt werden.

Ein aufsehenerregendes Ereignis

Dem Erscheinen der Elementaren Strukturen der Verwandtschaft ist sogleich ein aufsehenerregender Empfang beschieden, denn Simone de Beauvoir greift zur Feder, um darüber eine lobende Besprechung in den Temps Modernes zu schreiben, eine Zeit­schrift, deren intellektuelle Leserschaft geeignet ist, dem Buch sofort ein breiteres Echo zu verschaffen, als dies im begrenzten Kreis der Anthropologen möglich wäre, ohne die umfangreiche Arbeit lesen zu müssen. Dies gilt auch für Jean Pouillon, der Lévi-Strauss erst seit Erscheinen der Traurigen Tropen gelesen hat. Der Zufall hat also das Paradox zustande gebracht, daß dieses struk-tural-strukturalistische Werk im Organ des Sartreschen Existen­tialismus, Les Temps Modernes, seine erste Rezension bekam. Si­mone de Beauvoir, die ebenso alt war wie Lévi-Strauss und ihn vor dem Krieg anläßlich des stage d'agrégation flüchtig kennen­gelernt hatte, ist dabei, Das andere Geschlecht abzuschließen. Sie erfährt von Michel Leiris, daß Lévi-Strauss seinerseits seine Doktorarbeit über die Verwandtschaftssysteme veröffentlichen würde. Am anthropologischen Gesichtspunkt der Frage interes­siert, bittet sie Leiris, für sie bei Lévi-Strauss anzufragen, und be­kommt die Druckfahnen zugeschickt, noch ehe sie ihr eigenes Buch fertiggestellt hat. »Um sich bei Claude Lévi-Strauss zu bedanken, schrieb sie dann eine lange Besprechung für Les Temps Modernes.«22 Der Artikel betont die Wichtigkeit von Lévi-Strauss' Thesen: »Seit langem lag die französische Soziologie im

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Schlummer.«23 Simone de Beauvoir stimmt seiner Methode und seinen Ergebnissen zu und fordert zur Lektüre auf; gleichzeitig bettet sie das Werk jedoch in den Sartreschen Wirkkreis ein, in­dem sie ihm eine existentialistische Tragweite gibt, die offenkun­dig auf einem Mißverständnis oder auf dem Wunsch nach Verein­nahmung beruht. Auf ihre Feststellung, daß Lévi-Strauss nicht sagt, woher die Strukturen stammen, deren Logik er beschreibt, gibt sie die — Sartresche — Antwort: »Lévi-Strauss hat es sich un­tersagt, sich auf philosophisches Gelände vorzuwagen, er weicht nie von einer strengen wissenschaftlichen Objektivität ab; aber sein Denken schreibt sich selbstverständlich in den großen huma­nistischen Strom ein, der die Menschheit als ihren eigenen Ver-nunftgrund mit sich tragende betrachtet.«24 Wieder in Les Temps Modernes, die viel dazu beitragen werden, Lévi-Strauss' Werk be­kannt zu machen, meldet sich, diesmal kritisch, Anfang 1951 Claude Lefort zu Wort. Er wirft Lévi-Strauss vor, die Bedeutung der Erfahrung außerhalb der Erfahrung selbst zu stellen und das dargelegte mathematische Modell für wirklicher als die Wirklich­keit auszugeben: »Was man M. Lévi-Strauss vorhalten müßte, ist, in der Gesellschaft eher Regeln als Verhaltensweisen zu erfas­sen.« 25 Auf die Kritik Leforts antwortet später Jean Pouillon, als er 1956 eine Bestandsaufnahme von Lévi-Strauss5 Werk macht. Er hält Leforts Standpunkt insofern für unbegründet, als Lévi-Strauss keiner Vermengung von Realität und deren mathema­tischer Ausdrucksform stattgibt und sie auch nicht trennt, um letztere die Oberhand gewinnen zu lassen. Es findet also keine Ontologisierung des Modells statt, denn »dieser Ausdruck der Wirklichkeit wird nie mit der Wirklichkeit verwechselt«26. Bei dieser globalen Zustimmung Mitte der fünfziger Jahre halten wir inne und sehen den angelsächsischen wie den französischen Kri­tiken entgegen, die, insbesondere durch den Mai '68, das struktu-ralistische Paradigma ins Wanken bringen werden.

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Befaßt Lévi-Strauss sich in den Elementaren Strukturen der Ver­wandtschaft mit einem besonderen, spezifisch anthropologi­schen Gegenstand, der Verwandtschaft, so hat seine Einleitung in das Werk von Marcel Mauss (1950) einen anderen Stellenwert. Er beläßt es nämlich nicht bei einer bloßen Einführung in das Werk, das einer der Meister der französischen Anthropologie in der Nachfolge von Durkheim hinterlassen hat, sondern nimmt die Gelegenheit wahr, sein eigenes, strukturalistisches Programm zu definieren, mit dem er eine strenge Methodologie vorlegt. Was sich zunächst als bescheidenes Vorwort gemäß wissenschaftli­chem Ritual ausnimmt, wird epochal und bildet den ersten Vor­schlag eines Einheitsprogramms für die gesamten Humanwissen­schaften seit den Versuchen der Ideologen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die mit Destutt de Tracy eine breit angelegte, wenn auch Entwurf gebliebene Ideengeschichte umrissen hatten. Er­staunlich auch, daß Georges Gurvitch, später ein entschiedener Gegner von Lévi-Strauss' Thesen, gerade ihn mit der Abfassung dieser Einführung in einer von ihm herausgegebenen Reihe bei PUF beauftragt.

Georges Gurvitch benennt im übrigen die Differenzen zwi­schen Lévi-Strauss und sich und fügt eine Nachschrift an, in der er seine Vorbehalte äußert und Lévi-Strauss' Deutung als sehr ei­genwillige Lesart des Werks von Marcel Mauss bezeichnet : »Von da an nahmen die Dinge ihren Lauf.«1 Algirdas Julien Greimas er­kennt die Tragweite dieses Textes. Er befindet sich zu dieser Zeit in Alexandria und stößt, begierig nach geistiger Nahrung, auf die Einleitung in das Werk von Marcel Mauss. Diese Lektüre wird ihn

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darin bestärken, eine übergreifende Methodologie für die Wis­senschaften vom Menschen zu entwickeln: »Wenn Bücher zäh­len, dann hat sicherlich dieses die größte Rolle für mich gespielt. Letztlich ist der Strukturalismus ja die Begegnung von Linguistik und Anthropologie.«2 Lévi-Strauss baut also auf der Autorität des Werkes von Marcel Mauss auf, um die Anthropologie mit ei­ner Theorie zu untermauern, und öffnet diese auf ein Modell, das in der Lage ist, über die Bedeutung der auf dem Feld beobachte­ten Tatsachen Auskunft zu geben. Daher die Entlehnung bei der Linguistik, die als bestes Mittel vorgestellt wird, um den Begriff und seinen Gegenstand zur Deckung zu bringen. Ähnlich wie die moderne Sprachwissenschaft geht Lévi-Strauss von dem Postulat aus, daß es keine anderen als konstruierte Tatsachen gibt, in der Anthropologie wie in den Naturwissenschaften. Die Linguistik wird also zum geeigneten Werkzeug, die Anthropologie zur Kul­tur, zum Symbolischen hinüberzuziehen und sie damit von ihren alten, naturalistischen oder energetischen Modellen zu befreien. Mit der Definition dieses methodologischen Programms tritt Lévi-Strauss erneut im Alleingang gegen die französischen Eth­nologen an, wenn er die Anthropologie abseits von Technologie und Museen entschieden auf Konzepte und Theorie ausrichtet : »Alles geht vom Museum aus, und alles kehrt dorthin zurück. Lévi-Strauss aber setzt sich davon ab, um die Anthropologie theoretisch zu begründen.«3 Lévi-Strauss sieht mithin in Marcel Mauss den geistigen Vater des Strukturalismus. Sicher, wie jeder Wahl haftet auch dieser etwas Willkürliches an, mit all den Unge­rechtigkeiten, die Jean Jamin hervorhebt, wenn er an Robert Hertz erinnert, den er innerhalb der Archäologie des struktura-len Paradigmas als noch grundlegender ansieht als Marcel Mauss. Robert Hertz, der 1915 im Ersten Weltkrieg starb, hat einige Texte hinterlassen, »die nach meiner Auffassung den Struktura­lismus begründet haben; schließlich hat ihm der britische Ethno­loge Needham ein ganzes Werk, Right and Left, gewidmet«4. In einem dieser Texte trifft man in der Tat auf die strukturale Binari-

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tat: »La prééminence de la main droite«5 [das Vorrecht der rech­ten Hand] entdeckt die religiöse Polarität zwischen einer rechten Heiligkeit und einer linken Heiligkeit. Robert Hertz zeigt, inwie­weit die Ausprägung der Lateralität, die möglicherweise eine bio­logische Grundlage hat, vor allem auf der symbolischen Ebene fußt, und setzt der glücklichen, reinen Seite der Rechten die un­reine und unglückliche der Linken gegenüber: »Diese Entdek-kung wird eine sehr viel nachhaltigere Bedeutung haben, als man glaubt, denn im Collège de sociologie werden Michel Leiris, Georges Bataille und Roger Caillois diese Polarität der Heiligkeit aufgreifen.«6

Das Unbewußte

Doch Lévi-Strauss beruft sich auf Mauss, dessen »Modernität« er hervorhebt.7 In ihm sieht er denjenigen, der die anthropologische Fragestellung wahrgenommen und den Humanwissenschaften geöffnet und somit die Prolegomena für künftige Annäherungen angerissen hat. Dies gilt etwa für das Verhältnis von Ethnologie und Psychoanalyse, die einen gemeinsamen Analysegegenstand vorfinden: das Feld des Symbolischen, in dem das ökonomische System genausogut aufgehoben ist wie das der Verwandtschaft oder der Religion. Auch hierin stützt sich Lévi-Strauss auf Mauss, der schon 1924 das soziale Leben als »eine Welt symbolischer Be­deutungen« 8 definiert hatte, und fährt auf derselben Linie fort, wenn er seine eigenen vergleichenden Arbeiten zum Schamanen in Trance und dem Neurotiker anführt.9 Selbstverständlich über­nimmt Lévi-Strauss den von Mauss im Essay Die Gabe formu­lierten Anspruch, den fait social total, die totale gesellschaftliche Tatsache, zu untersuchen. Totalität gibt es jedoch erst, wenn man den sozialen Atomismus überwunden hat und imstande ist, alle Tatsachen in eine als globales Interpretationssystem aufgefaßte Anthropologie einzugliedern, die »gleichzeitig dem physischen,

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physiologischen, psychischen und soziologischen Aspekt aller Verhaltensweisen Rechnung trägt«10. Im Zentrum dieser Totali­tät befindet sich der menschliche Körper, ein scheinbares Zeichen der Natur, tatsächlich aber gänzlich kulturell. Mauss leitet daher »eine Archäologie der körperlichen Gewohnheiten«11 ein, ein Programm, das Michel Foucault aufgreifen und zu Ende führen wird.

Im Zentrum des Körpers verbirgt sich das Unbewußte, dessen Vorrangigkeit — und dies wird zu einem Hauptmerkmal des strukturalistischen Paradigmas werden — Lévi-Strauss unter­streicht, wobei er auch hier bei Mauss eine Gründungsabsicht sieht: »Es ist nicht erstaunlich, daß Mauss [...] ständig an das Un­bewußte als Quelle des gemeinsamen und spezifischen Charak­ters der sozialen Tatsachen [...] appelliert hat.«12 Nun verläuft aber der Zugang zum Unbewußten über die Vermittlung der Sprache, und in diesem Bereich mobilisiert Lévi-Strauss die mo­derne Saussuresche Linguistik, für die die Sprachtatsachen auf der Ebene des unbewußten Denkens liegen: »Es ist letztlich ein Verfahren desselben Typus wie das, welches uns in der Psycho­analyse erlaubt, unser fremdestes Ich zurückzugewinnen, und uns in der ethnologischen Forschung das Fremdeste der anderen wie ein anderes Wir zugänglich macht.«13 Lévi-Strauss besiegelt hier die fundamentale Einheit der beiden Leitwissenschaften der großen strukturalistischen Periode: Anthropologie und Psycho­analyse, die sich ihrerseits auf eine dritte Wissenschaft, eine Pilot­wissenschaft, ein regelrechtes heuristisches Modell stützen: die Linguistik.

Ein anderes Wesensmerkmal dieser Periode, das Lévi-Strauss schon in diesem grundlegenden Text zum Ausdruck bringt und das man bei Lacan besonders entwickelt sehen wird, ist es, auf das Saussuresche Zeichen zurückzugreifen und es zugleich in Richtung einer Entleerung des Signifikats oder doch wenigstens seiner Abwertung zugunsten des Signifikanten zu zwingen: »Wie die Sprache ist das Soziale eine (und zwar dieselbe) auto-

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nome Realität; die Symbole sind realer als das, was sie symboli­sieren; der Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt es.«14 Hier bahnt sich das übergreifende Projekt für sämtliche Wissenschaften vom Menschen an, zusammengerufen zur Ver­wirklichung eines breitgefächerten semiologischen Programms und angetrieben von der Anthropologie, die allein in der Lage ist, eine Synthese ihrer aller Arbeit zu leisten. Außer dem interdiszi­plinären Horizont, den Lévi-Strauss hier bestimmt, spricht er auch eine kanonische These des Strukturalismus aus, wenn er be­hauptet, daß der Code der Mitteilung vorangehe, daß jener von dieser unabhängig und das Subjekt dem Gesetz des Signifikanten unterworfen sei. Auf dieser Ebene findet man den strukturalen Kernpunkt des Verfahrens: »Die Definition eines Codes ist es, in einen anderen Code übersetzbar zu sein : diese ihn definierende Eigenschaft nennt man >Struktur<.«15

Die Schuld gegenüber Marcel Mauss

Wenn Lévi-Strauss auf etwas überzogene Weise Marcel Mauss zum Urheber seines strukturalistischen Programms beruft, löst er ihm gegenüber seine Schuld ein, denn schließlich geht die zen­trale These der Elementaren Strukturen der Verwandtschaft im wesentlichen auf seine Anregung zurück. Die Gabe mit ihrer Theorie der Reziprozität hat als ein Modell gedient, das Lévi-Strauss bei seiner Annäherung an die Verwandtschaftsbeziehun­gen erweitert und systematisiert hat. Die Regel der Reziprozität mit ihrer dreifachen Verpflichtung Geben, Nehmen und Erwi­dern begründet die Ökonomie des matrimonialen Tausches. Gabe und Gegengabe erlauben es, das Netz von Verbindungen, Äquivalenzen und Solidaritäten zu erfassen, das durch die Uni­versalität seiner Regeln die empirische Gegebenheit überschrei­tet. An dieser Stelle bekommt das Inzestverbot die Deutlichkeit, die es einsichtig macht, und zugleich die Universalität, die ihm die

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Schlüsselfunktion für sämtliche Gesellschaften gibt: »Wie die Exogamie, die seinen erweiterten sozialen Ausdruck bildet, ist auch das Inzestverbot eine Regel der Gegenseitigkeit. [...] Der In­halt des Verbots erschöpft sich nicht in der Tatsache des Verbots ; es wird nur deshalb eingeführt, um direkt oder indirekt, mittelbar oder unmittelbar einen Austausch zu garantieren und zu begrün­den.« 16

Der Tausch steht also im Mittelpunkt des Phänomens der Frauenzirkulation in den Heiratsverbindungen und bildet eine regelrechte Kommunikationsstruktur, aus der heraus die Grup­pen ihre Beziehung auf Gegenseitigkeit einrichten. Nicht morali­sche Mißbilligung, nicht Abscheu disqualifiziert den Inzest, son­dern der Tauschwert, der die soziale Beziehung begründet. Die eigene Schwester zu heiraten, ist für Margaret Meads Informan­ten vom Stamm der Arapesh Unsinn, denn es hieße, sich um den Schwager zu bringen, und mit wem geht man ohne Schwager fi­schen oder jagen ? »Der Inzest ist eher sozial absurd als moralisch verurteilenswert.« υ Die Gabe läutet ein neues Zeitalter ein, und Lévi-Strauss, der das Buch gründlich auswertet, vergleicht seine Bedeutung mit der Entdeckung der Kombinatorik für das Den­ken der modernen Mathematik: »Das Inzestverbot ist weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter anderen zu geben.«18 Solche Aussagen verdanken sich eindeutig Marcel Mauss' Arbeiten, die Lévi-Strauss in seiner Einleitung glänzend nachzeichnet. Neben Mauss leistet freilich auch die Phonologie einen entscheidenden Beitrag zu dem Programm, das Lévi-Strauss angelegt hat: Die von Trubetzkoy und Jakobson erarbeiteten Begriffe der fakulta­tiven und der kombinatorischen Varianten, der Gruppenterme, der Neutralisation erlauben die notwendige Reduzierung des empirischen Stoffes. Mit diesem Text bestimmt Lévi-Strauss das strukturalistische Programm: »Für mich ist Strukturalismus gleichbedeutend mit der Theorie des Symbolischen in der Einlei-

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tung in das Werk von Marcel Mauss: Die Unabhängigkeit der Sprache und der Verwandtschaftsregeln bringen die Verselbstän­digung des Symbolischen, des Signifikanten mit sich.«19

Eine Form von Kantianismus

Implizit — denn Lévi-Strauss hat ja das Gelände des Philosophen verlassen, um andere Kontinente des Wissens zu erreichen — läßt sich der Unterbau dieses strukturalistischen Programms als inso­fern von der Kantschen Philosophie geprägt ansehen, als diese danach strebt, alle sozialen Systeme an prinzipielle Kategorien zu knüpfen, die als noumenale Kategorien funktionieren. Das Den­ken wird von diesen apriorischen Kategorien gelenkt und bringt sich zugleich auf jeweils geeignete Weise in den verschiedenen Gesellschaften zur Anwendung. Indes trifft man in jedem Fall wieder auf den Geist. Diesen kantischen Aspekt entlehnt Lévi-Strauss aber eher der Phonologie als der Philosophie. So entspre­chen Jakobsons Definition des Nullphonems (1949) und Lévi-Strauss' Definition des symbolischen Nullwerts einander Punkt für Punkt. Für ersteren ist ein Nullphonem darin allen anderen Phonemen entgegengesetzt, daß es kein différentielles Merkmal und keinen konstanten phonetischen Wert besitzt. Vielmehr hat es seine besondere Funktion gerade darin, daß es sich der Abwe­senheit eines Phonems entgegensetzt. Für Lévi-Strauss ist es die Definition des für jede Kosmologie konstitutiven Systems von Symbolen: »Es wäre einfach ein symbolischer Nullwert, das heißt ein Zeichen, das die Notwendigkeit eines supplementären sym­bolischen Inhalts markiert, der zu dem bereits auf dem Signifi­kant liegenden Inhalt hinzutritt und der ein beliebiger Wert sein kann [...].«20

Betrachtet Gurvitch Lévi-Strauss' Aneignung des Werks von Mauss als Ausdruck einer Entstellung seines Werks, so teilt auch Claude Lefort diese Auffassung, der sich in einem Artikel in den

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Temps Modernes im Jahr 1951 Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft und die Einleitung in das Werk von Marcel Mauss vornimmt, um die darin angestrebte Mathematisierung der so­zialen Beziehungen und den Bedeutungsverlust, den dieses Programm bewirkt, anzuprangern. Die Reduktion der gesell­schaftlichen Phänomene auf ihre Natur als symbolische Systeme, schreibt Claude Lefort, »scheint uns seinem Grundgedanken fremd; Mauss zielt auf die Bedeutung, nicht auf das Symbol; er will die immanente Absicht der Verhaltensweisen, die er aufzeigt, verstehen, ohne dabei die Ebene des Erlebens zu verlassen, und keine logische Ordnung aufstellen, der gegenüber das Konkrete nur Vorschein wäre.«21 Claude Lefort kritisiert den Lévi-Strauss' Programm zugrundeliegenden Szientismus, seinen Glauben an eine unterhalb der mathematischen liegende tiefere Realität. Er sieht darin auch Spuren eines [neo-]kantianischen Idealismus, der unter dem Begriff des Unbewußten im wesentlichen auf das tran­szendentale Bewußtsein im Sinne Kants hinauswill und sich durch die Ausdrücke »unbewußte Kategorie« und »Kategorie des kollektiven Denkens« verrät.22 Claude Lefort stülpt auch den Lévi-Straussschen Idealismus um und behauptet, daß das Verhal­ten empirischer Subjekte nicht von einem transzendentalen Be­wußtsein herleitbar sei, sondern sich im Gegenteil erst in der Er­fahrung konstituiere. Sowohl in der Programmatik wie in den von Claude Lefort geäußerten Kritikpunkten liegt der rationale Kern vor, von dem aus sich alles, was in den fünfziger und sechzi­ger Jahren an Debatten und Auseinandersetzungen um den Strukturalismus aufkommt, entspinnen wird.

Ein Freischärler: Georges Dumézil

Am 13. Juni 1979 nimmt die Académie française Georges Dumé­zil in ihre Reihen auf. Der Peer, der ihn unter der Kuppel will­kommen heißt, um eine zusammenfassende Würdigung seines Werkes zu geben, ist kein anderer als Lévi-Strauss. Diese Wahl verdankt sich freilich nicht dem Zufall, sondern einer Verwandt­schaft, die ihrer beider Entwürfe jenseits der manifesten Eigen­heiten miteinander verbindet. Gewiß, Dumézil hat sich stets arg­wöhnisch gezeigt, wenn sein Werk unter ein Modell gefaßt wurde, in dem er sich nicht wiedererkannte. Er hätte schwerlich gebilligt, daß man ihn in einer Geschichte des Strukturalismus anführt: »Weder war noch bin ich Strukturalist.« l An seinem Standpunkt ist nicht zu rütteln, ja er geht so weit, der bloßen Er­wähnung des Wortes »Struktur« mit Bedenken zu begegnen, um jederlei Vereinnahmung auszuschalten. Nach seiner jugendlichen Begeisterung für abstrakte Systeme ein gebranntes Kind, hält er sich an das vor Turbulenzen geschützte Gebiet der Philologie.

Sicherlich nimmt Dumézil eine Sonderstellung ein. Die Logik der Filiationen, die sein Werk ermöglicht haben, folgt, ebenso wie die der Erbschaft, die es hinterlassen hat, schwer einzuord­nenden Mäandern. Dumézil stand keiner Schule vor und hatte im Unterschied zu Lévi-Strauss kein programmatisches Banner ei­ner eigenen Disziplin zu verteidigen. Er trat als genialer Neuerer auf, als eigenbrötlerischer Freischärler und Herold einer verglei­chenden Mythologie, deren Konturen er allein gezogen hat, ab­seits der eingefahrenen Bahnen der Fachwissenschaftler, die er ignorierte und die ihn ignorierten. Er hat zahlreiche Forschungen erneuert und befruchtet, ohne damit wuchern oder ihnen institu-

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tionelles Gewicht verschaffen zu wollen. Kann man dennoch ge­gen seinen Willen angehen und im Rahmen des Entstehungspro­zesses des strukturalistischen Paradigmas kurz auf jene Leistun­gen zu sprechen kommen, mit denen dieser Abenteurer der indoeuropäischen Mythologie Neuland beschritten hat? Man kann, und Lévi-Strauss hatte recht, als er ihn unter der Kuppel mit den Worten begrüßte, daß einem zur Kennzeichnung seines Œuvres unmittelbar der Begriff der Struktur, des Strukturalen in den Sinn käme, wenn Dumézil diesen nicht 1973 zurückgewiesen hätte.

Die intellektuelle Komplizenschaft beider Männer datiert übrigens nicht auf Dumézils Einzug in die Académie française. Sie hatten sich bereits 1946 kennengelernt, und Dumézil hat erst bei Lévi-Strauss' Berufung an die École des hautes études, dann bei seiner Berufung ans Collège de France 1959 eine entschei­dende Rolle gespielt. Dennoch gründet ihre Nähe nicht nur in Karriereüberlegungen. Lévi-Strauss entdeckt Dumézils Werk bei seinen Vorbereitungen zur agrégation, aber das ist nur ein erster, zufälliger Kontakt. Später, nach dem Krieg, denkt er als Ethno­loge intensiv über Dumézils Erkenntnisse nach und erklärt seine Überzeugung, daß Dumézil »der Urheber der strukturalen Me­thode gewesen sei«2. Übrigens lassen sich bei beiden zwei ge­meinsame Lehrmeister finden: Marcel Mauss, dessen Bedeutung für Lévi-Strauss wir bereits gesehen haben und dessen Vorlesun­gen Dumézil besuchte, und Marcel Granet, an dessen Einfluß auf seine Entscheidung für die Untersuchung der Verwandtschafts­beziehungen Lévi-Strauss erinnert hat. Tatsächlich stieß Lévi-Strauss schon als Schüler am Gymnasium in Montpellier durch die Lektüre der Catégories matrimoniales et relations de proximité dans la Chine ancienne auf Granet. Noch stärker von Marcel Gra­net geprägt war Dumézil, der dessen Vorlesungen an der Ecole des langues orientales von 1933 bis 1935 besuchte: »Indem ich Granet bei der Arbeit zuhörte, zusah, fand in mir eine Art Ver­wandlung oder Reifung statt, die ich nicht beschreiben könnte.«3

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Worin Dumézil dem strukturalistischen Wirkungskreis gegen­über in der Tat eine Sonderstellung innehat, ist — und das erklärt sein Widerstreben, dieser Strömung zugerechnet zu werden — die Abwesenheit desjenigen, der zur obligatorischen Bezugsgröße jeglichen strukturalen Schaffens geworden ist: Ferdinand de Saussures. Dumézil hat sich immer als Philologe bezeichnet, und in dieser Eigenschaft schreibt sich sein Werk einem Erbe ein, das vor dem Saussureschen »Schnitt« liegt, nämlich in die Nachfolge des Komparatismus der Philologen des 19. Jahrhunderts, na­mentlich der Arbeiten der Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel, August Schleichers und besonders Franz Bopps, der die lexikalischen und syntaktischen Verwandtschaften des Sanskrits, des Griechischen, des Lateinischen und des Slawischen nachge­wiesen hat.4 Dumézil knüpft also eher an die Strömung der histo­rischen Sprachwissenschaft an, die ihren Ausgang mit dem begin­nenden 19. Jahrhundert im Postulat der Verwandtschaft zwischen diesen verschiedenen Sprachen nimmt, die aus einer gemeinsa­men Wurzel, der Matrix des Indoeuropäischen, hervorgegangen sein müssen. Aus dieser Strömung der historischen Philologie be­zieht Dumézil auch den wesentlichen Begriff der Transforma­tion, der in der Entstehung der Sprachwissenschaft grundlegend gewesen ist. Dieser Begriff wird zu unüberhörbarem Erfolg ge­langen: Bald steht er im Mittelpunkt der meisten strukturalisti­schen Werke. Und auch hier betrachtet Lévi-Strauss Dumézil als einen Pionier: »Mit dem Begriff der Transformation, den Sie als erster unter uns verwendet haben, haben Sie ihnen [den Human­wissenschaften] ihr bestes Werkzeug gegeben.«5

Sicher hat Dumézil nicht abseits der modernen Linguistik ge­standen. Zwar überging er Saussures Werk weitgehend, kannte dafür jedoch die Schriften von Antoine Meillet, einem seiner Schüler, und vor allem von Emile Benveniste, der sein ganzes Ge­wicht in die Waagschale wirft, um 1948 in einer rüden Auseinan­dersetzung, in der sämtliche Verfechter der Tradition sich diesem lästigen Bahnbrecher entgegenstellen, die Wahl Dumézils ins

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Collège de France durchzusetzen. Der Mediävist Edmond Faral, der Romspezialist André Piganiol und der Slawist André Mazon sind gegen ihn, aber er obsiegt dank des tatkräftigen Einsatzes von Emile Benveniste und der Unterstützung von Jules Bloch, Lucien Febvre, Louis Massignon, Alfred Ernout und Jean Pom­mier. Es gibt also auch bei ihm die Bemühung um die totale so­ziale Tatsache, wie Marcel Mauss sie im Anschluß an Durkheim zum Ausdruck gebracht hatte, die Auffassung von Gesellschaft, Mythologie und Religion als einem Ganzen, die ihn veranlassen wird, den Begriff der Struktur zu verwenden. Mit den anderen Strukturalisten verbindet ihn ferner die Betrachtung der Sprache als Hauptvektor der Intelligibilität, Träger der Überlieferung, Verkörperung der Invariante, die es erlaubt, hinter den Wörtern die Fortdauer der Begriffe zu finden. Um die Variationen des Modells zu erfassen, benutzt er die Begriffe Differenz, Ähnlich­keit und Wert-Opposition, es sind allesamt Werkzeuge einer Me­thode, die man entweder als komparatistisch oder als strukturali-stisch bezeichnen kann.

Die Dreifunktionalität

Der Sprengsatz, den Dumézil unter unsere Gewißheiten legt, da­tiert von 1938, auch wenn er erst nach dem Krieg richtig zündet. Wenn es in der langen Reihe seiner Arbeiten, deren Veröffentli­chung 1924 einsetzt, einen epistemologischen Schnitt gibt, so setzt er an, als Dumézil 1938, nachdem er einen vorsichtigen Ver­gleich zwischen einer indischen und einer römischen Tatsachen­gruppe unternommen hatte, die drei römischen flamines maiores, die Priester also, die Jupiter, Mars und Quirinus dienten, durch ihre Parallelität zu den drei sozialen Klassen des vedischen Indien: Priester, Krieger und Erzeuger, erklärte.6 Dieser Ent­deckung entstammt die Hypothese einer den Indoeuropäern gemeinsamen dreiteiligen, dreifunktionalen Ideologie, eine Hy-

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pothese, an der Dumézil bis zu seinem Tode unablässig arbeiten und sich so zum Archäologen des indoeuropäischen Imaginären machen wird. Diese Entdeckung stellt ihn tatsächlich, unbescha­det seiner eigenen Beurteilung, in die Reihe der Wegbereiter des Strukturalismus, denn er wird nun seine ganze Lesart der abend­ländischen Geschichte an dem Gliederungsschema ausrichten, das er zunächst Zyklus, dann System und schließlich Struktur nennt und das die Form dieser Dreifunktionalität annimmt. Die­ses den mentalen Vorstellungen der Indoeuropäer gemeinsame Schema hat sich für Dumézil zum Ausgang des dritten Jahrtau­sends v. Chr. in einem breiten Kulturraum zwischen dem Balti­kum und dem Schwarzen Meer, zwischen den Karpaten und dem Ural eingewurzelt. Er geht also durchaus von einer Einzigartig­keit des Phänomens aus, die — und das unterscheidet ihn von Lévi-Strauss — nicht an die Gesetze des menschlichen Geistes in ihrer Universalität gebunden ist. Sein Verfahren ist auch insofern dem Strukturalismus verwandt, als er diese dreifunktionale Inva­riante nicht als Resultat sukzessiver Entlehnungen betrachtet, die von einem Verbreitungskern ausgegangen wären. Vielmehr ver­ficht er eine Methode des genetischen Komparatismus, der die Entlehnungsthese ausschließt. In einem Verfahren, das er, da es die Mythen zum Gegenstand hat, als ultrahistorisch bezeichnet, vergleicht Dumézil systematisch die Daten der Veda und dann der Mahabharata mit denen der Skythen, der Römer und der Iren und ordnet alle diese verschiedenen Gesellschaften und Epo­chen in einer gemeinsamen Struktur an, worin der Funktion der Hoheit, des Priestertums — Zeus, Jupiter, Mitra, Odin — die Kriegsfunktion — Mars, Indra, Tyr — und die erzeugende, näh­rende Funktion — Quirinus, Nastrya, Njördr — entgegenstehen. Die relative Abkapselung Dumézils rührt daher, daß sein Modell schwer auf andere Bereiche zu übertragen ist, was andererseits nicht bedeutet, daß seinem Werk keine Zukunft beschieden war. Solange sein Organisationsschema auf ein gesondertes Areal be­grenzt bleibt, verschließt es sich von vornherein all den verallge-

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meinernden Extrapolationen, die in der Belle Époque des Struk­turalismus verwendet werden. Im übrigen — und in diesem Sinne unterscheidet er sich ebenfalls vom strukturalistischen Phäno­men — verortet Dumézil seine Methode zwischen der Erfor­schung exogener Elemente, die zur Erklärung der Mythen dienen können, und der Erforschung des Mythenzusammenhangs in ei­ner Binnenstruktur, unabhängig davon, worauf sie sich beziehen. Indem er sowohl die Gliederung der Begriffe untereinander in ih­rer Eigenstruktur als auch die Aspekte der in den Mythen behan­delten Welt einbezieht, steht Dumézil auf halbem Wege zwischen den komparatistischen Philologen des 19. Jahrhunderts und der strukturalistischen Methode. Dieser hybride Charakter Dumé-zils, seine Einbeziehung der Geschichte (»Ich möchte mich als Historiker definieren«7) wird denn auch einer umfangreichen Fortführung seiner Entdeckungen bei den Historikern der drit­ten ^4wra#/es-Generation Vorschub leisten. Auch wenn das drei­funktionale Schema in der hellenistischen Welt keine wichtige Rolle spielt, haben die Spezialisten der griechischen Antike, Pierre Vidal-Naquet, Jean-Pierre Vernant und Marcel Détienne, aufgrund seines Werks ihren Zugang zum Pantheon neu gefaßt, und Mediävisten wie Jacques Le Goff oder Georges Duby kamen angesichts einer in drei Stände gegliederten Gesellschaft nicht umhin, die Grundlagen dieser Dreiteilung zu untersuchen. Frei­lich folgen diese Fortführungen erst später, in den siebziger Jah­ren, und wir werden auf sie zurückkommen, wenn wir diese Peri­ode behandeln. Dumézils Lehren enden also nicht mit jenem 11. Oktober 1986, an dem er, achtundachtzigjährig, im Hôpital du Val-de-Grace verstirbt. Der Sprachwissenschaftler Claude Ha-gège verfaßt in Le Monde seinen Nachruf. Unter dem Titel »Der Schlüssel der Zivilisationen« schreibt er: »Nach Dumézil kann die Religionswissenschaft nicht mehr das sein, was sie vor ihm war. Die Vernunft hat das Chaos geordnet. Die schmeichelnde vage Vorstellung von Religiosität hat er durch die erhellende Klarheit der Denkstrukturen ersetzt. Das ist eine seiner großen

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Lehren.«8 Wohl wird ihn die Struktur wider Willen bis über den Tod hinaus verfolgen, aber der Sinn eines Werks gibt ja nicht un­bedingt die Absicht seines Verfassers wieder. Georges Dumézil war unbestreitbar ein Wegbereiter, ein Herold des strukturalisti-schen Epos.

Die phänomenologische Brücke

In den fünfziger Jahren ist das phänomenologische Projekt für die französische Philosophie bestimmend. Unter dem Einfluß des Husserlschen Werkes ist die Rede von der Rückkehr »zu den Dingen selbst« und der darin mitgedachten Intentionalität des stets auf Dinge gerichteten Bewußtseins. Deshalb richtet diese Vorgehensweise große Aufmerksamkeit auf das Erleben, auf das Beschreibende, auf das Konkrete und spricht eindeutig der Sub­jektivität den maßgeblichen Wert zu. Husserls Vorhaben ist es, die Philosophie vom Stadium einer Ideologie in den Rang einer Wissenschaft zu erheben. Auf der Basis des phänomenologi­schen Verfahrens bilden indes das ursprüngliche Fundament nicht die Tatsachen, sondern die Wesenheiten im Sinne der Mög­lichkeitsbedingungen des Bewußtseins in Korrelation zu seinem Gegenstand. Bei Kriegsende war die Phänomenologie in Frank­reich vornehmlich von Sartre geprägt und legte die Betonung auf das Bewußtsein, ein sich seiner selbst bewußtes Bewußtsein. Maurice Merleau-Ponty greift Husserls Entwurf auf, richtet ihn aber eher auf die Dialektik zwischen ausgesprochenem Sinn und dem Sinn, der sich in den Dingen zu erkennen gibt. Dies wird ihn zu einem intensiven Dialog mit den Humanwissenschaften füh­ren, zumal diese unterdessen große Anerkennung genießen. Er knüpft an Husserls Idee an, die dem Phänomenologen vorlie­genden Erfahrungsgegebenheiten von allen Bestandteilen des wissenschaftlichen Denkens zu bereinigen, von dem die Philoso­phie sich zurückgezogen habe. Daher Merleau-Pontys Formel : »Die Phänomenologie ist zunächst Widerruf der Wissenschaft« ; doch weit davon entfernt, sie zu leugnen, hofft Merleau-Ponty,

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sie sich im Feld des philosophischen Denkens wieder zu eigen zu machen. Seit dem Krieg nimmt er diese Arbeit gegenüber der Biologie und vor allem gegenüber der Psychologie auf, deren ver-dinglichenden und mechanistischen Charakter er kritisiert.1 Ge­nauso stellt er allerdings auch den Idealismus eines reinen Be­wußtseins in Frage und interessiert sich deshalb zunehmend für die Bedeutungsstrukturen, die ihm die neuen Humanwissen­schaften bieten. Sie sind für ihn lauter Herde regionaler Ontolo-gien, die der Philosoph sich anzueignen vermag, indem er die Perspektiven überschneidet und dank seiner höheren Stellung als Subjekt, aufgefaßt als Transzendenz zur Welt in ihrer Globalität, ihren Sinn wiederherstellt. »Merleau-Ponty hatte ein sehr ehrgei­ziges Vorhaben, nämlich ein Ergänzungsverhältnis zwischen der Philosophie und den Wissenschaften vom Menschen herzustel­len. Demgemäß hat er sich darum bemüht, auf allen Fachgebieten mitzuhalten.«2

Das phänomenologische Programm

Der Haupttext, durch den Merleau-Ponty die Philosophen mit den Errungenschaften der modernen Linguistik und den Vorstö­ßen der Anthropologie bekannt macht, erscheint 1960 bei Galli­mard : Signes. In diesem für eine ganze Generation maßgeblichen Werk druckt Merleau-Ponty noch einmal einen bereits 1951 ge­haltenen Vortrag ab3, in dem er die immense Bedeutung von Saussures Werk als Beginn der modernen Linguistik aufzeigt: »Was wir bei Saussure gelernt haben, ist, daß die Zeichen einzeln nichts bedeuten, daß jedes von ihnen weniger eine Bedeutung ausdrückt als vielmehr einen Bedeutungsunterschied zwischen sich selbst und den anderen markiert.«4 In demselben Werk spricht er auch vom Verhältnis zwischen Philosophie und Sozio­logie, um ihre Trennung zu bedauern und zu gemeinsamer Arbeit aufzurufen : »Die Trennung, die wir bekämpfen, ist der Philoso-

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phie nicht weniger abträglich als der Entwicklung des Wissens.«5

Für Merleau-Ponty kommt es dem Philosophen zu, das Feld der Möglichkeiten abzustecken und die von den Sozialwissenschaf­ten geleistete empirische Arbeit zu interpretieren; er trägt durch hermeneutische Arbeit an jede Positivität die Sinnfrage heran. Auf der anderen Seite benötigt der Philosoph die positiven Wis­senschaften, denn er muß seine Vernunftschlüsse auf Bekanntes und durch wissenschaftliche Verfahren Erhärtetes gründen.

Der andere Punkt, den Merleau-Ponty hier vorbringt, betrifft die soziale Anthropologie von Lévi-Strauss. Nach seinem Bruch mit Sartre nähert sich Merleau-Ponty an Lévi-Strauss an, und es war sogar er, 1952 ans Collège de France berufen, der Lévi-Strauss schon 1954 vorschlug, sich als Kandidat zu präsentieren, und dabei »drei Monate seines Lebens geopfert [hat], dessen Fa­den doch so bald abreißen sollte«6. Merleau-Ponty widmet das vierte Kapitel seines Buches der Anthropologie: »Von Marcel Mauss zu Lévi-Strauss«. Darin verteidigt er vehement das Pro­gramm, das Lévi-Strauss seit seiner Einleitung in das Werk von Marcel Mauss 1950 umrissen hat : »Die sozialen Tatsachen sind weder Dinge noch Ideen, sondern Strukturen [...]. Die Struktur nimmt der Gesellschaft nichts von ihrer Dichte oder ihrer Schwerkraft. Sie selber ist eine Struktur der Strukturen.«7 Aus dieser geistigen Gemeinsamkeit erwächst eine echte Freund­schaft, und die Fotografie von Merleau-Ponty wird immer auf Lévi-Strauss' Schreibtisch stehen.

Aber welches Ziel verfolgte Merleau-Ponty in diesen viel­schichtigen Dialogen ? Meinte er, vor den Humanwissenschaften die Waffen des Philosophen strecken zu müssen? Gewiß nicht. Nach seiner Auffassung war es Aufgabe des phänomenologi­schen Philosophen, sich der Beiträge von Mauss, Lévi-Strauss, Saussure und Freud anzunehmen, und zwar nicht, um deren Dis­ziplinen eine epistemologische Grundlage zu geben, sondern um eine phänomenologische Wiederaufnahme all ihrer Materialien zu leisten, indem er sie vom philosophischen Standpunkt neu de-

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finiert. Dabei akzeptiert der Philosoph die Auskunft des Fach­manns, die er im übrigen ohnehin nicht nachprüfen kann, als stichhaltig. Somit erhält der Phänomenologe die Rolle des Or­chesterchefs, der alle von den Humanwissenschaften erbrachten objektiven Ergebnisse aufnehmen und ihnen dabei einen Sinn, einen Wert als subjektive Erfahrung wie als globale Bedeutung zuweisen soll : »Ich erinnere mich an seine Vorlesung über Lévi-Strauss ; er präsentierte ihn als Algebra der Verwandtschaft, die um die Bedeutung des Familiären für den Menschen ergänzt wer­den mußte: die Vaterschaft, die Abstammung.«8

Die Umkehrung des Paradigmas

In den fünfziger Jahren, im Zuge dieser Annäherung, die Merleau-Ponty zwischen Philosophie und Humanwissenschaften ver­sucht, zeichnet sich am Horizont ein Paradigmenwechsel ab. Nicht die Anthropologie sucht ihre Stellung gegenüber dem phi­losophischen Diskurs, wie zu Zeiten, als Marcel Mauss von sei­nem Philosophieprofessor, Alfred Espinas, den Begriff der tota­len sozialen Tatsache entlehnte. Im Gegenteil, die Philosophie, hier mit Merleau-Ponty, bestimmt ihren Ort im Verhältnis zur Anthropologie, zur Linguistik, zur Psychoanalyse, während Les Temps Modernes die Arbeit von Michel Leiris, von Claude Lévi-Strauss zur Kenntnis nehmen. Merleau-Ponty eröffnet vielver­sprechende Perspektiven, wenn er schreibt : »Die Aufgabe lautet also, unsere Vernunft zu erweitern, um sie zum Verständnis des­sen zu befähigen, was in uns und in den anderen der Vernunft voran- und über sie hinausgeht.«9 Er öffnet das philosophische Feld für die Intelligibilität des Irrationalen, unter der doppelten Figur des Wahnsinnigen und des Wilden. Damit wurde den beiden Dis­ziplinen der Anthropologie und der Psychoanalyse eine wesentli­che Stellung zugewiesen, die sie in den sechziger Jahren tatsäch­lich einnehmen werden. Weshalb aber hat die Philosophie ihre

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Gewißheiten eingebüßt? Warum ist das phänomenologische Projekt so rasch im Sande verlaufen? Mit einer ersten, biographi­schen Antwort läßt sich dieses Scheitern dem frühen Tod — am 4. Mai 1961 — desjenigen zurechnen, der dieses Projekt verkörperte. Merleau-Ponty starb mit vierundfünfzig Jahren und hinterließ ein kaum angebrochenes Werk. Doch näheren Aufschluß gibt Vincent Descombes: »Dieses philosophische Projekt war aus ei­nem einfachen Grund zum Scheitern verurteilt — weil die wissen­schaftlichen Disziplinen schon an ihre eigene konzeptuelle Aus­arbeitung gehen. Sie bedürfen also nicht Merleau-Pontys oder eines anderen Philosophen, um ihren Entdeckungen einen Sinn zu geben. Sie arbeiten schon alle auf zwei Ebenen.«10 Das Projekt der Vereinnahmung der Humanwissenschaften wird also zur Falle für eine zweiflerische Philosophie, von der man sich zugun­sten der vielversprechenden jungen Sozialwissenschaften abwen­den wird. In diesem Sinne hat Merleau-Ponty eine ganze Ge­neration von Philosophen inspiriert, die durch ihn zu neuen Problemstellungen ermuntert wurden und das philosophische Schiff mit Sack und Pack verließen, um entweder Anthropologe, Linguist oder Psychoanalytiker zu werden. Diese Umkehrung des Paradigmas wird die gesamte strukturalistische Periode der sechziger Jahre bestimmen. Das Fachgebiet der Anthropologie verändert sich dadurch beträchtlich. Bis auf wenige Ausnahmen wie Lucien Lévy-Bruhl, Marcel Mauss, Jacques Soustelle oder Claude Lévi-Strauss, die von der Philosophie kommen, sind die Ethnologen aus ganz verschiedenen Horizonten hervorgegan­gen — ein Effekt eher der Fusion als der Filiationn : Paul Rivet kommt wie die meisten anderen Forscher aus dem medizinischen Bereich, Marcel Griaule, der zunächst Flieger war, kommt von den orientalischen Sprachen, Michel Leiris von der Poesie und vom Surrealismus, Alfred Métraux von der École des chartes, wo er Mitschüler von Georges Bataille war. Und weil das Milieu he­terogen ist, »unterliegen [die Ethnologen] keiner Stammeslo­gik« 12.

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Vor allem durch Merleau-Ponty strömt also eine ganze Gene­ration junger Philosophen den modernen Wissenschaften zu. Alfred Adler entdeckt das Werk Merleau-Pontys in den Jah­ren 1952/53 als Philosophiestudent an der Sorbonne: »Durch Merleau-Ponty fanden wir Interesse an der Psychoanalyse, an der Kinderpsychologie, an den theoretischen Problemen der Spra­che.« 13 Dieses Interesse und die Entwicklung der politischen Ver­hältnisse ergänzen sich und lassen den Philosophiestudenten der fünfziger Jahre zu Beginn des nachfolgenden Jahrzehnts zum Ethnologen werden. Auf dem Feld der Linguistik bestätigt Mi­chel Arrivé die wesentliche Rolle Merleau-Pontys: »Merleau-Ponty ist ein bedeutender Vermittler gewesen; Lacan ist ganz si­cher durch ihn angeregt worden, Saussure zu lesen.« u Für die Annahme, daß Jacques Lacan über Merleau-Ponty auf Saussure stieß, spricht einiges, denn die beiden trafen sich damals häufig mit Michel Leiris und Claude Lévi-Strauss. Merleau-Pontys Text über Saussure datiert von 1951 und Lacans Rom-Rede von 1953. Auch Algirdas Julien Greimas spricht ihm große Bedeutung zu: »Den Anstoß gab Merleau-Ponty mit seiner Antrittsvorlesung im Collège de France 1952, als er sagte, man werde noch sehen, daß nicht Marx, sondern Saussure die Philosophie der Ge­schichte erfunden habe. Das ist ein Paradoxon, das mich darüber nachdenken ließ, daß man, bevor man Ereignisgeschichte be­treibt, die Geschichte der Denksysteme, der ökonomischen Systeme erkunden müßte und erst danach versuchen kann, ihre Entwicklungsweise zu verstehen.«15 Der Lévi-Strauss naheste­hende Philosoph Jean-Marie Benoist, Autor von La Révolution structurale, bekräftigt gleichfalls, daß er durch Merleau-Ponty, den er in seiner Kbâgne-Zeh 1962 zu lesen begann, Zugang zum Werk von Lévi-Strauss bekam: »Merleau-Ponty schuf die Vor­aussetzungen für die Bereitschaft, die Bereicherung durch die strukturalistische Arbeit anzuerkennen.«16

Wegen dieser Abtrünnigen erlebt die Philosophie eine regel­rechte Ausblutung, von der sie sich nur mühsam erholt. Und das

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ist erst der Anfang, denn einer ihrer verlorenen Söhne wird dem phänomenologischen Projekt und den Ansprüchen einer über das Getümmel der empirischen Wissenschaften erhabenen Philo­sophie den Gnadenstoß versetzen : Michel Foucault. Seine Kritik formuliert er erst später, im Lauf der sechziger Jahre, aber sie nimmt ihren Ausgang vor allem in der Unzufriedenheit mit dem phänomenologischen Programm, das, als er Wahnsinn und Gesellschaft schrieb (1955-1960), das philosophische Feld be­herrschte. Er wirft den Vertretern dieses Programms vor, sich auf den streng akademischen Bereich zu beschränken und sich um die Kantsche Frage zu drücken, was unsere Derzeitigkeit sei. Mi­chel Foucault wird der Befragung neue Gegenstände erschließen und von der phänomenologischen Perspektive, also der verinner-lichten Beschreibung der gelebten Erfahrung, abrücken, indem er die sozialen Praktiken und Institutionen untersucht und pro-blematisiert : »Alles, was sich um die sechziger Jahre herum er­eignete, kam ja aus der Unzufriedenheit über die phänomeno­logische Theorie des Subjekts.«17 Die Weiche, die Foucault stellt, steht übrigens ebensosehr gegen die phänomenologische Proble­matik wie gegen den Marxismus. Dennoch hat die Phänomeno­logie eine maßgebliche Öffnung der philosophischen Fragestel­lung bewirkt, indem sie betonte, daß der Mensch nicht derjenige ist, der erkannt wird, sondern derjenige, der erkennt. Damit wies sie auf die Unmöglichkeit für die erkennende Instanz hin, zur Selbsterkenntnis zu gelangen, wenn nicht über den Blick in den Spiegel, der die unsichtbare Spanne zwischen dem Gesicht und seiner Repräsentation manifest macht.

Dieser Perspektive wird Jacques Lacan sich vor dem Krieg mit dem »Spiegelstadium« weitgehend annehmen. Er sucht zu die­sem Zeitpunkt bei den Phänomenologen das Mittel, den biologi­schen Reduktionismus zu umgehen. Foucault selber beginnt Die Ordnung der Dinge mit einer Interpretation von Velasquez' be­rühmten Gemälde der Hoffräulein und zeigt einen König, der nur dank des Spiegels ins Bild tritt. Aber die Phänomenologie hat

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es nicht vermocht oder verstanden, dem anthropologischen Zir­kel zu entkommen, und Foucault schlägt dessen fundamentale Überwindung vor: »Es ist zweifellos nicht möglich, den empiri­schen Inhalten einen transzendentalen Wert zu geben, noch, sie in Richtung auf eine konstituierende Subjektivität zu verlagern, ohne wenigstens verschwiegen einer Anthropologie Raum zu ge­ben [...].«18

Die phänomenologische Fragestellung mit ihrer inneren Span­nung von Empirischem und Transzendentalem, die zwar ge­trennt gehalten, aber im Begriff des Erlebten beide gleichzeitig anvisiert werden, muß auf die Frage verlagert werden, ob der Mensch wirklich existiert. Ist er nicht vielmehr der Ort des Seins­verfehlens, an dem der abendländische Humanismus ungestraft geschlafen hat? Die Ausweglosigkeit des phänomenologischen Versuchs trotz des erklärten Anspruchs, zugleich innerhalb und außerhalb seines Wahrnehmungs- und Kulturfeldes stehen zu können, rührt aus seiner Absicht, das Ungedachte im Menschen selbst zu fundieren, während es für Foucault in seinem Schatten, im anderen ist, in unausweichlicher Andersheit und Dualität. Diese Dublüre muß dem Platz machen, was im lebenden, spre­chenden und arbeitenden Subjekt dem Primat des »Ich« entgeht. Den Empirismus des Erlebten übersteigend, erlaubt es die Ent­faltung der Wissenschaften von der Sprache und der Psychoana­lyse. Das Projekt Foucaults setzt sich zum Ziel zu durchmessen, was im Menschen spricht, eher als das, was er sagen hört. Es liegt auf der Hand, daß das phänomenologische Subjekt in einem sol­chen Projekt als untauglich gilt, welches wenig später zu einem der belangvollsten und meistdiskutierten Aspekte der struktura-listischen Philosophie avanciert.

Der Saussuresche Schnitt

Wenn auch der Strukturalismus ein sehr vielgestaltiges Phäno­men umspannt, das mehr ist als eine Methode und weniger als eine Philosophie, findet er seinen Kern, seinen gemeinschaftli­chen Grundbestand im Modell der modernen Linguistik und in Ferdinand de Saussure, der als ihr Urheber gilt. Daher der Rekurs auf Saussure, der diese Periode beherrschen und sich in eine allge­meinere Bewegung von »Rekursen« auf Marx, Freud und andere einschreiben wird — als bedürfe ein Programm, das die Moderni­tät, die endlich erlangte Rationalität in den Humanwissenschaf­ten verkörpern will, der Mobilisierung der Vergangenheit, als sei zwischen den beiden Zeitpunkten : dem des anfänglich gelegten Schnitts und dem seiner Wiederentdeckung, ein Verlust eingetre­ten.

Saussure wird also als Gründervater auftreten, auch wenn in etlichen Forschungen die Kenntnis seines Werkes auf der Ver­mittlung durch andere Autoren beruht. Saussure löst das Pro­blem, das Piaton im Kratylos stellt, auf seine Weise. Piaton stellt nämlich zwei Auffassungen vom Verhältnis zwischen Natur und Kultur einander gegenüber: Hermogenes vertritt den Stand­punkt, daß die den Dingen zugewiesenen Namen willkürlich durch die Kultur gewählt seien, während Kratylos in den Namen einen Widerschein der Natur, das Ergebnis einer fundamental naturgegebenen Beziehung erblickt. In dieser alten und stetig neu aufgelegten Debatte gibt Saussure Hermogenes mit seinem Be­griff der Arbitrarität des Zeichens recht. Scherzhaft bringt Vin­cent Descombes den »revolutionären« Charakter dieser Entdek-kung zur Sprache, wenn er den Philosophielehrer, den Molière in

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seinem Bürger als Edelmann (II. Akt, 5. Szene) auftreten läßt, zum Urheber der strukturalistischen Methode ernennt.1 Die Ge­schichte ist bekannt : Monsieur Jourdain, der, ohne es zu wissen, Prosa verfertigt, möchte einer Marquise einen Brief schreiben, um ihr zu sagen: »Belle marquise, vos beaux yeux me font mou-rier d'amour.« (Schöne Marquise, Ihre schönen Augen machen mich vor Liebe sterben.) Diese schlichte Erklärung gibt Anlaß zu fünf folgenden, in hundertzwanzig mögliche Permutationen zer­legbare Stellungen und läßt folglich aus einer einzigen Denota-tion ebensoviele konnotative Varianten hervorgehen.

Doch erst die Veröffentlichung der Grundlagen der allgemei­nen Sprachwissenschaft (GaS) war die Geburtsstunde der moder­nen Linguistik. Bekanntlich geht dieses Werk Saussures haupt­sächlich auf mündliche Äußerungen zurück; es resultiert aus seinen zwischen 1907 und 1911 gehaltenen Vorlesungen, genauer gesagt, den Vorlesungsmitschriften seiner Schüler, sowie zu ei­nem geringeren Teil aus der Zusammenstellung, Auswertung und Ordnung der wenigen Schriften, die der Meister selbst hinterlas­sen hat. Zwei Genfer Professoren, Charles Bally und Albert Séchehaye, gaben nach Saussures Tod die GaS 1915 heraus. Die Beweisführung besteht hauptsächlich darin, die Willkürlichkeit des Zeichens zu fundieren und zu zeigen, daß die Sprache (langue) ein System von Werten ist, das nicht durch Inhalte oder durch Erlebtes, sondern durch reine Unterschiede konstituiert wird. Saussure bietet eine Interpretation der Sprache, die diese entschieden der Abstraktion zuschlägt, um sie so dem Empiris­mus und psychologisierenden Betrachtungsweisen zu entwin­den. Somit begründet Saussure eine neue, gegenüber den anderen Humanwissenschaften eigenständige Disziplin: die Linguistik. Sobald diese ihre eigenen Regeln etabliert hat, wird sie infolge ih­rer Strenge und hochgradigen Formalisierung alle anderen Diszi­plinen mitreißen und sie zur Übernahme ihres Programms und ihrer Methoden bewegen.

Die GaS haben ein recht paradoxales Schicksal erfahren. Fran-

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çoise Gadet, die dem nachgegangen ist2, weist auf das schwache Echo des Werks bei seinem Erscheinen hin und hält dem die Zeit­spanne der sechziger Jahre bis heute entgegen. Der Rhythmus der Übersetzungen und Neuausgaben hat sich beschleunigt und ist damit der ansteigenden Welle des Strukturalismus allgemein gefolgt: Es gab fünf Übersetzungen von 1916 bis 1960 und zwölf im vergleichsweise kurzen Zeitraum von 1960 bis 1980. Zwei Vor­gänge werden für den wachsenden Erfolg der GaS, die zum »kleinen roten Buch« des Basisstrukturalisten avancieren, eine entscheidende Rolle spielen: Der erste Faktor resultiert daraus, daß nach dem Ersten Weltkrieg die Russen und die Schweizer die Vorherrschaft der Deutschen im sprachwissenschaftlichen Fach abgelöst haben, die im wesentlichen für eine historisch-verglei­chende Philologie eingetreten waren. So wird auf dem ersten in­ternationalen Linguistenkongreß 1928 in Den Haag ein zukunfts­trächtiges Bündnis geschlossen: »Den von den Russen Jakobson, Karcevski und Trubetzkoy einerseits und von den Genfern Bally und Séchehaye andererseits dargelegten Vorschlägen ist gemein­sam, daß sie die Bezugnahme auf Saussure betonen, um die Spra­che als System zu beschreiben.«3 Die Grundlegung für die Defi­nition eines strukturalistischen Programms geht also von Genf und Moskau aus. Bei dieser Gelegenheit wird übrigens auch erst­mals der Begriff »Strukturalismus« gebraucht — von Jakobson. Saussure hat nur den Ausdruck System verwendet, den er etliche Male in Anspruch nimmt, man findet ihn einhundertachtund-dreißig Mal auf den knapp dreihundert Seiten der GaS.

Das zweite Ereignis, das die Zukunft der GaS mitbedingt und sich diesmal in Frankreich zuträgt, bildet — neben anderen Arti­keln — der 1956 in Le Français moderne(Heft 3,1956) erschienene Aufsatz »L'actualité du saussurisme« von Algirdas Julien Grei-mas. »In diesem Beitrag habe ich gezeigt, daß man sich überall auf die Linguistik berief: Merleau-Ponty in der Philosophie, Lévi-Strauss in der Anthropologie, Barthes in der Literatur, Lacan in der Psychoanalyse, während in der eigentlichen Linguistik nichts

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geschah, und daß es somit an der Zeit war, Ferdinand de Saussure wieder an die ihm gebührende Stelle zu rücken.«4 Es liegt auf der Hand, daß die in den fünfziger und sechziger Jahren sich entwic­kelnde Definition eines globalen semiologischen Programms, das die Linguistik überschreitet und alle Humanwissenschaften in ei­nen gemeinsamen Entwurf einbegreift — die große Ambition die­ser Epoche —, ihre Rechtfertigung und ihren Ansporn findet in Saussures Definition der Sémiologie als »Wissenschaft, die das Leben der Zeichen im Innern des sozialen Lebens untersucht«.

Das Thema des Schnitts

Um das strukturalistische Paradigma zu verstehen, muß man beim Saussureschen Schnitt ansetzen, da eine ganze Generation die GaS als Gründungsmoment gelesen und wahrgenommen hat. Dies allein spricht schon für die Griffigkeit der Schnitt-These, auch wenn sie nach Ansicht mancher Experten zum großen Teil auf einem Mythos beruht. Dennoch kann man sich zum besseren Verständnis der Tragweite des Paradigmas fragen, ob es tatsäch­lich einen Schnitt zwischen der Sprachwissenschaft vor und nach Saussure gegeben habe. Die Sprachwissenschaftler sind darüber geteilter Meinung. Natürlich ist niemand so naiv anzunehmen, daß das linguistische Denken geradewegs und gebrauchsfertig dem Individuum Ferdinand de Saussure allein entsprungen sei; aber manche betonen die Diskontinuität, während andere von ei­nem eher kontinuierlichen Wandel ausgehen.

Françoise Gadet verficht die These eines scharfen Schnitts zwischen »der Auffassung der präsaussureschen Periode«5 und der Konzeption, die Saussure einführt. Der deskriptive Ansatz, die Vorrangigkeit des Systems, das Bestreben, anhand explizit aufgebauter Verfahren auf die Elementareinheiten zurückzuge­hen — das ist die neue Orientierung, die Saussure anbietet und die den kleinsten gemeinsamen Nenner für den gesamten struktura-

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listischen Wirkungskreis bilden wird. Auch für Roland Barthes schlägt mit Saussure die wahre Geburtsstunde der modernen Lin­guistik: »Mit Saussure kommt es zu einer epistemologischen Wende : Der Analogismus tritt an die Stelle des Evolutionismus, die Nachahmung ersetzt die Ableitung.«6 In seinem Enthusias­mus stellt Roland Barthes aufgrund der Homologie, die man zwischen Gesellschaftsvertrag und sprachlichem Vertrag herstel­len kann, Saussure gar als Vertreter des demokratischen Modells dar. Die Vorläufer des Strukturalismus sind zahlreich. Tatsächlich verdankt diese Strömung der deutschen Romantik viel und deren Kunstauffassung als eine der Nachahmung der Wirklichkeit sich entziehende Struktur. Die Kunst solle eine republikanische Rede sein, meinten die Brüder Schlegel.7

Claudine Normand, Professorin für Sprachwissenschaft in Pa-ris-X, die über die Idee des Saussureschen Schnitts zur Linguistik gelangte, sieht zwar einen Schnitt, aber nicht dort, wo man ihn für gewöhnlich ansetzt: »Er ist schwer festzumachen: die Saus­suresche Redeweise ist sehr verworren, da im positivistischen Diskurs ihrer Zeit befangen.«8 Wesentlicher Beitrag Saussures sei nicht die Entdeckung der Arbitrarität des Zeichens, von der schon Ende des 19. Jahrhunderts alle Sprachwissenschaftler über­zeugt gewesen seien. Sämtliche komparatistischen Arbeiten hät­ten bereits den konventionalistischen Standpunkt eingenommen und das naturalistische Modell verworfen. Indes »macht er daraus etwas anderes, er verknüpft es mit dem semiologischen Prinzip, das heißt mit der Werttheorie, und dadurch kann er sagen, daß es in der Sprache nur Differenzen ohne oppositives Zeichen gibt«9. Der Bruch läge also hauptsächlich in der Definition einer Wert­theorie, in den Prinzipien der Allgemeingültigkeit der Beschrei­bung, in der Abstraktion des Verfahrens. Saussures Systembegriff ist Ausdruck der Konstruktion eines abstrakten, konzeptuellen Vorgehens, denn ein System läßt sich nicht beobachten, und doch hängt jedes sprachliche Element von ihm ab. Was die Unterschei­dung in Diachronie und Synchronie betrifft, so trug man sich da-

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mit Claudine Normand zufolge bereits vor Saussure, namentlich in allen Arbeiten der Dialektologie, die bei ihrer Erhebung der Dialekte mangels schriftlicher Quellen naturgemäß der Synchro­nie den Vorrang geben mußte. In diesem Punkt habe Saussure nur »systematisiert, wovon die Rede ging und was man umzusetzen begann«10.

Jean-Claude Coquet führt die für die zeitgenössische Sprach­wissenschaft konstitutiven großen Bewegungen auf das 19. Jahr­hundert, ja sogar auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Der Begriff des Systems existierte vor Saussure: »Es handelte sich zu­nächst um einen taxonomischen Begriff, weshalb auch die ersten er­folgreichen Bemühungen bei den Biologen zu sehen sind. Es war das Zeitalter von Goethe und Geoffroy Saint-Hilaire.« n Saussure stärkt also lediglich den Systembegriff, wobei er, um ihm größt­mögliche Tragweite zu verleihen, sein Forschungsfeld auf das syn­chrone System eingrenzt und die historischen, diachronen Aspekte außer acht läßt. Jean-Claude Milner sieht, wie vor ihm schon Mi­chel Foucault, die entscheidende Grundlegung bei Franz Bopp als Verfasser einer Grammatik, die das klassische Zeitalter der Reprä­sentation hinter sich läßt. Saussure habe bloß die Grundprinzipien ausgeformt, deren die Sprachwissenschaft seiner Zeit, nämlich die historische Sprachwissenschaft, bedurfte. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war dies eine allgemeine Sprachwissenschaft und somit eine Anknüpfung an eine frühere Periode, in der es schon einmal eine allgemeine Sprachwissenschaft gegeben hatte, bevor sie vom Historismus der philologischen Forschungen verdrängt wurde: »Es gibt daher keinen Grund, den Standpunkt der Diskon­tinuität zu bevorzugen«12, denn den Ausdruck »allgemeine Sprachwissenschaft« gibt es seit den achtziger Jahren des 19. Jahr­hunderts. André Martinet, der viel zur Lektüre und Bekanntheit Saussures beigetragen hat, meint indes, daß dieser mit seiner Un­terscheidung zwischen langue (Sprache) und parole (Sprechen) dem Druck der Soziologen nachgegeben und »sein Ziel verfehlt habe, das sprachliche Phänomen an sich und für sich selbst zu un-

Der Saussuresche Schnitt 83

tersuchen«13. Ihm zufolge wird erst durch den Prager Kreis und die Phonologie das wirklich grundlegende Programm des Struk­turalismus definiert: »Ich bin Saussurianer, aber — und ich sage dies mit der größten Bewunderung für Saussure — er ist nicht der Begründer des Strukturalismus.«14

Der Vorrang der Synchronie

André Martinet kritisiert vor allem die Umgehung des großen Problems, das sich zu Saussures Zeit stellte und das in den GaS unbeantwortet blieb: Warum ist der Lautwandel regelmäßig? Um dieses Phänomen zu erfassen, hätte man die Struktur nicht in die Synchronie, ins Statische einsperren dürfen: »Eine Struktur bewegt sich ja.«15 Dennoch werden die Saussureschen Katego­rien dem verallgemeinerten Strukturalismus als epistemisches Werkzeug dienen, wenngleich man sich verschiedenerseits einige Freiheiten im Umgang mit dem Saussureschen Wortlaut heraus­nimmt, um ihn an die spezifischen Erfordernisse des eigenen Ar­beitsfeldes anzupassen. Die maßgebliche Gelenkstelle wird dabei der Vorrang der Synchronie bilden. Saussure veranschaulicht die­ses Vorrecht und sein Korollar, die Bedeutungslosigkeit der Hi­storizität, mit der Metapher des Schachspiels. Das Verständnis der Partie ergibt sich aus der Erfassung der Stellung und der mög­lichen Kombinationen der auf dem Spielbrett plazierten Figuren : »Es ist ganz gleichgültig, ob man auf diesem oder jenem Wege zu ihr gelangt ist«16. In der Untersuchung der wechselseitigen Kom­bination diskreter Einheiten lassen sich die inneren Gesetze, die eine Sprache regeln, restituieren. Diese These von der Unabhän­gigkeit der synchronen Untersuchung bezüglich des Zugangs zum System bricht mit der Methode der historisch-vergleichen­den Sprachwissenschaftler und der klassischen Philologie, die auf der Erforschung der sukzessiven Entlehnungen, der verschiede­nen Schichten in der Herausbildung der Sprachen fußt.

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Diese perspektivische Umwälzung weist der Diachronie den Rang einer bloßen Ableitung zu, und fürderhin wird die Ent­wicklung einer Sprache als Übergang von einer Synchronie zu einer anderen aufgefaßt. Man kommt nicht umhin, an die Fou-caultschen Episteme zu denken, auch wenn Foucault sich nicht ausdrücklich auf Saussure bezieht. Mittels dieses Kraftakts hat sich die Sprachwissenschaft aus der Vormundschaft der Ge­schichtsschreibung befreit. Er begünstigte ihre Verselbständi­gung als Wissenschaft, allerdings um den Preis der Ahistorizität und folglich einer Beschränkung, die zum Bruch mit dem herr­schenden Evolutionismus vielleicht nötig war, jedoch in Aporien führt, da es nicht gelang, Diachronie und Synchronie in ein dia­lektisches Verhältnis zu bringen. Dagegen konnte Saussure nach­weisen, daß eine Sprache sich nicht nach den gleichen Gesetzen wandelt wie die Gesellschaft und somit die Einsicht befördern, daß eine Sprache nicht einfach die Äußerung irgendeiner Rassen­besonderheit ist, wie es die Sprachwissenschaftler des 19. Jahr­hunderts glaubten, die die Geschichte der indoeuropäischen Ge­sellschaften über die ihnen vorliegenden sprachlichen Zeugnisse rekonstruierten.

Die Abgeschlossenheit der Sprache

Eine weitere wichtige Gelenkstelle des Saussureschen Ansatzes ist das Insichgeschlossensein der Sprache. Das sprachliche Zei­chen verbindet keine Sache mit ihrem Namen, sondern einen Be­griff mit einem Lautbild, und zwar in einer arbiträren Beziehung, die die Realität (den Referenten) aus dem Untersuchungsfeld ver­bannt und das — per Definition eingeschränkte — Blickfeld des Linguisten festlegt. Das Saussuresche Zeichen umspannt dem­nach lediglich die Beziehung zwischen Signifikat (Begriff) und Signifikant (Lautbild), unter Ausschluß des Referenten. Dies un­terscheidet das Zeichen vom Symbol, das ein natürliches Band in

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der Beziehung von Signifikat und Signifikant bewahrt, »die Spra­che ist ein System, das nur seine eigene Ordnung zuläßt«. — »Die Sprache ist eine Form und nicht eine Substanz.«17 In diesem Sinne verweist jede sprachliche Einheit durch ihren lautlich-semanti­schen Doppelaspekt stets in einer rein endogenen Kombinatorik auf alle anderen.

Die referentielle Funktion, auch Denotation genannt, wird also zurückgedrängt, denn sie liegt auf einer anderen Ebene, der des Verhältnisses zwischen Zeichen und Referenten. Räumt Saussure dem Signifikanten keinerlei Vorrang vor dem Signifikat ein, die für ihn so untrennbar sind wie die zwei Seiten eines Pa­pierblatts, so ist der Signifikant durch seine sinnfällige Anwesen­heit definiert, wohingegen das Signifikat durch seine Abwesen­heit gekennzeichnet ist : »Das Zeichen ist zugleich Anwesenheit und Abwesenheit: Es besitzt einen doppelten Charakter.«I8 Die­ses ungleichen Verhältnisses, das für die Signifikation konstitutiv ist, hat sich später insbesondere Jacques Lacan angenommen, um das Signifikat zugunsten des Signifikanten abzuwerten, womit der Immanenzcharakter dieses Herangehens an die Sprache noch mehr betont wird. Mit Hilfe der sprachimmanenten Orientie­rung begrenzt Saussure sein Projekt und entzieht sich jeder Wechselbeziehung zwischen zweien seiner Kernsätze: »Demje­nigen, demzufolge die Sprache ein Zeichensystem ist, und demje­nigen, demzufolge die Sprache eine soziale Tatsache ist.«19 Er be­schränkt seine Linguistik auf eine restriktive Untersuchung des Codes und läßt die Bedingungen seines Erscheinens und seiner Bedeutung unberücksichtigt.

Saussure entscheidet sich mithin für das Zeichen und gegen den — in die metaphysische Vergangenheit verwiesenen — Sinn und trifft damit eine Wahl, die eines der Charakteristika des strukturalistischen Paradigmas ausmachen wird. Diese Formali-sierung wird zwar erhebliche Fortschritte bei der Beschreibung der Sprachen gestatten, aber oft vom Mittel zum Zweck geraten und sich dabei in ihrer Geschlossenheit als verschleiernd, wenn

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nicht irreführend erweisen. Zwei Einteilungsweisen erlauben das Verständnis der inneren Kombinatorik der Sprache: die Konti-guitätsbeziehungen, genannt syntagmatische Beziehungen, und die Beziehungen in absentia, die Saussure assoziative Verknüp­fungen nennt und die später unter der Bezeichnung Paradigma aufgegriffen werden.

Wenn also Saussures Vorgehen per Definition restriktiv ist, schreibt es sich gleichwohl in den sehr weitgespannten Wunsch nach Errichtung einer allgemeinen Sémiologie ein, die sich für das Leben der Zeichen im Innern des sozialen Lebens interessiert: »Die Sprachwissenschaft ist nur ein Teil dieser allgemeinen Wis­senschaft«20. Genau in die Verwirklichung dieses ehrgeizigen Programms stößt das strukturalistische Projekt hinein, da es alle Wissenschaften vom Zeichen um das gleiche Paradigma vereinigt. Unter diesem Impuls wird die Linguistik zur Pilotwissenschaft, zur Triebkraft des Projekts und wird kraft einer Methode, die sich etwas auf ihre Ergebnisse zugute halten kann, den Schmelz­tiegel, den melting-pot aller Humanwissenschaften abgeben.

Der Ausnahme- und Neuerungscharakter dieser Konfigura­tion in der französischen Geisteslandschaft ist freilich zu nuan­cieren, wenn man dem die ähnliche Lage im 19. Jahrhundert in Deutschland entgegenhält, wo die ersten Disziplinen, die sich als Wissenschaften institutionalisierten, die Philologie und die vergleichende Grammatik waren. Ein Zahlenvergleich der Lehr­stühle, der Geldmittel, der wegweisenden Zeitschriften bestätigt diesen Zeitvorsprung. »Ich denke, daß die vergleichende Gram­matik im 19. Jahrhundert in Deutschland mehr gekostet hat als die Physik.«21 Die Saussure-Nachfolge wird hauptsächlich die GaS im Gedächtnis behalten, die jedoch nur einen Aspekt von Saussures Persönlichkeit darstellen; in ihnen entfaltet sich seine systematische, formalistische Seite zum Programm, das er indes im Unterricht aus dem Stegreif vortrug, bloß versehen mit gefal­teten Notizzetteln, wie seine Schüler berichten.

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Zwei Saussures?

Der Binarismus findet sich in den Interessenschwerpunkten wie in der Persönlichkeit des Genfer Linguisten wieder, der seinen Aufenthalt mehrmals von Genf nach Marseille verlegte; auf diese in regelmäßigen Abständen unternommenen Reisen nahm er kleine Hefte mit, die er mit Meditationen über die vedischen bzw. saturnischen Texte indischer und römischer Sakraldichtung füllte. So hat er zweihundert Hefte über Anagramme vollge­schrieben und eine regelrechte kabbalistische Untersuchung an­gestellt, um herauszufinden, ob es nicht einen in diesen Texten ausgestreuten Eigennamen gäbe, der zugleich der Adressat und der letztgültige Sinn der Mitteilung wäre.

Unter dem Eindruck seiner Entdeckungen hat Saussure sich in den Jahren 1895-1898 sogar für spiritistische Sitzungen interes­siert. Eine solche Gespaltenheit ist übrigens durchaus keine Ei­genheit Saussures; sie findet sich auch bei zahlreichen anderen Wissenschaftlern. So hat etwa Newton, während er seine Princi-pia abfaßte, tausende Seiten über die Alchimie geschrieben. Der Begründer der klassischen Mechanik und der abendländischen Rationalität war auch auf der Suche nach dem Stein der Weisen. So gäbe es denn bei demjenigen, den Louis-Jean Calvet den zwei­ten Saussure genannt hat22, die Idee einer Sprache unter der Spra­che, einer bewußten oder unbewußten Codierung der Wörter unter den Wörtern, eine Suche nach den latenten Strukturen, von der sich beim offiziellen Saussure, in den GaS, keine Spur findet. Saussure wurde sogar 1898 von dem Genfer Psychologieprofes­sor Fleury zu Rate gezogen, um den Glossolalie-Fall der Made­moiselle Smith zu untersuchen, die unter Hypnose erklärte, Sanskrit zu sprechen. Saussure, der Professor für Sanskrit, schloß, »es sei kein Sanskrit gewesen, aber es habe auch nichts ge­geben, was gegen Sanskrit gesprochen hätte«23.

Alle diese Hefte wurden von der Familie sorgfältig geheimge­halten, so daß Jean Starobinski erst 1964 Saussures Anagramme

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teilweise hat veröffentlichen können.24 Auf der Grundlage dieser Entdeckung konnte Mitte der sechziger Jahre, insbesondere durch Julia Kristeva, eine ganz neue Forschungsrichtung einge­schlagen werden. Man kann mit Jakobson von einer lange zu­rückgedrängten »zweiten Saussureschen Revolution« sprechen.

Das abwesende Subjekt

Mit Hilfe dieser zweiten Erbschaft wird die Wiederkehr des Sub­jekts möglich werden. Dabei hat die von Saussure in den GaS ge­troffene wesentliche Unterscheidung zwischen langueunaparole das Subjekt gerade ausdrücklich zur Bedeutungslosigkeit herab­gestuft, ja ins Schweigen verbannt. Denn die Opposition von Sprache und Sprechen umfaßt die Unterscheidung von sozial und individuell, abstrakt und konkret, notwendig und kontingent, weshalb die linguistische Wissenschaft ihren Gegenstand auf die langue zu beschränken hat, da nur sie einer wissenschaftlichen Rationalisierung zugänglich ist. Die Folge ist die Eliminierung des sprechenden Subjekts, des redenden Menschen: »Die Spra­che ist nicht eine Funktion der sprechenden Person, sie ist das Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert [...]. Die Sprache, vom Sprechen unterschieden, ist ein Objekt, das man gesondert erforschen kann.«25 In den Stand der Wissen­schaftlichkeit tritt die Linguistik durch Saussure nur unter der Voraussetzung, ihren spezifischen Gegenstand genau einzugren­zen : auf die langue, weswegen sie die Schlacken der parole, des Subjekts, der Psychologie loswerden muß. Der einzelne ist aus Saussures wissenschaftlichem Blickfeld vertrieben, er ist das Op­fer einer formalistischen Reduktion, in der er nicht mehr vor­kommt.

Diese Negierung des Menschen, die schon den toten Winkel des Saussureschen Blickfelds bildet, wird jenseits des linguisti­schen Feldes auch ein Grundbaustein des Strukturalistischen Pa-

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radigmas werden. Sie treibt einen Formalismus in den Paroxys-mus, der, nachdem er bereits mit dem Sinn aufgeräumt hat, auch den Sprecher ausschließt, um schließlich eine Situation vorzufin­den, in der »alles so aussieht, als ob niemand spräche«26. Wie man sieht, hat die moderne Linguistik mit ihren grundsätzlichen Ne­gierungen und deren Konsequenzen für ihre Durchsetzung einen erdrückend hohen Preis zu zahlen gehabt. Aber auch hier ist die Einzigartigkeit Saussures zur Tradition der deutschen Kompara-tisten des 19. Jahrhunderts ins Verhältnis zu setzen : Denn diese suchten nach den wahren Strukturen der Sprache, wobei sie der Meinung waren, daß die Sprechtätigkeit die Sprachstruktur zer­störe. Schon in dieser Strömung vertrat man die Ansicht, daß man eine Sprachstruktur restituieren müsse, die außerhalb des sprach­lichen Handelns läge. Auch auf dieser Ebene hätte also Saussure letztlich nur etwas systematisiert, was vor ihm existierte.

Hinter der Opposition langue/parole gibt es nach Oswald Du-crot zwei Ebenen, die Saussure miteinander vermengt hat »und deren deutliche Trennung, wie ich sie versucht habe, von Belang wäre«27. Die Opposition langue/parole kann an erster Stelle als Unterscheidung zwischen dem Gegebenen — der parole — und dem Konstruierten — der langue — betrachtet werden. Diese me­thodologische oder epistemologische Unterscheidung ist uner­läßlich und immer noch gültig; sie ist sogar die Vorbedingung des wissenschaftlichen Vorgehens, aber sie erfordert nicht die zweite von Saussure aufgestellte und diesmal anfechtbare Opposition zwischen einem abstrakten Sprachsystem, aus dem das Subjekt vertrieben ist, und der Sprechtätigkeit, zwischen einem objekti­ven Code und dem Gebrauch dieses Codes durch Subjekte. In der gesamten Saussureschen Strömung der sechziger Jahre ist die Verquickung der beiden Ebenen jedoch massiv weiterbetrieben worden und hat der Thematik vom Tode des Menschen, dem theoretischen Antihumanismus den Boden bereitet. Sie brachte eine szientistische Erwartung zum Paroxysmus, die endlich das Subjekt der Aussage losgeworden war.

Inspirator und Wegbereiter: Roman Jakobson

Der Erfolg des Strukturalismus in Frankreich verdankt sich unter anderem einer besonders ertragreichen Begegnung zwischen Claude Lévi-Strauss und Roman Jakobson 1942 in New York. Aus einem Mißverständnis geboren, gipfelt diese Freundschaft in der Gemeinsamkeit ihrer beider Werke, die der gleichen denkeri­schen und methodischen Bewegung zugehören. Denn auch wenn Jakobson sich in seiner Erwartung getäuscht sah, mit Lévi-Strauss die Nächte durchzechen zu können, hat dies dem Ein­vernehmen keinen Abbruch getan. Gegen Ende seines Lebens schickt Roman Jakobson seinem Freund den Sonderdruck eines Artikels mit der Widmung: »Meinem Bruder Claude«. Auf der einen Seite übernimmt Lévi-Strauss das phonologische Modell, das ihm Jakobson erschließt, auf der anderen öffnet Jakobson die Sprachwissenschaft für die Anthropologie.

Unter der programmatischen Überschrift »Die gemeinsame Sprache der Linguisten und der Anthropologen«* hebt Jakobson die Rolle der mathematischen Kommunikationstheorie und der Informationstheorie für den Fortschritt der Sprachwissenschaft seit Saussure und dessen Zeitgenossen Peirce hervor. Man muß also die Linguistik entschieden für das Feld der Bedeutung öff­nen, mit dem Versteckspiel zwischen Zeichen und Bedeutung Schluß machen: »Wir stehen vor der Aufgabe, die sprachlichen Bedeutungen in die Sprachwissenschaft aufzunehmen.«2 Ein weitgestecktes gemeinsames Forschungsprogramm eröffnet sich also sowohl dem Linguisten als auch dem Anthropologen in der Kommutation der Codes von einer Sprache zur anderen, die durch die Isomorphie ihrer internen Strukturen möglich wird. Bei

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Jakobson und Lévi-Strauss findet sich derselbe Wille zum Uni­versalen : »Der Augenblick ist gekommen, die Frage der univer­salen Gesetze der Sprache anzuschneiden.«3 Man erkennt die­selbe Absicht, sich der Modernität der exakten Wissenschaften zu versichern. Jakobson vergleicht die jüngeren Entwicklungen der allgemeinen Sprachwissenschaft, ihren Übergang vom ge­netischen zum deskriptiven Ansatz, mit der Wandlung der klassischen Mechanik zur Quantenmechanik: »Die strukturale Linguistik wie die Quantenmechanik gewinnen an morphischem Determinismus, was sie an zeitlichem Determinismus verlie­ren.« 4

Jakobsons Öffnung gegenüber der Anthropologie datiert übrigens nicht auf seine Begegnung mit Lévi-Strauss. Sie geht dieser insofern voraus, als Jakobson neben der europäischen Sprachwissenschaft auch den Errungenschaften einer amerikani­schen Sprachwissenschaft verpflichtet ist, die auf der Arbeit von Anthropologen wie Sapir und Boas über die amerikanischen In­dianersprachen, auf der Ethnolinguistik gründet. Auch diese Tra­dition hat, aus anderen Gedankengängen als Saussures, den Ak­zent auf den Vorrang der deskriptiven Erfassung der Sprachen und den Aufweis ihrer Binnenstruktur gelegt. In der Tat galt es, den Zusammenhang dieser amerikanischen Indianersprachen schnellstmöglich zu erkunden, weil ihr rasches Verschwinden drohte.

Roman Jakobson hat vor seiner Bekanntschaft mit dem ameri­kanischen Leben bereits einen erstaunlichen Weg hinter sich. Ein regelrechter Weltenbummler des Strukturalismus, verdankt er seine zentrale Stellung und seine Ausstrahlung einem Lebenslauf, der ihn von Moskau über Prag, Kopenhagen, Oslo, Stockholm und Uppsala nach New York führte, nicht mitgerechnet seine zahlreichen Reisen nach Paris. Im Nachzeichnen seiner Fahrt­strecke folgt man zugleich den internationalen Wegen und Um­wegen des entstehenden strukturalistischen Paradigmas.

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Der Moskauer Linguistenkreis

Roman Jakobson wurde am 11. Oktober 1896 in Moskau gebo­ren. Rasch erweist sich seine Persönlichkeit als jeder Form der Modernität gegenüber, in der Kunst wie in der Wissenschaft, aufgeschlossen. In frühen Jahren richtet sich sein Interesse auf Märchen, die der »eingefleischte Leser«5 schon mit sechs gierig verschlingt. Er lernt Französisch und Deutsch, und er entdeckt die Dichtung: Puschkin, Verlaine, dann Mallarmé — im Alter von zwölf! 1912 kommt es zum Schock durch eine neue und beson­ders kreative Bewegung, den Futurismus, dem er sich anschließt. Er liest die Gedichte von Welemir Chlebnikow, dann von Wladi­mir Majakowski), mit dem er sich ebenso befreundet wie mit dem Maler Kasimir Malewitsch: »Ich bin in einem Umfeld von Ma­lern groß geworden.«6 Jakobson teilt also mit Lévi-Strauss die Nähe zur Malerei, die für ihn die stärkste Ausprägung schöpferi­scher Kultur darstellt.

1915 gründet Jakobson den Moskauer Linguistenkreis, der es sich zur Aufgabe macht, Linguistik und Poetik zu fördern. Die erste Sitzung des Kreises findet im Eßzimmer von Jakobsons El­ternhaus statt. Die Unterhaltung eines solchen Zirkels mitten im Kriege, unter dem Zarenregime, ist indes gefährlich, weshalb man ihn bald dem Ausschuß für Dialektologie an der Akademie der Wissenschaften angliedert. Der Anstoß zum linguistischen Studium geht bei Jakobson also hauptsächlich von den formalisti­schen und futuristischen Kreisen aus. Die Anknüpfung an Saus­sure erfolgt später, da er erst 1920 in Prag auf die GaS stößt. Un­terdessen macht er die entscheidende Bekanntschaft des Fürsten Nicolai Trubetzkoy, der ihm ab 1915 von den französischen Ar­beiten der Meillet-Schule berichtet.

Trubetzkoy, sagt Antoine Meillet, war der führende Kopf der modernen Linguistik. Er hat ihre entscheidende Erneuerung durch die Phonologie bewirkt. Vor allem nach 1920 war er Jakob­son in tiefer Freundschaft verbunden, die bis zu seinem Tod im

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Jahre 1938 anhalten sollte und von einem so dichten und ergiebi­gen Gedankenaustausch bestimmt war, daß Jakobson äußerte, gar nicht mehr recht zu wissen, was ihm und was seinem Freund zukomme: »Es war eine erstaunliche Zusammenarbeit, wir brauchten einander.«7 Jakobson liest die Logischen Untersuchun­gen von Husserl, »der vielleicht den größten Einfluß auf meine theoretischen Arbeiten genommen hat«8. Anfang 1917 wirkt er in Sankt Petersburg an der Gründung der Gesellschaft zur Erfor­schung der poetischen Sprache, auf russisch abgekürzt Opojas, mit. Hier entwickelt er in der Runde der Dichter Eichenbaum, Polivanov, Jakubinskij und Schklowskij die Beziehungen zwi­schen Theorie, Poetik und Praxis weiter: »Der linguistische Aspekt der Poesie wurde in all diesen Unternehmungen bewußt herausgehoben.«9

Jakobson verficht damals die Idee der immanenten Untersu­chung des literarischen Textes und seines inneren Zusammen­hangs, der ihn über die Summe seiner Teile hinaus zum Ganzen macht. Auf diese Weise will er die Verbindung zwischen Schöp­fung und Wissenschaft mittels der Linguistik herstellen, die er in den Rang einer nomothetischen Wissenschaft zu erheben hofft. Die poetische Sprache liefert ihm dafür eine gute Ausgangsbasis, weil sie einen grundsätzlich autotelischen Charakter hat im Un­terschied zur Alltagssprache, die durch ihrer Eigenlogik äußerli­che Elemente bestimmt wird und sich somit als zu stark heterote-lisch geprägt erweist. Dieses formalistische Vorgehen verträgt sich indes schlecht mit der bleiernen Zeit des Stalinismus, die sich in den zwanziger und dreißiger Jahren auf Rußland senkt.

Der Prager Kreis

Im Gegensatz zu seinem Freund E. Polivanov, der in Rußland bleibt, setzt sich Jakobson in die Tschechoslowakei ab, indem er zunächst als Dolmetscher der sowjetischen Rotkreuzmission

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nach Prag geht. »Es ist also ein Zufall der Geschichte, daß der Strukturalismus sich im Westen entwickelt hat.«10 Tatsächlich hätte er sich in der Sowjetunion entwickeln können, so daß die Sowjets der Avantgarde der linguistischen Forschungen angehört hätten. Gewiß, Sprachwissenschaftler wie E. Polivanov blieben, doch wurden sie mitsamt ihren Werken von den sowjetischen Machthabern bald liquidiert. Diese Repression zeigt im übrigen a contrario die Grenzen der formalistischen Thesen auf: Sie führt den politischen Einsatz des Schreibens vor Augen und wider­spricht faktisch dem formalistischen Postulat, demzufolge die Li­teratur keinen anderen Zweck hat als sich selbst und jenseits jedes historischen Kontextes steht. Jakobson wird Kulturattache an der sowjetischen Botschaft in Prag dank des Botschafters Antonov, der unter der Führung Trotzkis an der Einnahme des Winter-palasts im Oktober 1917 beteiligt war, ein hinlänglich großes Verbrechen, um wenig später ebenfalls liquidiert zu werden: »Antonov wird zurückbeordert, zusammen mit allen Botschaftsan­gehörigen, die, bis hin zu den Büroboten und der Aufwartefrau, samt und sonders erschossen worden sind.« n

Jakobson langweilt sich in Prag. Deshalb sucht er den Umgang mit tschechischen Dichtern, und bei ihren Zusammenkünften übersetzt er ihnen die russischen Dichter ins Tschechische, da die russische Kultur seinerzeit noch nicht die eines Bruderlandes war. Bei dieser Lesung der Texte von Gorki, Majakowskij und anderen auf tschechisch, im Zuge dieser Übersetzungen aus dem Stegreif, die in leidenschaftliche Diskussionen münden, entdeckt Jakob­son »plötzlich den Unterschied der Musikalität zwischen den beiden Sprachen, den Unterschied der Lautung zwischen dem Russischen und dem Tschechischen, zwei Sprachen, die von ihren lexikalischen Wurzeln und Grundbestandteilen her einander sehr nahestehen, aber eine ganz verschiedene phonologische Wahl aufweisen, die aber wiederum verwandt genug ist, um klarzuma­chen, daß es nur sehr wenig bedarf, damit die distinktiven Merk­male wechseln« n.

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So entsteht die strukturale Phonologie aus der Wechselwir­kung zwischen natürlichen Sprachen, kulturellen Sprachen und poetischer Sprache. Jakobson trifft auch den Fürsten Nicolai Tru-betzkoy, den er seit 1915 kennt und der sich vor der russischen Revolution nach Wien geflüchtet hat. Am 16. Oktober 1926 wird auf Initiative der Tschechen Vilém Mathesius, J. Mukarovsky, E. Vachek und der Russen Nicolai Trubetzkoy, Roman Jakobson und Serge Karcevski der Prager Linguistenkreis gegründet. Hier werden ab 1929 die Arbeiten dieses Zirkels erscheinen, die ein ausdrücklich strukturalistisches Programm umreißen: »Er [der Kreis] hat sich selbst den Namen des Strukturalismus gegeben, denn sein Grundkonzept ist die Struktur, verstanden als ein dy­namisches Gesamtes.«13 Der Prager Kreis siedelt seine Arbeiten in der Nachfolge Saussures, des russischen Formalismus, Hus-serls sowie der Gestalttheorie an; darüber hinaus nimmt er Ver­bindungen zum Wiener Kreis auf. Die »Thesen von 1929« des Prager Kreises werden für Sprachwissenschaftler mehrerer Gene­rationen zum Programm. In ihnen wird eine strenge Unterschei­dung zwischen internem und bekundendem Sprachgebrauch ge­troffen: »In ihrer sozialen Rolle muß man die Sprache je nach dem Verhältnis, das zwischen ihr und der außersprachlichen Rea­lität besteht, unterscheiden. Sie hat entweder eine Funktion der Mitteilung, das heißt, daß sie auf das Signifikat gerichtet ist, oder eine poetische Funktion, das heißt, daß sie auf das Zeichen selbst gerichtet ist.«14 Der Prager Kreis will sich hauptsächlich der bis dahin vernachlässigten Erforschung der poetischen Sprache zu­wenden.

Jakobson, der bis 1939 eine Professur an der Universität von Brunn innehat, wird als stellvertretender Vorsitzender des Krei­ses zur Verbreitung des strukturalistischen Programms im We­sten beitragen, besonders anläßlich des ersten Kongresses der all­gemeinen Sprachwissenschaft, der vom 10. bis 15. April 1928 in Den Haag stattfindet. Der Prager Kreis kommt mit sorgfältig ausgearbeiteten modernistischen Thesen auf diesen Kongreß. So

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werden auf sein Betreiben die ersten beiden Tage theoretischen Fragen gewidmet: »Zum ersten Mal haben wir den Begriff der strukturalen und funktionalen Linguistik verwendet. Wir haben die Frage der Struktur als zentrale Frage gestellt, ohne die in der Linguistik nichts behandelt werden kann.«15 Jakobson unterhält auch ausgezeichnete Beziehungen zum Kopenhagener Kreis, ge­gründet 1939 von Louis Hjelmslev und Brondal, die beide zu Vorträgen vor dem Prager Kreis eingeladen werden. Umgekehrt findet man übrigens Beiträge von Jakobson in der Zeitschrift des Kopenhagener Kreises, Acta iinguistica, trotz mancher Mei­nungsverschiedenheiten vor allem mit Hjelmslev, der nach Ja­kobsons Auffassung mit seiner Absicht, jegliche lautliche und semantische Substanz aus der Erforschung der Sprache auszuschal­ten, zu weit gehen wolle.

Doch abermals aufgrund historischer Ereignisse, infolge des Einmarschs der Nazitruppen in die Tschechoslowakei im Jahre 1939, muß die Zusammenarbeit des Prager und des Kopenhage­ner Kreises eingestellt werden. Jakobson flüchtet zunächst nach Dänemark, dann nach Norwegen und nach Schweden. Doch die Nazitruppen rücken immer weiter nach Westen vor, so daß Ja­kobson 1941 Europa verlassen und in New York Zuflucht suchen muß, wo er an der École libre des hautes études lehrt. Nun hatte sich 1934 parallel zu den europäischen Zirkeln ein New Yorker Linguistenkreis gebildet. Jakobson kommt also in ein Land, das seinen Thesen gegenüber aufgeschlossen ist, und die Zeitschrift Word, die der Kreis 1945 ins Leben ruft, zählt Jakobson zu den

Mitgliedern ihres Redaktionskomitees. Die erste Nummer stellt übrigens eine Kurzfassung des strukturalistischen Programms dar, denn sie handelt von den Anwendungen der strukturalen Analyse in Sprachwissenschaft und Anthropologie. Da Word sich zum Ziel setzt, die »Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und europäischen Linguisten verschiedener Schulen«16 auszubauen, dürfte klar sein, daß Jakobson einmal mehr zu den Geeignetsten gehört, um ein solches Unterfangen zum Erfolg zu führen.

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Grundlegend und fruchtbar sind die zwanziger bis dreißiger Jahre in Prag. Obgleich der Prager Kreis seine Thesen in eine Saussuresche Perspektive stellt, geht er doch in mehreren Haupt­punkten auf Distanz zu dem Genfer Linguisten. Zunächst einmal faßt der Prager Kreis die Sprache als ein funktionales System auf. Indes, »das Adjektiv funktional führt eine Teleologie ein, die ihm [Saussure] fremd und eher von den Bühlerschen Funktionen an­geregt ist«17. Darüber hinaus rücken die Prager Thesen auch vom Saussureschen Schnitt zwischen Diachronie und Synchronie ab, da sie diese Zäsur nicht als unüberwindliche Schranke ansehen. Jakobson wendet sich wiederholt gegen eine solche Spaltungsli­nie: »Die tatsächliche Synchronie ist dynamisch.«18 Weitreichen­der freilich als jedes Sprachmodell wird den rationalen Kern des Strukturalismus, das Modell der Modelle, die strukturale Phono­logie bilden.

Für diesen streng phonologischen Bereich ist in Prag der beste Spezialist Trubetzkoy, der die zum Standardwerk gewordenen Grundzüge der Phonologie (1939) verfaßt hat. Darin definiert er den Laut über seine Stellung im phonologischen System; die Methode besteht in der Ermittlung der lautlichen Oppositionen über vier distinktive Merkmale: Nasalität, Artikulationspunkt, Labialisierung und Öffnungsgrad. Somit findet sich Saussures Prinzip der pertinenten Differenz wieder, die Suche nach perti-nenten Minimaleinheiten — hier das Phonem. Von Saussure wird das Wegrücken des Referenten und die Suche nach den inneren Gesetzen des Sprachcodes übernommen. Die Phonologie hält sich von jeder außersprachlichen Realität fern. Die von ihr ange­strebte Beschreibung des Lautmaterials mündet bei Jakobson in ein Tableau, worin er sämtliche pertinenten Merkmale anhand von zwölf binären Oppositionen versammelt, die allen Opposi­tionen in allen Sprachen der Welt Rechnung tragen und so den Traum von der Universalität erfüllen sollen, von dem die struktu-ralistische Strömung beseelt ist.19 Kerngedanke des Phonologen bleibt die Suche nach der Invarianz hinter der Variabilität.

98 Die fünfzigerJahre: die epische Epoche

Gleich der formalen Sprache der Mathematik ist der phonema-tische Code für Jakobson von vornherein binär, und zwar von früher Kindheit an. Der Binarismus steht im Mittelpunkt des phonologischen Systems, in dem sich Ferdinand de Saussures dichotomisches Denken wiederfindet. Dem Dualismus des Zeichens zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen entspricht so die Binarität des phonologischen Systems.

Die Öffnung zur Psychoanalyse

Mit seinen Studien über die Aphasie ist es Jakobson insbesondere gelungen, das Anwendungsfeld des phonologischen Modells auf die Psychoanalyse auszudehnen. Er unterscheidet nämlich bei dieser Sprachstörung zwei Abweichungstypen, was die Möglich­keit schafft, die Mechanismen des Spracherwerbs und damit des­sen Eigengesetzlichkeiten nachzuvollziehen und über diese zwei Formen der Dysfunktion klinische Erkenntnisse zu gewinnen. Jakobson stellt die Kombination der Zeichen untereinander ge­gen die Selektion, also die Möglichkeit der Ersetzung eines Terms durch einen anderen. Damit greift er Saussures Opposition zwi­schen Syntagma und Assoziation wieder auf: »Beim ersten Aphasietyp (Ausfall der Selektionsfähigkeit) ist der Kontext ein unentbehrlicher und entscheidender Faktor. [...] Je mehr die Äu­ßerungen vom Kontext abhängig sind, desto besser kommt er mit seiner verbalen Aufgabe zurecht. [...] Es blieb bei diesem Apha­sietyp [...] nur ein Skelett, die Verbindungsglieder der Kommuni­kation, übrig.«20 Diesem Aphasietypus steht derjenige gegen­über, bei dem der Kranke hingegen an einer Kontextschwäche, einer Kontiguitätsstörung leidet, was zum Agrammatismus oder Wortsalat führt. Jakobson verknüpft diese beiden Phänomene mit den zwei großen Figuren der Rhetorik — der Metapher, die bei der ersten Art der Aphasie, also der Similaritätsstörung, aus-

Inspirator und Wegbereiter: Roman Jakobson 99

fällt, und der Metonymie, die bei der Kontiguitätsstörung aus­fällt.

Jacques Lacan, der Jakobson 1950 kennenlernt und zu seinem Intimus wird, greift auf diese Unterscheidung zurück und be­zieht sie, um die Funktionsweise des Unbewußten zu erklären, auf Freuds Begriffe der Verdichtung und der Verschiebung. »Die Phonologie hat solchen Disziplinen, die in einem Bezug zur Sprache stehen, als Modell gedient, lauter Disziplinen, die einen recht schwachen Formalisierungsgrad aufwiesen. Die Phonologie bot ihnen ein System der Formalisierung nach Paaren, nach Op­positionen, das ebenso einfach wie verlockend, weil exportierbar war. Die Phonologie ist der tragende Baustein des Struktura­lismus.«21 Wirkliche Verbreitung indes erfuhr dieses Ende der zwanziger Jahre entwickelte Modell nach dem Zweiten Welt­krieg; und in Frankreich drang es erst Ende der sechziger Jahre in die Institutionen vor. Um diese Zeitverschiebung zu verstehen, muß man sich die Lage der Sprachwissenschaft im Frankreich der fünfziger Jahren vor Augen führen.

Eine heimatlose Disziplin : die Linguistik

In Frankreich erhält der linguistische Aufbruch, wie er sich in Eu­ropa in den dreißiger Jahren manifestiert, recht bald Aufwind, wobei allerdings eine gewisse Schieflage Probleme bereiten wird. Institutionelle Schwerfälligkeiten werden die universitäre Durch­setzung der modernen Linguistik bremsen, und diese wird — er­folglos — das Bollwerk Sorbonne belagern. Es wird eine regel­rechte Einkesselungsstrategie vonnöten sein, um eine Partie zu gewinnen, die sich um so schwieriger gestaltet, als die Mandarine fest etabliert sind.

Der Kreis der französischen Sprachwissenschaftler, aus dem die Persönlichkeit Antoine Meillets herausragt, der über die So­ciété de linguistique sowie ein dazugehöriges Bulletin verfügt, hält sich über die vonstattengehende Revolution durchaus auf dem laufenden. Wenn auch die Informationen ankommen, rüh­ren sie doch kaum an den Beschäftigungen von Forschern, die von ihrer klassischen Aufgabe durchdrungen und in den Schwer­fälligkeiten der Altsprachentraditionen befangen sind. Die Mo­dernität der strukturalen Methoden hat mithin Schwierigkeiten, in ein Milieu vorzudringen, das im Prinzip aufgeschlossen ist und dem — mit Antoine Meillet, Grammont oder Vendryes — auch Saussure-Schüler angehören, freilich mehr vom komparatisti-schen Saussure des ausgehenden 19. Jahrhunderts als vom Saus­sure der GaS geprägte.

Die Universität hingegen ist von solchen Beschäftigungen völlig abgeschnitten, und ihr Schlaf wird trotz wiederholten Wachrütteins noch lange währen. Was die Sprachwissenschaft in Frankreich in den dreißiger Jahren gekennzeichnet hat, ent-

Eine heimatlose Disziplin: die Linguistik 101

spricht bereits recht genau dem, was das Gebäude 1968 zum Ein­sturz bringen wird: die Zentralität. In diesem Bereich scheint die Autorität von Antoine Meillet unangefochten gewesen zu sein. Von einigen Ausnahmen abgesehen, bestimmten damals klassi­sche Maßgaben die Ausbildungsgänge und damit auch die Aus­richtungen. Die Sprachwissenschaftler waren damals vornehm­lich agrégés in Grammatik, also Vertreter einer traditionellen Sprachwissenschaft. Es gibt allerdings untypische Fälle wie Guil­laume, der in der Enklave der Modernität, die die École des hautes études bildet, zahlreiche Schüler um sich scharen wird: »Guillaume ist ein interessanter Fall. Er war eigentlich Bankange­stellter und kam ganz von sich aus auf sprachwissenschaftliche Probleme. Meillet verschaffte ihm von 1919 bis 1920 einen Lehr­auftrag an der École des hautes études.«1 Auch Georges Gougen-heims 1939 erschienene Arbeit Système grammatical de la langue française beschritt ganz neue Wege. Wer jedoch in dieser Zeit das klassische Curriculum der agrégation durchläuft, hat alle Aus­sichten, das in der Sprachwissenschaft aufkeimende strukturale Phänomen zu verpassen.

Hat also die Neuerung es schwer, sich vor dem Krieg durchzu­setzen, wie steht es dann in den fünfziger Jahren ? Frankreichs Rückständigkeit nimmt zu, und zwischen der Sorbonne und den wenigen Stellen, an denen die linguistische Forschung vorange­trieben wird, tut sich nach wie vor eine unüberbrückbare Kluft auf. André Martinet, der Bewegung in die Landschaft hätte brin­gen können, befindet sich bis 1955 in den Vereinigten Staaten. Überdies gerät Frankreich unter anderem durch das Ableben von Antoine Meillet im Jahre 1936 und den Tod von Edouard Pichon 1940 gegenüber dem übrigen Europa und den Vereinigten Staaten noch mehr ins Hintertreffen. Wenn auch der Einzug von R. L. Wagner an der Sorbonne Hoffnung auf Erneuerung schafft, so sind diesem enge Grenzen gesetzt, da er einen Lehrstuhl für Alt­französisch innehat. R. L. Wagner klagt: »Es ist natürlich anor­mal, daß Frankreich das Land in Europa ist, in dem das Studium

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der französischen Sprachwissenschaft bei denjenigen, deren Auf­gabe das Unterrichten des Französischen ist oder sein wird, am wenigsten Anklang findet.«2 Dennoch gibt es vereinzelt Ge­lehrte, die — noch recht isolierte — Pole der Erneuerung bilden. Dies gilt etwa für Marcel Cohen, der an den Langues orientales und den Hautes études Äthiopisch unterrichtet : »Er war schon vor 1950 der für Neuerungen empfänglichste Sprachwissen­schaftler [...]. Cohen ist für mich eine sehr wichtige und anre­gende Leitfigur gewesen.«3

Jene, denen Ende der sechziger Jahre die Durchsetzung des Wandels gelingt, standen damals mehrheitlich bereits mitten in der Ausbildung und hatten somit überwiegend den klassischen Bildungsgang absolviert. Da sind vor allem die Französischabsol­venten, agrégés der Grammatik wie Jean-Claude Chevalier, Jean Dubois oder Michel Arrivé. Für sie kam es erst spät zur Begeg­nung mit der modernen Linguistik, die in ihrer Ausbildung nicht vorkam. Jean Dubois, der seine agrégation in Grammatik 1945 er­hielt, hört erst 1958 von Saussure. Dabei hatte er regelmäßig Lehrveranstaltungen in Philologie besucht, die indes von der all­gemeinen Sprachwissenschaft völlig abgeschnitten war: »Klassi­ker wie ich, die ihre agrégation in Grammatik abgelegt haben, kannten die Linguistik nicht.«4

Dagegen stand, wer kein Französisch studierte, dem Klassizis­mus ferner und konnte die moderne Linguistik entdecken, sei es am Collège de France, an der École des hautes études oder am In­stitut de linguistique. Dies war zum Beispiel bei Bernard Pottier oder Antoine Culioli der Fall. Die Fundamente für die künftige Revolution wurden also in — verglichen mit dem Universitätsbe­trieb — marginalen Enklaven gelegt: »Es reizte mich von Anfang an, Linguist zu werden [...]. Ich begann an der Sorbonne mit ex­perimenteller Phonetik bei Fouché. Ausgebildet habe ich mich vor allem an der École des hautes études: Dorthin ging ich 1944 und die Jahre danach, sehr unregelmäßig dann bis 1955.«5 Hat Bernard Pottier sich schon recht früh an linguistischen Aktivitä-

Eine heimatlose Disziplin: die Linguistik 103

ten und Publikationen beteiligt, so konnte er sich dieses neue Feld als Hispanist erschließen. Und Antoine Culioli kam wie An­dre Martinet als Anglist zur Linguistik.

Mitte der fünfziger Jahre beginnt also eine junge Linguistenge­neration, im Universitätsbereich Fuß zu fassen, dies allerdings noch an der Peripherie, wenn man einmal von Jean-Claude Che­valier absieht, der 1954 zum jüngsten Assistenten der Sorbonne aufrückt. Bernard Pottier wird 1955 Dozent in Bordeaux, Jean Perrot erhält einen Lehrauftrag in Montpellier, Antoine Culioli und Jean Dubois treten am CNRS an. André Martinet kehrt aus den Vereinigten Staaten zurück und übernimmt die Stelle von Michel Lejeune an der Sorbonne. Doch das Zertifikat der allgemeinen Sprachwissenschaft — für dieses Fach ist Martinet zuständig — ist lediglich als Wahlfach zur Erlangung des vierten /icewce-Zertifikats in Fremdsprachen vorgesehen.

Die Peripherie umschließt das Zentrum

Die Druckwelle des Neuen kommt, da sich in Paris nichts tut, aus der Provinz, und schrittweise umschließt der Feldzug vom Lande die Sorbonne, den Schlußstein des französischen Universitätsge­bäudes. Übrigens hat bei dieser Eroberung die Administration eine treibende Rolle gespielt, denn der Direktor des Hochschul­wesens selbst, Gaston Berger, schuf 1955 bis 1956 die ersten sprachwissenschaftlichen Forschungsinstitute innerhalb der Uni­versität.

In Straßburg gründete Gaston Berger das Zentrum für roma­nische Philologie, wo Imbs und später Georges Straka zahlreiche internationale Kolloquien veranstalteten, so daß die französi­schen Linguisten sich über die modernsten Forschungen infor­mieren und mit der Veröffentlichung der Kolloquiumsbeiträge den letzten Forschungsstand bekanntgeben konnten. So findet sich seit 1956 in Straßburg mit den Forschern des Zentrums eine

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internationale Gemeinschaft zum Thema der »aktuellen Tenden­zen der strukturalen Linguistik« zusammen, darunter Georges Gougenheim, Louis Hjelmslev, André Martinet und Knud To-geby.

Ebenfalls Mitte der fünfziger Jahre gründet sein Direktor, Gaston Berger, auch ein Zentrum für Lexikologie in Besançon, wo seit 1950 der Lexikologe Bernard Quémada lehrt. Dieser baut Besançon zu einer besonders aktiven Schaltstelle auf. Er erweitert den lexikologischen Fachbereich zunächst um eine Sprachschule, dann um ein Institut für angewandte Linguistik, das »im Som­mer, häufig acht Wochen lang, bis zu 2200 Lehrgangsteilneh­mer« 6 versammelt. Das Ausbildungszentrum gestattet nicht nur die Verbreitung der neuen Methoden, sondern stellt auch zusätz­liche Mittel bereit, mit denen sich vermehrt Podiumsgespräche veranstalten lassen. Dazu lädt Bernard Quémada die ganze junge Linguistengeneration nach Besançon ein: Henri Mitterand wird sein Assistent, und das Zentrum bekommt Besuch von Algirdas Julien Greimas, Jean Dubois, Henri Meschonnic, Guilbert, Wagner und — als die Mythen des Alltags erscheinen — Roland Barthes. Diese hochgradige Aktivität wird selbstverständlich an der Sorbonne nicht zur Kenntnis genommen, beginnt aber, mit Publikationen auf sich aufmerksam zu machen. Quémada über­nimmt die Leitung der Cahiers de lexicologie, die 1959 in einer Auflage von tausendfünfhundert Exemplaren herausgebracht werden. Diese Zeitschrift richtet sich bereits an ein breites Publi­kum: »Ich war davon überzeugt, daß das Fachgebiet der Lexiko­logie ein Knotenpunkt war, der nicht nur die Linguisten interes­sierte, sondern auch Vertreter vieler anderer Gebiete — Literaturwissenschaftler, Historiker, Philosophen, Militärs.«7

Im Zuge seiner Aktivitäten in Besançon bringt Bernard Quémada, der talentierte Chef des Unternehmens »strukturale Linguistik«, 1960 eine weitere Zeitschrift heraus, Études de linguistique appliquée, wiederum in einer Auflage von tausend­fünfhundert Stück und mit Unterstützung des überregionalen

Eine heimatlose Disziplin: die Linguistik 105

Verlegers Didier. Gaston Bergers Idee, die Sorbonne — die die Gründung solcher Forschungszentren abgelehnt hatte — zu um­gehen, nimmt ihren Weg und ermöglicht dem jungen Assistenten Jean-Claude Chevalier die Aufhebung seiner Isolation an dieser altehrwürdigen Anstalt, indem er sich an den zahlreichen entste­henden Arbeitsgruppen beteiligt. Im CERM [Centre d'étude et de recherche marxiste, A. d. Ü.] sieht er die der KPF angehören­den Linguisten Jean Dubois, Henri Mitterand und Antoine Cu-lioli wieder, und er reist öfter nach Besançon: »Wir sahen uns dort alle in den Ferien; da waren dann Barthes, Dubois, Greimas usw. Dort erfuhren wir auch Neuigkeiten von den amerikani­schen Kollegen.«8

Während sich in den Kreisen der Sprachwissenschaftler ein ge­wisser Aufbruch bemerkbar macht, dringen die strukturalen Me­thoden ungleich schwerer zu den Literaturwissenschaftlern vor, die im Kernbereich der klassischen Humaniora stehen und jeg­liche Evokation logischer oder wissenschaftlicher Ordnung im literarischen Feld für zutiefst unangebracht halten: »Paradoxer­weise kann man sagen, daß gerade die systematische Überbewer­tung der Literatur, des bevorzugten und ausschließlich in Form der Literaturgeschichte vermittelten Gegenstands des Sekundar­und Universitätsunterrichts vor 1955/60 die Erneuerung durch eine wirkliche Reflexion verhindert hat.«9

Allerdings finden sich auch auf dem Gebiet der Analyse litera­rischer Texte ein paar einzelgängerische Neuerer wie R Guiraud, der 1960 zum Lütticher Kolloquium zur modernen Literatur ei­nen Vortrag mit dem Titel »Für eine Sémiologie der poetischen Äußerung« beigesteuert hat. Leo Spitzer, gleichfalls Teilnehmer dieses Kolloquiums, unterscheidet drei Gründe für die französi­sche Verzögerung: erstens die Beschränktheit der französischen Akademiker, die die Arbeiten der russischen Formalisten, der an­gelsächsischen Neuen Kritik sowie der deutschen Forschung nicht zur Kenntnis nehmen; zweitens das Übergewicht der gene­tischen Studien, der traditionellen Literaturgeschichte; drittens

106 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

die verschulte, didaktische Praxis der Textexplikation. Diesen drei Gründen fügt Philippe Hamon einen vierten hinzu: »Eine beinahe gänzliche Unkenntnis der Linguistik als autonomer Disziplin.« 10 Man muß folglich warten, bis sich die Linguistik durchgesetzt hat, ehe ein neuer Ansatz der Literaturbetrachtung zustande kommt. Dies geschieht nicht vor 1960, abgesehen allerdings von wichtigen Einzelfällen wie Roland Barthes, der die beiden Disziplinen mit unmittelbarem und spektakulärem Erfolg zusammengeführt hat: »Ich erinnere mich an Gespräche mit Ro­land Barthes in den fünfziger Jahren, wo er sagte, daß man unbe­dingt Saussure lesen müsse.« n

Der Durchbruch in Frankreich : André Martinet

In den fünfziger Jahren überragt eine Persönlichkeit die Lingui­stik in Frankreich — André Martinet. Agrégé in Grammatik, wird ihm 1928 der interessante Vorschlag von Vendryes gemacht, Jes-persens Language zu übersetzen. Dieses Vorhaben führt ihn nach Dänemark, wo er Jespersen und Hjelmslev begegnet. 1933 veröf­fentlicht er seinen ersten Artikel im Bulletin de la société de lin­guistique und wirkt bereits als Neuerer in seinem künftigen Spe­zialgebiet, der Phonologie. 1936 wird er von den Travaux du Cercle linguistique de Prague verlegt und arbeitet mit Trubetzkoy zusammen. Martinet nimmt also aktiv an der Erneuerung der eu­ropäischen Linguistik der dreißiger Jahre teil, was ihm 1937 die Berufung auf einen neuen, für ihn geschaffenen Lehrstuhl der Phonologie an der École des hautes études einträgt.

Indes wird ihn Krieg ins Exil führen, doch nicht 1941, wie Ja­kobson, sondern 1946, denn paradoxerweise ist es die Befreiung, die ihn zur Abreise nötigt. Nicht, daß er sich etwas vorzuwerfen gehabt hätte, er war sogar Gefangener der Deutschen gewesen, aber er hatte eine Schwedin geheiratet, die mit den Deutschen kol-laboriert hatte, so daß er sich von seinen familiären und heimatli-

Eine heimatlose Disziplin: die Linguistik 107

chen Wurzeln lösen mußte. In New York empfängt ihn der Exu­lant Roman Jakobson. Martinet übernimmt sodann eine beson­ders wichtige Aufgabe, die Herausgabe der größten sprachwis­senschaftlichen Zeitschrift der Vereinigten Staaten: Word, die Zeitschrift des New Yorker Linguistenkreises. Durch Zufall war Martinet an eine Nahtstelle im Zentrum Europas gekommen, als dieses die Avantgarde bildete. Jetzt kann er an der Seite Jakobsons die Brücke zur angelsächsischen Linguistik schlagen, denn er un­terrichtet von 1947 bis 1955 am sprachwissenschaftlichen Seminar der New Yorker Columbia University, dessen Direktor er ist.

Als er 1955 nach Frankreich zurückkehrte, war er daher in Lin­guistenkreisen weltbekannt. Der Empfang, den man ihm dort be­reitete, zeigt, welch marginale Bedeutung man der Linguistik sei­nerzeit zumaß. »Bei seiner Ankunft in Frankreich war er in einer schwierigen Lage. Ich erinnere mich noch sehr gut — ich war da­mals Assistent an der Sorbonne —, daß er den Literaturwissen­schaftlern und Historikern dort als mißliebiger und skandalöser Erneuerer erschien, als ein Anti-Humanist, den es herauszudrän­gen galt.« n Trotz seines Ansehens muß Martinet in Wut geraten sein und mit der Niederlegung seines Amtes gedroht haben, falls er nicht zum ordentlichen Professor an der Sorbonne ernannt würde. Im Ankunftsjahr gibt er auch sein Hauptwerk, Économie des changements phonétiques, heraus. Darin tritt er für einen lin­guistischen Ansatz ein, der dynamischer erscheint als Saussures Auffassung und vom Prager Kreis die Betonung der Kommuni­kationsfunktion der Sprache übernimmt: »Das kommt aus Prag. Der große Gedanke ist der der Pertinenz. Jede Wissenschaft gründet sich auf eine Pertinenz. Eine Wissenschaft kann sich nur dann unabhängig von einer Metaphysik entwickeln, wenn man sich auf einen Aspekt der Realität allein konzentriert. [...] Da die Linguistik nun einmal der Kommunikation dient, sind wir im­stande zu wissen, wonach der Linguist suchen muß. [...] Es hat keinen Sinn, in der Linguistik Strukturalismus zu betreiben, wenn dies nicht funktional geschieht.«13

108 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Martinet konzentriert also seine Untersuchung auf die von der Sprache (langue) ermöglichten Wahlen, und zwar zunächst von einem syntagmatischen Ansatz ausgehend, der es erlaubt, das In­ventar der Möglichkeiten festzulegen, ehe man in einem zweiten Schritt die paradigmatische Analyse angeht. Wenngleich Martinet die linguistische Untersuchung für das Soziale öffnet, indem er die Kommunikationsfunktion als ihre eigentliche Identität be­trachtet, trennt ihn doch seine restriktive Festlegung der Eigenart der linguistischen Arbeit, die im Studium der Sprache durch und für sich selbst besteht, scharf von den anderen Sozialwissenschaf­ten und begrenzt ihn auf das enge Terrain des Beschreibens der Funktionsweisen der Sprachen. Martinet bemüht sich also um die Eingrenzung der distinktiven Grundeinheiten der Sprache, die er als Moneme (Einheiten der ersten Gliederung) und Phoneme (Einheiten der zweiten Gliederung) bezeichnet. Diese Beschrei­bungsregeln kodifiziert er in den Grundzügen der allgemeinen Sprachwissenschaft, die international zum Bestseller der sechziger Jahre werden.14

Ein unkonventioneller Werdegang : André-Georges Haudricourt

Ein weiterer großer französischer Linguist, ein Autodidakt im wesentlichen, zeugt mit seinem recht wechselhaften Werdegang und seiner ständigen Außenseiterstellung von den Schwierigkei­ten der Linguistik, in Frankreich Wurzeln zu schlagen, und von den Dürrezeiten, die sie durchmachen muß, um sich zu entwik-keln. Die Rede ist von André-Georges Haudricourt, von dem der Prager Kreis 1939 einen Artikel zur Phonologie herausbrachte, im Vergleich zu unseren klassischen Grammatikern eine eigenar­tige Persönlichkeit. Bis vierzehn setzt er keinen Fuß in die Schule, sondern lebt auf dem Bauernhof der Familie im Pikardischen, ab­seits der urbanen Welt. Die Rechtschreibung erlernt er bei der

Eine heimatlose Disziplin : die L inguistik 109

Witwe des Schullehrers aus dem Nachbarort und besteht sein Abitur beim siebenten Anlauf, um dann ein Studium der Agro­nomie aufzunehmen; 1931 wird er Diplomlandwirt, aber diese Wissenschaft ist ihm auf immer verleidet. Drei Persönlichkeiten werden ihm viel bedeuten: Marcel Mauss, »der mich gebändigt hat«15, Marc Bloch, der 1936 in den Annales seinen ersten Artikel publiziert, und Marcel Cohen, sein Lehrmeister, der zu seinem Freund wird. Als Cohen in den Maquis geht und seine Biblio­thek, um sie vor den Deutschen zu retten, Haudricourt vermacht — »>Holen Sie sich die Bücher, die Sie gebrauchen können.< Ich ging dann mit Weidentaschen nach Viroflay, um diese Bücher zu holen«16 —, legt der künftige Linguist seine Vorräte an.

Von nun an verlegt er sich von der Botanik auf die Sprachwis­senschaft, wechselt das Fachgebiet am CNRS. Haudricourt sie­delt sich in der Nachfolge von Antoine Meillet an : »Die Lingui­stik habe ich bei Meillet erlernt.«17 Aber er erkennt keinerlei wissenschaftliche Autorität an, weder bei Saussure — »diesem ar­men alkoholkranken Schweizer, der am Delirium tremens starb, wie grotesk!« — noch bei Jakobson, »diesem Hanswurst aus Moskau, sehr sympathisch, der aber das Blaue vom Himmel er­zählte« 18. Haudricourt selbst bleibt Komparatist und steht, wie Meillet, einem historischen Verfahren sehr nahe.

Mit André Martinet teilt er eine funktionalistische und dia­chronische Sprachauffassung. Wo Martinet zahlreiche Doktorar­beiten über die afrikanischen Sprachen betreut hat, hat Haudri­court die Rekonstruktion vieler asiatischer Sprachen ermöglicht. Aus seinem Interesse für Botanik wie Linguistik gewinnt er einen konkreten Zugang zur Sprache und stellt sich gegen den vom Sozialen abgeschnittenen logisch-mathematischen Formalismus. Haudricourt, diese Persönlichkeit außerhalb der Norm, betrach­tet sich als Erfinder der Phonologie: »Martinet wäre fuchsteu­felswild, aber, verstehen Sie, die Phonologie habe ich selber er­funden.« 19 Der Linguistik in Frankreich fehlt es also durchaus nicht an Pionieren, und doch bleibt sie mangels ausreichend soli-

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der wissenschaftlicher und institutioneller Legitimation in den fünfziger Jahren eine Randerscheinung. Dieser Rückstand erklärt die Fieberhaftigkeit, die später an den Tag gelegt wird, und auch eine gewisse Leichtgläubigkeit bei der Entdeckung von Theorien, die man mit der Äußerung des Allermodernsten identifiziert, während sie häufig schon dabei sind, überholt zu sein.

Die Tore von Alexandria

Zwar bleibt die Sorbonne in den fünfziger Jahren ein uneinnehmba­res Bollwerk, aber die Erneuerungen brechen sich auf gewundenen Wegen Bahn. So muß man sich bis ans Tor des Orients, nach Alexan­dria begeben, um einen der wichtigen Drehpunkte des struktu-ralistischen Paradigmas zu finden. Dort lebt der bedeutende, aus Litauen stammende und in Frankreich ausgebildete Sprachwis­senschaftler Algirdas Julien Greimas. Er wurde 1917 geboren und kam vor dem Krieg zum Studium der Philologie nach Grenoble. Seine Hochschullehrer sind Statthalter einer klassischen, Saussures Thesen gegenüber feindseligen Sprachwissenschaft. Einer der ihren, Durrafour, versteigt sich 1939 gar dazu, Trubetzkoy mit Tino Rossi zu vergleichen, um seiner mit zahlreichen Amerikanern durchsetz­ten Hörerschaft die Bedeutung des Bestimmungsworts »con« [hier: »Trottel«, A.d.Ü.] zu verdeutlichen. Doch Greimas behält diese Aneignung der sprachwissenschaftlichen Methoden des 19. Jahr­hunderts in ausgezeichneter Erinnerung. Anschließend muß er zu­rück in sein Heimatland, wo er zunächst unter russischer, dann un­ter deutscher Besatzung die Kriegszeit verbringt. 1945 findet er den Weg nach Frankreich zurück, um dort sein Doktorat abzulegen. Ihn erbittert die schwache Dynamik der Sprachwissenschaft in Paris, weshalb er dem Großteil der Lehren keine Beachtung mehr schenkt und sich seiner von Charles Bruneau betreuten Dissertation über das Vokabular der Mode widmet. Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit bildet sich in Paris ein kleiner Zirkel mit Algirdas Ju­lien Greimas, Georges Matoré und Bernard Quémada, der Saus­sures Werk entdeckt und es sich mit dem Ziel erarbeitet, eine neue Disziplin, die Lexikologie zu gründen.

112 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

1949 wird Greimas Lektor in Alexandria. »Es war eine große Enttäuschung. Ich dachte, wir würden die Bibliothek vorfinden, aber da war gar nichts!«* Doch aus der ägyptischen Wüste geht eine tatkräftige Gruppe um Greimas und Charles Singevin her­vor. Mangels Büchern versammelt sich von 1949 bis 1958 eine Zehnerschar europäischer Forscher mindestens einmal wöchent­lich um eine Flasche Whisky. Aber »worüber wollen Sie mitein­ander reden, wenn Sie einen Philosophen, einen Soziologen, einen Historiker und einen Sprachwissenschaftler versammelt haben: Einziges denkbares gemeinsames Thema ist die Episte-mologie. Ich erinnere mich, daß ich das Wort aufgebracht habe, denn anfangs machte man sich über mich lustig, weil keiner rich­tig wußte, was es bedeutete. In Mode war die Phänomenologie. Man betrieb die Phänomenologie von egal was.«2

Nun kommt es in Alexandria zu der entscheidenden Begeg­nung zwischen Greimas und dem künftigen Star des Strukturalis­mus, Roland Barthes, aus der eine enge Einvernehmlichkeit und Freundschaft erwächst. Greimas rät Barthes, der zum gleichen Zeitpunkt nach Ägypten gekommen ist, Saussure und Hjelmslev zu lesen. Seinerseits gibt Barthes Greimas den Anfang dessen zu lesen, was einmal Micheletpar lui-même werden wird: »>Ausge-zeichnet<, meint Greimas dazu, >aber Sie könnten Saussure gut gebrauchend >Wer ist Saussure ?<, fragt Barthes. >Was, Sie kennen Saussure nicht? Das ist ja unmöglich<, erwidert Greimas ent­schieden.«3 Zwar kann sich Barthes wegen seiner Lungenpro­bleme nicht länger in Alexandria aufhalten, aber die Taste ist an­geschlagen, und Greimas, der jeden Sommer nach Paris fährt, verliert seinen Freund Barthes nicht aus den Augen. Im übrigen übt er auf ihn einen so weitreichenden Einfluß aus, daß Charles Singevin sagen konnte : »So wie der heilige Paulus ein Damaskus­erlebnis hatte, hatte Barthes ein Greimaserlebnis.«4 Greimas ist also für die moderne Linguistik gewonnen und sieht sich in der Tradition des von Saussure gezogenen Schnitts. Besonders at­traktiv sind für ihn in dieser Hinsicht die Arbeiten des Kopenha-

Die Tore von Alexandria 113

gener Linguistenkreises, namentlich die Hjelmslevs, den er als einzigen treuen Nachfolger der Lehren des Genfer Meisters be­zeichnet hat : »Der wahre, vielleicht der einzige Weiterentwickler Saussures, der seine Absichten zu verdeutlichen und auszufor-mulieren wußte.«5

Die Nachfahren Hjelmslevs

Greimas sieht also in Hjelmslev in mehrfacher Hinsicht den wahren Begründer der modernen Linguistik: wegen seiner sehr engen Auslegung der Sprache {langue), die auf einen Bauplan re­duziert wird, wegen seiner Verschärfung des Saussureschen Schnitts, wegen der ausgeprägteren Axiomatisierung seines Ver­fahrens, aber auch wegen seines Bestrebens, die Methode auf ein weitgestecktes semiotisches Feld auszudehnen, das über das Ter­rain der Linguistik im strengen Sinne hinausgeht. Hjelmslev defi­niert eine neue Disziplin, die er Glossematik nennt und die er in die Tradition Saussures stellt. Er betont die Ausgrenzung jeder außersprachlichen Realität, um die Anstrengung des Linguisten auf das Erforschen einer Struktur zu konzentrieren, die der inne­ren Ordnung der Sprache zugrunde liegt und von jeder Referenz auf die Erfahrung unabhängig ist.

Hjelmslev definiert sein Projekt 1943 in den Prolegomena to a Theorie ofLanguage, aber in Frankreich liegt das Werk erst 1968 übersetzt vor. Unterdessen finden dort seine Gedanken vor allem durch Greimas und Barthes Verbreitung. Hjelmslev modifiziert Saussures Termini, indem er die Differenz von Signifikant und Si­gnifikat in Ausdruck (Signifikant) und Inhalt (Signifikat) umfor­muliert. Diese semantischen Verschiebungen gehorchen dem Wunsch, die beiden Analyseebenen voneinander zu trennen, so daß die Struktur als von dem trennbar gedacht werden kann, was sie strukturiert, und sich damit auf eine rein formale Ebene brin­gen läßt: »Allein durch die Typologie erhebt sich die Linguistik

114 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

zu ganz allgemeinen Gesichtspunkten und wird zu einer Wissen­schaft.« 6

Mehr als bei Saussure spielt hier das Modell der Mathematik im Streben nach Wissenschaftlichkeit eine zentrale Rolle. Die je­dem sprachlichen Text zugrundeliegende Struktur muß durch Abstraktion wiedergefunden werden, anhand eines Codes, der eine Kombination von Assoziationen, von Kommutationen ist. Die Glossematik nimmt sich die logischen Theorien zum Modell und läuft damit Gefahr, die Linguistik als allgemeine Epistemolo-gie und Sonderfall eines globalen logischen Verfahrens unverse­hens auf eine Ontologisierung der zugrundeliegenden Struktur zugleiten zu lassen: »Es ist nicht deutlich zu erkennen, ob diese Algebra zur hypothetisch-deduktiven Stufe der Untersuchung gehört oder ob sie Teil der Funktionsweise der Sprache selbst ist.«7 Die von Hjelmslev aufgestellten logischen Reduktionsprin­zipien tragen vorerst zum Erfolg des Formalismus in Europa bei, ob in Deutschland mit der Entdeckung des Barock, in Frankreich mit der Entdeckung der romanischen Kunst durch Focillon oder in Rußland mit Propp : Ein und dieselbe Episteme verbindet alle diese formalen Untersuchungen. Später erfährt Hjelmslev weite Verbreitung in Frankreich, wo die »linguistische Fata Morgana« und der wissenschaftliche Ehrgeiz in den Humanwissenschaften während der sechziger Jahre besonders verbreitet sind. Von der umfassendsten Konzeptualisierung, der des Wiener Kreises mit Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein, her, verfiel man rasch auf den Gedanken einer möglichen Mathematisierung des Ge­samtfeldes der Wissenschaften vom Menschen. Hjelmslev hat dieser einigermaßen illusorischen Hoffnung durch eine immer stärkere mathematische Reduzierung des linguistischen Sachver­halts Nahrung gegeben, indem er postulierte, daß jede andere Realität als die der innersprachlichen Beziehungen aus einer »me­taphysischen Hypothese [rühre], von der sich zu befreien für die Sprachwissenschaft nützlich sein wird«8. Hjelmslev hat die Logik der Abstraktion bis ans Ende, bis in die Errichtung einer in sich

Die Tore von Alexandria 115

geschlossenen Scholastik getrieben — und eben diese Ausrich­tung hat sich offensichtlich durchgesetzt.

Doch wurden im Kopenhagener Kreis auch andere Auffas­sungen vertreten. Viggo Brondal, Hjelmslevs feindlicher älterer Fachgenosse, bietet zum gleichen Zeitpunkt eine etwas andere Orientierung einer gleichwohl auf Strenge, auf Struktur bedach­ten Linguistik, die jedoch »gleichzeitig der Geschichte und der Bewegung offensteht: Es gab bei ihm einen ganzen dynamischen Teil, der darauf abhob, daß die Sprachtatsachen in ihrer Entwick­lung und nicht innerhalb eines geschlossenen Systems begriffen werden mußten.«9 Das System der innersprachlichen Beziehun­gen reicht nach Brondal nicht aus, um die erschöpfende Erfas­sung zu leisten, die Hjelmslev mit einem rein immanenten Ansatz zu erreichen gedachte. Im Gegenteil ist Totalität, wie bei Benvé-niste, für Brondal ein offener Begriff. Indes, »es gibt Perioden, in denen die härtesten Auffassungen den Sieg davontragen, und das war bei Hjelmslev gegenüber Brondal der Fall«10. Zwar verläuft die Hjelmslevsche Rezeption unbestreitbar über Greimas, für den alles von der Glossematik ausgeht, aber André Martinet hatte Hjelmslev bereits Anfang der dreißiger Jahre kennen­gelernt, als er Jespersen in Kopenhagen aufsuchen mußte : »Wir sind bis zu seinem Tod in Kontakt geblieben.« n Anfangs unter­hielten die beiden sogar recht enge Verbindungen, und Martinet riet Hjelmslev 1935 auf dem Londoner Phonetik-Kongreß, wo dieser seine Thesen als »Phonematik« vorstellte, eine andere Be­zeichnung zu wählen : »Ich habe ihm gesagt, nein, mein Lieber, das kann keine Phonematik sein, weil es dabei nicht um Substanz geht. Es darf nichts mit >Phon< dabeisein. [...] Im Jahr darauf hat er es dann Glossematik genannt. [...] Ich bekam seine Arbeit nach dem Krieg und habe Blut und Wasser geschwitzt, um sie zu be­greifen.« 12

Martinet, der Erbe der Prager Schule, gegen die Hjelmslev, der Trubetzkoy haßte, eine andere Theorie aufzustellen versucht hat, konnte diesen antifunktionalistischen Auffassungen nicht bei-

116 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

pflichten. Nichtsdestoweniger stellte er Hjelmslevs bis zu ihrer späten Übersetzung unbekannt gebliebene Thesen an der Sor­bonne vor. Er spielte also paradoxerweise eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Hjelmslevs Werk, dem er indes in keiner Weise anhing: »Die Übersetzung der Prolegomenakam spät. Erst 1968 bekamen wir Zugang zum Text auf französisch. Ich erfuhr zum ersten Mal von dem Buch durch die Besprechung, die Marti­net darüber geschrieben hatte«13, bezeugt Serge Martin14, der die Hjelmslevschen Prinzipien auf den Bereich der Musiksemiotik anwendet: die Entleerung von jeglichem transzendenten Ele­ment und die Konstruktion von Klassen in schichtweiser Rang­ordnung, die für die Gesamtstruktur konstitutiv sind.15

Die »Mutter« des Strukturalismus : Roland Barthes

1953 findet ein Buch einhellige Aufnahme und wird bald Sym­ptom eines neuen literarischen Anspruchs, Akt des Bruchs mit der Tradition und Ausdruck eines tiefen, aus Camus' Fremdem genährten Gefühls der Ausweglosigkeit: Am Nullpunkt der Lite­ratur von Roland Barthes. Dieser ist nach seiner Begegnung mit Greimas in Alexandria nicht mehr der Sartrianer, der er in der un­mittelbaren Nachkriegszeit war, allerdings auch noch nicht der Linguist, der er Ende der fünfziger Jahre sein wird. Man kann be­reits erkennen, was ihm die große Anhängerschaft eintragen wird — seine Beweglichkeit, seine Geschmeidigkeit im Umgang mit Theorien: So flink er sie sich zu eigen macht, so schnell löst er sich auch wieder von ihnen.

Roland Barthes stellt als mythische Figur des Strukturalismus dessen biegsame und feinsinnige, mehr zur Anwandlung als zur Strenge neigende Verkörperung dar. Er ist gewissermaßen sein bestes Barometer, gleichermaßen fähig, gegenwärtige atmosphä­rische Schwankungen zu registrieren wie künftige vorauszuah­nen. Diese äußerste Sensibilität findet ihr Ausdrucksmittel im Rahmen von Strukturen; doch handelt es sich dabei um eine schillernde Struktur, eher eine Kosmogonie, in der sich die Welt der innigen Beziehung zum Bild der Mutter verkörpert, als eine binär gegliederte Struktur, die wie eine unerbittliche Mechanik funktioniert. Barthes bildet so etwas wie einen feinfühligen Seis­mographen des Strukturalismus. Alle Stimmen und Stränge des Paradigmas werden bei ihm über eine subtile, intertextuell ver-wobene Schreibweise hineinspielen. Die bloße Durchsicht der Bezugnahmen in seinen Texten führt diese Schnittstellenposition

118 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

vor Augen. Als regelrechter Magnet zwischen den verschiedenen Strukturalismen ist Barthes beliebt, denn in ihm äußert sich mehr als ein methodologisches Programm; er zentriert seine Zeit, ist eine Belichtungsplatte mit vielen Farbwerten. Das Reich der Zei­chen pflanzt sich bei ihm in einem Reich der Sinne fort, und der Mutterfigur, die er verkörpert, läßt sich deren binäre Kehrseite entgegenstellen in Gestalt des père-sévère, des strengen »Vaters« des Strukturalimus : Jacques Lacan. [Anspielung auf Lacans be­rühmtes psychoanalytisches Wortspiel: »je père-sévere« = »ich strenger Vater« bzw. »ich beharre«, A.d.Ü.]

Der Nullpunkt

Mit dem Nullpunkt der Literatur schwimmt Barthes mit der for­malistischen Strömung, indem er sich für die Ethik einer von allen Zwängen befreiten Schreibweise ausspricht: »Meine Absicht ist hier, diese Verbindung zu skizzieren, zu zeigen, daß es eine for­male Wirklichkeit gibt, die unabhängig von Sprache und Stil ist.«1

Barthes greift Sartres Thema der durch den Akt des Schreibens erlangten Freiheit auf, stellt es jedoch in ein neues Licht, indem er das Engagement, das das Schreiben bedeutet, nicht im Inhalt des Geschriebenen, sondern in seiner Form ansetzt. Vom Stand des Mittels geht die Sprache in den des Zwecks über, in dem die wie­dererlangte Freiheit erkannt wird. Nun steht aber die Literatur an einem zurückzuerobernden Nullpunkt zwischen zwei Formen von Vereinnahmung, nämlich durch die Auflösung in der Alltags­sprache, die aus Gewohnheiten und Vorschriften besteht, und durch die Stilistik, die auf eine autarke Daseinsweise verweist und damit auf eine Ideologie, die den Autor für von der Gesellschaft abgeschnitten und zu einer Splendid isolation verurteilt ausgibt.

Bei Barthes trifft man wieder auf das Thema, das der moder­nen Linguistik ebenso eignet wie der strukturalen Anthropolo­gie, das vom Vorrang des Tausches, der Urbeziehung, die von ei-

Die »Mutter« des Strukturalismus: Roland Barthes 119

nem Nullpunkt ausgehen muß, der nicht durch seinen empiri­schen Inhalt definiert ist, sondern gerade dadurch, daß er es dem Inhalt ermöglicht, eine relationale Position überhaupt erst einzu­nehmen. Es ist dieselbe Suche nach dem Nullpunkt der Ver­wandtschaft bei Lévi-Strauss, dem Nullpunkt der linguistischen Einheit bei Jakobson und dem Nullpunkt des Schreibens bei Barthes: die Suche nach einem Pakt, nach dem Anfangsvertrag, der hier das Verhältnis des Schriftstellers zur Gesellschaft be­gründet. Allerdings hat Barthes 1953 noch keine tragfähige struk-turalistische Ausrüstung. Gewiß, er ist den Ratschlägen gegen­über aufgeschlossen, die ihm Greimas auf diesem Gebiet erteilt, und er weiß schon manches von Brondal und Jakobson; aber das sind für ihn nur Kuriositäten unter anderen. Es ist Barthes' dama­lige Hauptmotivation, die Masken aufzuspüren, unter denen die Ideologie in Gestalt des literarischen Ausdrucks auftritt. Auch später und auf andere Gegenstände bezogen ist diese Ausrich­tung ein konstanter Parameter seiner Arbeit geblieben.

Am Nullpunkt der Literaturverdankt seinen Erfolg der Tatsa­che, daß es an einer neuen literarischen Sensibilität teilhat, an ei­ner Forderung, die künftig im sogenannten Nouveau roman zu­tage tritt, an einer neuen Stilistik außerhalb der traditionellen Normen des Romans. Es gibt also in Barthes' Äußerungen eine manifeste Seite, aber auch Anklänge von Verzweiflung angesichts einer von jeder tauglichen Sprache abgeschnittenen Suche nach einer neuen Schreibweise, die die Ausweglosigkeit aller Schreib­formen nach dem Endpunkt zu besagen scheint, an den Proust den Roman geführt hat. Das Buch, erschienen 1953 bei Seuil, fin­det übrigens die Anerkennung der Kritik. Maurice Nadeau wid­met ihm acht Seiten in den Lettres nouvelles. Er schließt seinen Artikel mit einer Lobeshymne auf den jungen Autor, den er bereits 1947 entdeckt hatte: »Ein Werk, dessen Anfänge man begrüßen muß. Sie sind beachtlich. Sie kündigen einen Essayisten an, der heute von allen anderen absticht.«2 Jean-Bertrand Ponta-lis feiert in den Temps Modernes vor allem die Geburt eines

120 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Schriftstellers: »Unter uns ist ein großer Schriftsteller auf andere Weise anwesend denn als die Lebenswelt, als Wirtschaftsorgani­sation oder gar eine Ideologie.«3

Barthes läßt in seinem Buch alle entfremdeten Schreibweisen Revue passieren : Der politische Diskurs »kann nur eine Welt der Polizeiherrschaft bestätigen«, die intellektuelle Schreibweise ist zur »Para-Literatur«4 verurteilt, und der Roman ist charakteristi­scher Ausdruck bürgerlicher Ideologie mit ihrer angemaßten Universalität, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zusam­mengebrochen ist, um einer Vielheit von Schreibweisen Platz zu machen, durch die der Schriftsteller seinen Ort gegenüber der bürgerlichen Lebensform bestimmt. Doch diese Vielheit, diese Dekonstruktion des Universalen ist immer nur Ausdruck einer Periode, die nicht mehr von der historischen Dialektik vorange­tragen wird : »Die Modernität gibt mit der Vielfalt ihrer Schreib­weisen die Sackgasse ihrer eigenen Geschichte zu erkennen.«5 In­sofern der Schöpfer die bestehende Ordnung stören muß und sich dabei nicht mehr damit begnügen kann, seine Partitur zu ei­ner schon empfangsbereiten Orchesteraufstellung beizusteuern, bleibt ihm nur, um mit dem Bestehenden zu brechen, das Schwei­gen zu schreiben : Er muß »eine neutrale Schreibweise schaffen«6. Barthes führt Prousts Suche nach der verlorenen Zeit fort und verlegt sie in die Suche nach einem Nicht-Ort der Literatur: »Die Literatur wird zur Utopie der Sprache.«7 Aus dieser Suche er­wächst sowohl eine neue Ästhetik, wie auch Barthes sich aus ihr heraus der Unmöglichkeit bewußt wird, als Schriftsteller [im her­kömmlichen Sinne, A. d. Ü.] zu schreiben, und eine theoretische Begründung des Schreibers als Schriftsteller der Modernität skiz­ziert.

Die »Mutter« des Strukturalismus: Roland Barthes 121

Wegmarken

Bei seiner Suche nach einem Nicht-Ort spürt Roland Barthes persönlich nichtsdestoweniger eine tiefe Verwurzelung, die ihn auf seine mit der Mutter in der südwestfranzösischen Stadt Ba-yonne verlebte Kindheit zurückverweist. Diese sehr dichte Peri­ode entfaltet sich rund um die abwesende Figur des Vaters, der noch kein Jahr nach Barthes' Geburt im Ersten Weltkrieg gefallen war. Diesen Mangel kompensiert er durch eine Überbesetzung des Mutterbildes: »In einer Gefühlsbeziehung, sei sie freund­schaftlich oder eine der Liebe, simuliert man immer einen gewis­sen mütterlichen Raum, der ein Raum der Geborgenheit, ein Raum der Gabe ist.«8 Mit zehn Jahren zieht Barthes mit seiner Mutter »hoch« nach Paris, ins Quartier Saint-Germain-des-Prés; hier geht Roland im Lycée Montaigne und im Lycée Louis-Le-Grand zur Schule und nimmt 1935 ein Studium der klassischen Literatur an der Sorbonne auf. Gleichzeitig gründet er mit Jacques Veille das Théâtre antique der Sorbonne, das unter anderem am Tag des Sieges der Volksfront, dem 3. Mai 1936, eine Vorstel­lung der Perser von Aischylos gibt. Den Krieg verbringt er bettlä­gerig in einem Sanatorium bei Grenoble, in Saint-Hilaire-du-Touvet. Bei Kriegsende ist Barthes Sartrianer — »wir entdeckten Sartre mit Leidenschaft«9 — und zugleich Marxist. Denn im Sana­torium hat er den trotzkistischen Typographen Georges Fournie kennengelernt, einen Freund von Maurice Nadeau, der ihm den Marxismus nahebringt. Aufgrund seiner Lungenkrankheit und der erforderlichen Behandlung ist es ihm nicht möglich, die agré­gation zu durchlaufen. Die klassische Universitätslaufbahn ist ihm also verschlossen, und er schlägt, dank Maurice Nadeau, der ihn mit Artikeln für den Combat beauftragt, den journalistischen Weg ein.

Dieser Umweg in räumlicher (Barthes reist 1948 nach Rumä­nien, 1949 nach Ägypten und kehrt erst 1950 nach Paris zurück) wie in institutioneller Hinsicht (er steht außerhalb der klassi-

122 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

sehen universitären Laufbahn) wird zwei wichtige Auswirkungen haben: zum einen die bereits geschilderte Begegnung mit Grei-mas in Alexandria und zum anderen das fortwährende drängende Verlangen, mit der Universität abzurechnen, sein stets geäußerter Wille, ihre Anerkennung zu finden, ein Wille, der um so heftiger ist, als Barthes es schlecht erträgt, nur licencié zu sein; er wird sich erst inthronisiert fühlen, da er, 1976, ins Collège de France einzieht. Er führte einen endlosen Kampf mit sich selbst, Louis-Jean Calvet gestand er : »Wissen Sie, jedes Mal, wenn ich ein Buch herausbringe, ist es eine Doktorarbeit.«10 Auch mit der langwäh­renden Unsicherheit seiner institutionellen Stellung durchlebt Barthes das strukturalistische Abenteuer; sein Fall gleicht dem der meisten Strukturalisten, die einen Bogen um die Sorbonne machen mußten, um sich durchzusetzen.

Mythen des Alltags

Zwei Jahre lang, von 1954 bis 1956, schickt Barthes Maurice Na-deau monatlich einen Artikel für Les Lettres nouvelles. Darin geht er regelmäßig der Abtragung zeitgenössischer Mythen nach, ei­ner Ideologiekritik der Massenkultur, die sich in Frankreich im Zuge des Wiederaufbaus und der trente glorieuses auszubreiten beginnt. Barthes wendet sich sarkastisch gegen das, was er als kleinbürgerliche Ideologie bezeichnet, die sich in den von den immer gewichtigeren Medien transportierten Geschmäckern und Werten äußert. Diese kleinbürgerliche Ideologie, mit der Barthes ins Gericht geht, birgt nach seiner Auffassung eine im wesentli­chen ethische Bedeutung und ist im Sinne Flauberts ein zugleich sozialer, ethischer und ästhetischer Begriff: Sie ist »alles, was in mir den Ekel vor dem Durchschnitt, dem Halbwegs, der Vulgari-tät, dem Mittelmaß und besonders der Welt der Stereotypen her­vorruft« n.

Barthes unternimmt somit gegen die vermeintliche Natürlich-

Die »Mutter« des Strukturalismus: Roland Barthes 123

keit der zu selbstgängigen Stereotypen gewandelten Werte eine systematische Demontage, eine Entmystifizierung, indem er anhand konkreter Fälle aus dem Alltagsleben zeigt, wie ein My­thos in der zeitgenössischen Gesellschaft funktioniert. Die von Barthes zusammengestellten vierundfünfzig Artikel sind eines der Hauptwerke dieser Periode — die Mythen des Alltags erschei­nen 1957 bei Seuil. Barthes arbeitet diese konkreten Fälle erst im nachhinein theoretisch auf, in einem zweiten Teil des Buches, »Der Mythos heute«, der sich als Definition eines globalen se-miologischen Programms vorstellt, diesmal gespeist aus frischen linguistischen Kenntnissen, denn soeben erst, 1956, hat Barthes Saussure gelesen und Hjelmslev entdeckt.

Die Formalisierung folgt also erst nach der Untersuchung der von aktuellen Anlässen gelieferten Mythen, in der das Kleinbür­gertum als Gegner ausgemacht ist: »Ich habe bereits auf die Vor­liebe des Kleinbürgertums für tautologische Schlüsse hingewie­sen.« 12 Genau diese falschen Augenscheinlichkeiten will Barthes ins Wanken bringen, ihre Masken herunterreißen. So durchleuch­tet er das Catchen, die »Operation Astra« [frz. TV-Show mit wissenschaftlich-futuristischem Anstrich, A.d.Ü.], das Gesicht der Garbo, das Beefsteak mit Pommes frites, die »Guides bleus«, den neuen Citroën, die Literatur gemäß Minou Drouet [vgl. dazu Anm. 2 in Mythen des Alltags, S.86, A.d.Ü.].

Der theoretische Teil, der das Werk beschließt, steht in dop­peltem Bezug zu Saussure (zweimal zitiert), von dem Barthes hauptsächlich die Begriffe Signifikant und Signifikat übernimmt, und Hjelmslev (nicht zitiert), von dem er die Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation und zwischen Objekt­sprache und Metasprache entlehnt. Gewiß, in der Einarbeitung der Saussureschen Begriffe gibt es noch manche Schwankungen, weshalb Louis-Jean Calvet die im Vorwort auftauchende Formel »Der Mythos ist eine Sprache [langage]«, gegen diejenige halten kann, die dem theoretischen Teil voransteht, »Der Mythos ist eine Aussage [parole].«13 Barthes hat mithin der für Saussure we-

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sentlichen Unterscheidung zwischen langue und parole noch nicht Rechnung getragen. Mit »Der Mythos heute« vollzieht er jedoch seine Konversion zur Linguistik, und dies bedeutet im Jahr 1957 eine essentielle Wende, sowohl in seinem Werk als auch darüber hinaus: »Barthes [tritt] genauso in die Sémiologie ein, wie man in einen Orden eintritt.«14

Vom Formalismus bereits fasziniert, findet Barthes in der Sé­miologie die Mittel, um sein Programm als Wissenschaft aufzu­bauen. Sie erlaubt es, den Inhalt zugunsten der Logik der Formen beiseite zu stellen. Außerdem entlehnt er von Saussure das syn-chronische Untersuchungsverfahren, und aus dieser Anleihe er­wächst in Barthes' gesamter Arbeit ein eher räumlicher als zeitli­cher Blick: »Der Anwesenheitsmodus der Form ist räumlicher Art.«15 Dies bedeutet einen weiteren Bruch gegenüber der Vor­gehensweise im Nullpunkt der Literatur, das sich als eine diachro­nische Annäherung an die Beziehung zum Schreiben darstellte. Der Mythos ist ein Gegenstand, der sich besonders zur Anwen­dung der Saussureschen Prinzipien eignet: »Die Funktion des Mythos besteht darin, das Reale zu entleeren«, »der Mythos [wird] durch den Verlust der historischen Eigenschaft der Dinge bestimmt.«16 Barthes kann sich hier also sowohl die Vorrangstel­lung, die Saussure der Synchronie beimißt, als auch die Ausklam­merung des Referenten zunutze machen.

Barthes' Schreibweise, seine diskrete Verwendung eines be­stimmten Codes in allgemeinverständlicher Rede, die wissen­schaftliche Neuartigkeit und ihr kritisches Korollar, alle diese Zu­taten machen das Buch zu einem großen Publikumserfolg. Der Absatz überschreitet bei weitem die im Bereich der Humanwis­senschaften üblichen Auflagen (29650 Exemplare in der Reihe »Pierres vives«, dann, seit 1970, 350000 Exemplare bei Points-Seuil). Der Nachhall ist in den verschiedensten intellektuellen Mi­lieus zu vernehmen und begünstigt fachliche Annäherungen. Der Psychoanalytiker André Green interessiert sich sehr für die Mythen des Alltags und bespricht sie für die Zeitschrift Critique.

Die »Mutter« des Strukturalismus: Roland Barthes 125

Bei dieser Gelegenheit trifft er sich 1962 mit Barthes. Die beiden kennen sich bereits von ihren gemeinsamen Aktivitäten in der Gruppe des Théâtre antique an der Sorbonne. Barthes, damals Studiendirektor an der École des hautes études, bittet André Green, im Rahmen seines Seminars ein Referat über Lacan zu hal­ten: »Was ich auch tat, denn es war meine Lacan-Phase. Danach gingen wir im Café an der Ecke einen trinken. Barthes beugt sich zu mir herüber und sagt: >Sehen Sie die beiden da? Sie kommen zu allen meinen Seminaren, sie verfolgen mich, sie kommen mir aufs mißlichste mit Widerreden, sie wollen mich in Stücke rei­ßen^ Es waren Jacques-Alain Miller und Jean-Claude Milner.«17

Die neue Ästhetik

In den fünfziger Jahren wirkt Barthes auch tatkräftig an der Theaterzeitschrift Théâtre populaire mit, gemeinsam mit Jean Duvignaud, Guy Dumur, Bernard Dort, Morvan Lebesque. Dort macht er sich für das TNP [Théâtre National Populaire, A. d. Ü.] von Jean Vilar stark und trägt dazu bei, ihm ein überaus großes Publikum heranzuziehen. Im Rahmen dieser Tätigkeit als Thea­terkritiker erlebt er begeistert eine Aufführung von Brechts Mutter Courage, die das Berliner Ensemble 1955 im Théâtre des Nations gibt: für ihn ein Schock. Er sieht damals in Brecht denjenigen, der auf dem Theater verwirklicht, was er mit der Li­teratur oder mit den zeitgenössischen Mythen anstrebt. Die Brechtsche Verfremdung, sein Ästhetizismus finden seine unein­geschränkte Zustimmung: »Brecht verwirft [...] alle Stile der Ver­einnahmung oder der Teilhaberschaft, die den Zuschauer dazu veranlassen könnten, sich vollständig mit Mutter Courage zu identifizieren, sich in ihr zu verlieren.«18 Barthes sieht in Brechts Theater den Entwurf für eine neue Ethik der Beziehung zwi­schen dem Dramatiker und seinem Publikum, eine Schule der Verantwortlichkeit, eine Verschiebung vom psychologischen Pa-

126 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

thos zur Einsehbarkeit der Verhältnisse. Diese Dramaturgie zeigt, daß es weniger darauf ankommt, die Wirklichkeit auszu­drücken, als vielmehr darauf, sie zu bezeichnen. Daher scheint ihm diese revolutionäre, diese avantgardistische Kunst die Ver­wirklichung der semiologischen und kritischen Methode selbst.

Dank Barthes' unerreichter Ausstrahlung nimmt das struktu-ralistische Projekt seinen Aufschwung, auch wenn Barthes sich gegenüber dem Saussurismus im strengen Sinn oder den linguisti­schen Kanons recht große Freiheiten herausnimmt; eher »ein Outsider des Strukturalismus, ist er im wesentlichen ein Rhetori­ker« 19. So erklärt Georges Mounin die Sémiologie Barthes' für eine Abweichung gegenüber Saussure, der die Regeln für eine Sé­miologie der Kommunikation aufgestellt habe, während Barthes lediglich eine Sémiologie der Bedeutung betreibe: »Barthes hat immer versucht, eine Symptomatologie der bürgerlichen Welt zu verfassen.«20 Nach Georges Mounins Meinung verwechselt Barthes Zeichen, Symbole und Indizes. Richtig ist, daß Barthes damals dem Zeichenbegriff einen sehr weitgefaßten Sinn gibt, der alles abdeckt, was eine Bedeutung enthält. Er sucht in ihr den la­tenten Inhalt, und demgemäß hält es Georges Mounin für ange­messener, statt von Sémiologie eher von Sozialpsychologie oder Psychosoziologie zu sprechen.

Auch wenn die Berufslinguisten darin ihren Gegenstand nicht mehr wiederfinden, wird die stark erweiterte Sicht der Sprache, die Barthes vorlegt, zum Erfolg des linguistischen Modells und der Rolle der Linguistik als Pilotwissenschaft erheblich beitragen.

Die epistemische Herausforderung

Am 4. Dezember 1951 hielt der bedeutende Philosophiehistori­ker Martial Gueroult Einzug am Collège de France. Man hatte ihn Alexandre Koyré vorgezogen, eine für diese Periode sympto­matische Wahl, denn Koyré vollzog in seinem philosophischen Verfahren eine Annäherung an die Historiker der Annales und unterhielt regelmäßige Verbindungen zu Lucien Febvre. Sein Projekt für die Kandidatur am Collège de France legte dement­sprechend den Akzent auf den Zusammenhang zwischen Wis­senschaftsgeschichte und Geschichte der Mentalitäten, wie sie Lucien Febvre damals mit seinen Arbeiten zu Martin Luther und Rabelais verkörperte, die um den Begriff der mentalen Ausstat­tung (outillage mental) kreisten: »In der Geschichte des wissen­schaftlichen Denkens, so wie ich sie verstehe und zu praktizieren mich bemühe, kommt es wesentlich darauf an, die untersuchten Werke in ihr intellektuelles und geistiges Milieu zurückzuverset­zen und sie je nach den mentalen Gewohnheiten, den Vorlieben und Abneigungen ihrer Verfasser zu deuten.«1 Im Gegensatz zu dieser Öffnung des philosophischen Textes auf den globalen hi­storischen Kontext fußt Martial Gueroults Methode ganz im Ge­danklichen, und ihr Erfolg »markiert deutlich die Grenzen der Anerkennung, die in den fünfziger Jahren einer Problematik der Historisierung der Wahrheit gesteckt waren«2.

Martial Gueroult verfertigt seit den dreißiger Jahren sein Werk abseits vom Rampenlicht der Medien und bleibt der großen Öf­fentlichkeit unbekannt. Im Jahr 1951 tritt er die Nachfolge von Etienne Gilson auf dem Lehrstuhl für Geschichte und Technolo­gie der philosophischen Systeme an. Bereits in seiner Inaugural-

128 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Vorlesung setzt sich Martial Gueroult für das maßgebliche Inter­esse und die Berechtigung einer Geschichte der Philosophie ein, unbeschadet der erkennbaren Antinomie zwischen einer aleato­risch erscheinenden Geschichte und einer als immerwährend und zeitlos auftretenden Philosophie. Denn diese scheinbare Unver­einbarkeit kann der Philosophiehistoriker durch eine doppelte Einstellung überwinden, eine zugleich skeptische wie der Histo­riker und dogmatische wie der Philosoph.

Die von Martial Gueroult vorgelegte Lösung soll vermeiden, daß die Philosophiegeschichte auf die Psychologie, die Soziolo­gie oder die Epistemologie einschwenkt und als bloße Hilfswis­senschaft von ihnen aufgesogen wird. Durch sein Vorgehen als Historiker hofft er, Zugang zur »Gegenwart einer bestimmten reellen Substanz in jeder Philosophie« zu finden und diese wie­derherzustellen. »Es ist dieses Essential (die Philosophie selbst), das, indem es die Systeme einer Geschichte würdig macht, sie der historischen Zeit entreißt.«3 Sein historisches Verfahren versteht sich also als Negierung der Zeitlichkeit, der Diachronie, der Er­forschung von Filiationen, der Genese der Systeme. Darin findet man ein charakteristisches Element des Strukturalistischen Para­digmas wieder : das Hauptaugenmerk auf die Synchronie zu len­ken, auch wenn bei Martial Gueroult diese Blickrichtung in kei­ner Weise Saussure verpflichtet ist. Somit rechtfertigt Gueroult das Interesse monographischer Studien, denn die Struktur, zu der er gelangt, ist die einmalige Struktur eines Autors, eines in seinem inneren Zusammenhang begriffenen Werks. Er sieht davon ab, darin eine Struktur der Strukturen auszumachen, sondern ver­sucht »zu erforschen, wie jede Lehre sich quer durch und mittels der Verschränkungen ihrer architektonischen Strukturen konsti­tuiert« 4.

Die epistemische Herausforderung 129

Die Methode Gueroult

Ein philosophisches Werk als solches, in seiner Einzigkeit zu nehmen und es hypothetisch von seinen Wurzeln und seiner Streitbarkeit abzuschneiden, um seinen inneren Zusammenhang, seine begriffliche Verkettung deutlicher beschreiben und seine Lücken und Widersprüche besser erkennen zu können, diese Methode wandte Gueroult auf Fichte, Descartes, Spinoza und andere an: »Einer der Wege, auf denen der Strukturgedanke durchgedrungen ist, scheint mir von Gueroult zu kommen.«5

Wenngleich er nur wenige Schüler hatte und keine Schule begrün­det hat, kannte er doch manche Bewunderer wie Gilles Gaston-Granger, mit dem er befreundet war, und ein paar Nachfolger wie Victor Goldschmidt.

Seine dem Zeitgeist entsprechende Methode wird indes für viele Philosophen schlechterdings den Grundstock ihrer philoso­phischen Ausbildung bilden. Das gilt auch noch für die junge Ge­neration Ende der sechziger Jahre. Marc Abélès hat an Gueroults Philosophieveranstaltungen an der École normale supérieure von Saint-Cloud teilgenommen: »Gueroult hat uns beigebracht, die Texte unter einem Gesichtspunkt zu lesen, den man struktural nennen kann. Aber als jemand ihn einmal spaßhaft als Struk-turalisten bezeichnete, leugnete er jede Verbindung strikt. Er betrachtete sich als traditionellen Professor, als wirklichen Philo­sophiehistoriker.«6 Sein Unterricht sollte zu intellektueller Be­weglichkeit befähigen, und so mußten sich die Studenten in Saint-Cloud der sogenannten »kleinen Gueroult-Übung« unter­ziehen, die darin bestand, anhand eines philosophischen Lehrsat­zes nachzuweisen, daß der Verfasser den gleichen Beweis auch auf andere, ökonomischere Weise hätte führen können: »Die Methode Gueroult, die durch ihre Arbeit am Text faszinierte, be­stand immer in der Annahme, daß es möglich sei, den Text virtu­ell neu aufzubauen.«7 Dieser didaktische Beitrag Gueroults sollte eine ganze Epoche prägen.

130 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Ein weiterer Parameter des strukturalistischen Paradigmas bei Gueroult ist das von ihm verfochtene Immanenzverfahren, losge­löst von Kausalitäten psychologisch-soziologischer, dem philo­sophischen Diskurs exogener Ordnung. Gueroult beschneidet also die philosophischen Systeme um jede Funktion von Reali­tätsdarstellung, so wie Saussure das Zeichen um den Referenten beschnitten hatte. Er verleiht den philosophischen Systemen eine fundamentale Autonomie gegenüber der äußeren Wirklichkeit. Ihr Belang liegt nicht in dem, was er ihren »intellektiven Auftrag« nennt, vielmehr ist »philosophisch im strengen Sinne gerade diese autonome Wirklichkeit der Werkstrukturen«8. Der Historiker begreift die philosophischen Diskurse als »philosophische Mo­numente insofern, als sie jenen intrinsischen Wert besitzen, der sie von der Zeit unabhängig macht«9. Diese Verwandlung des Dokuments zum Monument mit ihrer impliziten Analogie zur Archäologie hat in der Folge Michel Foucault wieder aufgegrif­fen. Die Wiederherstellung des inneren Werkzusammenhangs er­fordert ein erschöpfendes und globalisierendes Vorgehen, das die vom Verfasser vorgebrachten Thesen, die Architektonik seines Werks und seine Argumentationsverfahren in ein Verhältnis un­auflöslicher Solidarität setzt. Gueroult verficht somit »eine holi-stische Lehre vom Werk«10.

Wenn ein philosophisches Werk eine in sich geschlossene Ein­heit ist, bedingt dies eine diskontinuistische Auffassung von Phi­losophiegeschichte, die bei Michel Foucault, dem Gueroults Schaffen gut bekannt war, mit dem Begriff der Episteme eine spektakuläre Fortsetzung erfuhr. Im Vorwort seiner Arbeit über Descartes n erläutert Gueroult seine methodologische Wahl, um das Interesse für die Geschichte der Philosophie zu begründen und zu rechtfertigen, die trotz der Widersprüche der Systeme untereinander dem Relativismus und dem Skeptizismus entraten muß : »Der Historiker verfügt in dieser Hinsicht über zwei Tech­niken, die eigentliche Kritik und die Analyse der Strukturen.«12

Die epistemische Herausforderung 131

Gueroults Entgegnung auf die Modernität

Diese Perspektive ist einer Epoche zu eigen, die den Sinn in den Tiefen zugrundeliegender Strukturen sucht, denn wenn die Kri­tik als notwendige Stufe betrachtet wird, so fällt ihr lediglich die Vorarbeit für die Aufdeckung der Struktur zu, in der die letzte Wahrheit des Werkes enthalten ist. Gueroult begegnet damit der Herausforderung der Humanwissenschaften und den Geboten der Modernität, sofern diese vergangene philosophische Sy­steme, die auf überholte wissenschaftliche Postulate gegründet worden sind, zum alten Eisen wirft. Er weigert sich also anzu­nehmen, daß die Philosophie ihren Dienst getan habe. Der philo­sophische Strukturalismus, die Verteidigung der autonomen Wirklichkeit philosophischer Systeme dient ihm als Damm gegen die Auflösung der Philosophie in den Humanwissenschaften. Von dieser Methode inspiriert, doch unerschrockener, werden andere, anstatt sich hinter der philosophischen Legitimierung zu verschanzen, die Beete bewässern, auf denen sich die zarten Sprößlinge namens Sozialwissenschaften zeigen. Vor allem in dieser Hinsicht hatte Gueroult wenig unmittelbare Nachfolger, der durchschlagende Erfolg des Strukturalismus hat seine poten­tiellen Schüler an andere Horizonte gelockt. Gueroults Vorhaben ist streng philosophisch, es knüpft an Kant und Fichte an, »um mit Hilfe dieses methodologischen Strukturalismus die koperni-kanische Revolution zu verwirklichen, die sie nicht haben voll­bringen können«13. Er bemängelt bei diesen beiden Philosophen, daß sie den Realitäten und ihrer Darstellung verhaftet geblieben seien. Gegen sie setzt er die Selbstgenügsamkeit der philosophi­schen Systeme — ein Ansatz, in dem man den Formalismus seiner Zeit wiederfindet : »Das philosophische Ziel, angewandt auf die Gegenstände der Philosophiegeschichte [...], besteht darin, den Stoff dieser Geschichte, das heißt die Systeme, als Gegenstände anzusehen, die einen Wert, eine Realität in sich selbst haben, die nur ihnen gehört und durch sie allein sich erklärt.«14 Der In-sich-

132 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Geschlossenheit des Textes bei den Linguisten entspricht somit die In-sich-Geschlossenheit des philosophischen Systems bei Gueroult.

Überdies steht Gueroult dem strukturalistischen Phänomen insofern nahe, als für ihn die philosophische Persönlichkeit hinter dem zutagegeförderten System bedeutungslos ist : seine Intentio-nalität, die intersubjektive Beziehung, der im Schaffen eines Werks aufgenommene Dialog, all dies wird aus demselben Grund entleert wie in der Saussureschen oder Hjelmslevschen Linguistik das Bewußtsein des sprechenden Subjekts. Auch wenn Gueroult Fichte, Descartes, Spinoza und andere untersucht — gewisserma­ßen »liest man keine Philosophen mehr, steht nicht mehr in einer Beziehung der Gemeinsamkeit oder der Intersubjektivität«15, sondern in einem Verhältnis von Diskontinuität und maximaler Distanzierung zu einer Logik, von der es einen Zusammenhang wiederherzustellen gilt, der dem Autor innerlich und zugleich dem Leser äußerlich ist. Dieses Aus-dem-Zentrum-Rücken des Subjekts hat besonders fruchtbare Forschungen eröffnen kön­nen, die das Feld der Begriffskonstituierung und ihrer Tauglich­keit vermessen haben. Einmal mehr denkt man an die Bedeut­samkeit einer solchen Ausrichtung der philosophischen Arbeit für Michel Foucault.

Das epistemologische Ganze

Unter diesem Impuls erweitert sich die dem Begriff der Epistemo-logie beigemessene Bedeutung, die nun die enggefaßte Ebene der Reflexion der wissenschaftlichen Verfahrensweisen überschreitet, um sich dem Sozialen zu öffnen und in dialektischer Auseinander­setzung dem Ideologischen gegenüberzutreten. Die strukturalisti-sche Periode ist zugleich die des Erfolgs der epistemologischen Reflexion. Die Disziplinen befragen sich über ihren Gegenstand, die Gültigkeit ihrer Begriffe, ihre wissenschaftliche Zielvorstel-

Die epistemische Herausforderung 133

hing. Die Gelehrten verlegen sich, nach dem Muster von Lévi-Strauss, von der Philosophie auf die Humanwissenschaften.

So auch einer der großen Epistemologen dieser Zeit, Jean Pia-get: »Die Einheit der Wissenschaft, die unser gemeinsames Ziel ist [...], kann nur zu Lasten der Philosophie erreicht werden. [...] Alle Wissenschaften haben sich von der Philosophie abgespalten, von der Mathematik zu Zeiten der Griechen bis zur experimen­tellen Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts.«16 Sich aus der philosophischen Vormundschaft zu befreien, scheint für manche der gangbare Weg zu sein, um die Humanwissenschaften in den exakten Wissenschaften gleichgestellte »harte« Wissen­schaften zu verwandeln. Daher schlägt Jean Piaget vor, die Hu­manwissenschaften aller Fragen zu entbinden, die außerhalb ih­res eigentlichen Untersuchungsgegenstandes liegen, denn diese fielen dem Bereich der Metaphysik zu. Es komme einzig auf das Wissen an, wie die Kenntnisse auf einem bestimmten Gebiet zu vermehren seien. Dennoch unterscheidet sich Piaget vom all­gemeinen Paradigma durch sein Interesse an der historischen Gewordenheit der verwendeten Begriffe, und sein Strukturalis­mus kann als entwicklungsgeschichtlich bezeichnet werden.17

Dieser Genetismus findet sich in Piagets Theorie der Wahrneh­mungsentwicklung beim Kind wieder, die sich in mehreren, als Transformationssysteme beschriebenen Angleichungsschritten vollzieht und dadurch die Assimilation neuer Schemata, neuer Wahrnehmungs strukturen erlaubt.

Die epistemologische Reflexion in den Humanwissenschaften zollt den Umstellungen in den »harten« Wissenschaften Tribut, und beide lassen den gleichen formalistischen Einschlag erken­nen. Treffendstes Beispiel ist die Entwicklung, die die Mathema­tik mit der Bourbaki-Gruppe genommen hat, die in den fünfzi­ger und sechziger Jahren die berühmte moderne Mathematik hervorbrachte. Die Mathematik behandelt nun Mengen unspezi­fischer Elemente, die von axiomatischen Grundstrukturen herge­leitet werden. Prototyp ist die algebraische Struktur, neben ihr

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gibt es die Gruppe als Ordnungsstruktur und schließlich die to-pologische Struktur. Solche strukturalen Modelle wird man bei Lévi-Strauss — hier vermittelt durch André Weil — genauso wir­ken sehen wie bei Lacan mit seiner ganzen Topologie der Borro-mäischen Knoten, der Graphen. In einem weiteren Sinne jedoch, auf metaphorischer Ebene und als wissenschaftliche Vorausset­zung, werden die Humanwissenschaften von einem logisch-ma­thematischen Diskurs zehren, der es gestattet, Verallgemeinerun­gen vorzunehmen und Selbstregulierungsprozesse zu erklären, die über die untersuchten konkreten Falle hinausreichen. Auch andere Impulse werden eine Rolle spielen, sie gehen aus von der Biologie, von der experimentellen Psychologie mit der Gestalt­theorie und von der Kybernetik, die die perfekte Regulierung und damit die Selbsterhaltung der Struktur ermöglicht.

Doch das große intellektuelle Phänomen der dreißiger Jahre im Bereich der Epistemologie fand außerhalb Frankreichs statt: Es ist die Verknüpfung des Formalismus der »harten« Wissen­schaften mit dem logischen Positivismus, der sich einerseits im Wiener Kreis von Moritz Schlick und Rudolf Carnap entwickelt hat, andererseits im englischen Cambridge im Umfeld von Bert­rand Russell und im Werk von Ludwig Wittgenstein, der ebenso in Verbindung zum Wiener Kreis wie zu Bertrand Russell stand, dem er sich 1911 in Cambridge anschloß. Diese Logiker vertraten die Idee einer geeinigten, kodifizierten Wissenschaft, die von der formalen Logik ausgeht und mit einer rein deduktiven Methode arbeitet. Allen Wissenschaften wird die Formalisierung als ge­meinsamer Horizont unterbreitet. In diese Perspektive gliedert sich die Mathematik als eine Sprache unter anderen ein. Da die Logik an keinen besonderen Inhalt gebunden ist, bietet sie sich als gemeinsamer Rahmen an, um von der Universalität der Struk­turen Rechenschaft abzulegen. Der Wiener Kreis hat insofern die Sprache privilegiert, als er das philosophische Grundproblem auf der Ebene der Bedeutung ansiedelt; die Logik wird sein Werk­zeug und die Sprache sein Hauptgegenstand. Dieser doppelte, lo-

Die epistemische Herausforderung 135

gisch-linguistische Impuls hat als Erbe die analytische Sprachphi­losophie hinterlassen.

Diese Erneuerung des logischen Denkens in Europa, dieser Aufbruch der Theorie geht an Frankreich vorbei: »Das haben Poincaré und Brunschvicg mit vereinten Kräften durchkreuzt.«18

Im Gegensatz zu den Vorgängen anderswo gerät die Lehre der Logik, den geisteswissenschaftlichen Fakultäten und dem Philo­sophieunterricht fern, ins Hintertreffen. So gesehen, läßt sich die Semiotik der sechziger Jahre als Ersatz für die Logik betrachten, die den Franzosen entgangen ist.

Die Philosophie des Begriffs : Cavaillès

Allerdings gibt es mit Jean Cavaillès einen französischen Philoso­phen, einen Epistemologen, der sich vornehmlich mit der Mathe­matik auseinandergesetzt hat und mit den Anfängen des Wiener Kreises verbunden war. Aber die Geschichte bricht jäh in den Lauf seines Lebens und Wirkens ein — er stirbt mit einundvierzig Jahren als Held, als Widerstandskämpfer 1944 unter den Kugeln der Nazis. Wissenschaft bedeutet für Jean Cavaillès zur Gänze Beweis, das heißt Logik. Er nennt sie die Philosophie des Be­griffs. Gleichwohl teilt er weder den extremen Formalismus des Wiener Kreises noch dessen Bemühen um den Aufbau einer gro­ßen Logik, in der die Probleme der Mathematik ihre Lösung fin­den sollen. Sein Verfahren will vielmehr die Verkuppelung von Operation und Objekt erfassen, die schöpferische Bewegung der Verknüpfung von Denkoperationen — das, was Cavaillès »die Idee von der Idee« genannt hat. Sein gewaltsamer Tod vereitelte eine mögliche Wirkung seines Denkens. Und doch, mit dem Er­folg des Strukturalismus werden seine Thesen zwanzig Jahre nach seinem Tod eine spektakuläre Wiederkehr erleben. Er hat die theoretischen Fundamente eines konzeptuellen Strukturalis­mus gelegt, den man in den sechziger Jahren aufgreifen wird.

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In dem Buch, das er in deutscher Gefangenschaft schreibt und das erst nach dem Krieg erscheint19, führt Cavaillès den Begriff der Struktur ein. Er entspricht bereits dem, der nach dem Zwi­schenspiel des Existentialismus triumphieren sollte. Er macht die Struktur als radikale Anfechtung der Bewußtseinsphilosophien geltend. Angeregt von Spinoza, nimmt Jean Cavaillès die Errich­tung einer subjektlosen Philosophie in Angriff und wirft damals bereits Husserls Phänomenologie vor, dem cogito zu viel Ge­wicht beizumessen. Wiederzufinden ist auch die formalistische Ausrichtung, die es nach Cavaillès' Auffassung der Wissenschaft erlaubt, dem Reich der Lebenswelt und der gewöhnlichen Erfah­rung zu entkommen. Die Wahrheit der Struktur gibt sich nicht in den Regeln selbst, die sie lenken; es gibt keine Struktur der Struktur, keine Metasprache. Wenn es solche Elemente, die der Struktur exogen sind, aus dem Feld der Analyse zu beseitigen gilt, so muß dafür zurückgefunden werden zur autonomen und ursprünglichen Bewegung der Wissenschaft, die ihre eigenen Ge­setze entfaltet. Bei dieser Geschlossenheit muß man bleiben, bei dieser Verselbständigung der Wissenschaft, bei diesem strengen Blickpunkt, der nur die eigene diskursive Kohärenz beachtet. Eine Ähnlichkeit mit der Herangehensweise an philosophische Texte, wie Gueroult sie befürwortet, ist hier ebenso zu erkennen wie mit dem formalistischen Standpunkt der Semiologen.

Bachelard und der epistemologische Bruch

Nach Cavaillès' Tod wird die epistemologische Reflexion unmit­telbar nach dem Krieg von Gaston Bachelard weitergeführt, der ein breites Publikum und tiefen Einfluß gewinnen wird. Man begegnet bei Bachelard der Idee wieder, daß es möglich wäre, eine Wissenschaft von der Wissenschaft auszubilden, die ihren Ausgang in der Entfaltung der Verfahrensweisen und konstitu­tiven Gesetze der Wissenschaften selbst nimmt. Ein ganzes Refle-

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xionsfeld tut sich damit der Epistemologie auf, die sich von den Einbringungen des menschlichen Subjekts, von der Erlebniswelt, der Erfahrung absondern muß. Die Abgeschlossenheit wird hier als epistemologischer Bruch vorgestellt, der unverzichtbar ist, um den Prozeduren des strengen Denkens selbst Platz zu ma­chen.

Bachelard kritisiert den Evolutionismus und setzt ihm einen Relativismus entgegen, der es erlaubt, den Lauf der Wissenschaft als einen langen Gang der Erfindungen, aber auch der Irrtümer und Irrungen neu zu verorten. In einer hauptsächlich vom Exi­stentialismus geprägten Nachkriegszeit bleibt Bachelard ziemlich isoliert, findet aber später nachhaltigen Anklang mit seiner Auf­fassung vom epistemologischen Bruch, die Louis Althusser in seiner Marx-Lektüre oder Foucault mit seiner diskontinuisti-schen Geschichtskonzeption aufgreifen und zuspitzen werden.

Was Canguilhem gesä t . . .

Weniger bekannt ist Georges Canguilhem, der 1955 Bachelards Nachfolge an der Sorbonne antritt, doch wird er in der epistemo­logischen Reflexion dieser Zeit eine maßgebliche Rolle spielen. Er nimmt sich Bachelards Erbe einer Reflexion über die Wissen­schaften an und leitet das Institut für Wissenschaftsgeschichte der Universität Paris. Der Gegensatz zwischen den beiden Män­nern ist allerdings verblüffend: »Bachelard war ein burgundi-scher Weinbauer, voll übersprudelnder Vitalität, Canguilhem da­gegen ist ein Mann von hoher innerer Spannung, ein Katharer, ein harter Mensch, hart im Sinne von rigoros.«20 Georges Canguil­hem wird 1924 an der École normale supérieure aufgenommen und studiert dort bei Alain. 1936 wird er Gymnasiallehrer in Tou­louse, wo man ihm die khâgne überträgt : »Als ich 1940 in Can-guilhems Klasse in Toulouse kam, schwebte mir ein klassisches Literaturstudium vor. Canguilhem gab einen Kurs über die ko-

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pernikanische Wende quer durch die Geschichte, seit Kant. Als ich auf ihn traf, sagte ich mir, die Literatur kann mir gestohlen bleiben, ich will zur Philosophie.«21 In dieser Zeit nimmt Can-guilhem ein Medizinstudium auf. Als guter Schüler Alains zu­nächst Pazifist, läßt ihn der Krieg zum aktiven Kämpfer in der Résistance werden, deren Netz Libération-Sud er angehört. Die Gefährlichkeit Hitlers kommt ihm in den Jahren 1934/35 zu Be­wußtsein, in denen er seinen pazifistischen Standpunkt aufgibt, als ihm »klar wird, daß man mit Hitler nicht verhandeln kann«22. Die ausschlaggebende Entscheidung für den Widerstand fällt für Canguilhem unmittelbar. In einem 1940 überwiegend pétainisti-schen Frankreich weigert er sich, dem Vichy-Regime Gefolg­schaft zu leisten : »Ich habe nicht die agrégation in Philosophie bestanden, um Arbeit, Familie, Vaterland zu lehren«23, erklärt er umgehend dem Rektor der Toulouser Akademie, Robert Deltheil. Unter dem starken Eindruck des Zweiten Weltkriegs spornt ihn der Kampf, den er führt, indes nicht zum Optimismus an; vielmehr wird er daraus einen tiefen Pessimismus zurückbe­halten und weitergeben, der aber sein Handeln nicht beeinträch­tigt — ein »tonischer Pessimismus«24.

Der Weg zum Beweis ist voller Bewährungsproben, und der Tod lauert zweifach, im Krieg und im begonnenen Medizinstu­dium, die ihn dazu bringen, über die Nähe von Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Vernunft und Wahnsinn nachzuden­ken. Als er 1943 seine thèse verteidigt : Das Normale und das Pa­thologische, macht Canguilhem sich zum Epistemologen des me­dizinischen Wissens: »Die vorliegende Arbeit stellt also den Versuch dar, einige Methoden und Erkenntnisse der Medizin in die philosophische Spekulation einzubringen.«25

Er befragt den Begriff der Norm und zeigt, worin die Grenze zwischen Rationalem und Irrationalem brüchig ist und daß man nach einem Gründungsmoment der Norm vergeblich sucht, sei es auch in irgendeinem Bachelardschen Schnitt. Canguilhem ver­wirft jegliche evolutionistische Sicht eines kontinuierlichen Fort-

Die epistemische Herausforderung 139

schritts von Wissenschaft und Vernunft. Er setzt ihr einen Nietz-scheanischen Standpunkt entgegen, indem er anstelle eines histo-ristischen Diskurses über die Konstruktion des medizinischen Wissens eine Erforschung der begrifflichen und institutionellen Konfigurationen setzt, die diese oder jene Abgrenzung des Nor­malen und des Pathologischen möglich gemacht haben. Das Ver­fahren, dem Canguilhem folgt, führt ihn also dazu, jede dialekti­sche, jede hegelianische Sichtweise zu verwerfen: »Canguilhem lehnt Hegel aufs heftigste ab.«26 Die Idee eines geschichtlichen Fortschritts ist ihm fremd und begründet den Pessimismus seiner Philosophie. Wurzelt diese geschichtliche Hoffnungslosigkeit im Trauma des Zweiten Weltkriegs, so sieht Canguilhem einen wei­teren Grund für die Erschütterung der Fortschrittsidee in den Konsequenzen, die sich aus der Erfindung der Dampfmaschine, aus den Prinzipien der Entropie, also dem Carnot-Prinzip erge­ben haben: »Die Antriebskraft des Feuers [...] hat dadurch zum Niedergang der Fortschrittsidee beigetragen, daß Begriffe, die die Begründer der Thermodynamik ausgearbeitet haben, in die Philosophie eingeführt wurden. [...] Am Horizont der Entropie gewahrte man bald den Tod.«27

Dieses Erklärungsprinzip erhellt im übrigen Canguilhems Methode und führt ihn dazu, die Fachgrenzen zu überschreiten, um epistemische Zusammenhänge auszumachen, Querschnitte, die den Grund für das legen, was Foucault in der Folge Episteme nennt. Tatsächlich hat Canguilhem mit Foucault einen unmittel­baren Erben, den er zudem als solchen anerkennt, als er dessen Buch Die Ordnung der Dinge in der Zeitschrift Critique rezen­siert. Bei seiner Darlegung von Michel Foucaults Werk stellt Can­guilhem sich abschließend die Frage, worauf Cavaillès hinaus­wollte, als er eine Philosophie des Begriffs beanspruchte, und erörtert, ob der Strukturalismus nicht die Verwirklichung dieses Desiderats sei. Er bezieht sich auf Lévi-Strauss und Dumézil, sieht aber dabei in Michel Foucault diesen Philosophen des Be­griffs für die Zukunft.

140 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Michel Foucault seinerseits hat die Bedeutung von Canguil-hems Lehre für ihn wie für sämtliche Philosophen seiner Zeit überhaupt hervorgehoben: »Lassen Sie Canguilhem weg, und Sie verstehen kaum etwas von einer Vielzahl von Diskussionen, die bei den französischen Marxisten stattgefunden haben; ebenso wenig erfassen Sie, was an Soziologen wie Bourdieu, Castel oder Passeron spezifisch ist. Sie verpassen einen ganzen Aspekt der theoretischen Arbeit, die bei den Psychoanalytikern und insbe­sondere den Lacanianern geleistet wurde.«28

Die Orte des wissenschaftlichen Diskurses

Canguilhem unternimmt eine fundamentale Verschiebung der traditionellen Frage, die der Suche nach den Ursprüngen gilt, zur Erkundigung nach dem Ort, der Ansässigkeit des Diskurses. Sie führt dazu, den stattfindenden Diskurs in ein Wechselverhältnis mit dem institutionellen Raum zu bringen, der sein Entstehen er­möglicht hat und seinen Sitz bildet. Die Grenzerkundung der Aussagebedingungen des wissenschaftlichen Wissens bildet spä­ter die Hauptachse für Michel Foucaults Forschungen über die Klinik, das Gefängnis und den Wahnsinn.

Ebenso bricht Canguilhem mit der kumulativen Auffassung wissenschaftlichen Fortschritts. Er stellt ihr einen diskontinuisti-schen Ansatz entgegen, der zugleich besagt, daß die Binnengren­zen des erarbeiteten wissenschaftlichen Wissens sich unaufhörlich verlagern, in sukzessiven Umstellungen und Umschmelzungen begriffen sind. Die Geschichte der Wissenschaften wird also nicht mehr als die fortschreitende Erhellung des Wahren, als die stufenweise Entschleierung der Wahrheit betrachtet, sie besteht vielmehr in Aporien, im Scheitern: »Der Irrtum ist für Canguil­hem das ständige Verhängnis, um das sich die Lebensgeschichte und das Werden des Menschen schlingen.«29 Wenn Canguilhem den Raum der Konstituierung und Gültigkeit der Begriffe erkun-

Die epistemische Herausforderung 141

det, erschließt er ein weites Forschungsfeld, mit dem Zweck, die Beziehungen zutage zu fördern, die zwischen der Erarbeitung des Wissens der verschiedenen Wissenschaften und dem jeweili­gen Zustand ihrer institutionellen, sozialen Realität unterhalten werden. Daraus wird sich eine fruchtbare soziohistorische Öff­nung der philosophischen Problemstellung ergeben. Auch für die ganze Althusser-Strömung wird Canguilhems Einfluß bedeut­sam sein. Gewiß, der Versuch der Wiederbelebung der marxisti­schen Begriffe und die Reflexion über die Pathologie liegen auf reichlich entfernten Forschungsterrains, aber jeweils steht das Statut der Wissenschaft, die Tauglichkeit der Begriffe in Frage.

Pierre Macherey hat die Bedeutsamkeit von Canguilhems Werk erkannt und ihm im Januar 1964 die erste gründliche Stu­die gewidmet.30 Louis Althusser leitet Pierre Machereys Artikel ein und begrüßt diese Erneuerung des epistemologischen Den­kens, das nicht nur mit den deskriptiven Wissenschaftschroniken bricht, sondern auch mit dem idealistischen Ansatz einer Ge­schichte des Fortschritts der Wissenschaften, sei sie nun mecha­nistisch (dAlembert, Diderot, Condorcet) oder dialektisch (He­gel, Husserl). Die Revolution, die Canguilhem für die Geschichte der Wissenschaften darstellt, wird von Pierre Macherey enthusia­stisch begrüßt : »Mit G. Canguilhems Werk besitzen wir, im sehr starken und nicht im speziellen Sinn, den Freud diesem Wort gab, das heißt im objektiven und rationalen Sinn, die Analyse einer Geschichte.«31

Ferner hat Canguilhem auf dem Gebiet der Psychoanalyse mit seinen antipsychologischen Positionen den Lacanschen Bruch bekräftigt. Vor allem gegen die Psychologie hat Canguilhem ge­stritten. Ihrem positiven Wissen begegnet er mit einer Dekon-struktion ihres Fachgebäudes und fächert die Psychologie in viel-zählige Psychologien auf.32 Diese Dekonstruktion, die darauf zielt, eine Einzeldisziplin zu destabilisieren, indem sie zeigt, daß deren Wissen nicht kumulierbar ist und unvereinbare Paradigmen abdeckt, hat Michel Foucault später aus analoger Perspektive im

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Namen eines archäologischen Verfahrens gegen die historische Disziplin selbst gewendet. Georges Canguilhem ruft den Psy­chologen auch auf ethischer Ebene an, will er doch von ihm wis­sen, ob er für die Wissenschaft arbeite oder für die Polizei. Die Mischung von Fragestellungen der Soziologie, der Wissen­schaftsgeschichte und des moralischen Bewußtseins wird eine er­giebige französische historische Epistemologie begründen, aber »man muß einräumen, daß Canguilhems Darlegung über die Psychologie keine Epistemologie in dem Sinne ist, wie man die Epistemologie überall außerhalb Frankreichs begreift«33. Dieses spezifisch französische kritische Verfahren hat also in Georges Canguilhem einen maßgeblichen Wegbereiter gehabt, dem man am Horizont aller Arbeiten der strukturalistischen Periode wie­derbegegnet, wenn er es auch vorzog, im Schatten des Paradig­mas zu bleiben, das er doch weitgehend mit in die Welt gesetzt hat.

Michel Serres' Loganalyse

Die von Cavaillès angestrebte Philosophie des Begriffs erfährt mit dem Werk von Michel Serres eine spektakuläre Wiederkehr. In ihm paaren sich die Lehren von Cavaillès und Canguilhem zu einer fachübergreifenden Erforschung der epochenkennzeich­nenden epistemischen Modelle. Die Geschichte der Wissenschaf­ten besteht nun in einer Aufeinanderfolge von Schichten, von synchronischen Schnitten : Auf das Paradigma des Fixpunkts, der Harmonie bei Leibniz folgt die Neuzeit mit der Thermodyna­mik, die nicht nur für alle Wissenschaften als Modell gilt, sondern auch für die Mentalitäten, die Literatur oder die Weltanschauun­gen, die allesamt von diesem beherrschenden Muster durchsetzt sind. So hat Michel Serres etwa in Zolas Rougon-Macquart das Prinzip der Thermodynamik selbst am Werk gesehen. Daher ver­läuft die Scheidelinie nicht zwischen dem wissenschaftlichen

Die epistemische Herausforderung 143

Wissen und der fiktionalen Welt, die sich beide in der Zugehörig­keit zum beherrschenden Epochenparadigma vereint finden. Folglich gesellt sich die Mythologie zur Wissenschaft, so wie sich bei Canguilhem Pathologie mit Normalität überschnitt: »Die Mythen sind voller Wissen, und das Wissen ist voll von Träumen und Illusionen«34, weshalb hier auch der Irrtum der Wahrheit wesensgleich ist.

Michel Serres war zweifellos der erste Philosoph, der — bereits 1961 — ein ausdrücklich strukturalistisches Gesamtprogramm im Feld der Philosophie definiert hat.35 Im kritischen Gebrauch des von der Mathematik übernommenen Begriffs der Struktur er­kennt er den Vollzug einer zweiten Revolution des 20. Jahrhun­derts. In Gaston Bachelard sieht er hingegen die Vollendung eines symbolistischen 19. Jahrhunderts, das die Heldenarchetypen durch die Elementararchetypen Erde, Wasser und Feuer ersetzt hat. Der Strukturalismus läutet ein neues Zeitalter ein, dessen Methode Michel Serres als »Loganalyse«36 bezeichnet.

Die neue Methode zielt darauf, die Struktur von jedem seman­tischen Inhalt zu bereinigen, sie um jeden semantischen Inhalt zu beschneiden: »Eine Struktur ist eine Operationale Menge mit Un­definierter Bedeutung [...], die beliebig viele, inhaltlich nicht spe­zifizierte Elemente und eine endliche Zahl von Relationen zusam­menfaßt, deren Natur nicht weiter spezifiziert ist, für die jedoch die Funktion und gewisse Auswirkungen auf die Elemente defi­niert sind.«37 Die Strukturanalyse stehe über dem Sinn, im Ge­gensatz zur Symbolanalyse, die von diesem erdrückt werde. Mi­chel Serres folgt insofern einer kantischen Strukturkonzeption, als er, Kants Unterscheidung zwischen Noumenon und Phäno-menon äquivalent, zwischen Struktur und Modell trennt. Dieser Text von 1961 birgt das Versprechen auf Verwirklichung eines sehr ehrgeizigen philosophischen Programms, denn wenn diese Methode aus einem Wissensgebiet, der modernen Mathematik, stammt, muß sie sich laut Serres auch auf alle anderen Problem­felder übertragen lassen. Das heißt, es besteht die Möglichkeit,

144 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

alle Felder des Wissens, von den Mythen bis zur Mathematik, aufgrund eines gemeinsamen Paradigmas zu umspannen, das Mi­chel Serres als Loganalyse bezeichnet, welche aus der Anhäufung und kulturellen Zersplitterung heraus Ordnung setzt. Dieser konzeptuelle Vorstoß bietet in Michel Serres' Augen auch die Möglichkeit, an die Abstraktion des Klassizismus anzuknüpfen und dank des Wegfalls der scholastischen Trennung von Natur­wissenschaften und Geisteswissenschaften, dank der histori­schen Universalität und Transversalität des Projekts »im selben Zuge das griechische Wunder der Mathematik und die phantasti­sche Blüte der griechischen Mythologie begreifen zu können«38.

Im gleichen Zeitraum, als Merleau-Ponty — 1960 — sein phä­nomenologisches Programm definierte, brachte Michel Serres — ab 1961 — das strukturalistische Programm in Umlauf. Eben letz­teres nahm in den sechziger Jahren seinen Aufschwung.

Der Rebell Jacques Lacan

Läßt Roland Barthes ein schillerndes Bild des Strukturalismus aufscheinen, so möchte man mit der dem strukturalistischen Paradigma eigenen binären Aufgliederung Jacques Lacan seine schroffe Seite nennen, die Verkörperung des strengen Vaters, der sich zur Verteidigung der analytischen Praxis um immer stren­gere Wissenschaftlichkeit bemüht [»père-sévere« : siehe S.118, A.d.Ü.]. In den sechziger Jahren wird er beträchtliches Aufsehen auslösen, aber da hat er die Hauptsache seines Werkes bereits gelei­stet, denn als die Leser Jacques Lacan 1966 über seine Schriften entdecken, reicht der Bruch, von dem die Rede ist, schon auf die beginnenden fünfziger Jahre zurück. Im Mittelpunkt des strukturalistischen Paradigmas steht das Unbewußte, nicht allein wegen des Aufschwungs der therapeutischen Praxis, die die Psy­choanalyse darstellt : Wir haben es in der von Lévi-Strauss vertrete­nen Anthropologie walten sehen oder auch in der von Saussure eingeführten Unterscheidung von langue und parole. Die Bedeu­tung, die zu jener Zeit dem Unbewußten zugesprochen wird, be­fördert auch das öffentliche Aufsehen, das Lacan genießt.

Lacan, der einem katholischen Milieu entstammt, sagt sich recht früh vom Glauben los. Als Symbol für diesen Bruch läßt er einen Teil seines Vornamens weg und behält von Jacques Marie lediglich Jacques bei. Freilich hat er damit nicht gänzlich mit der katholischen Kultur gebrochen, die seine Neulektüre Freuds in weiten Teilen durchsetzt. Dennoch macht er hier den ersten Bruch von vielen durch. Schicht um Schicht bemächtigt er sich der Sedimente eines Wissens, das er sich für das von ihm ge­wählte Fachgebiet — zunächst die Neuropsychiatrie, später die

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Psychoanalyse — zunutze macht. Seit Anfang der dreißiger Jahre hängt er sämtlichen Formen der Modernität an, vom Dadaismus auf dem Gebiet der Kunst bis zum Hegelianismus, als er Kojèves Kurse an der École des hautes études belegt: »Der Unterricht Kojèves beeinflußt Lacan im buchstäblichen Sinne des Wortes.«1

Hier lernt er die Lehren Hegelscher Dialektik kennen, insbeson­dere die des Herr-Knecht-Verhältnisses, vorderhand aber eine Kojèvesche Lesart Hegels, die sich in einer betonten Dezentrie-rung des Menschen und des Bewußtseins, in einer Kritik der Me­taphysik und in der Vorrangigkeit des Begehrensbegriffs äußert. Mit dem Begriff des Begehrens, der im Zentrum der Lacanschen Theorie steht, greift Lacan Kojèves Hegel-Lektüre auf, worin »die menschliche Geschichte die Geschichte der begehrten Be­gehren ist« 2. Über Kojève kommt Lacan zu dem Satz, daß Be­gehren nicht den anderen begehren ist, sondern das Begehren des anderen begehren. Wenn Lacan die Hegeische Lehre einsetzt, um Freud neu zu lesen, so verdankt er seine eigentümliche Schreib­weise, seinen Stil dem Interesse an den Surrealisten und der Teil­nahme an ihrem Kreis : René Crevel ist er freundschaftlich ver­bunden, er begegnet André Breton, begrüßt in Salvador Dali einen Erneuerer des Surrealismus und heiratet 1939 Georges Ba­tailles erste Frau Sylvia.

Sehr früh schon, 1930, richtet er in seiner psychiatrischen Pra­xis das Hauptaugenmerk auf die Untersuchung der Schreibweise. So auch in dem Referat, das er über eine vierunddreißigjährige Grundschullehrerin verfaßt, eine Erotomanin und Paranoikerin namens Marcelle, die sich für Jeanne dArc hält und sich einbildet, sie habe den Auftrag, die Sitten wiederherzustellen. Um die Struktur ihrer Paranoia beschreiben zu können, legt Lacan eine Untersuchung ihrer Briefe auf semantische und stilistische Stö­rungen zugrunde.3 Als Schüler von Clérambault bewirkt Lacan eine entscheidende Wende mit der Analyse des Falls Aimée. Da er es ablehnt, die Freudsche Theorie ins Schema des psychiatrischen Organizismus zu pressen, kehrt er die traditionelle Wertgliede-

Der Rebell jacques Lacan 147

rung des Verhältnisses von Psychiatrie und Psychoanalyse um und führt »den Primat des Unbewußten in der klinischen Stu­die«4 ein. Am Psychose-Fall der Schwestern Papin schärft er noch einmal die Vorstellung vom Unbewußten als einer Struktur, die das andere konstituiert, als radikaler Alterität zu sich selbst.

1932 verteidigt Lacan seine thèse: De la psychose paranoïque dans ses rapports avec la personnalité (Von der paranoischen Psy­chose in ihren Zusammenhängen mit der Persönlichkeit), die über Psychiaterkreise hinaus Beachtung findet. Boris Souvarine und Georges Bataille werden sofort auf sie aufmerksam und dis­kutieren sie in der Critique sociale.5 Lacan verwirft jedweden Or-ganizismus und reiht die Paranoia, deren Struktur er definiert, in die Freudschen Kategorien ein. Nun ist diese Struktur aber nicht aus einem phänomenologischen Zugriff auf die Persönlichkeit herleitbar: »Die spezifisch menschliche Bedeutung menschlicher Verhaltensweisen offenbart sich nie so deutlich wie im Vergleich mit den Verhaltensweisen der Tiere.«6 Seit seiner thèsekznn man bei Lacan von einer Rückkehr zu Freud sprechen : Nicht, daß er dessen Lehre nur hätte einüben wollen, vielmehr wollte er sie weiterführen, und zwar besonders auf dem Gebiet der Psychose, wo Freud die Waffen gestreckt hatte. Nach Lacans Auffassung muß die Psychoanalyse von der Psychose Rechnung ablegen können, sonst wäre sie wenig dienlich.

Hinsichtlich seines Genetismus ist der Lacan der thèse noch nicht der Lacan der Schriften. Unter dem Eindruck der Hegel-schen Lehre sieht Lacan die Konstitution der Persönlichkeit stu­fenweise voranschreiten bis zur Verwirklichung dessen, was er die vollendete Persönlichkeit nennt, die sich mit der Hegeischen Durchschaubarkeit der Vernunftordnung in einer vollendeten Geschichte trifft. Dieses Lacansche Moment ist also noch stark »dem Genetismus verpflichtet; [...] die erste große Lacansche Doktrin ist eine absolut genetische Doktrin«7. 1936 hat Lacan Gelegenheit, diesen entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt auf dem XIV. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Marien-

148 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

bad zu referieren. Sein Vortrag heißt: Le Stade du miroir. Théorie d'un moment structurant et génétique de la constitution de la réalité, conçu en relation avec l'expérience et L· doctrine psychana­lytique (Das Spiegelstadium. Theorie eines strukturierenden und genetischen Moments der Realitätskonstitution, aufgefaßt in Be­ziehung zur psychoanalytischen Erfahrung und Lehre). Zu die­sem Zeitpunkt steht Lacan noch unter dem Einfluß des Psycho­logen Henri Wallon, von dem er sich später lösen wird.

Wallon sieht, wenn das Kind vom Stadium des Imaginären zum symbolischen Stadium übergeht, den Vollzug eines qualita­tiven Entwicklungsschritts. Lacan beschreibt den gleichen Pro­zeß, nur verlagert auf die Ebene des Unbewußten: Es geht um den wesentlichen konstitutiven Moment, in dem das Kind das Bild seines eigenen Körpers entdeckt. Diese Identifizierung er­laubt die Strukturierung des »Ich« und die Überwindung des vorherigen Stadiums, der Erfahrung des zerstückelten Körpers. Diesen Übergang zum Bewußtsein eines eigenen Körpers in sei­ner Einheit verfehlen die Psychotiker, um im Streuungszustand eines auf immer gespaltenen Subjekts zu verbleiben. Das sechs-bis achtmonatige Kind erlebt, wie in der Hegeischen Dialektik, das Spiegelstadium in drei Momenten. Zunächst nimmt es sein vom Spiegel reflektiertes Bild als das eines anderen wahr, den es zu fassen versucht; dabei verbleibt es im imaginären Stadium. Zweiter Schritt : »Das Kind wird unmerklich zu der Entdeckung gebracht, das der andere im Spiegel kein reales Wesen ist, sondern ein Bild.«8 Seine primordiale Identifizierung verwirklicht das Kind schließlich im dritten Schritt, indem ihm bewußt wird, daß dieses wiedererkannte Bild das seine ist; doch findet dieser Über­gang zu früh statt, als daß das Kind die Erfahrung von der Er­kenntnis seines eigenen Körpers machen würde: »Es handelt sich also um nichts anderes als ein imaginäres Wiedererkennen.«9

Daraus ergibt sich für das Subjekt, daß es, Opfer der Trugbilder seiner räumlichen Identifizierung, seine Identität aufgrund einer imaginären Entäußerung konstituieren wird.

Der Rebell Jacques Lacan 149

Stellt sich dieser Moment 1936 noch als Stufe, als Stadium im Wallonschen, genetischen Sinn des Wortes dar, so greift Lacan das Referat für den Internationalen Kongreß für Psychoanalyse 1949 in Zürich noch einmal auf, doch diesmal mit einer eher strukturalistischen als genetischen Lesart. Denn er behält in sei­nem Vortrag zwar die Bezeichnung Stadium bei {Le Stade du miroir comme formateur de la fonction du Je [Das Spiegelsta­dium als Bildner der Ich-Funktion] ), doch wird dieses nicht mehr als ein Moment innerhalb eines genetischen Prozesses betrachtet, sondern als Gründungsmatrix für die Identifizierung, für das vom Subjekt errichtete Verhältnis zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, aus dem eine »unüberschreitbare Konfiguration«10

hervorgeht. Die Bezeichnung Stadium entspricht somit nicht mehr dem, was Lacan beschreibt. Aufgrund dieser imaginären Identifizierung findet sich das Kind also bereits in seinem Werden strukturiert, befangen in den Trugbildern dessen, was es für seine Identität hält, wodurch fürderhin jeglicher Versuch, Zugang zu sich selbst zu finden, für das Subjekt unmöglich und illusorisch wird, denn das Bild seines Ich (moi) verweist es auf einen ande­ren, der nicht es selber ist.

Lacan akzentuiert also seit der Nachkriegszeit den Schnitt zwischen Bewußtheit und Unbewußtheit, indem er von zwei Ordnungsgrößen ausgeht, die sich zueinander im Verhältnis der Äußerlichkeit befinden: Das Sein-seiner-Selbst entzieht sich un­weigerlich dem Seienden, der Welt, dem Bewußtsein. Damit wird das Spiegelstadium zum Schlüssel, der beim Individuum die Fest­setzung der Trennlinie zwischen dem Imaginären und dem Sym­bolischen gestattet, erstes Merkzeichen einer Entäußerung des Ich (moi) : »Man kann mit J. Lacan im Spiegelstadium einen re­gelrechten strukturalen Schnittpunkt erkennen.«n Aus dieser neuen Auffassung vom Spiegelstadium ist ein zweifacher Einfluß herauszulesen: die strukturale Linguistik Saussures, die Lacan gleich nach dem Krieg durch Lévi-Strauss entdeckt, und die Hei-deggerschen Themen, die an die Stelle der Hegeischen Dialektik

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treten. Der Essenz des Seins, jeden Tag ein wenig mehr verloren in der Seinsvergessenheit, dem unausbleiblichen Untergang im Seienden korrespondiert die künftige, nach dem Spiegelstadium sich vollziehende Konstruktion des Ich (moi), das dem Ich (Je), dem auf ewig seiner selbst dezentrierten Subjekt immer weiter entgleiten wird : »Die fortschreitende Entzweiung, die zwischen dem Ich (moi) und dem Sein eintritt, wird sich durch die ganze seelische Geschichte hindurch verschärfen.« n

In diesem Sinne gehörte Lacan bereits 1949 dem strukturalisti-schen Paradigma an, ehe er sich 1953 ausdrücklich auf Saussure bezieht, denn das Spiegelstadium entgeht der Geschichtlichkeit, es ist gegeben als primäre, unumkehrbare Struktur, die nur mehr durch ihre eigenen Gesetze zu funktionieren vermag. Es gibt demnach keine Möglichkeit des Übergangs von einer Struktur zu einer anderen, sondern lediglich eine von dieser zu jener Verwal­tung der besagten Struktur. Von diesem Augenblick an entschlägt sich Lacan gänzlich der in seiner thèse angesprochenen Hegel-schen Idee der Möglichkeit einer vollendeten, sich selbst durch­schaubaren Persönlichkeit. Keine dialektische Überschreitung der Ausgangsstruktur ist mehr möglich. Das Unbewußte ent­gleitet fortan der Geschichtlichkeit, ebenso wie es das Cogito, das Selbstbewußtsein, den Täuschungen der Imago anheimstellt. Desgleichen nimmt Lacan hier Abstand von der Hegeischen Dia­lektik der Begierde (désir) als Begierde auf Anerkennung, die für ihn ins Reich des Imaginären, also des Verlangens (demande) fällt, und nicht in das des Wunsches (désir), der seinen eigenen Ort nur im Unbewußten findet. Lacans von Freud stammende und von ihm zugespitzte Idee der Teilung des Subjekts impliziert eine Kritik des Hegelianismus und dessen Idee des absoluten Wissens, die als Fata Morgana verabschiedet wird: »Ich würde sogar sagen, daß Lacan durch und durch eine Kritik des Hegelia­nismus formuliert, und zwar die triftigste, die es gibt.«13

1956 wendet sich Lacan gegen seinen Lehrmeister Jean Hyp-polite, den Statthalter des Hegelianismus, indem er die Psycho-

Der Rebell Jacques Lacan 151

analyse als mögliche Ablösung nicht nur des Hegelianismus, sondern der Philosophie überhaupt vorstellt. Zu Beginn der fünf­ziger Jahre hatte Hyppolite in Lacans Seminar ein Referat gehal­ten, das mitsamt der Antwort Lacans veröffentlicht wurde.14 Zur Frage stand dabei die Übersetzung des Freudschen Begriffs der Verneinung. Hyppolite verwirft den unterschwelligen Psycho­logismus der Bezeichnung dénégation, die ein in einer inneren Spannung zwischen Bejahen (affirmer) und Leugnen (nier) be­fangenes Urteil voraussetzt. Seine Lesart zielt darauf, den Freu­dianismus als konstituierende Entwicklungsstufe des Logos, des Geistes, wie Hegel ihn in der Geschichte am Werk sieht, einzu­binden: »Eigentlich wollte er zeigen, wie man Freuds Werk in eine zeitgenössische Phänomenologie des Geistes einbeziehen könnte. Er konstruierte findig eine neue Figur des Geistes, die des verneinenden Bewußtseins.«15 Lacan hingegen sieht in Freud die Zukunft Hegels.

Die Skandierung

Lacan bringt Neuerungen indes nicht allein auf theoretischer Ebene, sondern auch in der therapeutischen Praxis. Mit der Schwelle, die er hier überschreitet, wird er zum Rebellen, zu ei­nem Psychoanalytiker, der mit der offiziellen Standesorganisa­tion, der Société psychanalytique de Paris (SPP), bricht. Verschie­dentlich schaltet er sich Anfang der fünfziger Jahre bei der SPP ein, um seine Praxis der variablen Sitzungsdauer zu rechtfertigen. Zur Rede steht, die Übertragungsbeziehung zu dialektisieren durch Abbruch der Sitzung, durch Skandierung auf ein signifi­kantes Wort des Patienten hin, der dann aufgefordert wird, nach Hause zu gehen.

Diese Sitzungen von variabler Dauer führen bald zum Skan­dal, zumal sie sich, wie die SPP feststellt, meist in kurze, ja sehr kurze Sitzungen verwandeln. So wird diese Praxis zum Zankapfel

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zwischen der offiziellen Institution der Psychoanalyse und La­can, der auch auf dieser Ebene vollauf am strukturalistischen Abenteuer des Bruchs mit Akademismen und bestallten Mächten teilhat. Unübersehbar erlauben es Lacan diese Kurzsitzungen, möglichst viel Geld in möglichst wenig Zeit einzustreichen, wo­mit er den Beruf des Analytikers einträglicher gestaltet als den ei­nes Unternehmenschefs — ein Mittel wie jedes andere auch, die Psychoanalyse einträglich zu machen und wissenschaftliche Legi­timation mit der Möglichkeit der Vermögensbildung zu verbin­den. Sein Hang zum Geld ist legendär geworden : »Wenn Sie mit Lacan ins Kino gingen, waren Sie gezwungen, im Fouquet's ein­zukehren und Kaviar zu bestellen. Warum Kaviar? Weil es das Teuerste war«16, berichtet Wladimir Granoff schmunzelnd, da er als Russe Kaviarpaste den Kaviarkörnchen vorzieht. In einer Epoche des Taylorismus hatte Lacan also eine sehr zeitgemäße Auffassung der Stundenleistung. Allerdings sehen manche gerade darin eine der Nahtstellen des Lacanismus, einen der Hauptbei­träge des Meisters: »Die Skandierung, die Interpunktion ist ja das, was es ermöglicht, ein Sprechen zu strukturieren. Was ist In­terpunktion ? Sie ist die Zeit des Anderen. Und eben deshalb bil­det sie eine grundlegende Intervention, als Artikulation mit der Zeit des Anderen. Ohne Interpunktion spricht der Patient ganz allein.«17

Es ist ein weiterer Vorteil dieser Kurzsitzungen, daß Lacan die Zahl seiner Patienten vervielfachen kann, und weil er Schule ab­seits der Schule machen will, hat er damit zugleich das Mittel an der Hand, eine Generation von Analytikern in seinem Gefolge zu formen, die er nicht nur zu treuen Anhängern ausbildet, sondern auch in eine Übertragungsbeziehung einbindet, in der sie affektiv völlig vom Lehranalytiker abhängig sind. Die Kurzsitzung hat also einen Geschäftswert, aber sie ist auch ein Mittel, dem von Lacan vollzogenen Bruch einen soliden Nährboden zu verschaf­fen. Im übrigen kehrt er damit zur Behandlungsweise zurück, wie Freud selbst sie verstand. Zwar findet sich bei Freud keine

Der Rebell Jacques Lacan 153

Skandierung, aber »er läßt manche Behandlungen drei oder sechs Monate dauern [...], was dem gleichen Gedanken entspringt, nämlich dem des Oberhaupts einer Schule, der seine Theorie auf den Markt wirft«18. Genau dieser Praxis halber wird Lacan später aus der SPP ausgeschlossen und findet sich damit als Oberhaupt einer eigenen Schule wieder. So gäbe es also eine Freud und Lacan gemeinsame Dimension des Proselytentums. Lange Sitzungen bei kurzer Behandlungsdauer oder kurze Sitzungen bei langer Behandlungsdauer — das Ziel ist mehr oder weniger dasselbe. Auch außerhalb der École de la cause freudienne (ECF) sind heute manche der Ansicht, daß man innerhalb des Prinzips der Skandierung denken müsse, gerechtfertigt durch die Überle­gung, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert sei: »Man kann durchaus annehmen, daß sich eine Skandierung in die Rede eines Analysanden zu gelegener Zeit einschaltet, um etwas zu unterstreichen, und im selben Zug seinem Sprechen in der Übertragung auf den Analytiker ein vorläufiges Ende setzt«19, sagt Joël Dor, der bedauert, daß diese begründete und fruchtbare Idee der variablen Sitzungsdauer sich aus uneingestandenen öko­nomischen Gründen zur Systematisierung extrem kurzer Sitzun­gen gewandelt habe.

Andere, wie Wladimir Granoff, sind der Meinung, es sei da nur an die Erfahrung zu denken, die Lacan nach dem Krieg machte, als er einen Patienten vor die Tür setzte. Lacan warf sich daraufhin vor, seiner Ungeduld nachgegeben zu haben, und sorgte sich, ob dieser Patient wiederkäme. Nun, zur verabredeten Stunde fand der Analytiker seinen Analysanden auf der Couch wieder: »An diesem Tag gerät die Welt ins Wanken. Sie gerät ins Wanken wie jedesmal, wenn der Analytiker eine Übertretung be­geht.« 20 Seit dieser Entdeckung begann Lacan, die Sitzungsdauer zu verkürzen, und er konnte jedesmal feststellen, daß dies seine Patienten in keiner Weise dazu führte, ihn zu verlassen. Abseits dieser persönlichen Erfahrung hätten die kurzen Sitzungen als therapeutische Doktrin »überhaupt keinen Belang; sie verletzten

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niemanden, sie haben nie jemandem geholfen und sind kein Ver­brechen« 21.

Freud neu lesen

Das Ergebnis ist auf alle Fälle beeindruckend, denn Lacan hat eine ganze Analytikergeneration stark geprägt, nicht nur mit sei­nen Seminaren, sondern tiefreichender noch durch seine Analy­sen. Um eine solche Ausstrahlung zu gewinnen, um eine Intensi­vierung der Übertragungsbeziehung zu erreichen, war der Weg über die Kurzsitzung unumgänglich. Jean Clavreul beginnt 1947 in großer seelischer Bedrängnis eine Analyse bei Lacan: »Er war der einzige, der mich adäquat verstanden hat. Er war jemand, der die Probleme metaphorisch umsetzte.«22 Serge Leclaire lernt Françoise Dolto kennen, die ihn zu Lacan schickt, begibt sich von 1949 bis 1953 bei ihm in Analyse und wird der »erste Lacania-ner der Geschichte«23. Einige treten durch die Übertragungsbe­ziehung in ein Verhältnis zu Lacan, und andere finden auf seine Couch, nachdem sie ihn in seinen Seminaren kennengelernt ha­ben. So Claude Conté, der, in der Ausbildung zum Psychiater, aber ebenso unzufrieden mit der Psychiatrie wie mit den gängi­gen Freud-Kommentaren, 1957 Lacan entdeckt und seine Semi­nare besucht. Von da an liest er Freud wieder und vollzieht, wie eine ganze Generation, die von Lacan propagierte Rückkehr zu Freud — und befindet sich für zehn Jahre, von 1959 bis 1969, bei Lacan in Behandlung. Es gehört zu Lacans größten Verdiensten, daß er in einer Zeit — den fünfziger Jahren —, als »es Mode war, Freud als einen ehrwürdigen Altvorderen zu betrachten, den man aber nicht mehr las«24, eine Lektüre bzw. Neulektüre Freuds be­wirkt und dem Freudianismus neues Ansehen verliehen, ihn wie­derbelebt hat.

Die Rückkehr zu Freud vollzog sich also auf Vermittlung La­cans, der davon profitierte, indem er die Position des gesetzge-

Der Rebell Jacques Lacan 155

benden Vaters einnahm. Lacan verkörperte den Namen-des-Va-ters, indem er sein Charisma verströmte, seine Pfründe verteilte und seine Vasallen zu Rittern schlug und dadurch, wenn auch auf die Gefahr hin, einige seiner Getreuen in bloße Nachahmer des Gründervaters zu verwandeln, der Psychoanalyse, die in Frank­reich seinerzeit eine Art Goldenes Zeitalter erlebte, unstreitigen Erfolg sicherte.

Der Appell von Rom (1953) : zurück zu Freud

Wie der Appell vom 18. Juni 1940 den Militär de Gaulle zum Poli­tiker macht, so erhalten die Psychoanalytiker durch Lacans Rom-Rede im September 1953 die höheren Weihen. Doch man darf nicht vergessen, daß Lacan zunächst einmal Psychiater war, und mit Rücksicht darauf müssen seine Positionsbestimmungen wie­der in den epistemologischen Kontext dieser Disziplin gerückt werden. Denn in den dreißiger Jahren ist die Psychiatrie Schau­platz einer großen Auseinandersetzung um die Aphasie, die hin­sichtlich der Hirntopologie zwischen Lokationisten und Globali-sten geführt wird.1 Einige Forscher halten die Störungen für in den verschiedenen Hirnteilen verortbar. Dagegen verwirft unter Berufung auf die Thesen der Gestalttheorie Kurt Goldstein diese reduktionistische Sichtweise, die der Störung eine lokalisierte Wirkungsweise zumißt. Er spricht sich für einen strukturalen Ansatz aus, dem zufolge die neuronale Veränderung die Hirn­funktion insgesamt betrifft. Eine Fortsetzung außerhalb des psychiatrischen Umfelds findet diese Debatte übrigens 1942 mit der Veröffentlichung der Struktur des Verhaltens von Maurice Merleau-Ponty, der für Goldsteins globalistische Position ein­tritt. Der Strukturgedanke, der allerdings nicht gleichzusetzen ist mit dem Strukturbegriff, der in der strukturalistischen Periode zum Zuge kommt, ist somit in dem Umfeld, in dem sich der junge Psychiater Lacan bewegt, bereits ein zentraler Reflexions­gegenstand.

Die Psychiatrie bleibt für Lacan ein maßgeblicher Horizont, nicht nur wegen seiner ursprünglichen Ausbildung, sondern auch, weil sie fortlebt in einer tiefen Freundschaft mit Henri Ey,

Der Appell von Rom (1953): zurück zu Freud 157

der einmal der Papst der Psychiatrie werden sollte. Ey schlägt eine klinische Laufbahn ein, wird Chefarzt der psychiatrischen Kliniken und übernimmt einen Posten in einer ehemaligen Abtei in Bonneval bei Chartres. Diesen Ort macht Henri Ey zu einem Kreuzungspunkt wichtiger theoretischer Auseinandersetzun­gen; er organisiert regelmäßig Kolloquien, bei denen sich Psych­iater und Psychoanalytiker treffen. Überdies bildet er praktisch die gesamte angehende Psychiatergeneration aus : »Er hatte also ein erhebliches geistiges Gewicht, und er war es auch, der zum Betreiber der Strukturidee in der Psychiatrie wurde. Wir jungen Psychiater waren also in dem Moment, als der Strukturalismus losbrach, durchaus mit dem strukturalen Denken vertraut, bloß daß der Strukturalismus, der soviel Aufsehen erregte, damit nichts zu tun hatte.«2

Georges Dumézils Sohn Claude, symptomatischer Fall einer Konversion von der Psychiatrie zur Psychoanalyse Mitte der fünfziger Jahre, war sowohl Schüler von Henri Ey als auch von Daniel Lagache, aber ein zwischen phänomenologischen Betrachtungen, psychologisierender Sprache und pharmakolo­gischen Auffassungen eingezwängter psychiatrischer Diskurs stellte ihn nicht zufrieden. Er fühlt sich in der Sackgasse, als er 1954 auf Lacans Seminare in Sainte-Anne stößt: »Das war wirk­lich ein Diskurs, der stach.«3 Aus dieser Erfahrung heraus liest er Freuds Werk. Lacans Sprechen war für ihn »ein kräftiges Aphro-disiakum fürs Denken; es brachte einen zum Arbeiten«4. Der Diskurs Lacans, verbunden mit seiner klinischen Erfahrung als Praktiker, hatte nicht nur theoretischen Wert, sondern wirkte bei seinen Hörern wie die freie Assoziation und deren Interpretation zugleich. Mit Hilfe dieser Zirkularität handhabte Lacan zudem eine Übertragungsbeziehung zu seinem Publikum. Seine Rede trug über das, was sie bedeutete, hinaus, wie er selbst es einmal theoretisch begründet hat. Man urteile nach der Aussage des da­maligen Neulings Claude Dumézil : »Als ich in den Jahren 1954/ 55 in Lacans Seminar aufkreuzte, sprach er schon vom Namen-

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des-Vaters (nom-du-pèré), und ich verstehe : Nein des Vaters (non du père). Ich begreife also nichts von dem, was Sache ist, und doch bin ich mit diesem Irrtum voll im Thema.«5 So sehr im Thema, daß Georges Dumézils Sohn sich wenige Jahre später, 1958, bei Lacan in die Analyse begibt. Doch auf der Couch lernt er einen anderen Lacan kennen: »Es ist schrecklich: Schlagartig wird die­se brillante Persönlichkeit stumm wie ein Karpfen, der verfüh­rerische Mann klaut einem die Knete. Da ist dann keine Rede mehr vom Begriff, sondern es blutet.«6 Aus der Ablehnung des Psychologismus also ergeben sich die Verführungskraft, die der Lacansche Diskurs ausübte, der Kreuzweg, der sich dann auftut, und die endgültige Konversion zur Psychoanalyse. So erging es damals vielen Psychiatern.

Ein notwendiger Impuls

Wie aber steht es Mitte der fünfziger Jahre um die Psychoana­lyse? Der Freudianismus scheint eine Entwicklung zu nehmen, die ihn womöglich zum Verlust seiner Identität führt : »Was sich einem 1950 als Freudianismus anbot, glich einer medizinisch­biologischen Sauce.«7 Diese Tendenz zur Biologisierung des psy­choanalytischen Bruchs wurzelt in Freuds Werk selbst. Sie kann sich auf seinen Philogenetismus stützen, aber gerade in diesem Aspekt bleibt er dem Positivismus seiner Epoche verhaftet. Die vorherrschende Freud-Lesart im Frankreich der fünfziger Jahre setzt dementsprechend Instinkt mit Trieb gleich und Bedürfnis mit Wunsch. Freud wird damals als tüchtiger Arzt angesehen, der mit anerkannter Wirksamkeit Neurosen behandelt hat. Es gab also eine zweifache Klippe: zum einen eine Psychoanalyse, die ihren Gegenstand — das Unbewußte — zugunsten einer dyna­mischen Psychologie einbüßte, und zum anderen die Medika-lisierung jeglicher Form von Pathologie und demzufolge die Auflösung der Psychoanalyse in der Psychiatrie. In diesem Sinne

Der Appell von Rom (1953) : zurück zu Freud 159

bewirkt Lacans Einschreiten einen gleichsam de gaulleschen Im­puls : »Sein Auftritt auf der Bühne hat dieser Szene unbestreitbar einen hervorragenden Dienst erwiesen. Er hat einer Schwemme von Müll, von analphabetischen Schwachsinnigkeiten Einhalt ge­boten, in der die Führungsriege der französischen Analyse befan­gen war.«8

Um zu illustrieren, in welch verkommenem Zustand sich das analytische Denken befand, nennt Wladimir Granoff als Beispiel, wie nach dem Krieg mit der analytischen Praxis verfahren wurde, die besagt, daß versäumte Sitzungen zu bezahlen sind. Die Grundsätze, nach denen sich diese Praxis richtet, sind nämlich keineswegs nebensächlich, sondern haben im Gegenteil axioma-tischen Wert: »Gleich nach dem Krieg begann ich eine Kontroll­analyse bei einer der größten Hoffnungen der Société de Paris, Maurice Bouvet. Ich gehörte zur ersten Generation von Bouvets Kontrollanalysanden. Bei der Gruppenkontrolle berichtete ein Kollege vom Fall eines Patienten, der zu diesem Zeitpunkt krank war und deshalb nicht zu den Sitzungen kam. Was tun? Der große Theoretiker Bouvet antwortete nach reiflicher Überle­gung: Bis 38 Grad Fieber können wir ihn zahlen lassen, danach nicht mehr! Das heißt natürlich, einer Disziplin eine Sonde, ein Thermometer in den Hintern zu stecken. Und doch war Bouvet ein würdiger, ein überzeugender und herausragender Vertreter seines Fachs.«9

Auf diesem wie auf anderen Gebieten war Lacans Eingreifen insofern heilsam, als er, neben theoretischen Anregungen, solide wissenschaftliche Verbindlichkeiten in die analytische Praxis ein­gebracht hat, strenge Arbeitsregeln, durch die sie sich als auto­nome Wissenschaft mit klaren, ihren wissenschaftlichen Rang er­härtenden Prozeduren ausweisen konnte. Diese Sanierung von Denken und Praxis hat weitgehend zum Wandel des sozialen Images des Psychoanalytikers beigetragen, der bislang fast als gefährlicher Hexer galt und fürderhin für einen Mann der Wis­senschaft angesehen wird: »Wenn damals ein Psychoanalytiker

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abends ausging und eine Dame zum Tanz aufforderte, bekam er zu hören: Ο Gott, Sie sind dabei, mich zu psychoanalysieren ! Das war die Vorstellung, die man von Psychoanalytikern hatte. Dann hat man begonnen, sie als Leute, die an einer bestimmten Sache arbeiten, als Wissenschaftler zu sehen. In diesem Augen­blick eröffnete sich ihnen eine neue Identität.«10 Dieser wissen­schaftliche Impuls tritt zum richtigen Zeitpunkt ein. Tatsächlich ist die globale Lage günstig : Sie bietet keine glaubwürdige, mobi­lisierende Aussicht auf kollektive Veränderung der Gesellschaft mehr, was wiederum einer sozialen Haltung der Einkehr und des Rückzugs auf sich selbst Vorschub leistet. Ende der fünfziger Jahre wird die Psychoanalyse zum neuen »Eldorado« n.

Der Bruch

Der entscheidende Moment dieses Lacanschen Bruchs liegt im Jahre 1953, als eine SPP-interne Rebellion gegen Sacha Nacht an­hebt, der beabsichtigt, die Zuerkennung des Analytikerdiploms allein den Ärzten im neuen Institut de psychanalyse vorzubehal­ten. Sacha Nacht wird aus dem Direktorenamt gejagt und Lacan zum neuen Leiter gewählt; dieser sucht jedoch nicht die Spal­tung, sondern tut im Gegenteil das Menschenmögliche, um die Einheit der französischen Schule zu erhalten. Sehr bald veranlaßt man ihn, seine Verpflichtungen niederzulegen und seinen Platz für Daniel Lagache zu räumen, der nun die Spaltung der SPP her­beiführt. Lacan, in der Minderheit, muß sich beugen und tritt auch aus der SPP aus. In diesem Kontext einer offenen Krise gibt Lacan 1953 seinen »Rapport de Rome«.

Es gilt also für Lacan, einen gangbaren Weg, einen französi­schen Zugang zum Unbewußten zu bahnen. Um diese Heraus­forderung zu bewältigen, sucht er Rückhalt und institutionelle wie theoretische Unterstützung auf Seiten der beiden damaligen Massenorganisationen, der KPF und der katholischen Kirche.

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Dem KPF-Mitglied Luden Bonnafé übermittelt er eine Kopie seiner Rede von Rom, um die Parteileitung auf die von ihm ent­wickelten Thesen aufmerksam zu machen12, und schickt ein aus­führliches Sendschreiben an seinen Bruder Marc-François, der Mönch ist, worin er ihn bittet, bei Papst Pius XII. eine Audienz für ihn zu erwirken, die dieser jedoch verweigert — trotz der drei­faltigen Ordnung [Reales, Symbolisches und Imaginäres, siehe S. 185 ff., A.d.Ü.], in der Lacan den Freudianismus soeben neu de­finiert hatte. Hinter beiden fehlgeschlagenen Versuchen steckt das Bemühen, der Psychoanalyse ein zweites Leben einzuhau­chen, die Krise durch eine offensive, dynamische Bündnisstrate­gie einzudämmen. Wenn Lacan alle Mittel recht sind, so zieht er auch aus jeder geistigen Nahrung Honig — und zwar mit größe­rem Erfolg.

Alle Wege führen nach Rom

Der Bericht von Rom bedeutet gleichzeitig eine Rückkehr zu Freud, neu gesehen durch Hegel, Heidegger, Lévi-Strauss und ei­nem Quentchen Saussure. Zu diesem Zeitpunkt hat Lacan seinen Einflußbereich bereits ausgedehnt : Er gehört zu den angesehen­sten Psychoanalytikerpersönlichkeiten Frankreichs und hat seine Seminare vom Domizil seiner Frau Sylvia in den Hörsaal des Hô­pital Sainte-Anne verlegt. Zur Definition der sich anbahnenden Lehre eines erneuerten Freudianismus, wie ihn die frisch gegrün­dete Société française de psychanalyse (SFP) vertritt, stützt Lacan sich nunmehr ausdrücklich auf das strukturalistische Paradigma, das sich in den Sozialwissenschaften als Inbegriff der Modernität gibt. Lacan ruft dazu auf, den Sinn der psychoanalytischen Erfah­rung wieder aufzuspüren. Sein Ehrgeiz ist es, sie als Wissenschaft anerkannt zu finden: »Zu diesem Zweck können wir nichts Bes­seres tun, als uns dem Werk Freuds wieder zuzuwenden.«13 Dies bedeutet zunächst, sich von den Geschicken einer dem Pragma-

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tismus ausgelieferten US-amerikanischen Psychoanalyse zu tren­nen. Lacan brandmarkt den in ihr waltenden Behaviorismus, der die bloße Anpassung des einzelnen an die gesellschaftlichen Nor­men zum Ziel hat und eine Ordnungs- und Normierungsfunk­tion wahrnimmt, wie die Arbeiten von Erich Fromm, Sullivan und anderen sie vertreten. Die Rückkehr zu Freud muß sich an­hand einer besonderen Aufmerksamkeit für die Rede vollziehen : » [...] die Psychoanalyse hat nur ein Medium: das Sprechen des Patienten. Die Offensichtlichkeit dieser Tatsache entschuldigt nicht, daß man sie übergeht.« u Auf diesem Gebiet rechtfertigt Lacan seine Praxis der skandierten Sitzung und setzt dem chro­nometrischen Stopp die dem Geflecht der Patientenrede inne­wohnende Logik entgegen. Unmißverständlich bekräftigt er in Rom die Vorrangstellung der Sprache: »Es ist [...] die Welt der Worte, die die Welt der Dinge schafft [...].«15 Lacan knüpft wie­der an den 1949 in seinem Züricher Vortrag über das Spiegelsta­dium gelegten Schnitt zwischen dem Imaginären und dem Sym­bolischen an. Fern einer Kontinuität zwischen den beiden Ordnungen, dient das Symbolische dem Subjekt dazu, sich von seiner Fessel zum anderen zu distanzieren. Die Symbolisierung vollzieht sich in der Therapie durch die Übertragungsbeziehung zum Analytiker, der doppelt besetzt wird mit der Position des imaginären anderen und des symbolischen anderen, desjenigen, der angeblich weiß [siehe Schriften I, S.153, Fn 98, A.d.Ü.]. Die Analyse erfüllt somit diese symbolische Funktion. Lacan stützt sich auf die Elementaren Strukturen der Verwandtschaften Lévi-Strauss: »Nach diesem Grundgesetz überlagert das Reich der Kultur durch die Regelung von Verwandtschaftsbeziehungen das der Natur, das dem Gesetz der Paarung unterliegt. Das Inzestver­bot ist nur der subjektive Angelpunkt [...]. Hinreichend deutlich ist zu erkennen, daß dieses Grundgesetz mit einer sprachlichen Ordnung identisch ist.«16

In einem Herangehen, das Anleihen bei der Philosophie Hei­deggers macht, denkt Lacan, daß der Begriff Wissenschaft sich

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seit Piatos Theaitetos verloren hat, daß ein allmählicher Zerfall stattgefunden hat, den das positivistische Zeitalter, das das Ge­bäude der Wissenschaften vom Menschen für die experimentel­len Wissenschaften in Dienst genommen hat, beschließt. Der Im­puls, die Rückkehr zu den Quellen muß von der Linguistik kommen, der daher bei Lacan bereits 1953 die Rolle der Pilotwis­senschaft zufällt : »Die Linguistik kann uns hier zur Orientierung dienen; denn eben das ist auch die Rolle, die sie an der Spitze der zeitgenössischen Anthropologie spielt und der gegenüber wir nicht gleichgültig bleiben können.«17 Lacan bezieht sich aus­drücklich auf Lévi-Strauss, der in seinen Augen — wir werden darauf zurückkommen — auf dem Gebiet des Freudschen Unbe­wußten selbst weiter vorgedrungen ist als die Berufspsychoana­lytiker. Der Schlüssel für dessen Erfolg findet sich in der Ein­beziehung der sprachlichen, namentlich der phonologischen Strukturen in die Allianzregeln.

Lacans Neulektüre Freuds schreibt sich, indem sie der syn-chronischen Dimension den Vorrang gibt, in das Saussuresche Erbe ein: »Die Bezugnahme auf die Linguistik schließlich wird uns in eine Methode einführen, die uns aufgrund der Unterschei­dung synchronischer und diachronischer Strukturen in der Spra­che den unterschiedlichen Wert besser zu verstehen erlaubt, den unsere Sprache bei der Interpretation der Widerstände und der Übertragung besitzt [..·].«18 In diesem Sinne ist er auch intensiv am strukturalistischen Paradigma beteiligt und regt zu einer neuen Freud-Lektüre an, die nicht mehr die Theorie der einander folgenden Stadien für wesentlich erachtet, sondern diese auf eine ödipale Grundstruktur bezieht, die durch ihre Universalität ge­kennzeichnet, von zeitlichen und räumlichen Kontingenzen un­abhängig und jeder Geschichte vorgängig ist: »Sehr bedeutsam bei Lacan war die Einführung der synchronischen Perspektive, mit der er die diachronische Perspektive ersetzte.«19 Im Gegen­satz zu Saussure, dessen bevorzugter Gegenstand die Sprache {langue) war, privilegiert Lacan das Sprechen {parole). Diese Ver-

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Schiebung wurde durch die Praxis der Therapie nötig. Doch dieses Sprechen stellt deshalb noch nicht die Äußerung eines bewußten Subjekts dar, das Herr seines Sagens ist, ganz im Gegenteil: »Ich identifiziere mich in der Sprache, aber nur indem ich mich dabei in ihr wie ein Objekt verliere.«20 Dieses Sprechen ist auf immer von jedem Zugang zum Realen abgeschnitten, es befördert ledig­lich Signifikanten, die wechselseitig aufeinander verweisen. Der Mensch existiert allein durch seine symbolische Funktion, und durch sie muß er begriffen werden. Lacan präsentiert also eine radikale Umkehrung der Idee vom Subjekt, nun gedacht als Produkt der Sprache, als ihr Effekt, wie es die berühmte Formel »das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache« impliziert. Es ist also an keiner anderen Stelle nach der menschlichen Essenz zu forschen als in der Sprache. Das will Lacan sagen, wenn er be­hauptet: »Die Sprache (langue) ist ein Organ«, und: »Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, daß seine Organe außerhalb seiner sind.« Diese symbolische Funktion, die die Identität des Menschen fundiert, stellt Lacan in seiner Rede von Rom dem Si­gnalsystem der Bienen entgegen, die nur in der Starre der eta­blierten Beziehung mit der Realität, die sie bedeutet, gilt. Lacan findet also im Saussureschen Zeichen, das vom Referenten abge­schnitten ist, den quasi-ontologischen Kern der conditio hu-mana: »Möchte man diese Sprachdoktrin charakterisieren, muß man letzten Endes sagen, daß sie unverhohlen kreationistisch ist. Die Sprache ist schöpferisch.«21 Die menschliche Existenz hat für Lacan keinen anderen Ort als diesen symbolischen, und so trifft er sich in der Vorrangstellung, die er der Sprache, der Kultur, dem Tausch und der Beziehung zum anderen einräumt, naturgemäß mit Saussure und Lévi-Strauss.

In Rom ermächtigt und bemächtigt Lacan sich also der Wis­senschaftlichkeit der Linguistik: »Er war sehr froh, sich auf etwas stützen zu können, was eine wissenschaftliche Tragfähigkeit hatte. Das war Teil eines Plans, nämlich, in wissenschaftlicher Tonart von der Psychoanalyse Rechenschaft zu geben.«22 Damit

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bietet Lacan der Psychoanalyse die Möglichkeit, die Philosophie herauszufordern, indem sie sich dieser annähert, indem sie den Zugang zum Unbewußten aus dem Medizinischen löst und im Gegenteil das Unbewußte als Diskurs vorstellt. Die Philosophie steht vor einer neuen Herausforderung von Seiten einer erneuer­ten, wiederbelebten Psychoanalyse, die Anspruch auf Ablösung des philosophischen Diskurses erhebt.

Über Saussure zurück zu Freud

Lacans Saussure-Rezeption 1953 ist im wesentlichen über das Werk von Lévi-Strauss vermittelt. Später behandelt er die Frage eingehender und arbeitet nunmehr direkt anhand der Grundfra­gen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Diese zweite Lektüre verschafft Lacan einen völlig neuen Wortschatz Saussurescher Herkunft, den er sich zu eigen macht und 1957 in Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud bril­lant umsetzt. In diesem Haupttext stützt er sich ganz auf die strukturale Linguistik und zitiert ebenso eifrig Saussure wie sei­nen Freund Jakobson, der ihn regelmäßig in Paris besuchen kommt und sein Pariser Domizil bei Lacans Frau Sylvia hat. La­can siedelt sich im Saussurianismus an, dessen Begriffssystem er übernimmt, wenngleich er es seinen Zwecken anpaßt: »die Psy­choanalyse entdeckt im Unbewußten [...] die ganze Struktur der Sprache«23. Von Saussure übernimmt er den Algorithmus, der für ihn die Wissenschaftlichkeit der Linguistik begründet: »Das so geschriebene Zeichen verdanken wir Saussure«24. Freilich unter­zieht er diesen Algorithmus einigen für die Lacansche Perspektive sehr bezeichnenden Abänderungen. So modifiziert er die Zei-chensymbolisierung, indem er dem Signifikanten eine Majuskel zuerkennt und das Signifikat ins Kleingeschriebene verbannt. In diesem Sinn wandert auch der Signifikant, im Gegensatz zu seiner Stellung bei Saussure, ob seines Vorrangs über den Balken: ~

166 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Desgleichen läßt Lacan die beiden Pfeile verschwinden, die in den GaS das Gegenseitigkeitsverhältnis der beiden Seiten des Zeichens angeben, die dort so untrennbar sind wie Vorder- und Rückseite eines Blatt Papiers. Schließlich ist der Saussuresche Balken zwar wieder da, doch bezeichnet Lacan mit ihm nicht die Herstellung des Zusammenhangs zwischen der Signifikanten-und der Signifikatebene, sondern vielmehr »eine Schranke, die sich der Bedeutung widersetzt«25.

Linguisten dürften über diese Saussure-Anwendung verwirrt sein, doch leuchtet der Standpunkt Lacans ein, der, wiederum voll im strukturalistischen Paradigma, den Referenten noch radi­kaler entleert und das Signifikat auf einen Nebenschauplatz ver­bannt, wo es der signifikanten Kette in einer Bewegung unter­liegt, in die Lacan den Gedanken einführt, »daß das Signifizierte unaufhörlich unter dem Signifikanten gleitet«26. Damit ist das Subjekt aus dem Zentrum gerückt, Effekt eines Signifikanten, der seinerseits auf einen anderen Signifikanten verweist, ist es Produkt der Sprache, die in ihm spricht. Das Unbewußte wird also zum Effekt der Sprache, ihrer Regeln, ihres Codes: »Das philosophische cogito ist im Brennpunkt jener Täuschung, die den modernen Menschen so sicher macht, er selber zu sein in sei­nen Ungewißheiten über sich selbst« ; und : »Ich denke da, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke.«27

Die neue Auffassung von einem dezentrierten, gespaltenen Subjekt deckt sich vollkommen mit der Subjektauffassung, wie sie damals in den anderen strukturalistischen Feldern der Hu­manwissenschaften verbreitet ist. Dieses Subjekt ist gewisserma­ßen eine Fiktion, die nur durch ihre symbolische Funktion, nur durch den Signifikanten Existenz besitzt. Doch auch wenn der Signifikant Vorrang vor dem Signifikat hat, ist nicht davon die Rede, das Signifikat zu entleeren : »Das analytische Phänomen ist nicht zu verstehen ohne die essentielle Doppelung von Signifi­kant und Signifikat.«28 Es bleibt also eine Wechselwirkung beste­hen zwischen den beiden verschiedenen Ebenen, die Lacan auf

Der Appell von Rom (1953) : zurück zu Freud 167

Freuds Entdeckung des Unbewußten bezieht, was Freud, aus La-cans Sicht, zum ersten Strukturalisten macht. Der Signifikant läßt das Signifikat sogar eine Art Passion erleiden. Wie man hier er­messen kann, unterzieht Lacan die Saussureschen Begriffe eini­gen Änderungen, und so wie der Gedanke vom Gleiten des Signi­fikats unter dem Signifikanten für Saussure überhaupt keinen Sinn ergeben hätte, entging ihm auch der Begriff des Unbewuß­ten. Lacan greift die beiden großen, bereits von Jakobson benutz­ten rhetorischen Figuren Metapher und Metonymie auf, um von der Entfaltung des Diskurses Rechenschaft zu geben, und ver­knüpft diese beiden Verfahren mit dem Funktionsmechanismus des Unbewußten, das sich, da es ja wie eine Sprache strukturiert ist, zu deren Regeln vollkommen isologisch verhält.

Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache

Die Freudsche Verdichtung ist also mit dem metaphorischen Ver­fahren verbunden, während die Freudsche Verschiebung mit der Metonymie verwandt ist. Die Metapher funktioniert als eine si-gnifizierende Ersetzung und erweist damit die Autonomie und den Vorrang des Signifikanten gegenüber dem Signifikat. Neh­men wir zur Veranschaulichung dieses Phänomens das erhellende Beispiel von Joël Dor29, nämlich den metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks »Pest« zur Bezeichnung der Psychoanalyse, ein Ausdruck, den Freud bei seiner Ankunft in den Vereinigten Staa­ten gebrauchte :

51 akustisches Bild : »Psychoanalyse«

sl Begriff von Psychoanalyse

52 akustisches Bild : »die Pest«

s2 Begriff von Pest

168 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Die metaphorische Figur bewirkt nun die signifizierende Erset­zung von S2 zu Sl :

Sl

sl

S2

s2

S2

Sl

sl

s2

Diese Ersetzung läßt Sl unter den Bedeutungsbalken wandern, das zum neuen Signifikat wird und dadurch das alte Signifikat s2 (die Vorstellung Krankheit, den Begriff Pest) ausstößt. Lacan zeigt anhand der metaphorischen Figur, daß die Signifikanten­kette die Ordnung der Signifikate regelt. So dient ihm auch 1956 in seinem Seminar Edgar Allen Poes Novelle Der entwendete Brief As Beispiel, um den Vorrang des Signifikanten nachzuwei­sen, »die realistische Einfältigkeit« und die Tatsache, daß »die Verschiebung des Signifikanten die Subjekte in ihren Handlun­gen, in ihrem Geschick, in ihren Weigerungen, in ihren Verblen­dungen«30 bestimmt. Im Verlauf von Poes Novelle haben alle Handelnden, König, Königin und Dupin, sich jeweils etwas vor­gemacht, während der Brief/der Buchstabe [Lacans Deutung be­dient sich des Doppelsinns von frz. lettre bzw. engl, letter: Brief und Buchstabe, A.d.Ü.] ohne ihr Wissen zirkuliert. Alle werden von diesem Umlauf des Signifikanten (dem Brief/dem Buchsta­ben) bewegt, ohne sein Signifikat (den Inhalt) zu kennen. Im übrigen entzieht sich bei dieser Suche nach dem Brief/dem Buch­staben die Wahrheit stets, was Lacan Gelegenheit gibt, das Hei-

Der Appell von Rom (1953) : zurück zu Freud 169

deggersche Thema der alétheia aufzugreifen. Der Signifikant (der Brief/der Buchstabe) wirkt durch seine Abwesenheit.

Ein weiteres rhetorisches Verfahren, von dem das Unbewußte Gebrauch macht, ist die Metonymie. Dabei handelt es sich um eine Übertragung der Benennung, die verschiedene Formen an­nehmen kann: als Ersetzung des Inhalts durch den Behälter (»ich trinke ein Glas«), als Bezeichnung des Teils für das Ganze, das Nehmen der Ursache für die Wirkung oder des Abstrakten für das Konkrete. Greifen wir noch einmal zu dem von Joël Dor ge­gebenen Beispiel31 mit dem metonymischen Ausdruck »faire un divan« (auf die Couch gehen) für »être en analyse« (sich in Ana­lyse befinden). Die metonymische Figur impliziert hier ein Kon-tiguitätsverhältnis mit dem vorherigen Signifikanten, an dessen Stelle sie sich setzt :

Sl

sl

S2

s2

akustisches Bild : »Analyse«

Vorstellung, sich in Analyse zu befinden

akustisches Bild : »Couch«

Vorstellung von Couch

Sl

sl

S2

s2

170 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Der Unterschied zur Metapher besteht nun darin, daß der ausge­schaltete Signifikant nicht unter den Bedeutungsbalken wandert, wogegen das Signifikat s2 (Vorstellung von Couch) ausgestoßen wird: »Die Begriffe Metapher und Metonymie bilden in der La-canschen Perspektive zwei Hauptbausteine bei der strukturalen Konzipierung des unbewußten Prozesses.«32

Diese beiden Tropen untermauern ob ihrer Homologie mit den Phänomenen der Verdichtung und der Verschiebung Lacans Hypothese, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert sei. Daher legt Lacan dem Analytiker nahe, den Patienten wört­lich zu nehmen und dessen Sagen nicht hermeneutisch zu deuten. Darin folgt er Freuds Vorschriften zur gleichschwebenden Auf­merksamkeit des Analytikers. Die Buchstäblichkeit des Spre­chens liefert in sich selbst die signifikante Kette, die das Gewebe des Unbewußten ist. Es leuchtet ein, daß der formalistische Ge­sichtspunkt des Strukturalismus seine Wirksamkeit in der Praxis der Therapie findet. Lacan empfiehlt den Analytikern, sich in die Linguistik einzuarbeiten: »Wenn Sie mehr darüber erfahren wol­len, lesen Sie Saussure, und da ein Kirchturm die Sonne zu ver­decken vermag, präzisiere ich, daß es sich nicht um die Signatur handelt, der man in der Psychoanalyse begegnet, sondern um Ferdinand, den man als den Begründer der modernen Linguistik bezeichnen darf.«33 Es ist also die sprachliche Struktur selbst, die den Status des Unbewußten bei Lacan bestimmt und damit die Möglichkeit schafft, es zu objektivieren, seine Funktionsweise zugänglich zu machen. Schon Freud hatte gesagt, daß der Traum ein Rebus, ein Bilderrätsel sei: Lacan nimmt hier Freud beim Wort. Aber die Suche nach der letzten Bedeutung des Rebus wird stets zurückverwiesen durch die signifikante Kette, die fortwäh­rend die Wahrheit verschleiert anhand von Begegnungen, die man in den Beziehungen von Signifikanten und Signifikaten zwar or­ten mag, die aber die inkommensurable Dimension des Realen, das dem Unmöglichen zugewiesen ist, radikal verfehlen.

Ferner entlehnt Lacan sein Vokabular bei dem Linguisten und

Der Appell von Rom (1953): zurück zu Freud 171

Grammatiker Edouard Pichon, der bereits den Akzent auf die bestehende Unterteilung zwischen »Je« und »moi« gelegt hatte. Diese Unterscheidung greift Lacan auf. Diesmal trennt er radikal das »moi« ab, das verdammt ist zum Imaginären des »Je«, das Subjekt des Unbewußten, seinerseits gespalten in einer doppel­ten Strukturierung, die das »Je« auf immer von jedem Zugang zum Subjekt des Begehrens abschneidet, so wie bei Heidegger das Sein dem Seienden unzugänglich ist. 1928 führt Pichon den Begriff der Verwerfung {forclusion) ein, der zu einem Schlüssel­begriff des Lacanismus werden wird. Es geht darum, das Fehl­schlagen der Urverdrängung zu bezeichnen. Im Gegensatz zum Verdrängungsprozeß, der es dem Neurotiker erlaubt, an der Wiederkehr dessen, was verdrängt worden ist, zu arbeiten, »be­wahrt die Verwerfung nie, was sie abweist : Sie streicht oder tilgt es schlicht und einfach.«34 Die Verwerfung, die in die Psychose führt, rührt aus der Vertauschung der beiden Ebenen Signifikant und Signifikat. Der verstellende Gebrauch des sprachlichen Zei­chens legt also den Grund für die Pathologie des Psychotikers : »Der Schizophrene lebt fortan in einer Welt mannigfaltiger Sym­bole, und es ist die Dimension des Imaginären, der Begriffe, die hier verstellt {altérée) ist. Für den Delirierenden hingegen kann ein einziger Signifikant ein beliebiges Signifikat bezeichnen. Der Signifikant ist an keinen bestimmten Begriff gebunden.«35

Angesichts der Feststellung, wie zentral die Ordnung des Si­gnifikanten für Lacan ist, kann man dem Sprachwissenschaftler Georges Mounin nicht folgen, wenn dieser in Lacans Verwen­dung des Signifikantenbegriffs ein bloßes Synonym für »signifi­kativ im banalen Sinn des Wortes«36 sieht. Für Georges Mounin war Lacan, erst nachträglich von der Ansteckung durch die Lin­guistik ereilt, Opfer des »klassischen Heißhungers der Spätzün­der«37. In seiner Standortbestimmung der Psychoanalyse und Vermessung des strukturalistischen Phänomens im Jahre 1956 fordert Lacan die Analytiker erneut auf, bei ihren Patienten besonders aufmerksam auf die der ihnen angetragenen Rede

172 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

eigentümlichen Laute, Wendungen, Sentenzen, Pausen, Skandie­rungen, Einschnitte, Perioden und Parallelismen zu horchen. Dies ist die Tragfläche der Analyse: eine sprachliche, struktu­rierte Grundlage, die Lacan also durchaus zum Strukturalisten macht : »J. Lacan ist Strukturalist. Er hat es in Interviews hervor­gehoben. Er hat sogar den Eintritt der Psychoanalyse in diese Denkströmung mit seinem Namen unterzeichnet.«38

Die Rolle, die Lacan der Sprache zumißt, hat es ermöglicht, die Einsätze der Psychoanalyse, so wie sie in der Mitte der fünfziger Jahre gesetzt wurden, zu verschieben. Von der Medikalisierung ist man zu einer Aufwertung der analytischen Disziplin gelangt, die im Zentrum der Humanwissenschaften steht, die Philosophie herausfordert und etliche Philosophen vom rechten Wege ab­bringt, die, von der Konversion der Psychoanalyse zum Struktu­ralismus verlockt, ihr ursprüngliches Fachgebiet aufgeben und zur Psychoanalyse konvertieren. Indes hat sich Lacan nicht nur auf Saussure und Jakobson gestützt, sondern sich auch der Un­terstützung der strukturalen Anthropologie und somit Lévi-Strauss' versichert und damit sein Vorhaben gekrönt.

Das Unbewußte : ein symbolisches Universum

Als Lévi-Strauss 1950 seine Einleitung in das Werk von Marcel Mauss verfaßt, führt er zur Untermauerung seiner Thesen Lacan an: »Denn genaugenommen ist der, den wir geistig gesund nen­nen, gerade derjenige, der sich entfremdet, weil er bereit ist, in einer Welt zu leben, die allein durch das Verhältnis von Ich und Anderem definiert werden kann. (Anmerkung 6 : Diese Schluß­folgerung scheint sich mir aus der tiefgreifenden Studie von Dr. Jacques Lacan zu ergeben: »L'agressivité en psychanalyse«, Re­vue française de psychanalyse, Nr. 3, Juli-September 1948).«î So frühzeitig — noch vor der Rom-Rede — Lévi-Strauss auch Lacans Arbeiten Rechnung trägt, ist der Einfluß doch vornehmlich in umgekehrter Richtung zu erkennen.

Lacan hat sich bei seiner Neulektüre Freuds in weiten Teilen von der strukturalen Anthropologie inspirieren lassen und beruft sich ausdrücklich auf das Werk von Lévi-Strauss : »Wir selbst ma­chen vom Terminus der Struktur einen Gebrauch, den wir aus dem von Claude Lévi-Strauss glauben autorisieren zu können.«2

Lévi-Strauss' Werk, der anthropologische Strukturalismus, bildet den Eckpfeiler für Lacans radikalen Neuansatz nach dem Krieg. Die Übereinstimmung ist so groß, daß Lacan sich unablässig auf Lévi-Strauss bezieht (siehe die Ecrits, 1966) und ihn als wissen­schaftlichen Bürgen für seine erneuerte Auffassung vom Unbe­wußten zitiert.

Die Verschiebung von der somatischen zur kulturellen An­thropologie, die Lévi-Strauss durch die Bevorzugung des lingui­stischen Modells vornehmen konnte, ähnelt dem Ziel der Entme-dikalisierung, der Entbiologisierung des Freudschen Diskurses,

174 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

das Lacan verfolgt. Das Forschen nach strukturellen Invarianten in den Verwandtschaftsbeziehungen dient Lacan als Vorbild, um das Unbewußte als Struktur aus den psychologisierenden, beha-vioristischen Theorien herauszulösen. Diese intellektuelle Sym­biose vollzieht sich auf dem Hintergrund freundschaftlichen Ein­verständnisses : »Wir waren einige Jahre lang sehr befreundet. Mit den Merleau-Pontys fuhren wir zum Essen nach Guitrancourt, wo er ein Haus hatte.«3 Lévi-Strauss' wiederholte Behauptung, er verstünde Lacans Werk nicht, darf man durchaus bezweifeln, auch wenn nicht zu bestreiten ist, daß Lacans Schreibstil, sein Ba-rockisieren, dem Klassizismus von Lévi-Strauss sichtlich zuwi­derläuft. Es ist nicht zu leugnen, daß Lévi-Strauss der angetrage­nen Bürgschaft Lacans nicht bedurfte, während Lacan sich in sehr hohem Maße auf Lévi-Strauss stützte, um seine Thesen her­auszustellen und der psychoanalytischen Reflexion ein breiteres intellektuelles Feld zu eröffnen.

Lévi-Strauss und der Freudianismus

Wie ist es um Lévi-Strauss' Verhältnis zur Psychoanalyse be­stellt? Drei Stufen sind dabei zu unterscheiden, die eine gewisse Entwicklung erkennen lassen. Gleich während seiner Ausbildung entdeckt Lévi-Strauss sehr früh das Werk Freuds. Er hat einen Schulkameraden am Lycée Janson, dessen Vater Psychiater und einer der Wegbereiter der Freud-Rezeption in Frankreich war und eng mit Marie Bonaparte zusammenarbeitete [vgl. Das Nahe und das Ferne, S. 157, A.d.Ü.]. Über diesen Schulkameraden wird Lévi-Strauss alsbald auf die Existenz der Psychoanalyse aufmerk­sam: »Damals, zwischen 1925 und 1930, las ich, was von Freud übersetzt war, der also in der Ausformung meines Denkens eine sehr große Rolle gespielt hat.«4

Die zweite Stufe liegt im Erkenntniswert der Freudschen Lehre für die Anthropologie. In dieser Hinsicht gewärtigt Lévi-

Das Unbewußte: ein symbolisches Universum 175

Strauss eine Ausweitung der Bezugsgrößen des alten Rationalis­mus, die Möglichkeit, Phänomene verstandesmäßig zu erfassen, die sich bis dahin jeder logischen Deutung zu widersetzen schie­nen, sowie die Tatsache, daß die manifestesten Realitäten nicht immer die tiefgreifendsten und aufschlußreichsten sind. Diesbe­züglich sollte er der Freudschen Lehre treu bleiben.

Aber es gibt noch eine dritte Stufe, die der Konfrontation der beiden Disziplinen Anthropologie und Psychoanalyse — diesmal konkurrierend bei ihrer Annäherung an den Menschen. Denn ihre allzu enge Beziehung kann nur auf ein Konfliktverhältnis hinauslaufen, zumal Lévi-Strauss, was die therapeutische Wirk­samkeit der Psychoanalyse betrifft, ernstlich Zweifel hegt. Er wird also angesichts der zunehmenden Erfolge der Psychoana­lyse dazu neigen, das Freudsche Werk auf die Konstruktion einer eigenartigen abendländischen Mythologie zurückzuführen, de­ren Zusammenhang er als Mythologe zu entschlüsseln und deren Tragweite er zu relativieren vermag : »Was Freud in Wirklichkeit getan hat, war die Errichtung großer Mythen.«5 Demnach hat die Logik disziplinarer Konfrontation Lévi-Strauss dazu bewogen, sein Urteil über die Psychoanalyse zu »verhärten« (dies der Aus­druck, den er im Ende des Totemismus, Frankfurt/M. 1965 be­nutzt), wiewohl er anfangs vom Zugang auf das Unbewußte fas­ziniert war und sich mit Freuds Werk ständig auseinandersetzte. Bereits 1949 in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft kritisiert Lévi-Strauss Totem und Tabu und vertritt die Auffas­sung, daß Freud einen Mythos aufgebaut habe. Insbesondere je­doch verfaßt er 1949 zwei Aufsätze über das Unbewußte, die auf die Psychoanalytiker im allgemeinen und auf Lacan im besonde­ren überaus großen Einfluß gewinnen werden: »Der Zauberer und seine Magie« und »Die Wirksamkeit der Symbole«. Beide Aufsätze werden später in die Strukturale Anthropologie aufge­nommen. 6

Lévi-Strauss beschreibt die Tätigkeit des Schamanen als Heiler und das Verhältnis, das dieser zu seinem Publikum aufbaut. Zur

176 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Kennzeichnung der schamanischen Tätigkeit bedient er sich des psychoanalytischen Begriffs der Abreaktion, da jene ähnlich von­statten geht wie das Heilverfahren, bei dem der Analytiker seinen Patienten dazu bringt, die traumatische Situation, die am Ur­sprung seiner Störung steht, noch einmal zu erleben. Wenngleich Lévi-Strauss das psychoanalytische Schema als heuristisches Ver­fahren übernimmt, um die primitiven Gesellschaften besser zu verstehen, distanziert er sich von der Psychoanalyse als Disziplin, von der »beunruhigenden Entwicklung, die seit ein paar Jahren dahin tendiert, das psychoanalytische System aus einer Gesamt­heit wissenschaftlicher Hypothesen, die in einigen präzisen und begrenzten Fällen experimentell nachprüfbar sind, in eine Art diffuse [...] Mythologie umzuwandeln«7. Lévi-Strauss will mit dem Vergleich von schamanistischem und psychoanalytischem Heilverfahren zeigen, daß die Ähnlichkeit keine Gleichheit be­deutet, da »bei dem Heilverfahren eines Schamanen der Zauberer spricht und die Abreaktion für den Kranken vollzieht, der schweigt, wohingegen in der Psychoanalyse der Kranke spricht und gegen den Arzt, der ihm zuhört, abreagiert« [Lévi-Strauss, »Der Zauberer und seine Magie«, a.a.O., S.201, A.d.Ü.].

Das symbolische Unbewußte

Lévi-Strauss wird Lacan gerade da tief beeinflussen, wo er anläß­lich seiner vergleichenden Studie seine eigene Definition des Un­bewußten gibt, das er eben nicht als Zufluchtsort der Eigenheiten einer rein individuellen, einzigartigen Geschichte faßt, sondern aus der Historie herauslöst, indem er seine Verwandtschaft mit der symbolischen Funktion behauptet: »Es [das Unbewußte] be­schränkt sich auf einen Ausdruck, mit dem wir eine Funktion bezeichnen: die symbolische Funktion.«8 Auch fordert Lévi-Strauss eine scharfe Unterscheidung zwischen dem Unbewußten als Ansammlung singulärer Erinnerungen und dem Unbewuß-

Das Unbewußte: ein symbolisches Universum 177

ten, welches »immer leer ist; genauer gesagt, es ist den Bildern ebenso fremd wie der Magen den Nahrungsmitteln, die durch ihn hindurchgehen. Als Organ einer spezifischen Funktion be­schränkt es sich darauf, [...] Strukturgesetze aufzuerlegen [..·].«9

Lévi-Strauss' Unbewußtes ist also den Affekten, dem Inhalt, der Geschichtlichkeit des Individuums fremd. Es ist jener leere Ort, an dem sich die symbolische Funktion vollzieht. Wieder trifft man auf den dem strukturalen Paradigma eigenen Vorrang der In­variante vor den Variationen, der Form vor dem Inhalt, des Signi­fikanten vor dem Signifikat. Wir werden noch sehen, daß Lacan diese Auffassung vom Unbewußten übernimmt, da sie ihm er­laubt, »die Grundlagen zu einer Algebra der Signifikation«10 in der Psychoanalyse zu legen, genauso wie dies Lévi-Strauss in der Anthropologie bewerkstelligt hat. Lévi-Strauss präzisiert in sei­ner Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, daß er seine Defini­tion des Unbewußten im wesentlichen von Mauss entlehnt. Das Unbewußte ist durch seine Tauschfunktion definiert, es ist das Bindeglied zwischen dem Selbst und dem Anderen und nicht der geheime Hort des Subjekts. In diesem zentralen Text zeichnet Lévi-Strauss einen Weg vor, den Lacan einschlagen wird — den Weg zur Autonomie des Symbolischen : »Die Symbole sind realer als das, was sie symbolisieren; der Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt es.« n

Die mentalen Bezirke

An dieser Stelle tut sich eine Quelle des Mißverständnisses auf, denn jenseits der Analogien, die man zwischen semantischer My­thendekodierung und Techniken psychoanalytischer Deutung ausmachen kann, hat das Unbewußte des Anthropologen mit dem Freudschen Unbewußten wenig gemein. Bei Lévi-Strauss »ist das Unbewußte der Ort der Strukturen«12. Das Unbewußte ist für Lévi-Strauss definiert als ein System logischer Zwänge,

178 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

als ein strukturierendes Ensemble, als »die abwesende Ursache von Struktureffekten wie den Verwandtschaftssystemen, den Riten, den Formen des wirtschaftlichen Lebens, den symbolischen Systemen«13. Dieses rein formale Unbewußte, leerer Ort, reines Gefäß, ist weit entfernt vom Freudschen Unbewußten, das sich durch eine bestimmte Anzahl privilegierter Inhalte definiert. Auf diese Beseitigung des Inhalts, des Affekts, kommt Lévi-Strauss im Ende des Totemismus zurück. Er kritisiert darin den Rekurs der Psychoanalyse auf Affektivität, Emotionen und Triebe, denn diese entsprächen der dunkelsten Ebene des Menschen und seien für wissenschaftliche Erklärungen ungeeignet. Lévi-Strauss rechtfertigt die Unterscheidung zwischen diesen beiden Ebenen, indem er klarstellt, daß der Intellekt nur von dem Auskunft ge­ben könne, was aus einer ihm gleichgearteten Natur entspränge — was den Affekt somit ausschließt. Dessen ungeachtet behaup­tet er, das Unbewußte sei spezifischer Gegenstand der Anthro­pologie. »Die Ethnologie [ist] zunächst eine Psychologie«14, und der Anspruch, den er ihr zumißt, ist die Restituierung der univer­sellen Funktionsgesetze des menschlichen Geistes.

Die Freudsche Theorie entfaltet sich in zwei Dimensionen, in der topischen Dimension der Differenzierung verschiedener Schichten des psychischen Apparates und in der dynamischen Dimension der Konflikte, der Verkehrungen, der Entwicklung der in den Phänomenen Verdrängung, Verdichtung, Verschie­bung, Zensur aufgewandten Kräfte. Lévi-Strauss berücksichtigt davon als Strukturalist nur die topische Dimension, »diejenige, die es mit dem System der Orte zu tun hat, welche die Topologie des psychischen Apparates definieren«15. Mit diesem Begriff vom Unbewußten kann zugleich der Ort der symbolischen Funktion und seine Universalität bestimmt werden, der es einem mentalen Bezirk vergleichbar macht. Das Unbewußte kann somit aus den raumzeitlichen Kontingenzen herausgelöst und zu einer schlechthin autonomen, abstrakten, formellen Einheit gemacht werden. Auf die Frage, weshalb er bei seinem Gebrauch des Be-

Das Unbewußte: ein symbolisches Universum 179

griffs vom Unbewußten die Dimension des Wunsches umgehe, entgegnet Lévi-Strauss : »Ist denn das die fundamentale Dimen­sion des Unbewußten ? Davon bin ich keineswegs überzeugt«16, und er befindet, daß Freuds Behandlung der Träume als Wunsch­erfüllung eine sonderbar enge Auffassung verrate, daß sie ein rei­ner Mummenschanz, ein lächerlicher Nebel sei, um zu kaschie­ren, daß wir uns die biologischen Realitäten nicht zu erklären wissen.

Die Rivalität von Psychoanalyse und Anthropologie

Unlängst hat Lévi-Strauss seinen ununterbrochenen Dialog mit der Psychoanalyse in der Eifersüchtigen Töpferin fortgesetzt. Diesmal legt er den Spieleinsatz offen: die Rivalität zweier Diszi­plinen, die beide über das Unbewußte arbeiten; und die »Eifer­sucht« im Titel verweist auf die Eifersucht des Anthropologen gegenüber dem Psychoanalytiker, der einen fest umschriebenen Gegenstand, eine eigene Therapieform und eine unumkehrbare Akzeptanz der Gesellschaft für sich in Anspruch nehmen darf. Lévi-Strauss gibt also den Tonfall dieses Dialogs selber an, wenn er zur Eifersucht schreibt: »Die in der Eifersüchtigen Töpferin untersuchten Mythen, vor allem die der Jibaro, haben ja gerade den Reiz, daß sie die psychoanalytischen Theorien vorwegneh­men. Es mußte vermieden werden, daß die Psychoanalytiker sich ihrer zur eigenen Legitimation bemächtigten.«17 Er wiederholt seinen Vorwurf an die Adresse Freuds, der Entzifferungsarbeit nur einen einzigen Code zugrunde gelegt zu haben, und sieht Übereinstimmungen zwischen dem Seelenleben der Wilden und dem der Psychoanalytiker. Nach seiner Auffassung haben die letztgenannten schlicht die bereits von den primitiven Gesell­schaften gefundenen Charaktere der Analität und der Oralität auf ihr Konto gebucht: Wir sind »in vollkommen expliziter Form auf Begriffe und Kategorien gestoßen — etwa die des oralen und

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des analen Charakters —, von denen die Psychoanalytiker nicht behaupten können, sie hätten sie entdeckt : sie haben sie lediglich wiedergefunden«18.

Lévi-Strauss zufolge ist Freud also mit den Mythen gleichzu­setzen; nicht einmal das Verdienst der Erfindung komme ihm zu, da er bloß ein altes symbolisches Universum wiederverwertet habe. Lévi-Strauss stellt den institutionellen Spieleinsatz hinter diesem Streit oder Kampf um das Recht des Ersten noch deutli­cher heraus: »[...] kann man in der Psychoanalyse etwas anderes sehen als einen Zweig der vergleichenden Ethnologie, die auf die Untersuchung des individuellen Seelenlebens angewendet wird?«19 Ja, er schließt sein Werk mit einem sarkastischen Ver­gleich zwischen Sophokles' König Ödipus und Labiches Floren­tinerhut20, in beiden sieht er den Mythos auf zwei verschiedenen Ranghöhen walten: »Es dreht sich darum, daß die Psychoanaly­tiker ihren Hut fressen«21, wie André Green vor einer Versamm­lung gestandener Anthropologen treffend bemerkte.

Lacan eignet sich das Unbewußte nach Lévi-Strauss an

Lacan wird sich, wie er sich ausdrückt, mit Lévi-Strauss »um­mauern«. Er zitiert ihn bereits im Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1949) und in der Folge immer häufiger, wie die zahlreichen Bezugnahmen auf Lévi-Strauss in den Schriften be­zeugen. Dabei begnügt sich Lacan nicht mit einem schlichten wissenschaftlichen Rückhalt, was sehr nebensächlich wäre. Doch inwieweit entlehnt er bei ihm den anthropologischen Zugang auf das Unbewußte, und stellt dieser Einfluß nicht eine entschei­dende Wende gegenüber Freud dar ?

Gérard Mendel sieht in dieser Aneignung eine Bewegung, die von der Freudschen Konzeption des Unbewußten zu einer intellektualistischen Verkürzung führt, die das Unbewußte allen Inhalts entleert und es naturalisiert. Das spezifische Feld des

Das Unbewußte: ein symbolisches Universum 181

Freudschen Unbewußten bilden Primärvorgänge, in denen sich Vorstellungen und Phantasmen abspielen, die Momenten der Aktivierung und solchen der Verdrängung unterliegen. Ganz an­ders das völlig inhaltsentleerte Unbewußte nach Lévi-Strauss, das Lacan aufgreift : »Während er vom Unbewußten zu sprechen vermeint, spricht Lévi-Strauss stets nur vom Vorbewußten. [...] Was hier geleugnet wird — wie auch später bei Lacan —, ist das Existieren eines spezifischen Unbewußten überhaupt, Freuds entscheidender Beitrag.«22 Im Namen-des-Vaters Freud habe La­can im Gegenzug das Unbewußte beiläufig unter den signifizie-renden Balken des strukturalistischen Paradigmas gleiten lassen. So habe Lacan für seinen Dialog, seine anthropologische Bürg­schaft einen hohen Preis bezahlt, die Einbuße jenes einzigartigen Gegenstands der Psychoanalyse, der ihre wissenschaftliche Iden­tität begründet: des Unbewußten. »Ich glaube und habe immer geglaubt, daß Lacan dachte, über das Unbewußte zu arbeiten und dabei über das Vorbewußte arbeitete. [...] Die Behauptung, daß das Vorbewußte strukturiert ist wie eine Sprache, läßt sich durchaus verteidigen.«23

Fast zehn Jahre nach Gérard Mendel kommt ein ehemaliger Lacanianer, François Roustang, ebenfalls zu dem Urteil, daß das symbolische Unbewußte nur die Überschreibung der Auffassung von Lévi-Strauss auf den psychoanalytischen Bereich sei.24 Diese Entlehnung des Symbolischen bildet einen entscheidenden Mo­ment in Lacans Parcours, der, als er die spekulären Bilder des »Spiegelstadiums« untersuchte, sein Augenmerk zunächst auf das Imaginäre gerichtet hatte. Erst danach stützt er sich auf Lévi-Strauss, um das Irreduzible, die Außenständigkeit eines den Menschen überschreitenden Unbewußten zu behaupten, dessen innere Kombinatorik zu erfassen ihm zukäme. »Dieses dem Menschen Außenständige des Symbolischen ist der Inbegriff des Unbewußten.«25 Eine solche Heteronomie macht jegliches histo­rische Vorgehen illusorisch. Sie begründet eine Kette, in der der Mensch von vor seiner Geburt bis nach seinem Tod »wie eine

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Bauernfigur im Spiel des Signifikanten«26 gefangen ist. Die sym­bolische Ordnung ist ebensowenig auf ein Individuum beziehbar wie auf das Soziale, sie ist, gleich der Konzeption von Lévi-Strauss, leer, eine Tauschfunktion.

François Roustang sieht in dieser Entlehnung die Notwendig­keit einer erneuten Verschiebung, insofern Lacan, da er die Mit­wirkung des Sozialen ausklammert, »gezwungen ist, das Spre­chen zu einer Substanz zu machen und ihm eine Macht zu geben [...] kurzum, die Theologie der Schöpfung durch das Wort zu re­staurieren«27. Lacan schwankt demnach zwischen den Sirenen der Metaphysik, dem Evangelium nach Johannes, dem er in sei­ner Rom-Rede ein Motto entlehnt, und dem Modell der harten Wissenschaften Mathematik und Physik: »In welchem Maß müssen wir uns den Idealen der Naturwissenschaften nähern, ich meine, so wie sie sich für uns entwickelt haben, etwa angenom­men die Physik, mit der wir es zu tun haben ? Nun, die Definitio­nen vom Signifikanten und von der Struktur gestatten es, die pas­sende Grenze zu ziehen.«28 Lévi-Strauss dient Lacan als Vorbild, um den psychoanalytischen Diskurs zur Wissenschaftlichkeit zu führen, und Lacan beneidet ihn um die Symbiose, die er zwischen Ethnologie, Mathematik und Psychoanalyse zustande gebracht hat.

So unbestreitbar es ist, daß Lacan die fundamentale Kategorie des Symbolischen bei Lévi-Strauss entlehnt und sie vom anthro­pologischen ins psychoanalytische Feld verlegt hat, noch dazu hypostasiert, radikalisiert gegenüber ihrer Verwendung bei Lévi-Strauss, so wenig sind sich die Analytiker darüber einig, ob Lacan die Freudsche Auffassung vom Unbewußten außer Kraft gesetzt habe: »Es ist völlig abwegig, so weit zu gehen, daß man sagt, La­can sei in einem System, das nicht über die erste Topik hinausrei­che, kein Zugang zur Ebene des Unbewußten möglich.«29 Für Joël Dor macht das Unbewußte als Signifikantenkette die beiden Freudschen Topiken nicht hinfällig, im Gegenteil erhellt es sie und geht über sie hinaus. Auch wenn Lacan hinsichtlich wissen-

Das Unbewußte: ein symbolisches Universum 183

schaftlicher Strenge bei Lévi-Strauss in die Schule gegangen ist, verschiebt er doch die Werkzeuge, die er von ihm ausleiht, auf sein eigenes Feld. So übernimmt er zwar die Idee einer Struktur, eines Tauschkreislaufs als soziales Fundament, aber »er führt an, daß Lévi-Strauss sich im Irrtum befinde, wenn er denkt, zwi­schen den Stämmen würden die Frauen ausgetauscht, während es doch der Phallus ist, der ausgetauscht wird«30.

Trotz dieser Verschiebungen kehrt ab den fünfziger Jahren eine Thematik wieder, die Lévi-Strauss und Lacan gemeinsam ist — die Anstrengung des Universalismus, der Wissenschaftlichkeit, des Anti-Evolutionismus und das Streben nach Legitimation. La­can nennt beispielsweise die Geschichte eine »Chose [...], die ich verabscheue, aus den besten Gründen«31. Diese radikale Abwei­sung der Geschichtlichkeit stellt übrigens in der Anamnesepraxis der Therapie ein erhebliches Problem dar, während sie auf der an­deren Seite den Anschluß an das strukturalistische Paradigma, an die Vorrangstellung des Signifikanten erlaubt. Selbst wenn man einräumt, daß Lacan zum Freudschen Unbewußten vordringt, wäre also die Bezugnahme auf Lévi-Strauss keine simple »Anleh­nung, sondern eher ein Schlüssel, der ihm dazu diente, die eine oder andere Geheimtür zu öffnen«32. Übrigens stand Lacan nicht nur unter dem Einfluß von Claude Lévi-Strauss, sondern auch von Monique Lévi-Strauss, diese Verpflichtung hat er öffentlich bekannt. Er macht sich eine Formel zu eigen, die sie ihm zuge­spielt hat, daß »der Absender seine Botschaft in umgekehrter Form zurückerhielte«. Sie ist zu einem Klassiker des Lacanismus geworden.

Lacans Symbiose mit dem Werk von Lévi-Strauss zeugt von seinem Streben, die Erkenntnisgewinne der Psychoanalyse am umfassenden anthropologischen Reflexionsprojekt über die Nahtstelle zwischen Natur und Kultur zu beteiligen. Daher rührt auch bei ihm das Gewicht der Thematik des Anderen, die Refle­xion über die Alterität, über das, was der Vernunft entgeht, über den Ort des Mangels, über die Dezentrierung des Begehrens und

184 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

seine Heimatlosigkeit. Während Lévi-Strauss den Figuren der Alterität bei den Nambikwara nachspürt, behauptet Lacan die Macht des auf immer unzugänglichen Anderen, das ewige Seins­verfehlen. Zwischen Lévi-Strauss und Lacan gibt es durchaus mehr als Freundschaft, sie verbindet in den fünfziger Jahren eine bei den intellektuellen Projekten gemeinsame Kernintelligibilität, eine gleichartige Theoriepolitik, eine gleichartige Strategie, die über zwei Disziplinen mit unterschiedlichen Gegenständen hin­ausreicht.

RSI : die Häresie

Seltsamerweise bleibt eine von Lacans großen Entdeckungen in seiner Rede von Rom unerwähnt, obwohl sie ihr zwei Monate voraufgeht — seine berühmte Trilogie Reales/Symbolisches/Ima-ginäres (RSI), die im Juli 1953 noch eine andere, die Ordnung SIR innehat: Symbolisches/Imaginäres/Reales: »Nach meiner Auf­fassung ist das Lacans große Trouvaille.« * Er nennt sie sein The-riak, nach dem bekanntesten Medikament des Altertums, das man lange Zeit als ein Allheilmittel angesehen hat. Sie ist auch seine Dreistofflichkeit und später einfach RSI oder seine Häresie gegenüber Freud: »Ich glaube, daß bei dieser Erfindung sein Rückgriff auf die Linguistik zum Tragen kommt. Er führte da­mals einen Kampf und brauchte deshalb eine Politik der Theo­rie.«2 Diese Innovation datiert von 1953, als Lévi-Strauss sehr großen Einfluß auf Lacan ausübt, weshalb nicht unerheblich ist, daß in dieser ternären Ordnung das Symbolische an erster Stelle steht.

Der Strukturalismus kommt in der Aufwertung dieser dritten Ordnung zum Ausdruck, die in herausragender Lage zwischen dem Realen und dem Imaginären siedelt. Indes wird dabei aus dem linguistischen Binarismus eine trilogische Ordnung nach dem Schema der Hegeischen Dialektik, aber auch nach der Freudschen, zwischen Es, Ich und Über-Ich trennenden Topik — auch wenn Lacan dieser Unterteilung eine andere Bedeutung gibt. Die Umkehrung gegenüber Freud liegt in der Tatsache, daß das Symbolische die Struktur verwaltet, wohingegen in der Freudschen Perspektive den Trieben das Es, das dem Lacanschen Realen entspräche, zugrunde liegt. Dies ist der entscheidende

186 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Schwenk zur Sprache und ihrer Struktur. Das Unbewußte ist nicht mehr gleichsam einer verborgenen Hölle zuzuordnen, die es zu erkunden gälte, sondern es wird an der Oberfläche der Wörter, im Straucheln des Sagens greifbar.

Daher rührt die Vorrangigkeit der linguistischen Methoden, auf die Lacan sich 1953 in Rom stützt, während er gleichzeitig die Mitteilung seiner Entdeckung aufschiebt. In seiner ursprüngli­chen Topologie setzt er nach dem Symbolischen die Ebene des Realen, das nicht mit der Realität verwechselt werden darf; es ist im Gegenteil gerade deren verborgene, unzugängliche Seite. Das Lacansche Reale ist » Pim-monde« (das Widerwärtige/die Un­Welt), ist das Unmögliche. Ebenso wie das Heideggersche Sein vom Seienden abwesend ist, ist Lacans Reales die Seinsverfehlung der Realität. Was das Imaginäre betrifft, so ist es der dualen Be­ziehung des Spiegelstadiums zugeordnet und verurteilt das Ich zum Illusorischen, ja zur Befangenheit in der Täuschung, indem es sich in den verschiedenen Affekten vernebelt. Diese Triade ar­tikuliert sich beim Subjekt in einer unbegrenzten signifikanten Kette um den ursprünglichen Mangel eines unzugänglichen Rea­len. Lacans ternäre Ordnung stellt sich radikal gegen jede empiri­stische Auffassung eines zum Ausdruck von Bedürfnissen einge­ebneten Begehrens. Für ihn erhärtet sich das Begehren vielmehr aus der Begegnung mit dem Begehren des anderen, mit dem Hauptsignifikanten, der wiederum auf den Mangel verweist und die Tatsache des Verlangens erklärt.

Anfang der fünfziger Jahre sollte der junge, zur Psychoanalyse übergetretene Philosoph Moustafa Safouan den Fall eines hyste­rischen Patienten behandeln, der im Alter von vier Jahren von seinem Vater verlassen worden war. Safouan verzweifelte daran, daß er nicht verstehen konnte, wieso die Therapie um das väterli­che Bild kreiste, obwohl der Patient seinen Vater nie wirklich ge­kannt hatte. Kurz davor aufzugeben, wollte Moustafa Safouan sich wieder der Philosophie zuwenden, als Lacan ihn zu einem Seminar einlud, das er bei sich in der Rue de Lille abhielt und

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wo Safouan unter anderem Didier Anzieu, Pierre Aubry, Serge Leclaire und Octave Mannoni begegnete. Mittels der Unter­scheidung zwischen imaginärem Vater, realem Vater und sym­bolischem Vater, die er kennenlernte, konnte er die Rede sei­nes Patienten, die verheerende Wirkung seines Über-Ich, seine selbstbestrafenden Verhaltensformen, seine Vermeidungen intel-ligibel machen : »Mit diesen Unterscheidungen erneuert sich das Zuhören und die Art und Weise, wie man auf das Mitgeteilte ant­wortet.« 3

Diese neue Sichtweise überzeugt Moustafa Safouan endgültig von der Wirksamkeit der Psychoanalyse und der Stichhaltigkeit der Lacanschen Lesart. Über einen sehr langen Zeitraum, fünf­zehn Jahre, begibt er sich bei ihm in Therapie. Die Lacansche Tri­logie geht vom Postulat aus, daß das Subjekt immer mehr signifi-ziert, als ihm bewußt ist, und es deshalb Signifikanten gibt, die zur Aussage kommen, ohne als Illustrationen einer Bedeutung zu dienen, die das Subjekt im voraus beherrschte.

Ist Lacan Strukturalist?

Lacans große Innovation, die ternäre Ordnung und das lin­guistische Modell, auf das er sich in der Rede von Rom stützt, findet also zu beiden Teilen 1953 statt. Er gesteht übrigens die Existenz eines Vorher und eines Nachher ein, wenn er schreibt : »T.t.y.e.m.u.p.t., lies : Tu t'y es mis un peu tard« (Du hast dich et­was spät daran begeben). Gilt von da an: »Ist Lacan Struktura­list?«4 Er gibt eine abwägende Antwort. Einerseits hat Lacan durchaus Anteil am strukturalistischen Phänomen, da er seinen Strukturbegriff auf dem Umweg über Lévi-Strauss von Jakobson bezieht, andererseits jedoch sondert er sich davon ab, denn die Struktur der Strukturalisten »ist kohärent und vollständig, wäh­rend die Lacansche Struktur antinomisch und unvollständig ist«5. Im Gegensatz zur Hermeneutik, die der Struktur einen verbor-

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genen Platz zuordnete, den es zu entdecken und aufzuschlüsseln galt, bietet sich die Struktur bei Lacan in der sichtbaren Welt, durch die Einnahme des lebendigen Körpers, die sie vollzieht und wo sie ohne dessen Wissen spricht. Im Unterschied zur Saussure­schen Struktur, die sich aus dem Gegensatz bildet und sich durch die wechselseitige Vervollständigung von Signifikant und Signifi­kat definiert, bleibt das Subjekt des Unbewußten in der Lacan-schen Struktur fundamental unzugänglich. Es bleibt auf immer abgespalten, immer jenseits jeden Zugriffs, immer Seinsverfeh­lung, immer anderswo: »In dieser Hinsicht scheint mir dies ein ganz und gar eigentümlicher Strukturalismus, denn schließlich ist er eine Theorie, die der Tatsache Rechnung trägt, daß es da etwas Ungreifbares, etwas in der Theorie Nicht-Erfaßtes gibt.«6

Kann man also zwischen einem auf Vollständigkeit gegründe­ten Strukturalismus und einem auf Unvollständigkeit beruhen­den Lacanismus unterscheiden, so ist indes zu beobachten, daß man in beiden Fällen der Entleerung des Subjekts aus dem Unter­suchungsfeld begegnet. Auf der einen Seite wird es in der Vorge­hensweise Saussures oder Lévi-Strauss' zur Bedeutungslosigkeit reduziert und auf der anderen in der Lacanschen Vorgehensweise überbewertet, doch so, daß es dabei auf immer unzugänglich bleibt: nicht ausgelöscht, sondern umgangen. In beiden Fällen gibt es also ein Entfernen der Sachwelt, sei diese organisch oder sozial.

Das Begehren des Subjekts hat bei Lacan nichts Organisches mehr, es ist von jeder physiologischen Realität auf die gleiche Weise abgekoppelt, wie das sprachliche Zeichen von jedem Refe­renten abgeschnitten ist. Diese Konzeption weist der marxisti­sche Soziologe Pierre Fougeyrollas zurück: »Freud wußte, daß wir, im sexuellen Sinn, begehren, weil wir als menschliche Lebe­wesen existieren, und er hätte eine Auffassung, nach der wir exi­stierten, weil wir begehren, für eine paranoide Marotte gehal­ten.«7 In dieser Hinsicht verschärft Lacan den Saussureschen Schnitt Signifikant/Signifikat und legt eine persönliche Version

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des linguistischen Strukturalismus vor, die François George spaßhaft als »père-version«8 bezeichnet.

Lacan gedenkt, die Psychoanalyse als eine den exakten Wis­senschaften ebenbürtige Wissenschaft durchzusetzen, genauer gesagt, nach dem Vorbild der Physik. 1953 verwirft er die künstli­che Trennung zwischen den exakten Wissenschaften und den vorgeblich konjekturalen Human Wissenschaften. Lacan erinnert an die problematische Beziehung, die die experimentellen, for­malisierten Wissenschaften zur Natur unterhalten, an den An-thropomorphismus, dem sie, einschließlich der Physik, unter­liegen, und somit an die Haltlosigkeit der Unterscheidung von »harten« und »weichen« Wissenschaften. Nachdem er diese Trennwand niedergerissen hat, kann Lacan die Psychoanalyse mit einem wissenschaftlichen Anspruch nach dem Modell der am meisten formalisierten Wissenschaften ausstatten: »An diesem Beispiel wird deutlich, wie mathematische Formalisierung, die die Logik von Boole und sogar die Mengenlehre inspiriert hat, der Wissenschaft vom menschlichen Handeln jene Struktur der intersubjektiven Zeit vermitteln kann, die die psychoanalytische Konjektur braucht, um sich der Strenge ihrer wissenschaftlichen Geltung zu vergewissern.«9

Bonneval : das Ein-Bewußte

Sich eines soliden, auf Wissenschaftlichkeit angelegten Rückhalts zu versichern, gehört zu einer Theoriepolitik, die durch den Bruch innerhalb der freudianischen psychoanalytischen Schule erforderlich geworden war. In der Folge der Rede von Rom be­schließt der Psychiater und Lacan-Freund Henri Ey, das Kollo­quium von Bonneval 1960 dem Unbewußten zu widmen. Dieses Kolloquium ermöglicht nicht nur die Zusammenkunft und Kon­frontation der beiden Tendenzen der französischen Psychoana­lyse : der Société de psychanalyse de Paris, vertreten unter ande-

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rem durch Serge Lebovici, René Diatkine, André Green und Conrad Stein, und der Société française de psychanalyse, vertre­ten durch Serge Leclaire, Jean Laplanche, François Perrier und Jean-Bertrand Pontalis, sondern auch der Philosophen Paul Ri-cœur, Maurice Merleau-Ponty, Henri Lefebvre, Jean Hyppolite und schließlich der Psychiater, die zu den eifrigsten Teilnehmern der von Henri Ey organisierten Arbeitstreffen gehörten.10

Für Lacan kommt es darauf an, die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse nachzuweisen, und zwar sowohl gegenüber der IPA als auch gegenüber den phänomenologischen Philosophen, deren Überzeugungen über die zentrale Stellung des Bewußt­seins er dazu ins Wanken bringen mußte. Merleau-Ponty, immer­hin der psychoanalytischen Fragestellung aufgeschlossen, wie er überdies im selben Jahr, 1960, mit der Veröffentlichung von Signes bezeugt, kann indes Lacans Schlußfolgerungen nicht nachvollziehen und erklärt: »Ich empfinde Unbehagen, wenn ich sehe, daß die Kategorie der Sprache den ganzen Platz ein­nimmt.« n Bei diesem zur Gänze dem Unbewußten als dem ei­gentlichen Gegenstand der Psychoanalyse gewidmeten Kollo­quium vollzogen zahlreiche Psychiater ihre Konversion und wechselten von der Psychiatrie zur Psychoanalyse über. Die mei­sten von ihnen überzeugte dabei der modernste, der strengste Diskurs, getragen von der doppelten Gewährleistung der Lin­guistik und der Anthropologie — der Diskurs Lacans.

Den Hauptvortrag zu diesem Kolloquium hatten die Lacan-Schüler Jean Laplanche und Serge Leclaire ausgearbeitet. Ge­meinsam zeichneten sie für einen Text verantwortlich, der einen von Jean Laplanche verfaßten theoretischen und einen von Serge Leclaire besorgten eher klinischen Teil umfaßte. Letzterer analy­sierte den Traum eines jüdischen Patienten um die dreißig, von dem man heute weiß, daß es er selber war. Was er in dieser äußerst feinsinnigen Analyse darlegte, bedeutete eine vollständige Er­neuerung der klassischen Behandlung, die sich bis dahin auf eine reine Anamnese-Arbeit beschränkt hatte. Der Traum vom Ein-

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hörn, von dem die Rede war, bot die Gelegenheit, den Signifikan­ten voranzustellen : »Die Psychoanalyse erweist sich also als eine Praxis des Buchstabens.«12 In Umkehrung des herkömmlichen Verfahrens der Suche nach einem im Ungesagten verborgenen Sinn ist Serge Leclaire der Auffassung, daß »gerade die buchstäb­liche Formel die Vorstellung mit ihrem einzigartigen Wert affi-ziert«13. Durch seinen Traum vom Einhorn veranschaulicht er La-cans Theorie, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert sei. Der einzige Punkt, in dem er vom Lehrmeister abwich und von dem er sich eine Diskussion versprach — die allerdings nicht zustande kam —, betrifft seine Auffassung von der Urverdrän-gung: »In Bonneval wurde die Diskussion über diesen Punkt mit Stein geführt, nicht aber mit Lacan. Und doch habe ich einen von Lacan abweichenden Standpunkt vorgebracht, was aber nicht gleich wahrgenommen wurde.« u

Jean Laplanche nimmt, wenngleich er zu Lacans Gefolge ge­hört, bei dieser Gelegenheit Abstand von Lacans Kernformel, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert sei. Vielleicht ist es kein Zufall, daß man auf kritische Stellungnahmen gegen­über dieser Strukturalistischen Ausrichtung bei einem ehemaligen Aktivisten der Gruppe »Socialisme ou barbarie« wie Jean La­planche stößt. Seine Kritik trifft sich, auf anderem Gebiet, mit derjenigen, die Claude Lefort Anfang der fünfziger Jahre gegen Lévi-Strauss ins Feld geführt hat. Laplanche war gemeinsam mit Cornelius Castoriadis und Claude Lefort nach dem Krieg an der Gründung der Gruppe »Socialisme ou barbarie« beteiligt gewe­sen. Er beginnt sich 1946 in den Vereinigten Staaten für die Psychoanalyse zu interessieren und begegnet in New York Loe-wenstein, der ihm rät, die in Harvard abgehaltenen Lehrveran­staltungen zur Psychoanalyse zu besuchen. Zurück in Frank­reich, sucht Jean Laplanche seinen früheren Khagne-Lehrer Ferdinand Alquié auf, der ihm einen Psychoanalytiker zur Auf­nahme einer Therapie nennen soll, und dieser informiert ihn da­von, daß ein gewisser Lacan regelmäßig hochspannende Vorle-

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sungen hält: »Er sprach seinerzeit vom Spiegelstadium, von der Identifizierung der Turteltauben, der Tauben und der Wander­heuschrecken. Ich habe mich ihm vorgestellt und mit ihm eine Psychoanalyse begonnen. Ich habe also Lacan jahrelang als Psy­choanalytiker gekannt und habe es mir über diese ganze Zeit hin­weg versagt, in sein Seminar zu gehen, um die von ihm prakti­zierte Vermengung von Unterricht und Analyse zu meiden.«15

Jean Laplanche befindet sich in Bonneval in einer zwiespälti­gen und frustrierenden Lage, denn gegenüber der SPP gilt er als Lacan-Schüler, hätte jedoch gerne einige kritische Vorbehalte zu Gehör gebracht, die undiskutiert der Blocklogik zum Opfer ge­fallen sind. Er greift zurück auf Freuds Definition des Unbewuß­ten mit ihrem topischen Sinn, der das Unbewußte sowohl vom Bewußten als vom Vorbewußten abgrenzt. Er tritt für die Idee ei­ner zweiten Struktur ein, um Freuds Unterscheidung zwischen Sach- und Wortvorstellung, zwischen Primär- und Sekundärvor­gang Rechnung zu tragen. Damit ergibt sich eine erste, nichtver­bale Sprachebene, die der Vorstellungen von Sachen, und eine zweite, verbalisierte, die der Vorstellungen von Wörtern. Daraus leitet Jean Laplanche ab, daß »das Unbewußte die Bedingung der Sprache ist«16. Er kehrt den Lacanschen Satz um und schmälert damit den der Sprache zugewiesenen Stellenwert und ihre meta­phorische und metonymische Funktionsweise, die die Realität des Unbewußten nicht ausschöpft : »Was gleitet, was verschoben wird, ist die Triebenergie im unspezifizierten Reinzustand.«17

Jean Laplanche weist also die Modellrolle, die Lacan der Lin­guistik zuweist, von vornherein ab und wird im folgenden seine Kritik bekräftigen, indem er behauptet, daß das Unbewußte nicht so strukturiert sei, wie es bei Lacan heißt : »Wenn es sprach­liche Elemente im Unbewußten gibt, was nicht zu leugnen ist, so bewirkt die Verdrängung eigentlich eine Destrukturierung und keine Strukturierung dieser Elemente.«18 Inzwischen hat La­planche seine Position noch weiter pointiert.19 Radikaler als 1960, behauptet er erstens, daß die Sprache nicht so strukturiert sei,

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wie man es sagt, wenn man sie auf eine binäre Struktur reduziert, und darüber hinaus, daß das Unbewußte sich nicht aus Wor­ten konstituiere, sondern aus Spuren von Dingen, und daß seine Funktionsweise der der Struktur genau entgegengesetzt sei: »Abwesenheit von Verneinung, Koexistenz der Gegensätze, Ab­wesenheit von Urteil, keine Verhaltung oder Festigung der Besetzungen.«20 Er schlägt vor, die Lacansche Formel durch fol­gende zu ersetzen: »Das Unbewußte ist ein Wie-eine-Sprache, aber ein nicht strukturiertes«21.

In der Tat weist Lacan die Verbindung, die Laplanche zwi­schen Denken und Sprache zieht, zugunsten des Schnitts im Saussureschen Algorithmus zurück, den er als radikal betrachtet. Für Lacan ist es zweifellos auch strategisch wichtig, die Psycho­analyse mit den Erkenntnissen der modernen Linguistik zu ver­klammern und anzunehmen, daß »das Menschliche Sprache ist«22. Lacan mit seinem epistemologischen Anspruch sieht in dieser Konzeption die einzige Möglichkeit, die psychoanalyti­sche Disziplin an dem globalen semiologischen Abenteuer zu be­teiligen, das seit Anfang der fünfziger Jahre seinen Aufschwung nimmt. Doch wird er den Text von Laplanche nicht auf dem Kol­loquium von Bonneval diskutieren, wo aus taktischen Gründen unter seinem Banner die Einheit Vorrang haben soll. Vielmehr entwickelt er die Idee, daß das Unbewußte ein Effekt der Spra­che, eines zwischen Wahrheit und Wissen gespaltenen cogito sei. Erst 1969 äußert er in dem Vorwort, das er für die ihm gewidmete thèse von Anika Lemaire verfaßt, daß er mit seinem Schüler nicht einverstanden ist.23

1960 hält Lacan in Bonneval eine Rede, die er später gründlich umarbeitet, um sie 1966 unter dem Titel: »Stellung des Unbe­wußten« in seine Schriften aufzunehmen. Darin denunziert er die Täuschungen des Cartesischen cogito und eben dadurch die klas­sische Philosophie, die sich, nach dem Muster Hegels, auf ein ab­solutes Wissen bezieht. Das Bewußtsein ist durch seinen spekulä-ren Widerschein ganz in die Verhaftung des Ich (moi) genommen

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und somit der »Funktion des Verkennens, die es von daher be­gleitet« 24, zugewiesen. Das Cartesische cogito ist also für Lacan ein erstes Moment, ein Vorausgesetztes des Unbewußten. Lacan bekräftigt die Priorität des Signifikanten über das Subjekt, dessen Register sich daraus einrichtet, daß ein Signifikant ein Subjekt für einen weiteren Signifikanten repräsentiert. Das zweite Moment, das er unterscheidet, ist das der Abtrennung oder »Wiederabspal­tung« (refente) des Subjekts: Dieses Moment veranschaulicht er durch die Geburt des Neugeborenen, das nicht, wie es häufig heißt, von seiner Mutter getrennt wird, sondern von einem Teil seiner selbst ; wenn seine Nabelschnur durchschnitten wird, ver­liert es seine anatomische Ergänzung : »Wenn das Ei bricht, ent­steht der Mensch, französisch l'Homme, aber auch die Homme-lette.«25 Dieser anfängliche Schnitt wird im späteren Leben unaufhörlich reaktiviert und erfordert Grenzen, damit die »Hommelette« sich nicht überall ausbreitet und alles zerstört, was auf ihrem Wege liegt. Dieser Schnitt macht das Reale unzu­gänglich und gibt dem Trieb, der auf sie verweist, eine todbrin­gende Dimension — der dementsprechend ein Todestrieb ist.

Das Unbewußte für sein Teil verweist auf das Symbolische, es besteht aus Phonemen bzw. Phonemgruppen und findet somit seine Fundamente in der Sprache. Deshalb sagt Lacan 1966 : »Die Wissenschaft, der das Unbewußte obliegt, ist mit Sicherheit die Linguistik.«26 Auf das Sein (l'Être) folgt der Buchstabe (la Let­tre) : Damit schlägt die Siegesstunde des strukturalistischen Para­digmas in der Psychoanalyse.

Der Ruf der Tropen

Zwischen der Konferenz von Neu-Delhi (1949) und der von Ban­dung (1955) äußert sich mit wachsender Wucht eine neue Forde­rung, die die üblichen Spaltungen zwischen Osten und Westen durchbricht; ein dritter Weg setzt sich durch. Er kommt aus dem Süden und erstrebt die Anerkennung der gleichen Würde für die westliche Zivilisation wie für die farbigen Völker. In diesem Zu­sammenhang der Entkolonisierung erhält Claude Lévi-Strauss von der UNESCO den Auftrag, einen Beitrag in einer Reihe über die Frage der Rassen im Licht der modernen Wissenschaft zu schreiben, woraus der 1952 veröffentlichte Text Rasse und Ge­schichte hervorgeht.

In diesem Text, der einen maßgeblichen Beitrag zur Theoreti-sierung der laufenden Emanzipationsprozesse darstellt, nimmt sich Claude Lévi-Strauss die Rassenvorurteile vor. Sein Eingrei­fen erlaubt es, die Anthropologie — wie Paul Rivet dies bereits vor dem Krieg getan hatte — für die sozialen Kernfragen zu enga­gieren und die bereits skizzierte Verlagerung von der somati­schen zur sozialen Anthropologie deutlich zu machen. Lévi-Strauss kritisiert die auf der Reproduktion des Gleichen fußende Geschichtsteleologie und setzt ihr die Idee der Verschiedenartig­keit der Kulturen und ihrer unhintergehbaren Differenz entge­gen. Er leistet also eine essentielle Revolution der Denkweisen, indem er die Fundamente eines Eurozentrismus angreift, den die Völker der dritten Welt in einer trikontinentalen Aufbruchbewe­gung zur Abschüttelung des kolonialen Jochs erschüttert haben. Diese Sicht läßt es nicht mehr zu, in Begriffen der Vorherigkeit oder der Unterlegenheit zu denken. Sie zerbricht die hierarchi-

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sehe Gußform einer westlichen Gesellschaft, die sich als das nachahmenswerte Vorbild für den Rest der Welt dargestellt hatte. Das okzidentale Oktroi wird abgeworfen, und man nimmt in Augenschein, was es verhehlt hat. Mit seiner Anfechtung des Evolutionismus bleibt Lévi-Strauss innerhalb der Tradition von Mauss, umschifft indes die Klippen eines Lokalismus, der jede Gesellschaft in ihre kleine Partikularwelt einschlösse. Im Ge­genteil, er sieht in jeder Gesellschaft den Ausdruck eines kon­kreten Universellen. In diesem Sinne erweist er sich nicht nur als Ortskundiger, der dem Westen das Verständnis des Anderen er­schließt, sondern er zeigt auch, daß dieses Andere uns etwas über uns selbst lehren kann, daß es zurückkehren kann, um uns in un­serer Eigenschaft als signifikanter Bruchteil des menschlichen Universellen zu verändern.

Hier bietet sich der strukturalistische Ansatz kraft seiner Idee von der Interkommunikabilität der Codes als Grundlage für die Intelligibilität des Anderen an. Tatsächlich können alle Systeme untereinander kommunizieren, wenn man sich auf die Ebene des Übergangs von einem Code zu einem anderen begibt : »Ein un­mittelbarer Dialog ist nicht möglich. Das Unverständnis rührt aus der Unfähigkeit der Beteiligten, das eigene System zu überschrei­ten. Wenn jedoch einer zu einem universalistischen Humanismus beigetragen hat, dann sicher Lévi-Strauss.«l Gegenüber der westzentrierten Geschlossenheit eröffnet sich das Verständnis ei­nes sehr viel weitergefaßten Universums, das auf der Vielförmig-keit der Kulturen beruht und damit für die Erkenntnis des Men­schen eine Bereicherung bedeutet.

Lévi-Strauss unterscheidet zwei Formen der Beziehung zur Historizität, das heißt, er stellt der akkumulativen Geschichte der großen Zivilisationen das Streben entgegen, jede Neuerung, die als Gefährdung des ursprünglichen Gleichgewichts wahrge­nommen wird, aufzulösen [die sogenannten kalten Gesellschaf­ten also, A.d.Ü.]. Die kumulative Geschichte ist allerdings kein Vorrecht des Westens, sie ist auch in anderen Breiten am Werk ge-

Der Ruf der Tropen 197

wesen. Darüber hinaus lehnt Lévi-Strauss jede hierarchische Wertsetzung ab, durch die irgendeine Zivilisation als den anderen voraus hingestellt werden könnte. Er relativiert alle Auffassungen dieser Art, indem er ihre Kriterien auseinanderlegt. So verfügt die westliche Zivilisation über einen unstreitigen Vorsprung in der Technik; zieht man jedoch andere Kriterien heran, wird man gewahr, daß Zivilisationen, die für den Westen das primitive Stadium, die Wiege der Welt darzustellen schienen, in Wahrheit mehr Findigkeit entfaltet haben als der Westen: »Ist das Krite­rium der Grad der Fähigkeit, mit den ungünstigsten geographi­schen Umweltbedingungen fertig zu werden, dann dürften zwei­fellos auf der einen Seite die Eskimos, auf der anderen Seite die Beduinen die Palme davontragen.«2

In diesem variablen Spiel möglicher Felder wird der Westen auf sämtlichen Ebenen mit Ausnahme der technischen überflügelt. Das gilt zum Beispiel für die spirituellen Exerzitien, die Zusam­menhänge zwischen Körper und Konzentration des Geistes. Darin sind der Osten und der Ferne Osten dem Westen »um mehrere Jahrtausende voraus«3. Bei einer Auszeichnung nach mehreren Kriterien gebührt die Palme für die Komplexität in der Organisation der Verwandtschaftsbeziehungen den Australiern und die für ästhetische Kühnheit den Melanesiern. Lévi-Strauss zieht daraus die doppelte Lehre, daß jede über jedwede Gesell­schaft getroffene Diagnose relativ zu den angelegten Kriterien ist und daß menschliche Bereicherung nur aus einem Prozeß des Zu­sammenwachsens dieser verschiedenen kulturellen Erfahrungen rühren kann, der alsdann zur Quelle neuer Erkenntnisse wird: »Das einzige Verhängnis, der einzige Makel, der eine Menschen­gruppe treffen und an der vollen Entfaltung ihrer Natur hindern kann, ist, isoliert zu sein.«4

Auf spektakuläre Weise begründet Lévi-Strauss in der Theorie die Praxis des Abwerfens des kolonialen Oktrois und gewinnt im selben Zuge diese anderen Gesellschaften für das Wissens- und Problemfeld der westlichen Gesellschaft zurück. Doch die Frage

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der Differenz ist nicht nur Ausdruck der Irreduzibilität des Ande­ren, sie enthält auch ein ideologisches Konzept, das als solches analysierbar ist. So unterminiert das sich entfaltende strukturali-stische Paradigma die Grundfesten der Philosophien der westli­chen Totalität von Vico, Comte, Condorcet und Hegel bis Marx. Es läßt sich in ihm das Wiederaufleben eines Denkens sehen, das aus der Entdeckung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert geboren wurde: »Zu dieser Zeit bekommt die westliche Vernunft einen Riß. Montaigne erkennt, daß etwas total Heterogenes ihre Funda­mente zertrümmert. Seit den Griechen ist es eine Konstante des Westens gewesen, nie Macht auszuüben, ohne sie im Universellen zu fundieren.«5 Tatsächlich sagte schon Montaigne, daß wir die Zerrüttung der Nationen der Neuen Welt vorangetrieben hätten, und beklagte, daß die sogenannten Zivilisatoren es nicht verstan­den hätten, zwischen den Indianern und sich eine brüderliche und verständige Gesellschaft aufzubauen. Indem er diese Trauer wie­derbelebt, wird Lévi-Strauss' großangelegter Essay Rasse und Ge­schichte rasch zum Brevier antirassistischen Denkens.

Die Polemik Caillois/Lévi-Strauss

Trotzdem wird das Buch zum Gegenstand einer scharfen Kritik seitens Roger Caillois'.6 Als Lévi-Strauss 1974 als Nachfolger auf den Stuhl von Montherlant in die Académie française aufgenom­men wird, empfängt ihn ausgerechnet Roger Caillois. Der läßt al­lerdings die giftige Polemik nicht unerwähnt : »Sie haben mir in einem Tonfall, mit einer Unverblümtheit, mit einer Vehemenz und unter Einsatz einer in geistigen Auseinandersetzungen selten anzutreffenden polemischen Weise geantwortet, daß mich dies seinerzeit verblüffte.«7 Wie Roger Caillois in Erinnerung ruft, war die Antwort von Lévi-Strauss derart heftig, daß dieser »Dio-gène couché«8 nie in seine späteren Aufsatzsammlungen aufge­nommen hat. Welches sind die strittigen Punkte der Polemik ?

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Roger Caillois zieht eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Heraufkunft bestimmter Philosophien und der Epoche, die sie hat entstehen lassen, wobei er in ihnen keine bloße Widerspie­gelung einer Periode, sondern im Gegenteil den Ausgleich eines Mangels beobachtet. Bis Hegel denkt die westliche Philosophie die Geschichte im wesentlichen in ihrer Linearität, in ihrer Uni­versalität, während die Beziehungen zwischen dem Westen und seinen Imperien noch unsicher und lückenhaft sind. Die gängigen Doktrinen forcieren eine eindimensionale Verkettung von Ursa­chen und Wirkungen der menschlichen Evolution, während diese eine noch sehr disparate Wirklichkeit umfaßt. Als nun mit dem ersten Weltkonflikt die Geschichte tatsächlich planetarisch wird, werten die wissenschaftliche Forschung und die kollektive Sensi­bilität die Pluralität und die Irreduzibilität der Differenzen auf — zum selben Zeitpunkt also, als diese Pluralität erlischt. Roger Caillois sieht in Rasse und Geschichte das gelehrte Konzentrat dieser zweiten Haltung, die er als Ausdruck des vorausgeahnten Niedergangs des Westens wahrnimmt. Er wirft Lévi-Strauss vor, den früher vernachlässigten Völkern nun unverhältnismäßige Fähigkeiten zuzusprechen, und kritisiert seinen relativistischen Standpunkt überhaupt. So weist er Lévi-Strauss einen Selbstwi­derspruch nach, wenn dieser einerseits alle Kulturen für gleich­wertig und unvergleichbar hält (»Der Fortschritt einer Kultur läßt sich nicht in dem Bezugssystem messen, das eine andere be­nutzt. [...] Diese Einstellung ist vertretbar.«9) und andererseits in der Frage des Verhältnisses von Physis und Moral dem Osten ei­nen Vorsprung von mehreren tausend Jahren gegenüber dem We­sten zuerkennt. Sein Relativismus lasse Lévi-Strauss übers Ziel hinausschießen. Dagegen führt Caillois jene Überlegenheit der westlichen Zivilisation ins Feld, die, wie er meint, gerade in der ständigen Neugier gegenüber den anderen Kulturen liegt, aus der auch die Ethnographie entstanden ist, ein Bedürfnis, das die an­deren Zivilisationen eben nicht empfunden haben: »Anders­herum als das Sprichwort es möchte, hat der Splitter im Auge von

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Lévi-Strauss ihn daran gehindert, den Balken in den Augen der anderen zu sehen. [...] Die Haltung ist nobel, aber ein Gelehrter sollte es sich eher angelegen sein lassen, die Splitter und Balken dort zu erkennen, wo sie sich befinden.«10

Die Erwiderung läßt nicht auf sich warten, und sie ist eiskalt. Neuerlich dient seltsamerweise Sartres Zeitschrift Les Temps Mo­dernes Lévi-Strauss als Tribüne zur Entfaltung seiner Thesen. Ohne Umschweife kommt Lévi-Strauss zur Sache: »Diogenes bewies die Bewegung, indem er ging. M. Roger Caillois legt sich hin, um sie nicht zu sehen.« n Lévi-Strauss zieht noch einmal die Kraftlinien seiner Beweisführung nach, ohne im mindesten Ro­ger Caillois' Argumentation zu weichen. Dessen Anspielung auf den Kannibalismus beantwortet er damit, daß er die Moral nicht in der Küche ansiedele und wir bezüglich der Zahl der getöteten Menschen weit besser seien als die Papuas. Die Heftigkeit der Polemik überrascht: »M. Caillois' Verfahren beginnt mit Stamm­tischpossen und geht mit predigerhaften Verkündungen weiter, um in Büßerlamentos zu enden. Das war ja übrigens auch der Stil der Zyniker, auf die er sich beruft.«12 »Amerika hatte sei­nen McCarthy: Wir werden unseren McCaillois haben.«13 Was jenseits des polemischen Tons bleibt, sind eine wichtige kleine Schrift zur Bekämpfung der Rassenvorurteile Anfang der fünfzi­ger Jahre und eine treffende Einschätzung Caillois', der zufolge sich in einem scheinbar dem unaufhaltsamen Niedergang preis­gegebenen Europa ein Denken der Dämmerung durchsetzt.

Das Buchereignis : Traurige Tropen

1955 wirkt die Konferenz von Bandung weltweit wie »ein Don­nerschlag« — so einer der Anführer der damaligen afroasiatischen Bewegung, Leopold Sédar Senghor. Zum gleichen Zeitpunkt ma­chen die Fortschritte der zivilen Luftfahrt westlichen Touristen die entlegensten Zivilisationen erreichbar. Ein regelrechter Exo-

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tikboom sucht die Alte Welt heim. Reiseveranstalter bieten je­weils auf ihre Art einen mit westlichem Beiwerk geschmückten Tapetenwechsel an. Allenthalben bilden sich Brückenköpfe des Tourismus, als lauter exterritoriale, in sich geschlossene Halbin­seln. Bald durchrastert der Club Méditerranée die Kontinente und bietet hinter den Gitterstäben seiner verschanzten Camps, in Deckung vor den Eingeborenen, die Entdeckung des Anderen preiswert an. Zu diesem Zeitpunkt, da die intellektuellen Interes­sen sich neu ausrichten, erscheint 1955 das Buchereignis Traurige Tropen. Wie sein Siegeszug bezeugt, entspricht Lévi-Strauss da­mit voll und ganz den Neigungen der kollektiven Epochensensi­bilität. Er erreicht den spektakulären Durchbruch, den er sich für die Anthropologie und das strukturalistische Programm ge­wünscht hat, denn es gelingt ihm, sie im Herzen der französi­schen Geisteswelt zu installieren. Gleichzeitig rückt er das Bild zurecht, das man tendenziell von ihm hatte. Zumeist wurde er als inhumaner Wissenschaftler vorgeführt : »Ich hatte es satt, mich in den universitären Zettelkästen als seelenloser Mechanismus eti­kettiert zu wissen, der gerade mal dazu taugte, Menschen in For­meln zu gießen.«14

Dabei ist die Entstehungsgeschichte des Werks die eines dop­pelten Scheiterns. Lévi-Strauss war vor allem daran gelegen, seine Erfahrung als Ethnograph auf das Schreiben eines Romans zu verwenden, den er allerdings nach dreißig Seiten aufgegeben hat; geblieben sind davon nur ein paar Spuren wie der Titel und ein großartiger Sonnenuntergang. Zum anderen verdanken sich die Traurigen Tropen dem Fehlschlag seiner beiden Kandidaturen am Collège de France, bei denen er 1949 wie im Jahr darauf unterlag. Nun von der Aussichtslosigkeit einer universitären Karriere überzeugt, stürzt sich Lévi-Strauss auf die Niederschrift der Traurigen Tropen, »ein Buch, das ich niemals zu veröffentlichen gewagt hätte, wenn ich in irgendeinen Wettstreit um einen Uni­versitätsposten verwickelt gewesen wäre«15. Diese Episode ist symptomatisch für eine Zeit, in der die Stärke und Innovation des

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strukturalistischen Programms aus seiner Fähigkeit rühren, über die Hochschulinstitutionen hinauszugreifen und andere Legiti­mationskanäle zu finden. Dank diesem Umweg tritt Lévi-Strauss zum passendsten Zeitpunkt als ein Philosoph des Reisens in Er­scheinung. Sein Blick ist auf ein Gemisch aus Wissenschaftlich­keit, Literatur, Sehnsucht nach den verlorenen Ursprüngen, Schuldgefühl und Erlösung gerichtet, das sein Werk einzigartig macht.

Durch die Subjektivität seines Berichts verdeutlicht er den Zu­sammenhang, der die Suche nach dem Selbst und die Entdeckung des Anderen verbindet kraft der Idee, daß der Ethnograph an die Quelle der Menschheit gelangt und damit, wie Rousseau dachte, an eine Wahrheit vom Menschen, denn der »schafft wahrhaft Großes nur zu Anfang«16. Es liegt eine Ursehnsucht in dieser Perspektive, die die menschliche Geschichte nur als blasse Wie­derholung eines auf immer verlorenen Augenblicks betrachtet, des authentischen Augenblicks der Geburt: »Wir werden jenen Adel des Denkens erwerben, der [...] darin besteht, die unbe­schreibliche Größe der Anfänge zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu machen.«17 In dieser Aufwertung der Anfänge steckt gleichsam ein Stück Sühne für die Verfehlungen einer mit einer völkermörderischen Vergangenheit behafteten westlichen Gesellschaft, der der Ethnograph gänzlich zugehört. Nachdem er einst, zur glorreichen Zeit der Kolonisation, an den missionari­schen Werken beteiligt war, schlägt der Ethnograph sich zur Stunde, da man sich des kolonialen Oktrois entledigt, an die Brust und bietet somit, mancherlei moralische Wunden verarz­tend, der Rückzugsbewegung Geleit. Wenn diese Tropen so trau­rig sind, so liegt das nicht nur an der Akkulturation, sondern rührt auch aus der Natur einer Ethnographie, deren Gegenstand auf dem Wege des Erlöschens ist. Diese Schwundvorgänge sind unleugbar, namentlich auf dem von Lévi-Strauss erkundeten Ter­rain ; doch vor allem sind diese Zivilisationen zur Zeit der Entko­lonisierung im Wandel begriffen: Ihre Identität einfordernd, ver-

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lassen sie ihre Traditionen und werden zu »heißen« Gesellschaf­ten.

Paradoxerweise führt die Entkolonisierung, die den Erfolg der Traurigen Tropen sichert, zugleich eine Krise ihrer eigenen Orientierung herbei, baut sie doch auf unbeweglichen Gesell­schaften auf, die in einer Spannung zwischen Bewahren und Ver­schwinden stehen : »Die Welt hat ohne den Menschen begonnen, und sie wird ohne ihn enden«18, während die Gesellschaften der dritten Welt nun gerade die Fähigkeit beweisen, eine solche eng­geführte Alternative zu überwinden und Wege der Veränderung zu erschließen, die selbstredend Umbildungen ihrer Identität er­fordern. Die gesellschaftliche Leistung der Anthropologie be­steht nicht darin, eine ins Reiseveranstaltungsprogramm eintrag­bare zusätzliche Öffnung zu liefern, sondern darin, ihre Zeit mit wissenschaftlicher Erkenntnis zu erhellen. Das ist auch der Sinn von Lévi-Strauss' Botschaft nach Dien Bien Phu: »Fünfzig Jahre bescheidener und unspektakulärer Forschung, durchgeführt von Ethnologen in ausreichender Zahl, hätten in Vietnam und in Nordafrika Lösungen von der Art vorbereiten können, wie sie England in Indien geschaffen hat.«19

Wenn der Anthropologe den Politiker mit seinem Wissen be­gleiten soll, so definiert Lévi-Strauss ab 1955 seinen Standpunkt, nämlich den des Wissenschaftlers, der durch sein Engagement in der Wissenschaft allem parteilichen Kampf entsagt hat. Er enthält sich der Aktion und betrachtet diesen Rückzug als eine unantast­bare deontologische Regel, nach Art eines Mönches, der in einen Orden eintritt und Abstand von der Welt hält. Die Rolle des Eth­nographen »besteht einzig darin, diese anderen zu verstehen«20, und um diese Aufgabe zu erfüllen, wird er einige Entsagungen und Verstümmelungen hinnehmen müssen. Es gilt, zwischen Verstehen und Handeln zu wählen, scheint die Devise dessen zu sein, der letzten Zuspruch in der »Meditation des Weisen am Fuße des Baums«21 findet. Zu einer wahren Menschheitsdäm­merung lädt Lévi-Strauss ein, der gar die Umwandlung der An-

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thropologie in eine »Entropologie«, eine Wissenschaft von den Zerfallsprozessen, vorschlägt. Dieses Desengagement schließt selbstverständlich keineswegs aus, daß der Ethnograph seine Sensibilität in der Beschreibung des Anderen zum Ausdruck bringt. Diese Subjektivität und äußerste Empfindsamkeit werden von der Kritik einhellig begrüßt und tragen zum großen Erfolg der Traurigen Tropen bei.

Lévi-Strauss läßt uns nicht nur mit jedem Schritt an dem En­thusiasmus teilhaben, den seine Entdeckungen bei ihm auslösen, er geht vor allem über den modischen Exotismus hinaus, indem er die Logiken wiederherstellt, die den von ihm beobachteten Verhaltensweisen zugrunde liegen. Trotz seiner Nähe zum Ge­genstand bleibt der Beobachter also ein Wissenschaftler auf der Suche nach den Gesetzen für das Funktionieren einer Gesell­schaft und muß sich daher von sich selber lösen. Gerade diese Übung in Exzentrierung fasziniert das intellektuelle Publikum und zieht die Humanwissenschaften in das neue Abenteuer des Strukturalismus hinein. Vorbild ist abermals Rousseau, dem flammendes Lob gezollt wird: »Rousseau, unser Lehrer, unser Bruder, dem wir nichts als Undankbarkeit bewiesen haben«22. Laut Lévi-Strauss ist Rousseau ein Vordenker, weil er das Carte-sische cogito, »Ich denke, also bin ich«, mit der offenen Frage »Was bin ich ?« erwidert. Und der Ethnologe folgt ihm in der Ver­weigerung der Evidenzen des Ich, um für den Diskurs des Ande­ren empfänglich zu werden: »In Wahrheit bin ich nicht >Ich<, sondern der schwächste und niedrigste der >Anderen<. Dies ist die Entdeckung der Bekenntnisse.«23 In seiner Abhandlung von dem Ursprünge der Ungleichheit unter den Menschen und worauf sie sich gründe rief Rousseau bereits zur Entdeckung der im We­sten unbekannten Gesellschaften auf, nicht, um daraus materiel­len Nutzen zu ziehen, sondern um dort andere Sitten zu entdek-ken, die unsere Lebensweise erhellen könnten: »Rousseau hat sich nicht darauf beschränkt, die Ethnologie vorherzusehen: er hat sie begründet.«24 Das Wieder-in-Situation-Setzen des Beob-

Der Ruf der Tropen 205

achters, der von sich berichtet, seine Zweifel und Bestrebungen darlegt, dies verfolgt Lévi-Strauss, als er mit den Traurigen Tro­pen seine Bekenntnisse schreibt.

Ein Knüller

Das Werk hat einen spektakulären Widerhall. Mit seinem hybri­den, nicht einzuordnenden Charakter erreicht es ein ausnehmend breitgestreutes Publikum. Bis dahin fanden allein Literatur oder allenfalls ein paar Großthemen der philosophischen Debatte ein derartiges Echo. Dies war mit dem Sartreschen Existentialismus der Fall gewesen, insbesondere in seiner literarischen Version. Übrigens ist Sartres Ausstrahlung immer noch bedeutend, und Lévi-Strauss publiziert in dessen Zeitschrift Les Temps Modernes etliche Seiten seines Buches25, doch das Echo, das er auslöst, bekräftigt seine Emanzipation ebenso wie die des strukturali-stischen Programms. Journalisten, Gelehrte, Intellektuelle aller Disziplinen und politischen Lager greifen zur Feder, um das Er­eignis zu begrüßen.

Im Figaro applaudiert Raymond Aron diesem »aufs höchste philosophischen«26 Buch, das an die Tradition der Philosophen­reisen anknüpft und es mit den Lettres persanes aufnimmt. Die Zeitung Combat bescheinigt Lévi-Strauss »den Schwung eines Cervantes«. François Régis-Bastide begrüßt die Geburt eines Dichters und einen neuen Chateaubriand.27 Im Express spricht Madeleine Chapsal von den Schriften eines Sehers: »Seit zehn Jahren ist vielleicht kein direkter an uns adressiertes Buch erschie­nen.« 28 Die philosophische Rubrik von Le Monde, besorgt von Jean Lacroix, ist den Traurigen Tropen gewidmet. Dieser bringt das Paradox zum Ausdruck, das in Lévi-Strauss' Denken wirkt : »Er brandmarkt den Fortschritt, und doch macht keiner den Fortschritten unserer Kultur mehr Ehre als er.«29 In den Bann zieht zahlreiche Kommentatoren das Nachdenken über die Im-

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plikation des Forschers in den Gegenstand seiner Forschung, über eine Suche, die nichts Exotisches an sich hat : »In erster Linie lädt er uns zur Selbsterforschung ein.«30 »Der Leser wird in dem Buch vor allem einen Menschen finden. Ist es nicht das, wonach er letztlich sucht?«31 In der Libération macht der Romanfach­mann Claude Roy eine Ausnahme von der Regel, die ihn auf das literarische Genre festlegt, und verfaßt eine Besprechung der Traurigen Tropen: »Das interessanteste Buch der Woche ist kein Roman. Es ist das Werk eines Ethnographen, M. Claude Lévi-Strauss'.«32 Le Canard enchaîné spricht gar von »tropischen Er­frischungen« (31. Oktober 1956).

Gehaltvollere Rezensionen finden sich in den Annales und in der Revue philosophique aus der Feder von Jean Cazeneuve. In den Annales hatte Lucien Febvre sich vorbehalten, selber über das Werk zu sprechen, das er blendend fand, was aber sein Tod verhinderte. In der Zeitschrift Critique schrieb ihr Herausgeber Georges Bataille einen langen Artikel unter der Überschrift: »Ein menschliches Buch, ein großes Buch«33. Er stellt darin eine Verlagerung des literarischen Feldes auf spezialisiertere Aktivitä­ten fest. Und tatsächlich hat Lévi-Strauss' Werk, wie das von Al­fred Métraux34, teil an dieser neuen Sensibilität, diesem neuen Verhältnis von Schreiben und Wissenschaftlichkeit, das über die traditionelle Antinomie zwischen Kunstwerk und wissenschaftli­cher Entdeckung hinausweist : » Traurige Tropen stellt sich von vornherein nicht als ein Werk der Wissenschaft, sondern als ein Kunstwerk dar.«35 Die literarische Machart des Textes rührt nicht nur daher, daß er zuerst die Äußerung eines Menschen, seiner Gefühle und seines Stils ist, sondern auch daher, daß er sich eher von dem, was seinen Verfasser anzieht und verführt, leiten läßt als von der bloßen Absicht, eine logische Ordnung wiederzuge­ben. Diese Verlagerung der Literatur zur Ethnographie ist derar­tig hervorgehoben worden, daß die Jury für den Prix Goncourt eine Bekanntmachung veröffentlicht, in der sie bedauert, ihren Preis nicht den Traurigen Tropen verleihen zu können.

Der Ruf der Tropen 207

Eine weitere ausführliche Studie widmet René Etiemble dem Buch von Lévi-Strauss, in dem er einen Artverwandten, einen ge­borenen Ketzer erkennt. Die Traurigen Tropen gehörten zu »der Art Buch, die man entweder ganz oder gar nicht nehmen muß. Ich nehme es ganz und verwahre es in der Schatzkammer meiner Bibliothek, an meiner kostbarsten Stelle.«36 Er hält es mit Lévi-Strauss' kritischem Blick auf die westliche Modernität und erin­nert an das Werk von Gilberto Freyre, der beschrieben hat, wie zuerst die Franzosen, dann die Portugiesen im späteren Brasilien landeten und welche körperliche und geistige Zerrüttung daraus für die eingeborenen Bevölkerungen erwuchs: »Sie haben Brasi­lien nicht zivilisiert, aber es gibt Hinweise, daß sie es recht gut sy-philisiert haben«, bekundet Freyre, selbst Brasilianer.37

Der Enthusiasmus ist so groß und einhellig, daß Mißverständ­nisse nicht ausbleiben können. Manche werden es bei einem Bad im Exotischen bewenden lassen, obwohl Lévi-Strauss genau dies verabscheut ; andere sehen in der Schrift den Ausdruck der Sensi­bilität eines einzelnen und werden bald überrascht von der kom­menden Zelebrierung des Todes des Menschen als einer bloßen ephemeren Figur, einer »vorübergehenden Blüte«. Die famoseste Verwechslung bleibt der Preis für Reise- und Forschungslitera­tur, der Lévi-Strauss am 30. November 1956 von der Jury für die Vergabe der Plume d'or zugesprochen wurde. Die Traurigen Tro­pen gewinnen mit knappem Vorsprung (fünf Stimmen gegen vier zugunsten von Jean-Claude Berryer für Au pays de l'éléphant bland), obwohl das Buch mit dem berühmten Satz beginnt: »Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende«, und fortfährt: »Was uns die Reisen in erster Linie zeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben.«38 Lévi-Strauss lehnt den Preis ab, was ihm einen neuen lobenden und li­terarischen Vergleich einträgt : »Neuer Julien Gracq. Ein Spezia­list für Indianer weist die goldene Feder zurück.«39

In diesem Konzert der Lobeshymnen haben es die wenigen mißheiligen Stimmen schwer, sich Gehör zu verschaffen. Ins-

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besondere ist da Maxime Rodinson, der in seiner Kritik40 Lévi-Strauss' relativistische Position anficht und die geschichtliche Dialektik gegen diese Versuchung in Schutz nimmt: »Nach Auf­fassung dieses integralen Relativismus gestattet also nichts die Behauptung, daß die Kenntnis des Archimedischen Prinzips wichtiger sei als die Kenntnis unserer Stammesgeschichte.«41

Auch in Etiembles Artikel finden sich bei lobendem Grundton einige kritische Wertungen. Lévi-Strauss gehe zu weit, wenn er in der Entstehung der schriftlichen Kommunikation ein Mittel zur Erleichterung der Versklavung erblickt, eine Folgerung, die er aus seinen Beobachtungen über die Nambikwara zieht. Etiemble hält ihm entgegen, daß auch Hitler und Poujade mit Reden und Verhandlungen begonnen haben. Und was die Umformung der Anthropologie zur Entropologie angeht: »Das nun doch nicht, auf gar keinen Fall ![...] Da mutet Lévi-Strauss der Kybernetik ein bißchen zu viel zu.«42

In seinem Seminar im Musée de l 'Homme antwortet Lévi-Strauss am 15. Oktober 1956 auf die Kritiken von Maxime Rodin­son, André-Georges Haudricourt und Georges Granai. Er be­zichtigt sie der Unterstellung, denn er habe nicht beabsichtigt, ein Modell der Modelle zu konstruieren, sondern bloß partielle und begrenzte Schlußfolgerungen ziehen wollen. »Ist das ein Grund, wie Rodinson sagt, >Billancourt in Verzweiflung zu stür-zen< ? [...] Ich habe weder in Race et Histoire noch in Tristes Tro­piques die Fortschrittsidee zu zerstören gesucht, sie vielmehr aus dem Rang einer universellen Kategorie der menschlichen Ent­wicklung in einen besonderen Existenzmodus verwandeln wol­len, der unserer Gesellschaft eigen ist.«43 Die hier geäußerte Ab­wehrposition führt Lévi-Strauss gegen jede Kritik an seinem Ahistorizismus an. Er behauptet, kein Vertreter einer allgemei­nen Philosophie zu sein, sondern nur der einer besonderen wis­senschaftlichen Methode. Diese Antwort befriedigt jedoch nicht, denn sie verschleiert offenkundig die unleugbaren philosophi­schen Postulate des strukturalistischen Vorgehens. Doch 1955 hat

Der Ruf der Tropen 209

noch nicht die Stunde der großen philosophischen Debatte ge­schlagen, die in den sechziger Jahren stattfinden wird. Lévi-Strauss steht ganz im Triumph einer neuen Positivität.

Die Konversion der Philosophen

Das Echo, das Lévi-Strauss fand, blieb nicht auf die Medien beschränkt; es hat das intellektuelle Feld in seiner Gesamtheit er­schüttert, ja, tiefgreifender noch, die Tropen zum Bestimmungs­ort zahlreicher Philosophen, Historiker und Ökonomen ge­macht, die sich von ihrer ursprünglichen Disziplin abkehrten, um dem Ruf der Weite zu folgen. Das Anliegen, die eigene Sensibili­tät mit einer rationalen Arbeit über eine lebende Gesellschaft in einem interaktiven Verhältnis miteinander zu versöhnen, wird die junge Generation um so mehr begeistern, als im Westen das En­gagement von einst nicht mehr gefragt scheint. Die Traurigen Tropen wirken wie das Symptom einer neuen Geistesverfassung, eines Willens, neue Wege zu gehen — ohne Absage an die Forde­rungen der Vernunft, aber auf andere Gegenstände bezogen.

Die Zahl der Konversionen ist groß, und Lévi-Strauss bildet ihren Anziehungspunkt. Der Ethnologe Luc de Heusch arbeitete bereits in Belgisch-Kongo, dem heutigen Zaire. Student von Mar­cel Griaule an der Sorbonne, war er enttäuscht, von den großen symbolischen Konstruktionen seines Lehrers nichts wiederzu­finden. 1955 kehrt er nach Frankreich zurück und entdeckt hell­auf begeistert die Traurigen Tropen. Während er vor seinem Aufbruch nach Afrika die Elementaren Strukturen der Verwandt­schaft nur flüchtig gelesen hatte, tritt er nun in die Fußstapfen von Lévi-Strauss und überträgt die auf die indianischen Gesell­schaften angewendeten Methoden auf die zentralafrikanische Bantu-Gesellschaft, um anhand der Gegenüberstellung aller Va­rianten der mythologischen Erzählungen das afrikanische sym­bolische Denken zu begreifen.

210 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Die Strahlkraft von Claude Lévi-Strauss' Erfolg kompensiert die schwache Verwurzelung der Ethnologie im Universitätssy­stem. Zwar gibt es seit 1925 das Institut für Ethnologie am Musée de l 'Homme, aber dieses umfaßt nur eine Abteilung mit ein paar Lehrkräften. Deren Studenten kommt es meist lediglich auf das einzige in einer Version lettres und einer Version sciences er­langbare Zertifikat an, ohne daß sie deshalb den Ethnologen­beruf einschlügen. Insbesondere den Philosophen, die zur Erlan­gung der licence ein Zertifikat in sciences benötigen, bietet es Gelegenheit, einen unmittelbar mit ihren Beschäftigungen ver­bundenen Kursus zu belegen. Michel Izard erinnert sich an seine Unzufriedenheit. Zwar gab es gutausgestattete Bereiche wie Kul­turtechnologie, somatische Anthropologie oder Vorgeschichte, »aber alles übrige schien uns von völliger Armseligkeit«44. Der Ethnologieunterricht ging nach den großen Gebieten der Erde oder großen Themenbereichen vor, ohne über Ordnungsinstru­mente zu verfügen. Unter diesen Umständen bedurfte es wesent­lich des Medienechos, um die jungen Leute von einer anthropo­logischen Alternative zu den herkömmlichen Laufbahnen abseits der Festung Sorbonne zu überzeugen. Ganz ähnlich steht es zu diesem Zeitpunkt um die Linguistik, was sich denn auch grundle­gend auf das gemeinsame Schicksal, die wechselseitige Durch­dringung beider Fächer ausgewirkt hat.

Mit dem Erscheinen der Traurigen Tropen und Alejo Carpen-tiers Roman Die verlorenen Spuren Mitte der fünfziger Jahre vernimmt Michel Izard gleichsam »einen Ruf nach dem An­derswo« 45. Das Abenteuer, das Lévi-Strauss anbietet, führt aller­dings nicht ins gelobte Land, sondern, wie wir gesehen haben, zu einer Entzauberung. Es ist die Suche nach einer Entdeckung, die das Scheitern in sich trägt: »Diese pessimistische Seite, dieser Aspekt, daß ein Weg zu Ende war, sprach mich an.«46 Michel Izard konvertiert Mitte der fünfziger Jahre. Bereits als Philoso­phiestudent an der Sorbonne kannte er Lévi-Strauss aus den an­gesehenen Temps Modernes, wo dieser einige wichtige Texte her-

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ausgebracht hatte. Aber die Ethnologie spielte in seiner Ausbil­dung nur eine sehr untergeordnete Rolle. Seine Professoren, Jean Hyppolite — der die Hegeische Lehre fortführt —, Jean Wahl, Maurice de Gandillac oder Vladimir Jankélévitch, interessieren sich nicht für dieses neue Forschungsfeld. Ebenso unbeachtet bleiben ganze Gebiete wie die analytische Philosophie, die Epi-stemologie, die Probleme der Sprache ganz allgemein. Die Eth­nologie war nahezu inexistent, bis auf einige Ausnahmen immer­hin. »Wir hatten als Assistent Mikel Dufrenne, dessen thèse complémentaire von den Grundstrukturen der Persönlichkeit handelte und der einen Kurs über amerikanische Kulturanthro­pologie abhielt. Auch kam, wenngleich für mich zu spät, als neuer Assistent Claude Lefort. Er hatte nämlich bereits 1951/52 Artikel über die Arbeit von Lévi-Strauss geschrieben.«47

Michel Izard, der sich eher zur Epistemologie hingezogen fühlt und Georges Canguilhem und Gaston Bachelard liest, er­wirbt auf Anraten seines Freundes Pierre Guattari, genannt Félix, während des Vorbereitungsjahrs für sein von Jean Wahl betreutes Diplom das Zertifikat in Ethnologie. Im Institut trifft er Olivier Herrenschmidt wieder, der die historische Laufbahn gewählt hatte und seine Umorientierung mit einer Mischung aus Anthro­pologie, Linguistik und Religionsgeschichte bewerkstelligt. Auch künftig zur Anthropologie umschwenkenden Philosophen wie Michel Cartry begegnet er hier erneut. Das Jahr 1956, das für Mi­chel Izard lediglich ein Intermezzo sein sollte, bekommt also auf einmal eine ganz andere Bedeutung: »Am Ende des Studienjah­res hatte ich beschlossen, die Philosophie aufzugeben, um An­thropologie zu betreiben.«48

Haben die Traurigen Tropen auf Michel Izard einen sehr ver­lockenden Einfluß ausgeübt und ihn dazu bewogen, sich auf dem Gebiet der Ethnologie nach Forschungsfeldern umzutun, so ga­ben vor allem die Lektüre der Elementaren Strukturen der Ver­wandtschaft, deren modellbildende Kraft, die Verheißungen des strukturalistischen Programms, den Ausschlag für seine Abkehr

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von der Philosophie. Zum wissenschaftlichen Ehrgeiz kommt die Absicht, »dem Westen den Rücken zu kehren, ein Anderswo auf­zusuchen, das außerhalb unserer Geschichte, der Geschichte, die uns hervorgebracht hat, liegt« 49. Mit Blick auf eine Berufsausbil­dung besucht Michel Izard sodann die Seminare von Lévi-Strauss in der Fünften Sektion der EPHE sowie die Kurse von Jacques Soustelle und Roger Bastide. Ende 1957 unterbreitet ihm Lévi-Strauss zwei Forschungsvorschläge; zum einen, im Sudanesi­schen Museum für Altertümer in Karthum zu arbeiten, um dort Ausstellungsräume über den animistischen schwarzafrikanischen Südsudan aufzubauen (wobei allerdings seine Qualifikation für diese Aufgabe nicht ausreichte), und zum anderen, für das Insti­tut des sciences humaines appliquées tätig zu werden, das für eine Studie in Obervolta einen Ethnologen und einen Geographen suchte. Der angehende Ethnologe geht also für ein Jahr nach Afrika, womit seine Konversion besiegelt ist.

Als weiteren Neuling zieht er in dieses Abenteuer Françoise Héritier hinein. Während ihres Geschichtsstudiums von 1953 bis 1957 an der Sorbonne schwebte ihr eher vor, sich der alten Ge­schichte zu widmen, aber durch ihre Begegnung mit Philosophie­studenten und insbesondere mit Michel Izard, mit dem sie zu­sammenlebte, wuchs ihr Interesse an Anthropologie. Im Jahre 1957 begann sie, die Lehrveranstaltungen von Lévi-Strauss in der Fünften Sektion der EPHE zu besuchen: »Es liegt auf der Hand, daß dies für jemanden, der Geschichte und Geographie studiert hatte und die agrégation vorbereitete, absolut neue Dinge wa­ren.«50 Ein Schock für Françoise Héritier, die Gesellschaften kennenlernt, um deren Existenz sie nicht einmal wußte, und auf ungeahnte Arten des Vernunftgebrauchs, auf eine völlig neue Denkweise trifft. Begeistert setzt sie ihre Studien fort und erlangt das Zertifikat in Ethnologie. Da sich kein Geograph findet, der Michel Izard begleiten könnte, bewirbt sie sich und wird seine Partnerin. Auf der Afrika-Expedition hat sie ihn übrigens gehei­ratet. Die beiden sollen das Problem der Bevölkerungsumsied-

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lung untersuchen, das sich mit dem geplanten Bau eines Stau­damms an einem Zufluß der Volta ergeben hat. Es gilt herauszu­finden, warum die Gegend, in die man die Bevölkerung schicken will, so wenig besiedelt geblieben ist: »Es war klug, Ethnologen und Geographen mit der Untersuchung dieser Frage zu beauftra­gen, denn es war eines der ersten Male, daß man vorsah, Umsied­lungen nicht autoritär anzuordnen, sondern daß man versuchte, die Beweggründe der Menschen zu verstehen.«51

Der indologische Pol

Das Jahr 1955 ist zentral für den Aufschwung der Anthropologie. Louis Dumont kehrt aus Oxford zurück und tritt seine Lehrver­pflichtung an der EPHE an. Gleichzeitig beginnen Fernand Braudel und Clemens Heller an der Sechsten Sektion der EPHE das Programm der Area Studies (Studium von Kultur gebieten), das nach amerikanischem Muster den Zusammenschluß mehre­rer Disziplinen, darunter auch der Anthropologie, zur Erfor­schung gemeinsamer Untersuchungsgegenstände fördern soll. Louis Dumonts Rückkehr läßt Olivier Herrenschmidt, der sich an der Sorbonne auf Religionsgeschichte spezialisiert hatte, einen ganz neuen Studiengang einschlagen. Er beginnt nicht nur eine Ausbildung zum Ethnologen und Linguisten, sondern speziali­siert sich zudem auf die Indologie. Er besucht gleichzeitig die Kurse des frisch aus den Vereinigten Staaten gekommenen Marti­net an der Sorbonne, die von Lévi-Strauss an der Fünften Sektion der EPHE und die von Louis Dumont an der Sechsten Sektion der EPHE. Diese Verbindung aus Sanskrit, Linguistik und struk-turaler Anthropologie bringt frischen Wind und neue Perspekti­ven in die indologischen Studien, die nun über die bislang gelei­stete monographische Gebietserfassung hinausgehen. Um Louis Dumont bildet sich eine ganze Gruppe, bestehend aus der Philo­sophin und Brahmanismus-Spezialistin Madeleine Biardeau, die

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ab 1960 an der EPHE lehrt, dem amerikanischen Wirtschaftswis­senschaftler Daniel Thorner und dem Sanskritisten Robert Lin-gat, der 1962 an der EPHE auf einen Lehrstuhl für Recht und In­stitutionen Südostasiens berufen wird: »Es handelt sich um eine begrenzte, hochqualifizierte und interdisziplinäre Gruppe abseits des französischen Indologenmilieus.«52

Freilich, mit seinen hohen Anforderungen vereinigt dieser in­dologische Pol keine Massen auf sich, und als Louis Dumont sich eines Tages vor fünfundzwanzig Zuhörern wiederfindet, vermu­tet er sogleich eine Verwechslung durch eine mißliche Namens­gleichheit: »Sie haben sich vertan, ich bin nicht René Dumont, sondern Louis Dumont.«53 Innerhalb der Anthropologie nimmt die Indologie noch immer eine gesonderte, marginale Stellung ein, da sie mehr als andere Forschungszweige der Vorherrschaft der Sanskrit-Philologen unterliegt. Die Bresche, die Louis Du­mont zeitgleich mit der von Lévi-Strauss geschlagen hat und die eine ähnliche Programmatik verfolgt, hilft den Indologen aus ih­rem Ghetto heraus und ermöglicht ihnen bessere Kontakte zu den Fachleuten für andere Kulturgebiete.

Der technische Pol : Leroi-Gourhan

Infolge der Berufung von André Leroi-Gourhan zum Nachfolger des 1956 verstorbenen Marcel Griaule auf den (einzigen) Lehr­stuhl für Ethnologie an der Sorbonne wirkt Mitte der fünfziger Jahre noch ein weiterer Pol am Erfolg der Anthropologie mit. 1959 wird ein zweiter Lehrstuhl eingerichtet, den Roger Bastide einnimmt, und 1960/61 wird, ebenfalls unter der Verantwortung von André Leroi-Gourhan, die Studienordnung für prähistori­sche Archäologie festgelegt. So gesehen, ergänzt sein Beitrag die kulturellen Ausrichtungen Lévi-Strauss', der 1987 auf einem Kolloquium die methodologische Entsprechung ihrer jeweiligen Verfahren anerkannte.54

Der Ruf der Tropen 215

Zu André Leroi-Gourhans großen Neuerungen gehört auch die Bevorzugung der Synchronie, weniger nach dem Saussure­schen Modell wie bei Lévi-Strauss als vielmehr in seiner Gra­bungsmethode, die horizontal angelegt ist. Ende der vierziger Jahre hatte sich um diesen Punkt eine Kontroverse zwischen Ho-rizontalisten und Vertikalisten entfacht. Mit seinem Begriff der décapage, des Schichtenabziehens, vertritt André Leroi-Gourhan den Standpunkt, »die Erde so abzutragen, daß man die Dinge in der Horizontale sprechen läßt«55. Ferner findet man den für das strukturalistische Programm bezeichnenden Ehrgeiz der Totali-sierung wieder. André Leroi-Gourhans ethnographischer Kul­turbegriff hat weniger die einzelnen Manifestationen einer Kultur zum Gegenstand als vielmehr die Beziehungen ihrer verschiede­nen Zweige, die zusammengenommen ein kohärentes Gefüge er­geben. Hélène Balfet, die Leroi-Gourhans Schülerin war und auch seine technischen Kurse am Musée de l'Homme übernahm, als er 1956 an die Sorbonne berufen wurde, schlug eine Brücke zwischen den beiden Polen in der Anthropologie, da sie gleich­zeitig die Lehrveranstaltungen von Lévi-Strauss besuchte.

Dennoch sind diese beiden Ausrichtungen der anthropologi­schen Forschung einander im wesentlichen fremd geblieben, ge­gensätzlich in der jeweiligen Bestimmung des Verhältnisses von Arbeit und Sprechen. André Leroi-Gourhan erklärt beides aus der aufrechten Haltung des Menschen, mit der die Hand für die Aufgaben der Arbeit und zum Greifen ausgebildet werden konnte, während andererseits der Mund für das Sprechen frei wurde. Nun gibt es aber keine Arbeit ohne Sprache, wie Marxens berühmter Text über die Biene und den Baumeister am Anfang des Kapitals zeigt [dritter Abschnitt, fünftes Kapitel: »Arbeits­prozeß und Verwertungsprozeß«, A.d.Ü.]. Was die Tätigkeit des Baumeisters charakterisiert und auszeichnet, ist, daß er sein Haus im Kopf gebaut hat, bevor er es in die Tat umsetzt. Doch soll man den Schnitt bei der Arbeit oder bei der Sprache anset­zen? An dieser Frage scheiden sich die Standpunkte von Lévi-

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Strauss, der den Akzent auf die Sprache legt, und von Leroi-Gourhan, der die Praxis höher bewertet.

Unbeschadet dieser unterschiedlichen Ausrichtungen haben die verschiedenen Pole eine Dynamisierung der anthropologi­schen Forschung bewirkt: Die Dispositive, die sie aufstellt, blei­ben dreißig Jahre erfolgreich. Der strukturalistische Ehrgeiz scheint diese Forschergemeinde über die Eigenheiten von Fach­gebieten und verschiedenen Persönlichkeiten hinaus zusammen­gehalten zu haben. Den Kontext bildet ein Dritte-Welt-Pathos vor dem Hintergrund des beginnenden Algerienkriegs, des aus­gehenden Indochinakriegs und der Konferenz von Bandung. Frankreich, das die koloniale Frage lange Zeit ignoriert hat, ent­deckt plötzlich eine dramatische Realität, die ins Bewußtsein der Menschen dringt und ihr schlechtes Gewissen weckt. Für eine junge Generation, die sich in ihrer Herkunftsgesellschaft unwohl fühlt, bedeutet dies mehr als eine Aufforderung zur Reise, ein Ruf der Tropen. Ein ehrgeiziges und strenges Programm bietet sich ihr an. Das strukturalistische Programm scheint die Versöh­nung einer entzauberten Sensibilität mit der Vernunft zu verspre­chen.

Die Vernunft verrückt : das Werk von Michel Foucault

Als man sich in der Anthropologie nach dem Anderen des We­stens fragt und die primitiven Gesellschaften der langwährenden Ignoranz des eurozentrischen Denkens entrissen hat, wirft der Philosoph Michel Foucault das Problem der Kehrseite der westli­chen Vernunft auf und schreibt eine Geschichte des Wahnsinns. Hinter der siegreichen Vernunft spürt er den verdrängten Mani­festationen des Irreseins nach. Indem der Philosoph das Sezier­messer bei den Ideen ansetzt, begibt er sich von vornherein an die Grenzen des westlichen Denkens, an die Grenzen seiner eigenen Geschichte.

Abermals verblüffen die zeitlichen Überschneidungen. Michel Foucault beginnt mit der Niederschrift von Wahnsinn und Ge­sellschaft 1956, bald nach Erscheinen der Traurigen Tropen und der Konferenz von Bandung, und publiziert das Werk 1961, kurz vor den Übereinkommen von Evian und der algerischen Unab­hängigkeit. A priori ist das Zusammentreffen dieser politischen und kulturellen Ereignisse rein zufällig, zumal Michel Foucault seinerzeit nichts von einem Dritte-Welt-Aktivisten an sich hat. Und doch wird Wahnsinn und Gesellschaft sofort zum Symptom des Bruchs mit einer Geschichte des abendländischen Subjekts, dem der Autor das Bild seines vergessenen und verdrängten, aus der Ausschließung hervorgeholten Doppels entgegenhält: den Wahn. So fügt es sich, daß auch das den Rahmen der französi­schen Politik verlassende algerische Volk an einer Geschichte des Ausschlusses trägt.

Pierre Nora, der gerade Les Français d'Algérie1 veröffentlicht hat, erkennt sofort den Zusammenhang zwischen der Abrech-

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nung mit dem französischen Ethnozentrismus in Nordafrika und dem von Michel Foucault aufgezeigten Ethnozentrismus der Vernunft. Er schreibt Michel Foucault, dessen Herausgeber bei Gallimard er später sein wird, von seiner Begeisterung. Michel Foucault läßt das Vergessene, das Verdrängte der Vernunft aufer­stehen und eröffnet damit eine neue historische Sensibilität, die keine Helden mehr braucht — die sind müde — und auch keine Glorifizierung der Verdammten — die Dialektik hat sich 1956 dis­kreditiert —, sondern sich den Vergessenen der Geschichte zu­wendet. Nach ihren Spuren sucht er hinter den Mauern, in die die Vernunft sie eingesperrt hat. So hat Michel Foucault »neue Ge­biete erschlossen, indem er das Gefängnis wie das Asyl in die Re­flexion einbezieht — als theoretische wie politische Spielein­sätze« 2.

Wie Lévi-Strauss es ermöglichte, die primitiven Gesellschaften als unterschiedlich zu denken, und er sie, indem er sie dachte, ins Feld der Vernunft zurückgewann, folgt Michel Foucault einem ähnlichen Abenteuer, bei dem der Wahn zur Vernunft zurück­kommt, um sie zu befragen und ihre Kraftlinien und Schwach­stellen zu erhellen. Michel Foucault geht den Unternehmungen des Verdrängens nach, den gekünstelten Rationalisierungen des­sen, was als inintelligibel erscheint, den Travestierungen des Sinns; er zertrümmert die Maskierungen, mit denen sich die Macht im Wissen tarnt, und illustriert blendend den Zeitgeist: »Das Leben, das unserem Leben fehlt, spielt sich also an den Ho­rizonten ab, und zwar den geographischen Horizonten (Exotik) oder den historischen Horizonten (abenteuerliche Vergangen­heit oder sogar utopische Zukunft), oder es spielt sich auf den Gipfeln und in den Niederungen des erlebten Lebens ab.«3

Ein Aufsuchen der Schranken, ein Denken der »Grenze«, das ist das neue Wagnis, das Foucault den Philosophen verspricht. Bald nimmt er einen wichtigen Platz in der entstehenden struktu-ralistischen Galaxie ein, in der er einen doppelten Vorzug ge­nießt: das Prestige seiner Disziplin, der Philosophie, und die Fä-

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higkeit, seinen Gegenstand zu historisieren, womit er dem Struk­turalismus eine geschichtliche Perspektive eröffnet, von der Lévi-Strauss' »kaltes« Paradigma nichts ahnen ließ.

Michel Foucault verspricht also jener Philosoph des Begriffs zu werden, den Georges Canguilhem in ihm gesehen hat, auch wenn er sich 1961 noch gar nicht den Strukturalisten zurechnet. Woher kommt dieser neue Anspruch, der, seinerzeit nicht einzu­ordnen, die Fachgrenzen einzureißen und die phänomenologi­sche Phase in der Geschichte der Philosophie in Frankreich zu beenden scheint ? Michel Foucault, der in seinem unermüdlichen Streben nach Aufspürung des Wahren Vorurteile und Gedan­kenschablonen bloßlegt, bietet ein Denken, das sich streng be­scheiden will: Weit entfernt, sich zum Sprachrohr dessen zu ma­chen, was man denken muß, versucht er, die Umrisse dessen zu ziehen, was denkbar ist. Auch er ist ein Philosoph der Reise, der Reise zur Kehrseite der Vernunft, ein »Gräber in den Niederun­gen« unserer Zivilisation wie Nietzsche.

Ein einzigartiger Philosoph, der seine Einmaligkeit ausdrück­lich beanspruchte und jedes Etikett spöttisch von sich wies, da er sich von jeder Verklammerung oder Zuordnung freizuhalten suchte, einschließlich, wie André Gides Held Nathanael, der zu sich selbst. Wie Nathanael muß Michel Foucault, der ständig von sich selber abrückende Aufrührer, wieder in den Zusammenhang der jeweiligen Etappe seines Denkens und Lebens gestellt wer­den, eines Lebens, das er wie ein Kunstwerk erschaffen wollte. Die Rekonstruktion dessen, was Michel Foucault einmalig macht, wird zeigen können, inwiefern er am Strukturalistischen Paradigma teilhat und inwiefern er sich davon unterscheidet. Da­bei möchten wir jede Reduktion seines Denkens auf einen Epo­chenkern vermeiden und es gleichwohl mit ihm in Beziehung bringen.

220 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Die Geburt eines Sterns

Michel Foucault hat die schwierige Frage des Zusammenhangs zwischen Schreiben und Leben aufgeworfen. Er war mit Äuße­rungen über sich selbst sehr zurückhaltend, was ihm Jean-Paul Aron kurz vor seinem Tod vorgehalten hat. Geboren am 15. Ok­tober 1926 in einer konservativen, gläubigen Familie des gediege­nen Provinzbürgertums von Poitiers, entstammt Michel Foucault väterlicher- wie mütterlicherseits einem alteingesessenen Ärzte-milieu. Sein Vater ist ein angesehener Chirurg in einem Johanni-terkrankenhaus. Seine Mutter Anne, geborene Malapert, stammt aus Vendeuvre-du-Poitou, etwa zwanzig Kilometer von Poitiers entfernt, wo sie ein wunderschönes Haus besitzt, das »das Schloß« genannt wird. Wie Jacques Marie Lacan wird auch er eine Hälfte seines Vornamens streichen, »»weil seine Initialen P.-M. F. ergaben, wie bei Pierre Mendès France<, sagte Mme Foucault«4; ernstlicher steht zu vermuten, daß es die Opposition gegen den Namen-des-Vaters war, der ihn »Paul« ablegen ließ, den Vorna­men seines Vaters.

Dieses biographische Detail ist bedeutsam für die künftigen Orientierungen des Sohnes-Philosophen und seine »durchge­hende Verneinung der Dimension der Väterlichkeit, der Dimen­sion des Namens; dies ist einer der Schlüssel zu seiner subjekti­ven Haltung«5. Daher auch eine verwickelte und konfliktreiche Geschichte mit der Psychoanalyse im allgemeinen und mit Jacques Lacan im besonderen, denn Michel Foucault will nicht zugestehen, daß es im Diskurs einen Ort der Wahrheit des Sub­jekts geben sollte. Die Faszination für die Ausstreichung, für die rhetorische Fi^ur des Oxymorons (der notwendigen Verbindung zweier antinomischer Termini) in seinem Werk scheint den väter­lichen Horizont zwanghaft zu wiederholen, den er zerstören will, ohne dies wirklich zu erreichen. Beharrlich pocht er auf die Illusion, daß niemand hinter seiner Stimme spreche, daß es für seine Schriften keine Signatur gebe. Damit hat er teil an der Nega-

Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel Foucault 221

tion des Autors, wie sie der strukturalistischen Kritik eignet, aber auch an dem literarischen Erneuerungsunterfangen von Georges Bataille, Maurice Blanchot bis Pierre Klossowski. Der Name des Vaters war also eine Last; und Michel Foucault überwarf sich bald mit ihm: »ein Bruch, der in diesem Milieu schwer auszuhal­ten ist. Er sagte mir oft, wenn man schon nicht Arzt werde, müsse man wenigstens Professor an der Sorbonne sein.«6

Auch wenn Michel Foucault nicht die medizinische Laufbahn einschlägt, ist er geprägt vom Modell der Medizin als einem Prisma, durch das die Humanwissenschaften in ihren sichtbaren Spuren, ihren verschiedenen Positivitäten zu erfassen sind — je­doch von der Kehrseite, von der negativen Seite her, so wie ein Arzt versucht, mit Hilfe der Pathologie durch Heilung der Krankheit die Gesundheit wiederherzustellen. Foucault schuf ein »medizinisches Paradigma des humanwissenschaftlichen Vorge­hens« 7. Nach einer problemlosen Schulzeit am Lycée Henri IV bis zur Tertia bringen ihn seine Eltern in einer religiösen Einrich­tung, dem Collège Saint-Stanislas unter, um seinen immer kriti­scheren, ja kaustischen Geist zu bändigen. Dort absolviert er die Oberstufe : »Er hat uns schwer beeindruckt, in seiner ätzenden Art zog er sämtliche Lehrsätze in Zweifel.«8

Dieses Moment bildet einen weiteren biographischen Schlüs­sel für das Verständnis des Werks von Michel Foucault, das von der dramatischen Erfahrung des Krieges entscheidend geprägt ist. Sehr verschlossen, hat Foucault nie öffentlich über sich ge­sprochen; später äußerte er sich über diese Epoche in einer das Schweigen predigenden kanadischen Indianerzeitschrift, die in ungefähr zehn Exemplaren vertrieben wurde. Diesen Indianern bekannte er, daß er sich an die Zeit des Heranwachsens als vom Krieg und folglich vom Tod geprägte erinnert : »Was mir auffällt, wenn ich an meine Kindheitseindrücke zurückzudenken versu­che, ist, daß beinahe alle meine Gefühlserinnerungen mit der po­litischen Situation zusammenhängen. [...] Ich meine, daß die Kindheit der Jungen und Mädchen meiner Generation von diesen

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großen historischen Ereignissen gestaltet worden ist. Die Dro­hung des Krieges war unser Horizont, unser Existenzrahmen. Dann ist der Krieg wirklich ausgebrochen. [...] Das ist vielleicht der Grund, weshalb ich von der Geschichte und dem Zusammen­hang zwischen persönlicher Erfahrung und jenen Ereignissen, in die wir verfangen sind, fasziniert bin. Ich glaube, das ist der Aus­gangspunkt meines theoretischen Begehrens.«9

Die Reflexion über den Krieg ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit, sie begründet in seinem Werk ein zentrales Para­digma, das sich um Begriffe wie Strategie und Taktik der Macht, Brüche und Kräfteverhältnisse dreht. In seiner Auffassung von Herrschaft, vom Vermögen jedes einzelnen, auf allen Ebenen ge­sellschaftlicher und privater Tätigkeit auf das Verhalten des ande­ren einzuwirken, gibt Michel Foucault der Problematik des Krie­ges einen zentralen Stellenwert, denn hier liegt die Stätte der Begegnung mit dem Tod. Das ist übrigens das Arbeitsfeld, dem er sich nach seiner Geschichte der Sexualität widmen wollte und das er Ende der siebziger Jahre am Collège de France in Angriff nahm. Er erwähnt diese künftige Forschungsarbeit in einem Ge­spräch anläßlich seiner Einladung an die Katholische Universität von Löwen: »Wenn Gott mir Leben verleiht, wäre, nach dem Wahnsinn, dem Verbrechen und der Sexualität, das letzte Thema, das ich untersuchen möchte, das Problem des Krieges und die In­stitution des Krieges in dem, was man die militärische Dimension der Gesellschaft nennen könnte.«10

Doch kommen wir zurück auf den jungen Michel Foucault. Er tritt also in Poitiers in die hypokhâgne ein und bereitet sich auf den Aufnahmewettbewerb an der École normale supérieure in der Rue d'Ulm vor. Beim ersten Mal fällt er knapp durch und beschließt daraufhin, den Wettbewerb in Paris vorzubereiten, wo er sich 1945 niederläßt und wieder ein Lycée Henri IV besucht, diesmal im Herzen der Hauptstadt. Seine damaligen Mitschüler sind André Wormser, François Bédarida, Robert Mausi und François Furet.

Bewirkt durch den Unterricht von Jean Hyppolite, der seine

Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel Foucault 223

Schüler mit Hegel bekanntmacht, zeichnet sich dort Foucaults Entscheidung für die Philosophie ab. Seinen Lehrer wird er an der ENS wiedersehen und später sogar seine Nachfolge am Col­lege de France antreten. »Diejenigen, die unmittelbar nach dem Kriege die khâgne besucht haben, erinnern sich der Vorlesungen von Hyppolite über die Phänomenologie des Geistes: In dieser Stimme, die sich unaufhörlich zurücknahm und verbesserte, so als ob sie im Raum ihrer eigenen Bewegung nachsänne, hörten wir nicht nur die Stimme eines Lehrers, wir vernahmen etwas von der Stimme Hegels [...].« n Jean Hyppolite, der Übersetzer der Phänomenologie des Geistes, gibt Hegels Denken eine Moderni­tät zurück, die bis dahin unter dem Ruf einer romantischen Philosophie verschüttet lag. Seine 1947 verteidigte thèse, Genèse et structure de la phénoménologie de l'esprit, wird in Les Temps Modernes als großes Ereignis begrüßt und gibt dem Hegelianis­mus einen fundamentalen Stellenwert im philosophischen Den­ken der Nachkriegszeit in der Tradition Kojèves und Jean Wahls zurück. Noch 1975 schickt Michel Foucault Jean Hyppolites Frau ein Exemplar seines Buches Überwachen und Strafen mit der Widmung: »Für Madame Hyppolite, in Erinnerung an den, dem ich alles verdanke.«12 Im übrigen hat Michel Foucault einen sei­ner Haupttexte, Nietzsche, la généalogie, l'histoire, für einen Sammelband zu Ehren Jean Hyppolites verfaßt, der auch Bei­träge von Georges Canguilhem, Martial Gueroult, Jean La-planche, Michel Serres und Jean-Claude Pariente enthält.13

Die Geisteskrankheit

Michel Foucault tritt als vierter seines Jahrgangs 1946 durch das große Tor in der Rue d'Ulm. Indes verhilft ihm dieser Erfolg nicht dazu, psychisch ins Lot zu kommen: 1948 unternimmt er einen Selbstmordversuch. Seine Homosexualität auf glückliche Weise zu leben, ist damals nicht leicht, und Foucault kommt mit

224 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

der Institution der Psychiatrie in Berührung. Auf Freud war er schon sehr frühzeitig, in Poitiers, durch den mit Freud korre­spondierenden Arzt Doktor Beauchamp gebracht worden. Über die Vorlesungen in der Rue d'Ulm hinaus besucht er auch ver­schiedene psychologische Institute in Paris und macht Praktika in Sainte-Anne. Zu diesem Zeitpunkt ist er völlig für die Psycholo­gie eingenommen und spezialisiert sich auf die Psychopatholo­gie : »Der Wahnsinn schien ihn zu faszinieren, und er brachte von seinen Visiten in der Klinik unzählige Anekdoten über die Welt des Eingesperrtseins mit«14, erinnert sich Jacques Proust.

Diese Ausbildung, die Curriculum und Inhalt der klassischen spekulativen Philosophie überschreitet und den Kontakt zu ei­nem ganz eigenen, zugleich theoretischen und praktischen Wis­senskontinent gestattet, arbeitet den späteren Verschiebungen vor. Diese treten sogar recht bald auf, denn Michel Foucaults er­stes Buch, Maladie mentale et personnalitéVon 1954, ist der Psy­chopathologie, den Konzepten der Psychoanalyse und der Lek­türe der sozialen Repräsentationen des Wahnsinns gewidmet. [Eine zweite, stark veränderte Fassung erschien 1962 unter dem Titel Maladie mentale et psychologie, auf der die deutsche Über­setzung, Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt/M. 1968, fußt. Vgl. D. Eribon, Michel Foucault, Frankfurt/M. 1991, S. 119, A.d.Ü.] Es ist eine Auftragsarbeit von Louis Althusser für die von seinem Freund Jean Lacroix herausgegebene Reihe »Initiation philosophique« im Verlag PUR Michel Foucault besucht damals auch Vorlesungen an der Sorbonne bei Daniel Lagache und bei Jean Hyppolite, der 1949 berufen worden ist. In der ENS hört er Jean Beaufret, der über Heidegger liest, Jean Wahl und Jean-Toussaint Desanti, doch »am nachhaltigsten beeindruckt die jun­gen Studenten natürlich die Vorlesung von Merleau-Ponty«15.

Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel Foucault 225

Auf der Suche nach den Grenzen des Denkens

Besonders prägend an der École wird für Michel Foucault die Per­sönlichkeit Louis Althussers, der seit 1948 caïman [im Studenten­jargon Tutor, der die Studenten auf die agrégation vorbereitet, A.d.Ü.] ist. Der große gedankliche Apparat zu Anfang der fünfzi­ger Jahre war der Marxismus, und Althusser weiht seine Hörer, darunter Michel Foucault, in das Denken von Marx ein. Er führt ihn sogar in die Reihen der KPF : »Ob Liebäugelei oder Beitritt und danach Rückzug, das weiß ich nicht mehr genau«, sagt sein Parteigenosse Maurice Agulhon, doch sein Kollege in Lille, Oli­vier Revault d Allonnes, erinnert sich, daß er Michel Foucault wei­nen sah, als dieser 1953 vom Tode des »Väterchens der Völker«, Stalin, erfuhr.16 Es war die Zeit, in der die ENS in zwei Gruppen zerfiel, die »talas« (diejenigen, die zur Messe gingen) und die Kommunisten und linken Christen, die in die KPF eintraten.

Obwohl die gesamte École 1950 auf Michel Foucaults trium­phalen Erfolg bei der agrégation gefaßt war, fällt er nach Ablegen der schriftlichen Prüfung und erfolgter Zulassung zum mündli­chen Examen durch. So braucht er ein weiteres Jahr Vorbereitung zur Wettbewerbsprüfung. Bei diesem zweiten Durchgang ge­mahnt ihn ein entscheidendes Wegzeichen gleichsam an sich selbst und seine Bestimmung: Bei der Auslosung der mündlichen Themen zieht er ein ungewöhnliches Thema, für dessen Durch­setzung Jean Hyppolite, der Mitglied des Prüfungsausschusses war, sich schwer hatte ins Zeug legen müssen: »Sexualität«. Der Zufall des Loses gibt also bereits Michel Foucaults künftig größ­tes Arbeitsgebiet zu erkennen.

Dem frischgebackenen agrégé bleibt der Leidensweg am Lycée erspart, da er nach einem Jahr in der Fondation Thiers zum Assi­stenten an der Universität Lille berufen wird. Er bleibt indes in Paris und unterrichtet zur gleichen Zeit in der Rue d'Ulm, wo er auf Antrag von Louis Althusser caïman in Psychologie wird. Da­mals schließt er Freundschaft mit einer ganzen Gruppe kommu-

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nistischer ENS-Studenten: Gérard Genette, Jean-Claude Passe­ron, Paul Veyne, Maurice Pinguet und Jean Molino. Foucault be­kommt den Spitznamen »le Fuchs«, weil er schlauer ist als die an­deren und weil Füchse die tiefsten Gänge graben. Bereits 1953 »ging er jede Woche ins Hôpital Sainte-Anne, um ein Seminar zu besuchen, das der damals unbekannte Jacques Lacan dort begon­nen hatte, dem er grenzenlose Bewunderung entgegenbrachte. Gelegentlich ließ er Andeutungen über das spekuläre Bild und das Spiegelstadium fallen : Das war seinerzeit der Gipfel des Raf­finements.« 17 Sein Freund Maurice Pinguet erinnert an die Be­deutung, die für Michel Foucault die Entdeckung Nietzsches hatte: »Hegel, Marx, Heidegger, Freud — das waren 1953 seine Bezugsachsen, als es zur Begegnung mit Nietzsche kam. [...] Ich sehe noch Foucault am Strand von Civitavecchia die Unzeitge­mäßen Betrachtungen lesen. [...] Von 1953 an zeichnete sich die Achse eines Gesamtprojekts ab : Eine ethische Entscheidung von nietzscheanischem Geist krönte eine genealogische Kritik der Moral und der Wissenschaft.«18

Anfang der fünfziger Jahre ist Foucault auch ein eifriger Leser der Literatur. Besonders fasziniert ihn die Schreibweise von Mau­rice Blanchot, die fortan ihre Spuren in seinem Stil hinterläßt, namentlich was den systematischen Gebrauch des Oxymorons angeht. »Damals träumte \jch davon, Blanchot zu sein«, wird er später Paul Veyne anvertrauen.19 Diese literarische Sensibili­tät führt Michel Foucault auf die Spuren von Samuel Beckett, Georges Bataille, Raymond Roussel und René Char. Eine Faszi­nation für das Denken des Außerhalb, für ein Denken der Grenze faßt in ihm Fuß. Und seine literarische Kost verrät seine Urangst vor dem Tod, die ein psychoanalytisches Wissen, das ihm nie ganz entsprach, nicht zu besänftigen vermochte.

Frühzeitig mit Freud und dann mit Lacan vertraut, läßt sich Foucault, dem Louis Althusser an der Rue d'Ulm von einer frei­willigen Internierung abgeraten hatte und dem Daniel Lagache eine psychoanalytische Behandlung empfahl, später auf das

Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel Foucault 227

Abenteuer der »Therapie« ein, wobei er sich jedoch nicht länger als drei Wochen auf die Couch gelegt hat. Sein Verhältnis zur Psy­choanalyse wird stets zwiespältig bleiben, eine Mischung aus Faszination und Abstoßung. Zwar ist es Foucault zu verdanken, daß 1968 in Paris-VIII-Vincennes der Fachbereich Psychoanalyse eingerichtet wird, aber er spöttelt über jene, die »ihre Ohren ver­mieten« 20, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Das Exil

Das Denken des Außerhalb, die Suche nach den Grenzen führt Foucault 1955 ins Ausland. Er wählt das Exil und geht im August 1955 nach Uppsala, und zwar auf Vermittlung von Georges Dumé­zil, den er noch nicht kennt, der aber seinen schwedischen Freun­den einen geeigneten Mann für den Posten des Französisch-Lek-tors empfehlen sollte, den er selber in den dreißiger Jahren innegehabt hatte. Da Georges Dumézil den Kontakt zur ENS ver­loren hat, bittet er Raoul Curien um Rat, der ihm mit den Worten : »Das ist der intelligenteste Mensch, den ich kenne«21 von Michel Foucault erzählt. Daraufhin bietet Georges Dumézil die Stelle Foucault an, und der willigt ein. Drei Jahre wird er in Schweden verbringen, und aus der nachträglichen Begegnung der beiden Männer wird eine intellektuelle und persönliche Freundschaft er­wachsen, »die sich bis zu seinem Tod uneingeschränkt gehalten hat«22.

Für Michel Foucaults Teilnahme am strukturalistischen Aben­teuer hat gewiß Georges Dumézil als Auslöser gewirkt. Bislang ist sich Foucault noch nicht im klaren, welche eigenständige Spur er auf seiner Suche, bei seiner unablässigen Bewältigungsarbeit der existentiellen Angst verfolgen soll, noch steht er unschlüssig an der Wegekreuzung von Philosophie, Psychologie und Litera­tur. Zwar hatte es bereits den Schock von 1953 gegeben, Stalins Tod, und die Entdeckung eines Ersatzmanns: Nietzsche. Die Be-

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gegnung mit Dumézil, deren Bedeutsamkeit er immer wieder be­tonen sollte, verschafft ihm das Fundament, das ihm zur Errich­tung seiner Genealogie noch fehlt. So bekennt er im Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft sunt Verpflichtung: »Bei dieser ein

wenig einsamen Aufgabe gebührt allen, die mir dabei geholfen haben, meine Dankbarkeit. An erster Stelle M. G. Dumézil, ohne den diese Arbeit nicht unternommen worden wäre.«23 In Le Monde erklärt er, daß unter den Einflüssen, die auf ihn einwirk­ten, Georges Dumézil die Hauptrolle gespielt habe: »Und zwar durch seinen Strukturgedanken. Wie Dumézil es bei den Mythen getan hat, habe ich versucht, strukturierte Erfahrungsnormen zu entdecken, deren Schema sich — abgewandelt — auf verschiede­nen Ebenen wiederfinden sollte.«24 In Schweden, im Anderswo, verfaßt Michel Foucault seine thèse. Er spürt den Erscheinungs­formen des Wahnsinns in der Carolina rediviva nach, der großen Bibliothek von Uppsala, in der er eine reichhaltige Sammlung von medizinischen Büchern des 17. und 18. Jahrhunderts findet. Dar­aus wird er seinen Honig ziehen, um der Welt des Schweigens seine Stimme zu leihen.

Die thèse

Am 20. Mai 1961 findet in dem Salle Louis-Liard der Sorbonne ein großes Ereignis statt. An diesem hohen Ort, wo die wichtigen thèses ihre Weihen bekommen, in diesem Wissenstempel soll der Philosoph Michel Foucault seine thèse über einen Gegenstand verfechten, der sich in einem solchen Rahmen unangebracht aus­nehmen mag: den Wahnsinn. Der »Betreuer« dieser thèse ist Georges Canguilhem, und er hat seinen Studenten gesagt : »Da müssen Sie hin.«25 Pierre Macherey wohnt, wie viele andere in dem vollbesetzten Saal, dem Ereignis bei. Als er den Salle Louis-Liard betritt, kennt er nicht einmal Foucaults Namen, aber er ver­läßt die universitäre Zeremonie aufs nachhaltigste beeindruckt.

Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel Foucault 229

Fortan kauft er alle Bücher von Michel Foucault noch am Tage ih­res Erscheinens: »Etwas Unerhörtes ist dort geschehen: Die Mitglieder des Prüfungsausschusses waren überwältigt.«26 Und doch sind die Ausschußmitglieder gestandene Akademiker. Den Vorsitz führt Henri Gouhier, der bekannte Philosophiehistori­ker, Professor an der Sorbonne seit 1948. Ihm sitzen Georges Canguilhem sowie Daniel Lagache, Jean Hyppolite und Maurice de Gandillac bei. »Um über den Wahnsinn sprechen zu können, bedürfte es des Talents eines Dichters«, schließt Michel Foucault. »Aber Sie haben es«, antwortet ihm Canguilhem.27

Michel Foucault problematisiert in seiner thèse den Wahrheits­anspruch eines besonderen wissenschaftlichen Diskurses: des psychiatrischen Wissens, und untersucht seine Gültigkeits- und Möglichkeitsbedingungen. Bewußt pflanzt er sein Periskop ins Herz der abendländischen Geschichte, um die siegreiche Ver­nunft zu befragen: »Könnten wir nicht im Fall einer so >unge-wissen< Wissenschaft wie der Psychiatrie auf >sicherere< Weise das Gewirr der Wissens- und Machtwirkungen aufdecken?«28

Um die herkömmlichen Grenzlinien verschieben zu können, geht Foucault von einem tabuisierten Gegenstand aus, vom Ver­drängten der abendländischen Vernunft schlechthin, vom Bild ihres Anderen, und beschreibt so Orte und Arten der Geltend­machung eines noch wenig gesicherten psychiatrischen Wissens. Im Zuge dieses Verfahrens setzt er seinen Gegenstand in eine hi­storische Perspektive. Die historische Analyse spiele eine »instru-mentelle Rolle«29, sei ein Werkzeug innerhalb des politischen Feldes, ein Mittel, der Sakralisierung der Wissenschaft zu entge­hen. Der aufs Historische gewandte Diskurs muß sich fragen, welches die Kraft einer Wissenschaft ist, muß erfassen, was in ihr nicht-wissenschaftlich ist, und herausfinden, »wie in unserer Gesellschaft die Wahrheitswirkungen einer Wissenschaft gleich­zeitig Machtwirkungen sind«30.

Der Gegenstand der Untersuchung, der Wahnsinn also, muß von der Vielzahl der Diskurse befreit werden, die ihn gefangen-

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halten: Alle szientifisch auftretenden — juristischen, medizini­schen, polizeilichen — Wissensformen werden reihum in den Zeu­genstand gerufen, um begreifbar zu machen, auf welche Weise sie diese Figur des Anderen der Vernunft entstehen lassen. Dieses Freilegenwollen des Gegenstands von den sedimentierten Dis­kursschichten, die ihn überlagern, entspricht völlig der damaligen strukturalistischen Thematik in ihrer Suche nach den diversen Nullpunkten des Schreibens, der Sprache, der Verwandtschaft, des Unbewußten. Foucaults Projekt schreibt sich in diesen Blickwin­kel ein, wenn es sich vornimmt, »in der Geschichte jenen Null­punkt der Geschichte des Wahnsinns aufzusuchen, wo er undiffe­renzierte Erfahrung, noch ungesonderte Erfahrung der Sonderung selbst ist«31. Diese Arbeit über die dunklen Grenzen der Vernunft will dem hinter den Rationalisierung erheischenden Diskursen lie­genden Wahnsinn selbst wieder zu Leben und Stimme verhelfen : »Ich habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache zu schrei­ben, vielmehr die Archäologie dieses Schweigens.«32

Dem Schweigen wieder eine Stimme geben: der Wahnsinn

Michel Foucault will also dem aus der Geschichte ausgeschlosse­nen, dem von der Vernunft vergessenen Wahn wieder das Wort erteilen. Wie in einer Dichtung errichtet er seine Geschichte auf bestimmten Gründungsmythen: »Das Werk Foucaults [gehört] in Wirklichkeit zum Bereich der Fiktion«33, wobei die positiven Behauptungen mit einem kritischen, ja nihilistischen Angriff auf die konstituierten Wissensformen und die im Aufbau befindli­chen Grenzen wetteifern. Foucault zeichnet einen Verlauf nach und führt den Leser zurück zum Narrenschiff der mittelalterli­chen Epoche als einem dem Argonautenzyklus entlehnten Sa­genstoff, aber auch einer tatsächlichen Realität der mittelalterli­chen Stadt, die sich der Irren entledigte, indem sie sie, noch vor der Errichtung der Asyle im 18. Jahrhundert, den Fährleuten

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übergab. Der Wahnsinn hatte nicht immer denselben Status : Erst Gegenstand der Ausschließung, wurde er später mittels Einsper­rung erfaßt.

Michel Foucault konstatiert ein Umschlagen. In der Renais­sance war die Figur des Irren von der der Vernunft nicht zu tren­nen; Erasmus entdeckte damals einen der Vernunft inne­wohnenden Wahn, und Pascal schrieb: »Die Menschen sind so notwendig verrückt, daß nicht verrückt sein nur hieße, verrückt sein nach einer anderen Art von Verrücktheit.«34 Im 18. Jahrhun­dert hingegen behauptet der Rationalismus seinen Anspruch, seine Objekte abzugrenzen, und sondert den Wahnsinn aus, der in der Methode seine Vernunft richtig zu leiten, wie Descartes sie bestimmt hat, auf die Seite des Irrtums, des Negativen, des täu­schenden Traums verwiesen ist. Der Wahn, ausgeschlossen vom Gebiet der Vernunft, entsteht nun als gesonderte, negative Figur. Er wird sogar zur entscheidenden Trennstelle zwischen der Welt der Vernunft und jener der Unvernunft, die die alte Trennung zwischen Gut und Böse ablöst. Als Welt des Un-Sinns muß der Wahn abtreten, um dem rationalen Denken Platz zu machen. Zum Schweigen gebracht, eingemauert in der Kerkerwelt, hat der Wahnsinnige noch keinen eigenen Platz, sondern wird zusam­men mit den Bettlern interniert. Das 17. Jahrhundert, das Jahr­hundert der Vernunft, hat demnach auf die fortwährende Angst vor dem Wahn mit Einschließung reagiert. Der Wahn wird zur Bedrohung, und das Verschwinden des Wahnsinnigen wird zur Bedingung für die Herrschaft der Vernunft. Er gerät nun in die große Bewegung der Einsperrung, die Michel Foucault mit dem königlichen Edikt vom 27. April 1656 ansetzt, dem Datum, an dem das Hôpital général gegründet wird, das die Bettler einsam­melt, um sie zur Arbeit anzuhalten: »In gewissem Sinne schlie­ßen die Mauern der Internierungshauser das Negativ dieser mo­ralischen Gemeinschaft ein.«35 An dieser Stelle sichtet Foucault eine Diskontinuität, einen unvermittelten Wechsel der Diskurs­praxis, der ein neues Verhältnis zum Wahnsinn ebenso wie zur

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Armut einführt. Während der Arme bis dahin als mögliches Erlö­sungsobjekt und zugleich Bedingung des Reichtums in eine gei­stige Positivität aufgenommen war, wird er nun als Quell der Un­ordnung und Zeichen der Strafe Gottes in die Negativität verwiesen. Von der Gesellschaft geächtet, muß der Arme so un­sichtbar gemacht werden wie der Verrückte.

Michel Foucault bewegt sich an den Grenzen des Gesellschaft­lichen, ohne sich je auf eine Sozialgeschichte einzulassen, die ei­nen globalen Zusammenhang der abendländischen Gesellschaft wiederherzustellen unternähme. In dieser Hinsicht siedelt er sich bereits beim Strukturalismus an, der der Sphäre des Diskursiven größtmögliche Eigenständigkeit gegenüber den sozialen Kontin-genzen einräumt. Foucault weigert sich, das von ihm erkannte Umschlagen des Diskurses in ein globales Erklärungsschema ein­zufügen, das eine Beziehung zwischen dem beschriebenen Ver­drängungsphänomen und der historischen Mutation einer Ge­sellschaft hätte herstellen können, die von einer Vorherrschaft des Religiösen zu einer Vorherrschaft des Ethisch-Ökonomi­schen übergeht, welche in den mentalen Strukturen und den in­stitutionellen Praktiken des modernen Zeitalters Fuß faßt.

Die Wahnsinnigen unterstehen im klassischen Zeitalter der Zuständigkeit der Justiz und noch nicht der Medizin. Der Inter-nierungsbeschluß ist kein ärztlicher, sondern ein juristischer Akt. Der Irre wird »an [dem] Treffpunkt zwischen sozialem Dekret der Internierung und juristischer Erkenntnis eingeordnet [...], die die Fähigkeit der juristischen Personen unterscheidet«36. Gewiß, der Irre ist kein Gefangener wie die anderen, er unterscheidet sich vom Bettler, aber seine eigentümlichen Äußerungen werden als Symptome tiefer Animalität aufgefaßt, die beim Vernunftmen­schen als Untergrenze des Menschseins zurückgedrängt ist. So ketten die Kerkermeister die als gefährlich eingestuften Irren in den Verschlagen von Bicêtre an.

Im 18. Jahrhundert kommt es in der Beziehung zum Wahnsinn insofern zu einem erneuten Bruch, als nunmehr streng den Ver-

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rückten vorbehaltene Häuser errichtet werden. Das ist die Ge­burtsstunde des Asyls als des spezifischen Orts des Wahnsinns, der nun, anders als im Hôpital général, in seiner Singularität kenntlich wird. Dieser institutionelle Bruch geht der Betrachtung des Wahnsinnigen als eines zu behandelnden Kranken voraus: »Eine neue Dimension hatte eingeführt, ein neuer Raum abge­grenzt und gleichsam eine andere Einsamkeit instituiert werden müssen, damit mitten in diesem zweiten Schweigen der Wahn­sinn schließlich reden konnte.«37 Jetzt lauscht man der Rede der Irren, um darin die Äußerung dieser oder jener verzeichneten Pa­thologie zu finden. Ein gänzlich neues Wissen wird nun von der Medizin übernommen: »Es handelt sich dabei um die Apotheose der ärztlichen Person. [...] Seit dem Ende des achtzehnten Jahr­hunderts war die ärztliche Bescheinigung für die Internierung der Irren nahezu obligatorisch geworden. Im Innern des Asyls selbst aber nimmt der Arzt eine wichtige Stellung ein, die sich danach bemißt, in welchem Maße er die Internierung ärztlich ausrich­tet.« 38 Der Übergang von der Unterschiedslosigkeit zur Spezifi­zierung des Wahnsinns, seine Wiedereinsetzung in die Zeitlich­keit, die Berücksichtigung sowohl des neuen Blicks als auch der neuen Praktiken, die die Geburt des Wahnsinns als eigene Figur impliziert, das dialektisch gefaßte Verhältnis zwischen Wissen und Macht mit der Ersetzung der juristischen durch die medizi­nische Macht: dies sind die großen Linien des Foucaultschen Vorgehens, keine einfache Genealogie des Wahnsinns, sondern die Analyse des Übergangs einer Gesellschaft, die auf der Macht des Gesetzes fußt, zu einem System, das sich auf die Norm stützt, die zum Sonderungskriterium der Individuen geworden ist und eine ganz andere Diskursökonomie impliziert.

Die Medikalisierung des sozialen Körpers entspricht diesem Normierungsprozeß, dieser Trennung von Norm und Pathologi­schem. Neuer König ist jetzt der Arzt, der im Herzen dieser Son­derung steht und ihre Grenzen zieht. Diese Problematisierung der verschiedenen Wahrnehmungen von den Grenzen zwischen

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Normalem und Pathologischem steht dem Werk von Georges Canguilhem nahe, der bereits die Grundlagen für eine strukturale Geschichte der Wissenschaften geschaffen hatte. Foucaults thèse ist eine bemerkenswerte und blendende Illustration für die Fruchtbarkeit dieser Methode.

Wahnsinn und Unvernunft

Um verteidigt werden zu können, muß eine thèse damals ge­druckt vorliegen, es gilt also, einen Verleger zu finden, der bereit ist, ein fast tausend Seiten zählendes Manuskript zu veröffentli­chen. Michel Foucault legt seine Arbeit Brice Parain vor, der sie bei Gallimard herausbringen könnte. Er ist recht zuversichtlich, zumal Parain die Bücher Georges Dumézils publiziert hat, doch mußte bereits Lévi-Strauss zum Verlag Plön gehen, nachdem Parain es abgelehnt hatte, Die elementaren Strukturen der Ver­wandtschaft zu verlegen. Foucault widerfährt die gleiche katego­rische Ablehnung. Jean Delay schlägt ihm daraufhin die von ihm betreute Reihe bei PUF vor, »aber Foucault sähe es eben gern, wenn sein Buch dem Ghetto der akademischen Arbeiten ent­käme« 39. Er will es Lévi-Strauss gleichtun, der es mit den Trauri­gen Tropen geschafft hat, über die Spezialistenkreise hinauszuge-langen und ein breites intellektuelles Publikum zu erreichen.

Auch Michel Foucault versucht also sein Glück bei Plön, wo er Jacques Bellefroid kennt. Der reicht die thèse zur Lektüre an Phi­lippe Ariès, der die Reihe »Zivilisationen gestern und heute« her­ausgibt. Dies ist der erste von zahlreichen Kontakten, die der Philosoph zur Geschichtswissenschaft knüpft. Fruchtbare For­men der Zusammenarbeit werden daraus erwachsen, aber auch Mißverständnisse und Gespräche, in denen man aneinander vor­beiredet. Die entscheidende Begegnung mit Philippe Ariès im Jahr 1961 ist im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Was hat der Erschütterer von Vorurteilen, der nietzscheanische Nihilist Mi-

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chel Foucault mit dem ultrakonservativen, royalistischen Histori :

ker Philippe Ariès gemein, der ehemals bei der Action française aktiv war? Was dieses Zusammentreffen mit dem Autor der Geschichte der Kindheit möglich macht, ist eine ähnliche Emp­fänglichkeit für Mentalitätenphänomene, eine ähnliche unter­schwellige Aufwertung der vormodernen Zeiten, eine gewisse nostalgische Empfindsamkeit gegenüber der unschuldigen Welt vor der disziplinarischen Sonderung, wo im selben Schwung Ver­rückte und Vernünftige, Kinder und Greise auf der Basis von Ge­selligkeit und Gastlichkeit zusammengelebt haben sollen.

Dank Philippe Ariès, dem Michel Foucault später eine Würdi­gung zukommen läßt, kann Wahnsinn und Gesellschaft bei Plön erscheinen : »Eines Tages erhielt ich ein dickes Manuskript : eine Philosophie-Dissertation über die Beziehungen zwischen Wahn­sinn und Vernunft im Zeitalter der Klassik von einem mir unbe­kannten Autor. Das Buch faszinierte mich. Aber man mußte Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um es den neuen Chefs aufzuzwingen [...].«40

Während Michel Foucault in Schweden seine thèse vorberei­tete, hatte er zweimal Roland Barthes zu Gast, mit dem er bei seinen jeweiligen Parisaufenthalten freundschaftlich verkehren sollte. Gleich bei Erscheinen des Buches begrüßt Roland Barthes die erstmalige Anwendung des Strukturalismus auf die Ge­schichte : »Die von Michel Foucault beschriebene Geschichte ist eine strukturale Geschichte. Sie ist struktural auf zwei Ebenen: in der Analyse und im Entwurf.«41 Roland Barthes erkennt auf Anhieb den Zusammenhang zwischen den Arbeiten von Lévi-Strauss, Lacan, Foucault und seinen eigenen, ohne daß es dabei ir­gendeine gemeinsame Ausarbeitung gäbe. In Foucaults Arbeit sieht er die Errungenschaften der modernen Ethnologie bestä­tigt, denn Foucault vollzieht bei seiner Untersuchung eines The­mas, das bisher als rein medizinischer Sachverhalt betrachtet wurde, eine Verschiebung von der Natur zur Kultur. So wie Lévi-Strauss die Verwandtschaftsbeziehungen als Allianzphänomen

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analysiert und Lacan das Unbewußte wie eine Sprache struktu­riert sieht, rührt das literarische Schreiben für die neue Literatur­kritik aus einem Erlernen, aus einem Herstellen, das nichts mit ei­nem irgend gearteten Schöpfergenie zu tun hat. Michel Foucault »hat sich dagegen verwahrt, den Wahnsinn als eine nosographi-sche Realität zu betrachten«42. Barthes' Lesart von Foucaults Werk hält sich im wesentlichen an seine Zugehörigkeit zu einer allgemeinen Sémiologie, zur Konstruktion weitgespannter »Se­manteme«, deren Gegenstand die Untersuchung der Formen ist: Diesbezüglich sei der Wahnsinn immer nur eine achronische Form, die es unter Abzug jeder Substanz, jeden transzendenten Gehalts ausfindig zu machen gelte.

Auch Maurice Blanchot begrüßt Michel Foucaults Buch, in dem er seine Erfahrung im Schreiben über die Grenzen und in der Definition eines neuen literarischen Raumes wiedererkennt: »Jenseits der Kultur eine Beziehung zu dem vorbereiten, was die Kultur verwirft: Sprechen an den Rändern, Auswärtigkeit von Schrift — unter diesem Gesichtspunkt sollten wir dieses Buch le­sen und nochmals lesen.«43

Schließlich wird Michel Foucault von der literarischen Avant­garde gut aufgenommen, dem schließen sich einige Historiker44

und Epistemologen45 an. Doch im wesentlichen bleibt der er­hoffte Publikumserfolg aus, und das Buch findet kein wirkliches Echo, weder bei den Philosophen (in Les Temps Modernes und Esprit wird es nicht besprochen) noch bei den Psychiatern, die Foucaults Arbeit bloß als literarische und metaphysische Stil­übung betrachten. Die bescheidene Auflage von Wahnsinn und Gesellschaft verrät, daß man Die Ordnung der Dinge abwarten muß, bis Michel Foucault nachhaltigen öffentlichen Widerhall findet. Die Erstauflage vom Mai 1961 beträgt dreitausend Exem­plare, mit einer mäßigen Nachauflage von eintausendzweihun­dert weiteren im Februar 1964.46 Michel Foucaults Werk verfehlt also zunächst seine Zielvorgabe; die psychiatrische Lehre fühlt sich von dem Philosophen in keiner Weise angesprochen: »Le-

Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel Foucault 237

diglich auf einem nicht-praktischen Gebiet haben somit Fou-caults Bücher Niederschlag finden können«47, schreibt Robert Castel. Dieser Niederschlag war ein doppelter: Zum einen wurde zum epistemologischen Einschnitt ermutigt, und zweitens wurde die Geisteskrankheit, zum positivistischen Begriff gewendet, als das Andere der Vernunft wieder in ihre Alterität eingesetzt. Fou-caults Arbeit, die 1961 als originelle, aber akademische thèse auf­genommen wurde, bekam indes aus zwei Gründen eine zweite Bestimmung: durch den Mai '68 und durch das Interesse, das sie bald bei den angelsächsischen Antipsychiatern Ronald Laing und David Cooper erweckte. Erst Ende der sechziger Jahre also ent­spricht das Buch einer kollektiven Sensibilität, einer Forderung zur gesellschaftlichen Veränderung, und wird zur Inspirations­quelle der Protestbewegungen gegen die Asylpraktiken.

Ausschluß oder Integration?

Die strukturale Methode Michel Foucaults gründet auf einer Sub­stanzeinbuße des Wahnsinns selbst, der zu einer befangenen und fluktuierenden Diskursen ausgelieferten Figur wird. In einer sol­chen Perspektive verliert der Wahnsinn jegliche Konsistenz, jegli­che Substanz und verschwindet gleichsam in den Falten einer op-pressiven Vernunft. Erst später, im Jahre 1980, warten Marcel Gauchet und Gladys Swain mit einer Gegenthese zu Foucaults Darstellung auf, deren Argumente auf einer minutiösen Nachfor­schung der historischen Tatsachen beruhen.48 Die Autoren revi­dieren Foucaults Chronologie. Nicht auf das klassische Zeitalter (Stichjahr 1656) datiere die Einsperrung, sondern in Wahrheit auf das 19. Jahrhundert. Insbesondere aber verstehen sie die Dynamik der Moderne nicht als eine Logik der Ausschließung des Wahns, der Alterität, sondern im Gegenteil als eine Logik der Integration.

Der Fehldiagnose Michel Foucaults liege eine illusionäre Einschätzung der Vormoderne als Gesellschaft der Toleranz

238 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

zugrunde, in der alle Unterschiede akzeptiert würden. Marcel Gauchet und Gladys Swain zeigen dagegen, daß der Wahnsinnige damals nur insofern akzeptiert war, als er als Ausdruck einer untermenschlichen Spezies betrachtet wurde: »In diesem kultu­rellen Rahmen (definiert durch natürliche Ungleichheits- und Hierarchieprinzipien) schließt die absolute Differenz nicht die Vertrautheit aus.«49 Wenn der Wahnsinn in der Moderne zum Problem wird und der Einsperrung anheimfällt, geschieht dies eben nicht aus Abstoßung, sondern im Gegenteil aus der Berück­sichtigung des Wahnsinnigen als Alter ego, als Artgenosse und nicht als Anderes der Vernunft: »Im modernen Zeitalter hinge­gen ist die Identität de jure und die Distanz lediglich de facto.«50.

Die Geschichte des Wahnsinns in der modernen demokrati­schen Gesellschaft scheint also eher eine Geschichte der Integra­tion als eine Geschichte der Ausschließung zu sein. Auch Marcel Gauchet sieht eine Gefahr in der Konzentration des Asyls, doch im Unterschied zu Michel Foucault siedelt er sie eher auf der Ebene der Normierungsperspektive, der Integrationsutopie an als in einer Ausschließungspraxis. Im Jahre 1961 sah Michel Foucault mit der Vernunft keineswegs eine fortschrittliche Vision verbun­den. Im Gegenteil, die Dekonstruktion der Vernunft soll die rätsel­hafte Figur ihres — gepriesenen — Anderen aufscheinen lassen und das Reich der Aufklärung erschüttern, um dessen oppressive und disziplinierende Grundfesten desto deutlicher bloßzulegen.

Zur Rede steht hier eine radikale Kritik der Modernität und ih­rer Kategorien. Wahnsinn und Gesellschaft gibt sich vor allem als Symptom einer Epoche, als die ersten Gehversuche eines neuen, der abendländischen Geschichte angepaßten strukturalen Ver­fahrens, als Aufwertung des Verdrängten. Die Suche nach der Wahrheit spielt sich damals im Ungesagten ab, in den weißen Flecken, in den Schweigezonen einer Gesellschaft, die sich ent­hüllt durch das, was sie verbirgt. Deshalb ist der Wahnsinn in sei­ner doppelten Wahrnehmung durch eine historische Anthropo­logie und durch die Psychoanalyse ein idealer Gegenstand.

Die Krise des Marxismus : Tauwetter oder Frost?

Das Jahr 1956 wird für einen Großteil der französischen Intelli-genzija das Jahr der Brüche, es bildet die Hefe für die Kinder von 1966 — und es ist die Geburtsstunde des Strukturalismus als des intellektuellen Phänomens, das den Marxismus ablöst. Anstelle des Optimismus der Libération, der sich in der existentialisti-schen Philosophie geäußert hat, tritt eine ernüchterte Beziehung zur Geschichte. Mit der Enthüllung von Stalins Verbrechen durch den neuen Generalsekretär Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU ist seit Anfang 1956 eine neue Periode ein­geläutet — sie endet mit der Niederschlagung der ungarischen Revolution durch sowjetische Panzer.

Der Schock ist so gewaltig, daß er in der Linken den kritischen Blick auf das sowjetische Modell hoffähig macht. Die kommuni­stische Ideologie ist über die historische Realität gestrauchelt, und was sich einmal als Hoffnung auf eine glückliche Zukunft darstellte, läßt den Schrecken der Folterlogik einer totalitären Macht erkennen. Noch haben die Wellen des Erdbebens Billan­court nicht erreicht, und die KPF bleibt einstweilen mächtigster politischer Apparat, aber die Intellektuellen, deren Arbeit sich aus der Wahrheitssuche, aus der Kritik des falschen Scheins be­gründet, kommen nicht umhin, ihre bisherigen Analysemuster in Frage zu stellen. Trauer um die verlorenen Hoffnungen prägt die gesamte Periode der Jahre 1956 bis 1968. Man wendet sich nun dem zu, was der Veränderung standhält und gegen politischen Voluntarismus gefeit ist. In der kollektiven Sensibilität treten die Invarianten, die Unverrückbarkeiten in den Vordergrund.

Demgegenüber erlebt Europa in diesen Jahren jedoch die

240 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

schnellste ökonomische Transformation seit Ende des 18. Jahr­hunderts: »Man lebte damals in einer ungeheuren Wahrneh­mungsverschiebung: Die Bedeutung der >trente glorieuses< [der dreißig Wirtschaftswunder) ahre nach dem Weltkrieg bis zur Öl­krise, A.d.Ü.] wurde erst begriffen, als sie zu Ende waren, denn während sie abliefen, glaubte man, es passiere gar nichts.«1 War bisher die russische Revolution als Fortführung der Französi­schen Revolution, 1917 im Kielwasser von 1789 als Vollendung des modernen Demokratie-Ideals gesehen worden, so trugen sich nun die französischen Intellektuellen mit einer Neubeurtei­lung der Ideale und Werte der Aufklärung und der Revolution von 1789. Viele von ihnen lasten nun den Bolschewismus und sein unheilvolles Schicksal den Idealen der Aufklärung an.

In dieser kritischen Nachlese der Werte der westlichen Demo­kratie faßt das Phänomen des Strukturalismus Wurzeln. Die fran­zösische Intelligenzija gründet ihre Reflexion nicht mehr auf Werte wie Autonomie, Freiheit oder Verantwortung: »Die Er­satzerklärungen haben dazu geführt, daß der Primat der Totalitä­ten vor den Subjekten in den Vordergrund rückte.«2 Eine Kritik an der Moderne und am formalen Charakter der Demokratie entwickelt sich, nicht mehr im Namen eines verebbenden Mar­xismus freilich, sondern ausgehend von Heidegger, von Nietz­sche. Sie zeigt sich indirekt darin, daß man in der Geschlossenheit des Textes und seiner inneren Architektonik Zuflucht sucht.

Wenig später, im Jahre 1958, macht General de Gaulle der seit Kriegsende herrschenden strukturellen Instabilität ein Ende und schart erstmals Fachleute als Minister um sich. Damit signalisiert er die Verlegung der politischen Kompetenz von der Ecole nor­male supérieure in die École nationale de l'administration. Die In­stitution, die einst den Nachwuchs der Humaniora verkörperte, macht derjenigen Platz, die die Technokraten ausbildet. Die Rue d'Ulm, die dann 1966 das Epizentrum des strukturalistischen Erdbebens sein wird, reagiert, indem sie sich zum Forum des wissenschaftlichen Diskurses höchsten Grades aufschwingt und

Die Krise des Marxismus : Tauwetter oder Frost ? 241

damit den Moment hinauszuzögern versucht, bei der Ausbil­dung der Eliten der Republik auf den zweiten Rang verwiesen zu sein. Seit 1958 ist das technische Denken an der Macht: »Meiner Meinung nach hatte der Strukturalismus deshalb so viel Erfolg, weil er dem technischen Denken zuarbeitete. Er hat ihm einen philosophischen Anstrich gegeben, einen logischen Anstrich, eine Vernunftbegründung, eine Art Kraft. Zwischen dieser Zeit und dem Strukturalismus gab es keine Liebesheirat, sondern eine Vernunftehe.«3

Die Ära der Brüche: 1956

Als die Hohepriester mit dem »Väterchen der Völker« ins Ge­richt gingen, brach das Glaubensgebäude zusammen. Insofern bot sich vielen angesichts der Agonie des institutionellen Marxis­mus der Strukturalismus als Rettungsanker an: »Es war eine Art zeremonielles Massaker. [...] Dadurch wurde einmal gründlich saubergemacht, mit eisernem Besen ausgekehrt, gut durchgelüf­tet : ein Akt der Hygiene. Man kann sich die Duftnote des Deo­dorants oder des Putzmittels nicht immer aussuchen; oft riecht es zum Kotzen, aber es reinigt.«4 Für Intellektuelle, die keine Schattenspiele mehr treiben können, beginnt eine Ära der Brü­che.

Roger Vailland geht auf Abstand und hängt das Stalinporträt in seinem Büro ab. Claude Roy wird aus der KPF ausgestoßen, weil er »das Spiel der Reaktion, der Feinde der Arbeiterklasse und des Volkes betrieben«5 habe. Selbst Jean-Paul Sartre, der seit den fünfziger Jahren untadeliger Weggefährte der KPF gewesen ist, veröffentlicht im Express vom 9. November 1956 einen Brandartikel über Ungarn, der die unwiderrufliche Scheidung auslöst. Die vielen Kritiken machen deutlich, daß man gegen die Partei recht haben kann, auch wenn dies dem Übeltäter ständige Schmähungen und Verleumdungen einträgt. Doch stoßen diese

242 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Einschüchterungsmittel bald an ihre Grenzen, zumal viele durch den antikolonialen Kampf gegen den Algerienkrieg unter Beweis stellen werden, daß die Bezichtigung des Renegatentums eine Lüge ist. Für zahlreiche westliche Intellektuelle sind also 1956 die Kriegsnachwehen zum großen Teil weggefegt, lange bevor die Ereignisse von 1989 das Auskehren im Osten beendet haben. Wie aber kann man angesichts dessen Marxist sein ?

Die Geschichte bietet keine Hoffnung auf eine bessere Zu­kunft mehr, aber man befragt ihre Verwerfungen, um zu verste­hen, wo in ihr die Keime der Barbarei steckten. Der Riß von 1956 »hat dazu geführt, daß wir nicht länger dem Hoffen verpflichtet waren«6. Anstatt sich vom fortwährenden Strom der Geschichte getragen zu fühlen, muß der Intellektuelle nach Foucaults Auf­fassung die Felder der Möglichkeiten und der Unmöglichkeiten in einer gegebenen Gesellschaft erkunden, ohne die Ankunft ei­nes Messias zu erwarten, wie ihn die Partei als Wegweiser zur Er­langung des Heils auf Erden verkörpert. Doch bevor man sich überhaupt wieder einen Forschungsbereich und eine Identität aufbauen kann, muß man mit einer Partei brechen, die als soziale Heimat, als Adoptivfamilie mit ihren Riten und Gebräuchen diente — mit einem ganzen Habitus also.

Pierre Fougeyrollas verläßt 1956 die KPF: »Seinerzeit unter­richtete ich im Lycée Montaigne in Bordeaux, ich war Mitglied des Regionalbüros der KPF für die Gironde, und ich trat aus wegen der Ungarnfrage. Als ich 1958 nach Paris zurückging, schloß ich mich der Gruppe Arguments an.«7 Auch Gérard Genette verläßt die KPF 1956: »Dann habe ich eine dreijährige Entgiftungskur bei Socialisme ou barbarie durchgemacht, wo ich mit Claude Lefort, Cornelius Castoriadis und Jean-François Lyotard in Kontakt stand. Um zum Nichtmarxisten zu werden, nachdem ich acht Jahre lang Stalinist war, bedurfte es einer star­ken Kraft, und Socialisme ou barbarie war eine, die gründlich aufmischte.«8 Wie Olivier Revault dAllonnes, der auch dabei war, sagt: »Mit dem Jahrgang 1956 könnte man einen Verein

Die Krise des Marxismus : Tauwetter oder Frost ? 243

aufmachen.«9 Er war der KPF 1953 in Lille beigetreten, wo er sich beim Kampf gegen den Indochinakrieg in Gesellschaft von Michel Foucault wiederfand.

Anläßlich der Unterstützung des polnischen Oktobers ent­deckt Jean-Pierre Faye 1956 fasziniert die Zugkraft des Pro­gramms von Lévi-Strauss. Er wohnt im Salle Louis-Liard an der Sorbonne einem großen feierlichen Empfang für die polnischen Abgeordneten bei, den die UNESCO unter der Schirmherr­schaft von Fernand Braudel organisiert hat. Die Versammlung endet mit einer Sensation, dem Eintreffen des Siegers des polni­schen Aufstands und ehemaligen Opfers der stalinistischen Säu­berungen, Gomulka. Da ergreift Lévi-Strauss »das Wort und er­klärt, daß die Struktur die Königin sei, und die drei künftig maßgeblichen Wissenschaften seien die Ökonometrie, die struk-turale Sprachwissenschaft und die Anthropologie, die wenige Monate später, mit Erscheinen eines weiteren Buches, struktural werden sollte«10. Jean-Pierre Faye interessiert die Funktions­weise der Mythologien in der modernen Welt, insbesondere seit dem Bruch von 1930 in den Vereinigten Staaten, aber auch seit der Depression, die Wien 1873 ereilt hatte. Der strukturale Weg von Lévi-Strauss erscheint ihm vielversprechend für eine Erklärung der mannigfaltigen Wechselbeziehungen zwischen einer Mytho­logie und einer Konjunktur, im Verhältnis zwischen Struktur und Fluktuationen.

Der Strukturalismus als Ausweg aus der Krise des Marxismus

Für andere beginnt mit dem Rekurs auf Lévi-Strauss der Über­tritt zur Anthropologie, zum Beispiel bei den ausgescherten kommunistischen Philosophen, die man den Viererklub nennen könnte : Alfred Adler, Michel Cartry, Pierre Clastres und Lucien Sebag. Alle vier treten 1956 aus der KPF aus und verlegen sich von der Philosophie auf die Anthropologie, wobei diese Wahl

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nicht von der Entwicklung der politischen Situation zu trennen ist : » 1956 ist für uns alle ein Schlüsseldatum.« n

Alfred Adler beschreibt seinen intellektuellen Werdegang, der ihn vom Existentialismus zum Strukturalismus geführt hat.12

Nachdem er mit achtzehn Jahren der KPF beigetreten ist, führt ihn das politische Engagement ins Fahrwasser des Marxismus. Indes bleibt er eher am Rand und definiert sich nicht wirklich als Marxist, sondern eher als Kommunist im Sinne eines moralischen Engagements. Im Verlauf seines Philosophiestudiums wird er durch die Lehrveranstaltungen Hyppolites auf Hegel aufmerk­sam : »Der Hegel-Marxismus hat uns eine intellektuelle Substanz gegeben, insofern es ja in erster Linie auf die politischen Ent­scheidungen ankam, und er hat uns auch einen Inhalt für unseren Kampf gegeben.«13 Doch dann kommen die Ereignisse von 1956 dazwischen, und die KPF gerät in Mißkredit, auch wenn es erst 1958 zum Ausschluß kommt: »1956 ist schlechthin die Bedin­gung für die Wahl der Ethnologie.« u Seither ist keine Entspre­chung zwischen ethisch-politischem Engagement und hegelia­nisch-marxistischer Spekulation mehr möglich, und Alfred Adler besucht Claude Leforts Seminar über Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Die Vierergruppe blendet das Werk von Lévi-Strauss, das den Vorzug der Entideologisierung, des apoliti­schen Diskurses hat : »Wir entdeckten die Traurigen Tropen. Ich weiß noch, wie verrückt Pierre Clastres auf das Buch war; er hat es vier oder fünf Mal gelesen.«15

Infolge dieser Konversion interessiert sich die Gruppe für al­les, was an der Entstehung des strukturalen Paradigmas mitwirkt, und zehrt davon mit um so größerer Begeisterung, als eine ka-thartische Aufarbeitung der Vergangenheit zu leisten ist. Die vier vertiefen sich also in die Arbeiten der strukturalen Linguistik und besuchen überdies ab 1958 das Seminar von Jacques Lacan in Sainte-Anne. Ihr Entdeckungshunger treibt sie zwischen 1958 und 1963 zu einer umfangreichen theoretischen Ausbildung in Ethnologie in Verbindung mit weiteren Disziplinen und führt

Die Krise des Marxismus : Tauwetter oder Frost ? 245

auch zum Aufbruch ins Gelände. Zu diesem Zeitpunkt teilt sich die Gruppe : Lucien Sebag und Pierre Clastres beschäftigen sich mit den amerikanischen Indianern, Alfred Adler und Michel Car-try brechen nach Afrika auf: »Die wahren Ureinwohner findet man nur in Lateinamerika, sagten wir zum Spaß.«16 Die Entdek-kung, die sie anstreben, reicht in der Tat tiefer als die Sehnsucht nach Exotik; für sie kommt es darauf an, Gesellschaften zu fin­den, die sich dem Einheitsschema des Hegel-Marxismus entzie­hen, Gesellschaften, die in den stalinistischen Lehrbüchern feh­len.

Der Entdeckergeist wird auch durch die Enttäuschung gegen­über der spekulativen Philosophie und der Geschichtsschreibung gefördert, deren Schaffenszyklus mit der Entkräftung des Hegel-Marxismus abzulaufen schien. Im Gegensatz zu den rein spekula­tiven Diskursen, die aus sich selbst heraus funktionieren, bot das Werk von Lévi-Strauss ein echtes intellektuelles Abenteuer. »In den Traurigen Tropen schreibt Lévi-Strauss, daß man viel Zeit aufbringen muß, um den Namen eines Clans zu finden. Wenn man das las, wurde einem klar, daß hier jemand etwas Neues brachte.« u Der Aufbruch ins Feld, das Heraustreten aus dem Zentrum der eigenen Geschichte sind die entscheidenden Nach­wirkungen des Erdbebens von 1956.

Tauwetter

Im Zuge eines ideologischen Tauwetters schmolz also seit 1956 die Vulgata in sich zusammen. Freilich hatte es da Wegbereiter ge­geben, namentlich die Gruppe Socialisme ou barbarie, der man­che sich 1956 anschließen. Sie wurde bereits 1949 auf Betreiben vor allem von Cornelius Castoriadis und Claude Lefort gegrün­det. Eine umfassende, radikale Kritik von links wird erarbeitet, um das stalinistische Modell, das bürokratische und totalitäre Sy­stem zu analysieren.

246 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Castoriadis und seine Gruppe halten den Strukturalismus für keine Alternative zur Vulgata, sondern lediglich für ihre Anpas­sung an die Herrschaftsweise des modernen Kapitalismus, der 1958 den Sieg davonträgt. Es ist der Diskurs, der der Wissen­schaft unumschränkten Vorrang einräumt. »Während im Namen der Wissenschaft die Menschen immer stärker unterdrückt wer­den, versucht man ihnen einzureden, daß sie nichts seien und die Wissenschaft alles.«18 Die Gruppe bezichtigt diese neue struktu-ralistische Schule, die lebendige Geschichte zu entleeren und so­mit das technokratische Denken ins intellektuelle Feld einzulas­sen.

1956 entsteht eine neue Strömung, die sich rund um die Zeit­schrift Arguments organisiert. Sie schlägt eine Revision des Mar­xismus vor, aber auch eine Verdeutlichung der Widersprüche der Modernisierung. Gegründet und herausgegeben wird die Zeit­schrift von Edgar Morin, um ihn herum Kostas Axelos, Jean Du-vignaud, Colette Audry, François Fejtö, Dionys Mascolo, Ro­land Barthes und Pierre Fougeyrollas. Sie ist der Inbegriff des Tauwetters, das den Parteijargon durch ein fragendes, mehrdi­mensionales Denken ablöst: »Der Frühling des Jahres 1956 zog ein. Windstöße der Hoffnung erreichten uns aus Polen, aus Un­garn, aus der Tschechoslowakei. Die Geschichte zögerte zwi­schen Flut und Ebbe. [...] Wir merkten, daß der vermeintliche Fels unserer Doktrin nur Packeis war.«19

Die Zeitschrift wird von Edgar Morin und Franco Fortini ge­gründet, der bereits in Italien die Zeitschrift Ragionamenti her­ausgab: »In den Jahren davor war ich eine politische Halbleiche, ich war partei- und entscheidungslos, und ich war froh, in Italien Freunde zu treffen [...], mit denen ich einen Dialog führen konnte.«20 Es handelt sich um eine offene Gruppe, die sofort eine umfassende Ideendebatte initiiert und sich im Unterschied zu den Parteiorganen als ein reines Ideenlabor oder -bulletin posi­tioniert. Arguments befaßt sich mit politischen Problemen, mit der technischen Zivilisation und betreibt Sprachreflexion im

Die Krise des Marxismus: Tauwetter oder Frost ? 247

Sinne des Versuchs einer kritischen Radikalität jenseits der diszi­plinaren Einschnitte und der Partei-Scheuklappen. Die beiden er­sten Jahrgänge der Zeitschrift sind der Trauerarbeit gewidmet, der endgültigen Ablösung von der KPF ; dann werden die The­men weniger politisch, gibt es Ausgaben zur Liebe, zum Univer­sum, zur Sprache. »Während der sechs Jahre Arguments herrsch­te eine glückliche Einheit von Fühlen und Denken, wie es sie selten gibt.«21

Diese Suche nach einem neuen Weg nimmt 1962 ein vorzeiti­ges Ende: »Mit einem lachenden und einem weinenden Auge wird die Zeitschrift Arguments von ihren Kapitänen versenkt.«22

Dieses Ende ergibt sich einerseits durch die Abwesenheit derjeni­gen, die die Zeitschrift ausmachten: Pierre Fougeyrollas ist in Dakar, Jean Duvignaud in Tunesien; vor allem aber ist nicht mehr zu übersehen, daß unterdessen eine andere Denkströmung ver­breitet ist, die in den beginnenden sechziger Jahren triumphiert — der Strukturalismus: »In den Universitäten herrschte ein Den­ken, das die wissenschaftliche Lösung für alle Probleme bereit­hielt, der Strukturalismus. Also war es aus. Wir waren erneut Abweichler geworden. Wir waren besonnen genug, das einzu­sehen.« 23

Frosteinbruch?

Edgar Morin sieht im Erfolg des Strukturalismus den Einbruch des Frosts nach dem Tauwetter. Das struktural-epistemische Denken ersetzt den totalisierenden Marxismus mit gleich großer Gewißheit auf Wissenschaftlichkeit, denn es gehorcht den Geset­zen der klassischen Wissenschaft. Es hantiert mit Determinismus und Objektivierung und schließt das Subjekt als zu aleatorisch und die Geschichte als zu kontingent aus zugunsten eines den Naturwissenschaften an Strenge ebenbürtigen Modells: der strukturalen Linguistik. Und die Temperaturen sinken bald wei-

248 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

ter, als man Moskau gegen Peking, Hanoi oder Havanna auszu­tauschen beginnt. Nach den Entbehrungen der stalinistischen Phase war das Bedürfnis nach Verwissenschaftlichung der Hu­manwissenschaften ebenso verständlich wie das Bedürfnis, sich an neue Sicherheiten zu klammern. Die Aufwertung der Struktu­ren erlaubte nun zum einen, sich die anhaltende Kluft zwischen Freiheit und Determination zu erklären, zwischen der histori­schen Aufgabe der Veränderung und dem Unvermögen, die Menschen von deren Notwendigkeit zu überzeugen: »Durch den Begriff der unbewußten Struktur konnten wir dank Saussure und Jakobson Entwicklungen ergründen, die sich nicht gemäß den Transformationen von Klassen oder sozialen Verhältnissen vollzogen, sondern außerhalb des bewußten Willens.«24 Zum an­deren ermöglichten Anthropologie und strukturale Linguistik, auf andere Weltanschauungen, andere Repräsentationssysteme einzugehen: »Dies hat uns zu einer Auffrischung der dialekti­schen Sichtweise verholfen, die wir bis dahin als eine Form der Überwindung von Gegensätzen zu betrachten neigten, während der Gedanke der Vervielfältigung immer feinerer Vermittlungen sie uns zu erneuern schien.«25

Der wahre Nutznießer der Krise von 1956 ist also der Struktu­ralismus, dessen Programm, wie wir sahen, schon weitaus früher abgesteckt war, reichen doch seine Wurzeln bereits auf den An­fang des Jahrhunderts zurück. Durch dieses Paradigma konnte man auf einem spezifischen Gebiet des Wissens ein bestimmtes Niveau von Wissenschaftlichkeit und Operationalität für sich geltend machen und gleichzeitig den Horizont der Universalität, der dem Engagement von einst zugrunde lag, bewahren, ohne ihn jedoch auf irgendeinen Voluntarismus der Weltveränderung zu beziehen, sondern in Beschränkung auf den Versuch, ihn besser zu verstehen, sowie unter Einbeziehung der Figuren der Alterität und des Unbewußten.

Der strukturale Weg der französischen Ökonomieschule

Unter den Humanwissenschaften war einzig die Ökonomie nicht auf die fünfziger Jahre angewiesen, um der Erforschung der Strukturen Rechnung zu tragen. Zwar sucht sie anders als die übrigen Humanwissenschaften ihr Modell nicht in der Lingui­stik, dafür haben aber die Ökonomen bei der Formalisierung ihrer Arbeiten einen Vorsprung und können somit anderen nach Strenge und Wissenschaftlichkeit strebenden Disziplinen als Vor­bild dienen. So entlehnt etwa Lévi-Strauss von den Ökonomen den Modellgedanken, um den szientifischen Aspekt der struktu-ralen Anthropologie durchzusetzen.

Die Ökonomie wird nicht die Rolle einer Pilotwissenschaft übernehmen, die dem Strukturalismus zum Sieg verhilft. Aber sie ist in der Mathematisierung, wie sie für die Mehrzahl der Sozial­wissenschaften zu diesem Zeitpunkt zwingend ist, am weitesten vorgedrungen. Obwohl also ein Austausch stattgefunden hat — und davon zeugen die Anregungen, die Lévi-Strauss aus der Modelltheorie bezog —, stehen die Ökonomen in den sechziger Jahren doch etwas abseits der großen Debatten um das struk-turalistische Paradigma. Diese tendenzielle Außenseiterposition erklärt sich daraus, daß man seinerzeit eher auf eine Ausweitung des phonologischen Modells sann, sie rührt aber auch aus einer institutionellen Aufgliederung der Humanwissenschaften, bei der die Wirtschaftswissenschaftler mit den Juristen zusammen­gelegt und von den Geisteswissenschaftlern getrennt sind : »Die Rue Saint-Jacques bildete gleichsam einen tiefen Graben, der Ökonomen und Geisteswissenschaftler voneinander trennte. Die Kontakte zu den Historikern hingegen wurden im Rahmen der

250 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Sechsten Sektion der EPHE geknüpft.« * Durch die Ablehnung des Vorschlags von Fernand Braudel im Jahre 1958, eine Hoch­schule für Sozialwissenschaften zu gründen, und den Beschluß, die philosophischen und humanwissenschaftlichen Fakultäten von den rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten zu trennen, entsteht eine Absonderung, die es den Ökonomen ver­wehrt, das strukturale Paradigma zu beflügeln.

Die Wirtschaftswissenschaft hat gleichwohl in starkem Maße axiomatisierte Resultate hervorgebracht, auch wenn sie die epi-stemologischen Bedingungen ihrer eigenen Disziplin kaum re­flektierte. Die MikroÖkonomie ist in den fünfziger Jahren anhand des Begriffs vom allgemeinen Gleichgewicht zu einer nahezu vollständigen Axiomatisierung gelangt, die sich als durchformali­sierte Struktur darstellt. Man kann darin auf dem Feld der ökono­mischen Disziplin »eine Form von Strukturalismus [sehen], die die logischen Bedingungen der Wissenschaftlichkeit anhand der Kriterien logischer Aussagenkonstituierung verifiziert und zu Resultaten von universeller Tragweite gelangt«2. Gerade der Er­folg dieser Axiomatisierung und ihre praktische Anwendbarkeit haben dazu beigetragen, daß eine Problematisierung der Ergeb­nisse der MikroÖkonomie hinausgezögert wurde, die sich im gro­ßen und ganzen jeder kritischen Reflexion ihrer Postulate enthal­ten hat.

Das Bündnis von Staat und Struktur

Auch die nach dem Krieg einsetzenden Transformationen der Beziehungen zwischen Staat und Markt in Frankreich werden den Strukturbegriff in der Ökonomie verankern, und zwar auf ei­ner vorwiegend pragmatischen Ebene. Diesmal denkt man auf makroökonomischer Ebene über staatliche Eingriffsmöglichkei­ten nach: »Es ist das Goldene Zeitalter des Keynesianismus.«3

Doch gegenüber der marginalistischen angelsächsischen Tradi-

Der strukturale Weg der französischen Ökonomie schule 251

tion, die den Eingriff des Staates weitgehend begrenzte, ist der Fall Frankreichs besonders gelagert: Bei der Befreiung greift der aus dem Conseil national de la Résistance hervorgegangene Staat in die makroökonomischen Modelle ein, um die Mechanismen der französischen Wirtschaft durch Planungen, Bodenpolitik, Verstaatlichungen usw. von Grund auf umzugestalten.

Es geht darum, auf die Strukturen der Nationalökonomie ein­zuwirken, um deren globale Fließbewegungen, die Nachfrage und damit das Produktionsniveau zu modifizieren. Der Staat gilt zu diesem Zeitpunkt als Initiator des Wiederaufbaus und der Modernisierung der Wirtschaft. Als solcher nimmt er sich der großen Strukturumwandlungen an. Diese Ausgangslage sorgt für einen dem allgemeinen Zusammenrücken förderlichen Aufbruch und ermöglicht die Konstituierung »einer eigenständigen franzö­sischen Ökonomieschule«4. Begünstigt durch die unausweich­liche Verzahnung der ökonomischen und sozialen Probleme, kommt damals eine Bündelung der Energien auf einem Feld zu­stande, das sonst eher zur Vereinzelung der Forschungen neigt.

Einer der Hauptpole dieses Zusammenschlusses ist La Revue économique mit François Perroux, Jean Weiller, Jean Lhomme und den Brüdern Marchai. Auch Fernand Braudel gehört dem Herausgeberkomitee an — ein Symbol für den Dialog, den die Historiker der Annales und die Ökonomen aufgenommen ha­ben. Der Nachkriegsstaat setzt eine ganze Reihe neuer Verwal­tungsorgane ein, um die Strukturreformen durchzuführen und die öffentlichen Behörden kurz- und mittelfristig zu instruieren. Die Konjunkturabteilung im INSEE [Institut national de la sta­tistique et des études économiques, A.d.U.] wird eingerichtet, dann, im Jahre 1952, die Programmabteilung des Fiskus (Service des études économiques et financières: SEEF), die sich später in der Direction de la prévision et du plan mit ihren beiden Organen CREDOC [Centre de Recherche et de Documentation sur la Consommation, A.d.U.] und CEPREMAP [Centre d'Études Prospectives d'Économie Mathématique Appliquées à la Planifi-

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cation, A. d. Ü.] umwandelt. Diese Aufnahme des ökonomischen Wissens durch den Staat »hat zwei Hauptwege genommen: die Einrichtung des staatlichen Rechnungswesens und die Aufstel­lung makroökonomischer Prognosemodelle«5.

Infolge des engen Bündnisses des Staates mit den Theoretikern und Praktikern der Makroökonomie wächst der Abstand zur uni­versitären Welt der Humaniora, der Geisteswissenschaftler. In den Stäben, denen Leute wie Claude Gruson, Pierre Uri, Alfred Sauvy, François Perroux angehören, ist der universitäre Anteil gegenüber den Ingenieuren, die eine der grandes écoles absolviert haben, und den Ministerialräten deutlich in der Minderheit. Somit werden volkswirtschaftliche Prognosemodelle im Rahmen der Erfor­schung eines sektoriellen Gesamtzusammenhangs des Produk­tionsapparates auf höchster Verwaltungsebene erstellt.6

Die Aufwertung des strukturalen Verfahrens schlägt sich also durchaus bei den Ökonomen nieder, allerdings ausgehend von Horizonten, die den universitären Geisteswissenschaftlern im allgemeinen fernliegen, ein Abstand, der durch die Formalisie-rung ihrer Arbeit weiter zunimmt. Trotzdem sind einige Brücken geschlagen worden, die einen Dialog zwischen den Ökonomen und den übrigen Humanwissenschaften ermöglicht haben. Dabei hat François Perroux die entscheidende Rolle gespielt.

Der Mann, bei dem sich die Ströme kreuzen: François Perroux

Seit 1955 Professor am Collège de France, hatte François Perroux 1944 das ISEA (Institut de sciences économique appliquée) ge­gründet. Seine Zeitschrift Les Cahiers de l'ISEA öffnet sich mit Artikeln von Lévi-Strauss, Gilles Gaston-Granger und anderen der philosophischen, insbesondere epistemologischen Reflexion. Nun verläuft bei François Perroux der Einfluß in beide Richtun­gen; während er von Merleau-Ponty den Begriff der verallgemei­nerten Ökonomie übernimmt, trägt er andererseits zur Verbrei-

Der strukturale Weg der französischen Ökonomieschule 253

tung des strukturalen Modells bei den Ökonomen bei. Den Libe­ralen und ihrem Kult eines freien Marktes mit freier Preisgestal­tung hält Perroux die Operationalität des Strukturbegriffs entge­gen: »Die Struktur einer ökonomischen Gesamtheit bestimmt sich aus dem Netz der Beziehungen, welche die einfachen und komplexen Einheiten untereinander verbinden, und aus der Reihe der Proportionen zwischen dem Fließen und den Bestän­den der elementaren Einheiten sowie den objektiv relevanten Kombinationen dieser Einheiten.«7

In den dreißiger Jahren haben die Europäer, als Reaktion auf die Krise von 1929, in der politischen Ökonomie massiv das strukturale Paradigma eingesetzt. Doch man kann noch vor die­ser Ausbreitung des Strukturalismus in der politischen Ökono­mie mit Henri Bartoli davon sprechen, daß »der soziologische Strukturalismus und der ökonomische Strukturalismus zeitgleich mit der Geburt der Soziologie und der politischen Ökonomie auftreten«8. Diese Strukturidee entsteht bereits im 17. Jahrhun­dert, als eine Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen ökonomischen Gegebenheiten hergestellt wird, die als Bausteine eines das Wirtschaftsleben lenkenden globalen Zusammenhangs begriffen werden.

Schon Auguste Comte hatte die Physiokraten unter die Weg­bereiter der »gesellschaftlichen Physik« eingereiht. Später hat Marx sich bemüht, die Funktionsgesetze des Kapitals über struk­turelle Begriffe wie Produktionsweisen, Gesellschaftsformatio­nen und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse zu bestimmen. Er hat versucht, die bloße Beschreibung des Beobachtbaren zu überwinden, um die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise zu erfassen. Wenn Marx den Strukturbegriff als theoretisches, rein konzeptuelles Modell einsetzt, vergißt er darüber aber nicht dessen Kehrseite, die Verknüpfung des Mo­dells mit der ökonomischen Realität des Entwicklungsstands der Produktivkräfte in einem gegebenen gesellschaftlichen System. Umgekehrt stammt die Struktur, von der nach 1945 in der fran-

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zösischen Ökonomieschule die Rede ist, eher vom Empirischen, vom Beobachtbaren her als von der theoretischen Ebene: Diese Begriffsbestimmung steht den Historikern näher als den Anthro­pologen. Das gilt unzweifelhaft für François Perroux, der die Struktur über die Proportionen von Fließen und Bestand der ele­mentaren Einheiten definiert, oder für R. Clemens, der sie in »den Wertverhältnissen und -beziehungen von Kosten, Preisen, Einkommen und Währung in einem gegebenen Milieu«9 sieht.

In den dreißiger Jahren bereits hatte der Deutsche Ernst Wage­mann systematisch den Strukturgedanken angewandt und eine Definition geliefert, die von den Ökonomen insbesondere ab 1936 in Frankreich im Zusammenhang mit den Strukturreformen der Volksfrontregierung übernommen worden ist. Darin wird die Struktur als »das Bleibendere«10 angesehen: Sie ist das, was schnellen Bewegungen standhält, was die Konjunktur ermöglicht und sie bestimmt, ohne mit ihr eins zu sein. Sie ist durch die Lang­samkeit ihrer — im allgemeinen zyklischen — Rhythmen gekenn­zeichnet, die von tiefgreifenden Mechanismen bewirkt werden. Diese Sicht von der Struktur als Invariante oder Variante mit schwachem Ausschlag greift François Perroux auf, der unter Strukturen »Gesamtheiten von Quantitäten in verlangsamter Be­wegung, Gesamtheiten von verhältnismäßig stabilen Steuerungs­oder Verhaltensweisen« n versteht. Der statischen Strukturauf­fassung François Perroux' stellt André Marchai auf einen 1959 von Roger Bastide geleiteten Kolloquium eine dynamische Per­spektive entgegen.12 Sein Ansatz fußt auf einer Relativierung der gültigen Wirtschaftsgesetze je nach Strukturtypus bzw. zwischen zwei strukturellen Schwellen innerhalb eines ökonomischen Sy­stems, in dem sich eine mehrdimensionale Kombinatorik entwik-kelt.13

André Marchai hat das Wiederaufleben des Strukturbegriffs in der zeitgenössischen Wirtschaftstheorie hinterfragt.14 Er führt es zurück auf den Erklärungsbedarf der Ökonomen für die großen historischen Mutationen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert:

Der strukturale Weg der französischen Ökonomieschule 255

den Übergang vom Konkurrenzkapitalismus zum Monopol­kapitalismus, die Krise von 1929, die Entkolonisierung. Das Zusammentreffen aller dieser Umwandlungen erforderte die Überwindung von Modellen, die von allen exogenen, mit dem gesellschaftlich-politischen Umfeld verflochtenen Anteilen be­reinigt waren.

Der Versuch einer ökonomischen Anthropologie

In diese Perspektive globaler Konfrontation schreibt sich die Ar­beit von André Nicolai ein, der seine thèse 1957 verteidigt hat.15

Die Reflexion über die Struktur reicht bei ihm bis ins Jahr 1948 zurück, als er die Abschlußklasse am lycée absolvierte. Er be­schäftigt sich damals mit der Auseinandersetzung zwischen Tarde und Durkheim, in der er ein Problem erkennt, das im Mit­telpunkt seiner ganzen späteren Arbeit stehen wird : das strittige Dilemma zwischen dem Vorrang der Verhaltensweisen (Tarde) und dem der Strukturen (Durkheim). André Nicolai meint seit­her, daß »beide zum Teil recht haben, da die Gesellschaft unwei­gerlich aus tätigen Kräften besteht und diese tätigen Kräfte zu­gleich von der Gesellschaft getätigt scheinen«16. Eine von diesem Widerspruch ausgehende Reflexion führt zur Überschreitung des ökonomischen Gesichtspunkts im engen Sinn, und André Nicolai entdeckt 1955 begeistert die Traurigen Tropen. Er schreibt sich nicht nur für Wirtschafts-, sondern auch für Politik­wissenschaften ein und hört an der Sorbonne bei Piaget, Lagache, Merleau-Ponty, Gurvitch und anderen Vorlesungen in Psycholo­gie, Soziologie und Philosophie. Somit steht er Ende der fünfzi­ger Jahre im Zentrum eines strukturalen Kreuzstroms. Auf dem Feld der Ökonomie ist er ein vorzeitiger Strukturalist, der mit seiner Aufgeschlossenheit für alle Humanwissenschaften und seiner Absicht, eine strukturale Wirtschaftsanthropologie zu gründen, aus dem Rahmen fällt.

256 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Die Ökonometrie

Zwischen konkreter Realität und Struktur gibt es jedoch eine Zwischenstufe, wie sie am ausgeprägtesten die Wirtschaftswis­senschaftler entwickelt haben : das Modell als notwendiges Bin­deglied, das weitestgehende Formalisierung erlaubt. Auf dieser Stufe geht die Ökonomie, indem sie Ökonometrie wird, in eine durchformalisierte Sprache über: »Das Konstruieren mathemati­scher Modelle ist zu einem der prestigeträchtigsten Zweige der ökonomischen Wissenschaft geworden, zu ihrem größten Wohl und, warum soll man es nicht aussprechen, zu ihrem größten Wehe.«17

Die Gründung der Econometric Society datiert von 1930, die ökonometrischen Modelle sind jedoch hauptsächlich nach 1945 entwickelt worden. Perfektioniert wurden sie im Zuge histori­scher Ereignisse, etwa anläßlich »der großen Luftbrücke über West-Berlin«18. Als Stalin 1948 der Westberliner Bevölkerung alle Wege bis auf den Luftweg versperrte, mußte für die Organisation eines durchgehenden Flugverkehrs zur Versorgung West-Berlins ein ökonometrisches Modell entwickelt werden. Im Zuge der Verallgemeinerung von derlei operativer Forschung wurde bei den ökonomischen Modellen verstärkt von der Mathematik in Gestalt der angewandten Statistik Gebrauch gemacht. Der Fort­schritt, den man bei der Erhebung statistischer Daten erzielte, trug zur erfolgreichen Anwendung der ökonometrischen Me­thoden bei. Diese operative Nutzbarkeit und Fähigkeit, in einer rein formalen Sprache Auskunft von der Realität zu geben, haben Lévi-Strauss in den Bann gezogen. Vornehmlich auf dieser Zwi­schenstufe, in der Modellbildung also, wirken die Ökonomen der fünfziger Jahre am strukturalistischen Paradigma mit, erst recht, wenn sie eine Realität der Struktur geltend machen, die im wesentlichen nichts anderes tut, als Dauerhaftigkeiten Rechnung zu tragen. Auf genau dieser ökonometrischen Ebene lassen sich auch verschiedene Aporien erkennen, sie gleichen den Schran-

Der strukturale Weg der französischen Ökonomieschule 257

ken, die dem Formalismus in den Humanwissenschaften ganz allgemein gewiesen sind: »Die Mathematisierung spornt das in­tellektuelle Vorgehen nicht nur dazu an, sich des Realen zu entle­digen und gleichsam einem Deduktionsrausch voller Verachtung für geduldige Tatsachenbeobachtung und voller Begeisterung für die Analyse zu frönen, sondern setzt ihm darüber hinaus sehr enge syntaktische Grenzen.«19

Im Zuge der Übernahme des ökonometrischen Verfahrens ha­ben zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler ihre Erkenntnisinstru­mente derart hypostasiert, daß sie diese am Ende für die Restitu­tion der Realität selbst ausgeben. Alles, was nicht meßbar ist, fällt bei ihnen der Bedeutungslosigkeit anheim. Ebenso nachzuweisen ist eine für das strukturalistische Paradigma kennzeichnende Ent­leerung der Historizität, denn eine Prognose ist mit diesem Schema erst dann möglich, wenn sich das Modell, von ein paar quantitativen Abweichungen abgesehen, in gleicher Weise wie­derholt. Auch hier droht also die Gefahr, einen Analyseapparat aufzubauen, der bloß zur Reproduktion des immer Gleichen taugt, eine wahre Selbstregulierungsmechanik, die alle menschli­che Praxis außerhalb des Ausgangsschemas und alle Historizität des Handelns in die Bedeutungslosigkeit entläßt. Gilles Gaston-Granger hat diese Gefahr frühzeitig erkannt : Sie entspringt der Illusion, die der Formalismus verschafft, und »rührt daher, daß man den einmal auf dem Wege axiomatischer Abstraktion ermit­telten Themen ein ontologisches Vorrecht vor den Operationen verleihen will, die jene überhaupt erst hervorbringen«20.

Wie schön ist die Struktur!

In den ausgehenden fünfziger Jahren, noch bevor man von Struk­turalismus spricht, wird in den Humanwissenschaften die Bezug­nahme auf die Strukturen allgegenwärtig. Zu diesem Zeitpunkt ziehen einige Vertreter dieser konvergierenden Forschungs­richtungen eine vorläufige Bilanz über die Anwendung dieses Konzepts. Dabei entsteht eine erste große interdisziplinäre Aus­einandersetzung, in der das fortschreitende Schwinden der Fach­grenzen zum Tragen kommt, das sich bereits bei einer Vielzahl von Forschern bemerkbar macht. Da ja der Mensch der gemein­same Gegenstand zahlreicher Disziplinen ist, stellt der aufkei­mende konzeptuelle Ansatz, der die Erforschungen der Intentio-nalität und des Bewußtseins ablöst, die Verwirklichung eines gemeinsamen Programms für das gesamte Wissensfeld der Hu­manwissenschaften in Aussicht und definiert so das ehrgeizige Ziel einer paradigmatischen Einheit.

Im Jahr 1959 finden zwei wichtige Zusammenkünfte statt: Zum einen organisiert Roger Bastide im Januar ein großes Kollo­quium zum Strukturbegriff1, zum anderen führen Maurice de Gandillac, Lucien Goldmann und Jean Piaget den Vorsitz über das Colloque de Cerisy, das die Gegenüberstellung von Genese und Struktur zum Thema hat.2 An den Stätten der Erneuerung wie dem Musée de l 'Homme, der Sechsten Sektion der EPHE sowie manchen Lehrveranstaltungen des Collège de France ge­hört die ständige Bezugnahme auf den strukturellen Binarismus mittlerweile zum obligaten Pensum jeden Forschers. Alle Welt forscht damals jenseits der Sememe und Mytheme, der Wörter auf »-em«.

Wie schön ist die Struktur! 259

Auf dem von Roger Bastide organisierten Kolloquium findet eine breite Auseinandersetzung über die Anwendung des Struk­turkonzepts in den verschiedenen Disziplinen statt. Etienne Wolff ist der Auffassung, daß der Begriff für die Biologie stich­haltig sei : »Das Lebewesen umfaßt eine ganze Strukturenhierar­chie.« 3 Er definiert mehrere Größenordnungen der biologischen Struktur: die Anordnung der Zellen zu Geweben, die der Gewebe zu Organen sowie die »Ultrastrukturen«, die dank des Elektronenmikroskops beobachtbar geworden sind. Ist demnach wohl zu definieren, auf welcher Beobachtungsebene man sich be­findet, so bleibt der Übergang von einer Struktur zu einer ande­ren rätselhaft und fällt in den Bereich der theoretischen Spekula­tion. Emile Benveniste hält ein Referat zur Linguistik, aus dem deutlich hervorgeht, daß diese Disziplin eine tragende Rolle bei der Verbreitung des Paradigmas gespielt hat, das für diese bahn­brechende Wissenschaft bereits nicht mehr das der »Struktur« ist, sondern, adjektivisch gewendet, »struktural« und sich damit anschickt, zum Strukturalismus zu werden. Benveniste erinnert an die Initiatoren des Programms : Saussure, Meillet, den Prager Linguistenkreis mit Jakobson, Karcevskij und Trubetzkoy. Letz­terer definierte bereits 1933 die Phonologie folgendermaßen: »Die heutige Phonologie ist vor allem durch ihren Strukturalis­mus und ihren systematischen Universalismus gekennzeichnet.«4

Lévi-Strauss vertritt die Auffassung, daß sich dank der An­thropologie jene entscheidende Umwandlung habe vollziehen können, die es erlaubte, die strukturalen Anordnungen im Inner­sten des Sozialen selbst aufzudecken. Er verwirft in einer polemi­schen Wendung gegen George-Peter Murdock die Möglichkeit, strukturale Untersuchung und Erforschung von Prozessen in ei­nem zu betreiben, eine Konzeption, die er, »zumindest in der Anthropologie, einer naiven Philosophie«5 zuweist. Daniel La-gache erinnert daran, daß sich der Strukturalismus in der Psycholo­gie als Reaktion gegen den Atomismus und rund um die Psycho­logie der Form, die Gestaltpsychologie, konstituiert hat: »Unter

260 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

dieser Perspektive ist der Strukturalismus eines der dominieren­den Merkmale der zeitgenössischen Psychologie geworden.«6

Robert Pages ruft die vieldeutige Verwendung des Strukturbe­griffs in der Sozialpsychologie ins Gedächtnis und den ausgiebi­gen Gebrauch, den Jacob Levy Moreno in der Soziometrie von ihm gemacht hat. Henri Lefebvre hält ein Referat über die Ver­wendung der Struktur bei Marx, worin er ihn, aus dem Vorwort der Kritik der politischen Ökonomie (1859) zitierend, als den gro­ßen Vorläufer der vonstatten gehenden Revolution erscheinen läßt. Selbst Raymond Aron schreibt sich in diesen strukturalen Horizont ein, wenn er der Politikwissenschaft ein höheres be­griffliches Abstraktionsniveau wünscht. Im Bedauern, daß die Strukturen, von denen man spricht, noch allzu sehr der konkre­ten politischen Realität Tribut zollten, äußert er den Wunsch, daß »wir in einer späteren Abstraktionsstufe vielleicht die wesentli­chen Funktionen jeder politischen Ordnung aufdecken wer­den« 7. Weitere Kolloquiumsteilnehmer zeigen jeweils die Ergie­bigkeit des strukturalen Ansatzes in ihrer Disziplin auf: Pierre Vilar in der Geschichte, Lucien Goldmann in der Geschichte des Denkens, François Perroux und André Marchai in den Wirt­schaftswissenschaften.

Die Weihen von Cerisy: der genetische Strukturalismus

Im Schloß von Cerisy-la-Salle, einem Bau aus dem 16. Jahrhun­dert, findet die zweite große Auseinandersetzung von 1959 statt. Diesmal geht es weniger darum, welche Disziplin in der Anwen­dung des Strukturbegriffs am weitesten gediehen ist, als viel­mehr, ihm den Begriff der Genese gegenüberzustellen. Die Orga­nisatoren des Kolloquiums siedeln ihre Arbeiten im Fahrwasser des strukturalistischen Bruchs an, lehnen aber die Perspektive ei­ner sozialen Statik ab und versuchen vielmehr, zwischen dynami­schen Wirkungsmöglichkeiten und Dauerhaftigkeit, Geschichte

Wie schön ist die Struktur! 261

und strukturaler Kohärenz zu vermitteln. Sie vertreten einen ge­netischen Strukturalismus: »Der genetische Strukturalismus ist mit Hegel und Marx zum ersten Mal als tragende Idee in der Phi­losophie aufgetaucht.«8 Den zweiten Moment in der Genese die­ser neuen Methode setzt Lucien Goldmann mit der Entwicklung der Phänomenologie und vor allem der Gestaltpsychologie an.

Kurz zuvor hatte Lucien Goldmann den genetischen Struktu­ralismus in einer bemerkenswerten Studie über Pascals Gedan­ken, das Theater Racines und deren Zusammenhang mit dem Jansenismus angewandt.9 Er setzte diese Texte in Beziehung zu den umfassenderen signifikativen Strukturen, das heißt den verschiedenen Strömungen des Jansenismus und den sozialen Antagonismen der damaligen Gesellschaft. Im Gegensatz zu Lévi-Strauss hält also Lucien Goldmann die Erforschung der Strukturen und die der Genese für vereinbar und öffnet damit der strukturalen Bestimmung einen anderen, weniger geschichtsver-schlossenen Weg. Ein weiterer Vertreter des genetischen Struktu­ralismus und Mitorganisator des Kolloquiums, Jean Piaget, kriti­siert sowohl die Gestaltpsychologie ob ihres Verharrens im Statischen wie auch den Lamarekismus, der jede Struktur aus­schließt. Aufgrund seiner Arbeiten zur Kinderpsychologie tritt er für die Untrennbarkeit von Genese- und Strukturbegriff ein: »Es gibt keine angeborenen Strukturen: Jede Struktur setzt eine Konstruktion voraus.«10

Der dritte Organisator, Maurice de Gandillac, erhebt kritische Einwände gegen Jean-Pierre Vernants Referat über Hesiods My­thos von den Geschlechtern. Gleichfalls einer entschieden geneti­schen Sichtweise verschrieben, hält er Vernant vor, in Hesiods Mythos von den Geschlechtern zu viel Gewicht auf die Binnen­struktur zu legen, was zu Lasten der Geschichtlichkeit gehe : »Ich frage mich, ob man die Ausgrenzung der Zeitlichkeit so weit trei­ben kann, wie Sie es in der Deutung des Mythos von den Geschlechtern getan haben.« n Jean-Pierre Vernant, der ebenfalls Geschichte und Struktur zu vereinbaren sucht, entgegnet, daß bei

262 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Hesiod Zeitlichkeit voll zum Tragen komme, aber eben eine an­dere als die lineare und unumkehrbare unseres Zeitalters.

Der Hegemonieanspruch der strukturalen Anthropologie

Als Austragungsort für die Konfrontation von Struktur- und Ge­nesebegriff fördert dieses Colloque de Cerisy sehr früh eines der maßgeblichen Themen der Debatten zutage, die das strukturale Paradigma in seinem Verhältnis zur Geschichte künftig auslösen wird. Die Debatte Strukturalismus versus Geschichte ist grundle­gend. Zweierlei steht dabei auf dem Spiel: der umstrittene Platz der Geschichtswissenschaft und das Verhältnis zur Historizität in seiner abendländischen Ausprägung. Somit stellt der Struktu­ralismus für die Historiker eine doppelte Herausforderung dar.

Als Lévi-Strauss 1958 eine Reihe von Artikeln noch einmal in einer als Manifest angelegten Textsammlung mit dem Titel Struk­turale Anthropologie herausbringt, stellt er an den Anfang einen Aufsatz aus dem Jahre 1949, in dem er die Zusammenhänge zwi­schen Ethnologie und Geschichte definiert.12 Lévi-Strauss stellt seinen Beitrag in die Tradition der Herausforderung durch die Durkheimsche Soziologie, die François Simiand 1903 formuliert hatte ; er konstatiert, daß die Geschichte sich seither nicht erneu­ert habe, während die Soziologie eine Metamorphose durchge­macht habe, indem sie insbesondere eine erstaunliche Weiterent­wicklung der ethnologischen Studien ermöglichte.

Lévi-Strauss übergeht den von den Annales vollzogenen Bruch des Jahres 1929, zweifellos in polemischer Absicht, um eine Disziplin zu diskreditieren, die in seinen Augen zur Mono­graphie und zur Idiographie verurteilt ist. Er zeigt, worin die Anthropologie sich von der Evolutionstheorie unterscheidet: durch einen Bruch mit dem biologischen Modell und das Postulat einer radikalen Diskontinuität zwischen Natur und Kultur. Ge­wiß streitet Lévi-Strauss die Gültigkeit der Geschichte nicht ab,

Wie schön ist die Struktur! 263

und in dieser Hinsicht macht er kurzen Prozeß mit der funktio-nalistischen Schule, insbesondere mit Malinowski, weil sie die historischen Gegebenheiten allzu leichtfertig zugunsten der Funktionen abgetan habe: »Denn zu sagen, eine Gesellschaft funktioniere, ist eine Banalität; aber zu sagen, alles in einer Ge­sellschaft funktioniere, ist eine Absurdität.«13 Gegenüber der Geschichtsübertreibung der diffusionstheoretischen Methode und der Geschichtsnegierung der Funktionalisten schlägt Lévi-Strauss für die strukturale Anthropologie einen dritten Weg vor.

Er zeigt, daß Ethnographie und Geschichtsschreibung ver­wandt sind durch ihren Gegenstand — die Alterität, das ganz An­dere im Raum bzw. in der Zeit —, durch ihr Ziel — Überführung des Besonderen ins Allgemeine — und hinsichtlich ihrer methodi­schen Erfordernisse — der Quellenkritik; sie gleichen einander also. Wenn die Ethnographie und die Historiographie demnach miteinander arbeiten müssen, so kommen in den Beziehungen zwischen Ethnologie und Geschichte die Unterschiedlichkeiten zweier Disziplinen zum Zuge, deren Perspektiven verschieden und komplementär zugleich sind, denn »die Geschichte ordnet ihre Gegebenheiten in bezug auf die bewußten Äußerungen, die Ethnologie in bezug auf die unbewußten Bedingungen des sozia­len Lebens«14. Was dem Ethnologen den Zugang zum Unbewuß­ten gestattet, ist, wie wir gesehen haben, das linguistische und insbesondere das phonologische Modell.

Aus diesem Perspektivenunterschied ergibt sich, daß allein die Ethnologie Anspruch auf einen wissenschaftlichen, nomotheti­schen Entwurf erheben kann, der sich durch den Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen definiert, den nur die Übertra­gung vom Bewußten auf das Unbewußte zu leisten imstande ist. Der Ethnologe muß sich also die historischen Materialien ebenso aneignen, wie er seinen Honig aus den ethnographischen Erhe­bungen zieht, aber er als einziger darf beanspruchen, »zu einem Katalog unbewußter Möglichkeiten zu kommen, von denen es nicht beliebig viele gibt«15. Der Gegensatz, den man traditionell

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zwischen Ethnologie und Geschichte anzuführen pflegt und der auf der Unterscheidung zwischen zwei Quellentypen, zwischen der Untersuchung schriftloser Gesellschaften und solcher mit Schriftkultur, beruht, ist in Lévi-Strauss' Augen nur zweitrangig. Der wesentliche Unterschied liegt in der Ausrichtung des wissen­schaftlichen Projekts, nicht im Untersuchungsgegenstand. Man ahnt, welche Herausforderung der Entwurf von Lévi-Strauss für die Historiker bedeutet, zumal Lévi-Strauss die Ethnologie nur als ersten Schritt zu einer ultimativen Synthese betrachtet, die al­lein eine Sozial- oder Kulturanthropologie verwirklichen kann, die auf eine umfassende, von den Hominiden bis zur Neuzeit rei­chende Kenntnis vom Menschen abzielt. Im übrigen stellt die Strukturale Anthropologie ein zusammenhängendes Ganzes von Artikeln vor, die von der Stellung der Anthropologie in den So­zialwissenschaften handeln, von den Beziehungen zwischen Sprache und Verwandtschaft, von den Darstellungen in der Kunst Asiens und Amerikas, von Magie und Religion; sehr verschie­dene Gegenstände also, die dem vorzugreifen scheinen, was Lévi-Strauss als »diese >kopernikanische Wende<« bezeichnet, »die darin besteht, die Gesellschaft als ganze durch eine Kommunika­tionstheorie zu interpretieren«16.

Damit erhebt die Anthropologie in ihrer strukturalistischen Version auf dem Gebiet des Wissens vom Menschen einen He­gemonieanspruch, und Lévi-Strauss' Definition ist umfassend genug, um alle Ebenen der sozialen Realität abzudecken: Es »öffnet sich der Weg für eine Anthropologie, die als allgemeine Theorie der Beziehungen begriffen wird«17. Diese Perspektive erlaubt es dem Anthropologen, seine Analysemodelle von der formalen Sprache schlechthin, der Mathematik, zu entlehnen. Durch Anordnung vollständiger Variantenreihen in Form einer Permutationengruppe unternimmt es das strukturalistische Pro­gramm, das Gesetz der untersuchten Gruppe überhaupt zu erfas­sen. Die Struktur der Gruppe wird in diesem Analyseschema über die Prozedur der Wiederholung erfaßt, anhand der Inva-

Wie schön ist die Struktur! 265

riante, der die Funktion zukommt, die Struktur des Mythos jen­seits der Verschiedenartigkeit seiner Äußerungsweise zutage zu fördern. Auch hier unterscheiden sich Geschichtsschreibung und Ethnologie hinsichtlich ihrer Modellbildungsmöglichkeiten. Die strukturale Ethnologie kann eine mechanische Modellbildung beanspruchen: »Die Ethnologie arbeitet mit einer >mechani-schen<, das heißt umkehrbaren und nicht-kumulativen Zeit«18; während die Geschichte sich auf eine einmalige, kontingente Zeit zurückbeugen muß, die der Statistik bedarf: »Dagegen ist die Zeit der Geschichte >statistisch<«19.

Kalte Gesellschaften sind mechanischen Maschinen verwandt, die die zu Anfang erzeugte Energie endlos nutzen, wie zum Bei­spiel die Pendeluhr; heiße Gesellschaften ähneln thermodynami-schen Apparaturen wie der Dampfmaschine, die mit Temperatur­unterschieden arbeiten. Sie erzeugen mehr Leistung, verbrauchen dafür aber mehr Energie, die sie nach und nach zerstören. Die heiße Gesellschaft strebt nach immer breiteren und zahlreicheren differentiellen Unterschieden, um voranzukommen und frische Energiequellen aufzutun. Hingegen soll die Zeitfolge in kalten Gesellschaften deren Institutionen möglichst wenig beeinflussen. Eine so radikale und verunsichernde Herausforderung wie durch Lévi-Strauss haben die Historiker noch nicht erfahren, stützt die strukturale Anthropologie sich doch auf die sich am modernsten und leistungsfähigsten darstellenden Entwicklungen der Hu­manwissenschaften. Nachdem er die Anthropologie entschlos­sen auf den Boden der Kultur gestellt hat, genießt Lévi-Strauss gegenüber den Historikern den Vorteil, einen theoretischen Ho­rizont geltend zu machen, der eines Tages die Entzifferung der hirninternen Strukturen ermöglichen soll. Es gibt bei ihm eine Art strukturalistischen Materialismus : Je nachdem legt er einmal den Akzent auf die Struktur als Analyseraster, während er sie in anderen Momenten als direkt der Materie zugehörig betrachtet : »Claude Lévi-Strauss ist ein Materialist. Er sagt es immer wie­der.«20

266 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Lévi-Strauss zufolge kann sich also die strukturalistische An­thropologie grenzenlos fortentwickeln. Sie erlaubt die Überwin­dung der traditionellen Spaltung von Natur und Kultur, wie sie auch ihre Überlegungen auf die gesamte menschliche Gattung ausweiten kann. Damit bedeutet das strukturalistische Manifest von 1958 eine doppelte Herausforderung an die Geschichts­schreibung und die Philosophie. Die Philosophie, deren erstes Reflexionsfeld im Verständnis des menschlichen Geistes liegt, sieht ihren Fragegegenstand durch eine Anthropologie streitig gemacht, die behauptet, am Ende ihres langen Weges an die men­talen Bereiche und deren innere Strukturen heranzukommen, und zwar im Namen eines Verfahrens, das sich als wissenschaft­lich darstellt. Den größten Vorstoß in der Geschichte der An­thropologie hat Lévi-Strauss dadurch bewirkt, daß er »in erster Linie über Beziehungen gearbeitet hat. Der Strukturalismus hat ja gezeigt, daß dies ein überaus ergiebiger Weg ist. Indem man mehr über die Beziehungen als über die Gegenstände arbeitet, entkommt man dem, was lange Zeit das Hemmnis der Anthro­pologie war: der Typologie, der typologischen Klassifikation.«21

Die Ontologisierung der Struktur

Claude Roy bezeichnete 1959 das Unterfangen von Lévi-Strauss als moderne Variante der »alten, unermüdlichen Gralssuche der Argonauten des Intellekts, der Alchimisten des Geistes: die Su­che nach der großen Entsprechung, das Streben nach dem Ur-schlüssel«22. Er sieht in ihm den großen Lama, den Schamanen unseres 20. Jahrhunderts. In dieser Suche nach dem Stein der Wei­sen ist bei Lévi-Strauss die Verbitterung über eine zum Alptraum gewordene Geschichte zu erkennen, eine Enttäuschung, die der Gegenwart zu entkommen sucht. Jean Duvignaud hingegen sieht in Claude Lévi-Strauss »den Vikar der Tropen«23, der den sehn­süchtigen Traum des savoyischen Vikars (Jean-Jacques Rous-

Wie schön ist die Struktur! 267

seaus) von der ursprünglichen Reinheit der ersten Menschen auf seine Fahne geschrieben hat.

Auf die Kritik, die Jean Duvignaud 1958 gegenüber dem struk-turalistischen Verfahren äußert, dem er eine pluralistische Unter­suchung der Gesellschaft entgegenstellt, antwortet Lévi-Strauss mit einem Brief, in dem er seinen Standpunkt verteidigt, ja radi-kalisiert: »Ich weiß nicht, was die menschliche Gesellschaft ist. Ich befasse mich mit bestimmten dauerhaften und universellen Modi der menschlichen Gesellschaften, mit bestimmten isolier­baren Analyseebenen.«24 Zu den kritischen Einlassungen Du-vignauds bezüglich des Problems, welches Statut die Freiheit und welchen Platz die kollektive Dynamik im anthropologischen Entwurf habe, erwidert Lévi-Strauss im selben Brief: »Die Frage ist nicht stichhaltig. Das Problem der Freiheit hat auf der Beob­achtungsebene, auf die ich mich begebe, nicht mehr Sinn, als sie es für denjenigen hat, der den Menschen auf der Ebene der orga­nischen Chemie studiert.«25

Das Subjekt ist demnach für Lévi-Strauss, der hier zum episte-mologischen Modell der Naturwissenschaften greift, ein für alle­mal aus der strukturalistischen Anthropologie verbannt. Dem­nach kann der Mensch nur seine Ohnmacht, seine Nichtigkeit gegenüber Mechanismen feststellen, die er allenfalls einsehbar machen kann, über die er jedoch nicht zu bestimmen vermag. In dieser Hinsicht ist Lévi-Strauss der szientistischen Illusion der Positivisten nahe, für die die theoretische Physik den Inbegriff der Wissenschaftlichkeit darstellte.

Ähnlich weist die strukturale Anthropologie, indem sie ihr Modell aus der Phonologie bezieht, jede Form des sozialen Sub-stantialismus und Kausalismus zugunsten der Arbitraritätsauf-fassung zurück. Ihr Augenmerk richtet sich eher auf die Mäander der neuronalen Vernetzung, in der der ontologische Schlüssel, die wahre Struktur der Strukturen zu liegen scheint.

268 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

Lévi-Strauss' linguistisches Gerüst : ein strategischer Wert

Georges Mounin hat anhand von Lévi-Strauss' Struktureller Anthropologie zu bestimmen versucht, welches Verhältnis die Anthropologie zwischen 1944 und 1956 zur Linguistik einge­nommen hat. Er befragt die Geltung der von Lévi-Strauss ange­wandten linguistischen Begriffe. Als Linguist kommt er zu dem Schluß, daß die Anleihe bei der Phonologie in diesem Band hauptsächlich die Begriffe Struktur und Opposition betrifft, die »nichts spezifisch Linguistisches an sich haben«26. Umgekehrt wird Lévi-Strauss durch seine Verwerfung des anthropologischen Funktionalismus daran gehindert, diese Begriffe mit dem der Funktion zu verbinden, der in der Phonologie an zentraler Stelle zu finden ist. Die Gleichsetzung der Phoneme mit Bedeutungs­elementen ist linguistisch nicht stichhaltig: »Das Phonem gestal­tet nicht das Signifikat des Monems mit, sondern nur dessen Si­gnifikanten.«27 Freilich, wenn Lévi-Strauss die Ausgangspunkte für einen Isomorphismus zwischen Verwandtschaftsstrukturen und Sprachstrukturen vervielfacht und sogar sagt: »Das Ver­wandtschaftssystem ist eine Sprache«28, so bleibt er doch als An­thropologe jedem Reduktionismus zugunsten der Linguistik ab­geneigt; 1945 rät er zur Besonnenheit »bei der Übertragung der analytischen Methoden des Sprachforschers«29, und 1956 ver­wahrt er sich gegen den Vorwurf, er versuche, »die Gesellschaft oder die Kultur auf die Sprache zu reduzieren«30.

Von Georges Mounin als verworren, ungeschickt und voller Zurücknahmen dargestellt, ist diese Bezugnahme Lévi-Strauss' auf die Linguistik im Gegenteil höchst geschickt, denn Lévi-Strauss hat nicht die Absicht, Linguist zu werden, sondern sich der Schubkraft der linguistischen Methodik zu bedienen, um das viel umfassender angelegte Programm der strukturalen Anthro­pologie voranzutreiben. Fernand Braudel hat diese Intention, Spieleinsätze und Risiken sehr wohl verstanden, obwohl er von einem anderen Horizont kommt. Darauf bedacht, der Ge-

Wie schön ist die Struktur! 269

schichte unter den Sozialwissenschaften den ersten Platz zu er­halten, und im Bewußtsein der Wucht, mit der Lévi-Strauss' Her­ausforderung die beherrschende Stellung zu schwächen droht, die die französische Historikerschule der Annalesin der Sechsten Sektion der EPHE innehat, über die er seit dem Tod von Lucien Febvre im Jahre 1958 den Vorsitz führt, antwortet Fernand Brau-del Lévi-Strauss in dem Ende 1958 in den Annales erschienenen programmatischen Artikel »Économies, sociétés, civilisations«. Darin schlägt er als gemeinsame Sprache aller Sozialwissenschaf­ten, deren Bündnis der Historiker leitet, die longue durée vor, also die Untersuchung langer Zeitabläufe.31 Diese Replik oder Parade seitens der Historiker hat den historiographischen Dis­kurs beträchtlich zur Strukturalisierung hin geöffnet.

Der Weg der Historiker zur Struktur

Die Historiker hatten ihre Interessenschwerpunkte schon verla­gert, ehe sie vor die strukturalistische Herausforderung gestellt wurden. Marc Bloch und Lucien Febvre verfolgen mit der Grün­dung der Zeitschrift Annales d'histoire économique et sociale im Jahre 1929 bereits die Absicht, sich das Durkheimsche Programm zu eigen zu machen, woraus eine Konzentration auf längere Zeit­abläufe resultiert, auf Tiefenphänomene, auf die großen tragen­den Unterbauten, die die positivistische Schule allzu leichtfertig zugunsten einer kurzatmigen, strikt politisch-militärischen Ge­schichte vernachlässigt hatte.

Durch die Woge der Strukturen akzentuiert sich diese Umlen-kung der Aufmerksamkeit noch, die dazu tendierte, die Verände­rungen gering zu bewerten, und sich nun auf die unbewegten Zeitstrecken richtet. Seit seiner thèse im Jahre 1947, Das Mittel­meer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps IL, hatte Fernand Braudel den Blick des Historikers verlagert, indem er den Helden der Epoche, Philipp IL, auf einen untergeordneten

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Platz verwies und das Fernrohr des Historikers vielmehr auf die unbewegten Strecken, die Beständigkeiten des geohistorischen Rahmens der mediterranen Welt lenkte.

In der Nachfolge François Simiands, also der Durkheimschen Schule, hatte seinerseits Ernest Labrousse in seiner thèse de lettres im Jahre 1943, La Crise de l'économie française à la fin de L'Ancien Régime, die revolutionäre Krisis von 1789 in eine dreifache Zeit­lichkeit zurückgestellt, das heißt in jahreszeitliche Abweichun­gen, verschränkt mit zyklischen Schwankungen, die wiederum in Langzeitbewegungen {mouvements de longue durée) eingefügt sind. Aufgrund dessen konnte er der ökonomischen Konjunktur­theorie François Simiands eine strukturelle Konjunkturtheorie zur Seite stellen: »Der Wirtschaftshistoriker ist über die Häufig­keit der Wiederholungen verblüfft.«32 Dennoch gerät bei einem solchen Verfahren das Ereignis nicht aus dem Blick. Vielmehr wird es als Ankunftspunkt deutlich, den die statistischen Kurven erklären sollen: »Unsere Geschichtsschreibung ist zugleich so­ziologisch und traditionell.«33 Ernest Labrousse leitet in den fünfziger Jahren die Sorbonne und betreut eine Vielzahl histori­scher Arbeiten im Sinne einer um die Strukturphänomene be­mühten Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

In diese Perspektive einer dialektisch gewendeten Auffassung von Konjunktur- und Strukturelementen schreibt Pierre Vilar seine eigenen Forschungen über Katalonien ein. 1952 Schüler der ENS, veröffentlicht er 1962 seine thèse1* und leitet im Sinne von Labrousse an der Sorbonne ein Seminar zum Strukturbegriff: »Das ganze Geschichtsproblem besteht darin, das Strukturelle und das Konjunkturelle zu kombinieren. Ich habe also viel über Strukturen nachgedacht. Claude Lévi-Strauss hat mich interes­siert, als er zeigte, daß er strukturell logische Verhältnisse beob­achtete.« 35 Entlehnt also der Historiker von der Anthropologie eine logische und abstrakte Dimension, so verbleibt er nichtsde­stoweniger innerhalb eines konkreten, beobachtbaren Inhalts und betont auf seinem Untersuchungsfeld die Krisenphänomene

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als Entzündungsherde, als Kristallisationspunkte der strukturel­len Gegebenheiten im Sinne einer Dynamisierung derselben. Diese rigorose Forschung, die zugleich auf einer soliden statisti­schen Grundlage ruhte und einen globalen Anspruch vertrat, war in den fünfziger Jahren von Ernest Labrousse geprägt: »Man drängte sich darum, von ihm ein Diplomthema gestellt zu be­kommen: Maurice Agulhon, Alain Besançon, François Dreyfus, Pierre Deyon, Jean Jacquart, Annie Kriegel, Emmanuel Le Roy Ladurie, Claude Mesliand, Jacques Ozouf, André Tudesq«, be­richtet Michelle Perrot36, für die Labrousse den Inbegriff der Modernität darstellte und die ihm im Frühjahr 1949 ein feministi­sches Thema vorschlug, was ihren Lehrmeister zum Schmunzeln brachte. Er riet ihr statt dessen zu einer Studie über die Arbeiter­bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Für Michelle Perrot verkörpert Ernest Labrousse das Bemü­hen um Strenge, die Anstrengung, den allzu verbreiteten Impres­sionismus in der historischen Disziplin zu überwinden: »Bei Labrousse gab es das Bestreben, eine Kausalität, Gesetze wieder­zufinden, was auf einer zugleich positivistischen und marxisti­schen Linie lag.«37 Bei einer solchen Perspektive waren die la-broussianischen Historiker für das strukturalistische Phänomen und die anthropologische Herausforderung der ausgehenden fünfziger Jahre zwangsläufig sehr empfänglich. Sie befanden sich bei der Lektüre von Lévi-Strauss auf vertrautem Terrain, auf einer ähnlichen Suche nach Invarianten, auch wenn dessen Objekt na­turgemäß ein anderes war: »Bei Lévi-Strauss steht ein Satz, den ich übrigens in meiner thèse: Les Ouvriers en grève, France (1871-1890), übernommen habe, zu Beginn des >Structures< überschrie-benen Teils, und der darauf hinausläuft, daß, wenn es irgendwo Gesetze gibt, es sie überall geben muß — ein Kernsatz für die Hu­manwissenschaften.« 38

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Die historische Anthropologie : Jean-Pierre Vernant

Mit Jean-Pierre Vernants Referat 1959 beim Kolloquium von Ce-risy bekommt das strukturalistische Vorgehen eine noch direk­tere Fortsetzung. Vernant, der 1937 die agrégation in Philosophie erhält, kommt im Grunde erst spät, nämlich 1948, nach Grie­chenland. Doch verliert er dieses Forschungsgebiet als Gräzist nicht aus den Augen. Schüler von Louis Gernet und Ygnace Mey-erson, erkennt Jean-Pierre Vernant das Dreigestirn Emile Benve-niste, Georges Dumézil und Claude Lévi-Strauss als seine weite­ren Lehrmeister an. Seine Forschungen stellt er in die Perspektive einer Psychohistorie. Ihn interessieren die mentalen Formen, das, was er den »inneren Menschen« nennt, und so fragt er sich, was es mit der Arbeit, dem technischen Denken, der Wahrnehmung der Kategorien Raum und Zeit in der Vorstellung und Bilderwelt des archaischen und klassischen Griechenland auf sich hat: »Mensch heißt immer Symbolik. Das soziale Leben funktioniert nur über symbolische Systeme, und in diesem Sinne bin ich radi­kal strukturalistisch.«39

Kurz nach dem Erscheinen der Strukturalen Anthropologie re­feriert Vernant in Cerisy über die Struktur des Hesiodischen My­thos von den Geschlechtern. Die Studie wird wenig später veröf­fentlicht. 40 Ihr Augenmerk ist ausdrücklich ein Strukturales, und sie erweist sich als doppelt befruchtet von den Auseinanderset­zungen, die Jean-Pierre Vernant mit Georges Dumézil zum Be­griff der Dreifunktionalität führt, und von der Umwälzung, die Lévi-Strauss in seiner Studie über die amerikanischen Indianer­mythen vollzogen hat.

Dessen Analyseschema versucht er auf die griechischen My­then anzuwenden und führt damit eine maßgebliche methodolo­gische Verschiebung durch, wegweisend für eine ganze ertragrei­che Schule, die sich um Vernant versammelt und eine historische Anthropologie des alten Griechenland begründet. Zur Erhellung des Werks, das er analysiert, forscht er nicht, wie die klassischen

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Gräzisten, nach einer Datierung der herausgearbeiteten Überlie­ferungen, sondern befaßt sich damit, die Grundartikulationen und den Code darzulegen, auf denen der zu untersuchende My­thos beruht. Der Mythos von den Geschlechtern eröffnet He-siods Poem Werke und Tage. Wie eine Théogonie erzählt es, wie die archaische Ordnung Griechenlands sich durch aufeinander­folgende Schlachten der Göttergenerationen entfaltet, bis Zeus sich der Oberhoheit bemächtigt, um eine unverrückbare Ord­nung aufzustellen. Hesiods Dichtung präsentiert sich also in chronologischer Form, als Geschlechterfolge vom goldenen über das silberne und das eherne bis zum eisernen Geschlecht, vor dem das der göttlichen Helden steht.

Jean-Pierre Vernant unterzieht diesen Mythos einer Reduktion und einer Verschiebung. Zunächst geht er davon aus, daß die fünf Zeitalter im Grunde genommen der funktionellen Dreiteilung ent­sprechen, »deren Einwirkung auf das religiöse Denken der Indo-europäer Georges Dumézil gezeigt hat«41. Demnach wäre also das dreigliedrige Schema der gedankliche Rahmen, in dem Hesiod den Mythos von den Geschlechtern neu interpretiert hat. Vor allem übernimmt Vernant jedoch den Binarismus, das oppositive Schema von Lévi-Strauss, um nachzuweisen, daß sich die Zeit im Hesiodischen Mythos von den Geschlechtern nicht in einer chro­nologischen Folge abspielt, sondern gemäß einem »System von Antinomien«42. In jedem Zeitalter wiederholt sich eine binäre Struktur, die dike (Recht, Gerechtigkeit) gegen hybris (Vermessen­heit) setzt. Auf dieser Ebene trägt die Erzählung Hesiods der di­daktischen Absicht gegenüber seinem Bruder Rechnung, dem Bauern Perses, an den er sich wendet, um ihm das Los der Arbeit und die Achtung der dike zu predigen; eine Lektion, die für alle so­zialen Kategorien der griechischen Gesellschaft gilt.

Diesen Nachweis konnte Jean-Pierre Vernant nur über eine Neuordnung des Sagenstoffes führen, um so die in Hesiods mythischem Diskurs wirkenden Hauptprinzipien hervortreten zu lassen: »Das Gegensatzpaar dike/hybris wird über eine drei-

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gliedrige Ordnung des Dumézilschen Typus zum Klingen ge­bracht.« 43 Vernant sieht in Hesiods Gründungsmythos ein Plä­doyer für die Gerechtigkeit, das notwendig geworden war, weil Griechenland sich damals in einer Übergangsperiode befand, in der die Griechen herauszufinden suchten, was gerecht sei und was nicht, in der die alten Formen der dike sich nicht mehr von selbst verstanden.

Vernant verfällt demnach keinem rein formalen oder achroni­schen Ansatz, denn er bezieht diesen Mythos ja auf eine konkrete geopolitische Situation, worin er »das Vorzeichen einer Welt [sieht], in der das Gesetz der polis, der politische nomos, das Grundelement sein wird«44. Damit schafft er eine Korrelation zwischen der Analyse des mythischen Diskurses und dem histo­risch-sozialen Kontext, der ihm symptomatischen Wert gegeben hat, und vereinbart auf diese Weise Geschichte (Genese) und Struktur. Später kommt Vernant aufgrund der gegen ihn geäu­ßerten Kritiken noch einmal auf die Akzentuierung der Drei­funktionalität in der Binnenstruktur der Erzählung zu sprechen: »Dreifunktionalität würde ich nicht mehr sagen, denn das funk­tioniert zwar bei den ersten beiden Zeitaltern (dem goldenen und silbernen), die in der Tat die Hoheit repräsentieren, und beim ehernen Geschlecht und dem der Helden, die für den Krieg ste­hen, nicht so allerdings beim eisernen Geschlecht, das komplexer ist als die dritte Funktion, die Produktion. Es handelt sich dabei ja um die Zeit Hesiods, die somit nicht topisch ist.«45 Jean-Pierre Vernant hat also in seine Analyse der Hesiodischen Erzählung von den Geschlechtern die Historizität wieder einführen und das fünfte Zeitalter in der chronologischen Folge der vier anderen be­trachten müssen. Damit gesteht er ein, in der Strukturalisierung des historischen Blicks zu weit gegangen zu sein; aber durch seine Neuordnung der Hesiodischen Erzählung hat er es ermög­licht, die für die Analyse der Denkkategorien im archaischen Griechenland wesentliche Dichotomie dike versus hybris, Recht/ Gerechtigkeit versus Vermessenheit, dialektisch zu fassen.

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Akademische Weihen für Lévi-Strauss

Als Lévi-Strauss am 5. Januar 1960 seine Inauguralvorlesung am Collège de France hält, geht das Kapitel vom heroischen Zeitalter des Strukturalismus zu Ende, und es öffnen sich weite Perspekti­ven für den intellektuellen Siegeszug des Paradigmas. Der Einzug Lévi-Strauss', der damals die Strenge des strukturalistischen Wis­senschaftsprogramms verkörpert, ist ein Symbol für dessen Er­folg, für die offizielle Würdigung der Ergiebigkeit des sich voll­ziehenden Aufbruchs, der damit zu Beginn der sechziger Jahre entscheidende Anerkennung erhält.

Die ehrwürdige Institution des Collège de France vollzieht da­mit auch eine kleine innere Revolution, da sie erstmalig einen Lehrstuhl für Sozialanthropologie einrichtet. Zwar hatte Marcel Mauss am Collège gelehrt, doch wenn er auch über Anthropolo­gie las, hatte er doch einen Lehrstuhl für Soziologie.

In seiner Antrittsvorlesung definiert Lévi-Strauss sein Projekt in der Nachfolge Ferdinand de Saussures als desjenigen, der eine Sémiologie angekündigt hatte. Das wahre Objekt dieser sozialen Anthropologie bedeckt ein sehr weites Feld, das vom Leben der Zeichen innerhalb der Gesellschaft. Lévi-Strauss bekennt, was er der strukturalen Linguistik verdankt, die er in seinem anthropo­logischen Programm als Grundfeste der Wissenschaftlichkeit einsetzt. Die Allgemeinheit seines Programms äußert sich vor al­lem in seinem Bemühen, sich nicht zugunsten der symbolischen Natur seines Gegenstands vom Sozialen, von der Realität abkop­peln zu lassen: »Die Sozialanthropologie [...] trennt nicht zwi­schen materieller Kultur und geistiger Kultur.«46 Im übrigen er­kennt er am neuronalen Horizont den Ort, an dem der Schlüssel verborgen liegt, der den Zugang zu den Triebkräften des symbo­lischen Universums eröffnet: »Das Auftauchen der Kultur wird für den Menschen ein Geheimnis bleiben, solange es ihm nicht gelingt, auf biologischer Ebene die Veränderungen in der Struk­tur und der Funktion des Gehirns zu bestimmen.«47 Über diese

276 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche

wissenschaftliche Zielsetzung hinaus verdeutlicht die Inaugural-vorlesung auch einen besonderen Moment des historischen Be­wußtseins in Frankreich beziehungsweise »das schlechte Gewis­sen des Westens. Claude Lévi-Strauss hat auf verblüffende Weise das große Thema der Dritte-Welt-Sentimentalität angestimmt, und in diesem Wind haben sich die Segel des strukturalistischen Schiffleins gebläht.«48 Das Ende seiner Inauguralvorlesung bestätigt Pierre Noras Einschätzung, denn Lévi-Strauss erklärt hier, wo von seinen Worten gleichsam ein brenzliger Geruch aus­geht: »Gestatten Sie mir also, liebe Kollegen, daß, nachdem ich zu Beginn dieser Vorlesung den Meistern der Sozialanthropolo­gie gehuldigt habe, meine letzten Worte jenen Wilden gelten, deren unerklärliche Zähigkeit uns noch das Mittel liefert, den menschlichen Tatsachen ihre wahren Dimensionen zuzuweisen: Männer und Frauen, die in dem Augenblick, da ich spreche, Tau­sende von Kilometern von hier entfernt in irgendeiner von Buschfeuern zerfressenen Steppe oder in einem regennassen Wald zum Lagerplatz zurückkehren, um eine schmale Kost mit­einander zu teilen und gemeinsam ihre Götter zu beschwören [...].«49 Lévi-Strauss beschließt diese Erinnerung an seine Felder­fahrung mit dem Wunsch, innerhalb des Collège de France Schü­ler und Zeuge der Indianer der Tropen zu bleiben, die durch un­sere Zivilisation der Auslöschung entgegensehen — der letzte Mohikaner.

Bedeutet der Lehrstuhl am Collège de France die höchsten Weihen für Claude Lévi-Strauss, so darf dies nicht darüber hin­wegtäuschen, daß die einflußreichen Forscherteams eher an der Universität zu finden sind und daß das Collège allein nicht dazu verhelfen kann, aus der Isolation herauszukommen und Schule zu machen. Doch Claude Lévi-Strauss ruft sofort ein Laborato­rium für Sozialanthropologie ins Leben, das gleichzeitig vom CNRS, vom Collège de France und von der EPHE abhängt. Er ist also unverzüglich von einem Forscherkollektiv umgeben, das in den Genuß des Prestiges des Collège de France kommt. Ihm ist

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klar, daß man sich zur Verwirklichung eines derart ehrgeizigen Programms solider institutioneller Grundlagen versichern muß.

In diesem Rahmen gründet er 1961 eine neue Zeitschrift, L'Homme, um in Frankreich ein professionelles Fachorgan auf der Höhe des englischen Man oder des US-amerikanischen Ame­rican Anthropologist IM schaffen. Mit der Wahl seiner beiden Mit­herausgeber macht Lévi-Strauss deutlich, welchen Ehrgeiz das wissenschaftliche Projekt der Sozialanthropologie verfolgt und auf welches Programm er sich dabei stützt. Es handelt sich um zwei weitere Professoren am Collège de France: Emile Benve-niste vertritt die strukturale Linguistik, auf die, als Modell der Wissenschaftlichkeit schlechthin, Lévi-Strauss sein Werk auf­baut; und Pierre Gourou repräsentiert als Geograph und Tropen­forscher die gediegene Vitalität der französischen Geographie­schule in der Tradition Vidais. In diesem Zusammenhang verteilt Lévi-Strauss auch — wie bereits die Durkheimianer zu Beginn des Jahrhunderts es versucht hatten — die Karten einer Geographie­schule neu, die schon seit langem an Bedeutung verloren und ihre Geschicke an die der .Awratf/es-Historiker gebunden hatte. Damit das Team nicht nach einem »Collège-de-France-Club« aussieht, erweitert Lévi-Strauss bald die Leitung der Zeitschrift um André Leroi-Gourhan, Georges-Henri Rivière und André-Georges Haudricourt. Bezeichnend für diese Gruppe sind jene, die fehlen, insbesondere die Historiker, deren Arbeitsweise sich seit der Entstehung der Annales dem anthropologischen Programm er­heblich angenähert hatte. Aufschlußreich ist Lévi-Strauss' Kom­mentar zu den institutionellen Kämpfen, die sich diese beiden Disziplinen liefern: »Im Jahre 1960 konkurrierten Geschichts­wissenschaft und Ethnologie, die sich inzwischen sehr nahe ge­kommen sind, noch, wenn ich so sagen darf, miteinander um die Aufmerksamkeit des Publikums.«50

Die im selben Jahr geführten Gespräche mit Georges Char­bonnier verdeutlichen den Ehrgeiz seines Programms und den Wandel, den er sich für die Humanwissenschaften erhofft, die

278 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

sich von den Naturwissenschaften inspirieren lassen, ja nach­gerade mit ihnen verschmelzen sollen: »Man [kann] den Eth­nologen in der Tat als Naturwissenschaftler bezeichnen oder zumindest als Forscher, der auf die gleiche Art vorgeht wie der Naturwissenschaftler.«51

Das Überschreiten des Rubikons und der Einzug auf dem Feld der Naturwissenschaften bedingen ein bestimmtes Verhältnis zum Fortschritt, zur Geschichte und zum Menschen, das auf de­ren Reduktion angelegt ist, um eine quasi-mechanische Modell­bildung geltend zu machen, die in einem Wiedererkalten der Zeitlichkeit ansetzt und eine Bedeutung zu erfassen sucht, die sich dem einzelnen entzieht und sich ohne sein Wissen gemäß einer Zeitenlogik errichtet. Diese strukturalistische Herausfor­derung von seiten der Humanwissenschaften hat während der fünfziger Jahre eindrucksvoll ihre Fruchtbarkeit unter Beweis ge­stellt, indem sie sich den verschiedenen Erscheinungsformen des Andersseins widmete. Seine Verheißungen verhelfen diesem Pro­gramm in den sechziger Jahren zu seiner Blütezeit.

Teil II : Die sechziger Jahre 1963-1966: die Belle Époque

Die Anfechtung der Sorbonne : Alt und Neu im Widerstreit

Auf der Schwelle der sechziger Jahre herrscht in der Gelehrtenre­publik die alte Sorbonne noch immer unumschränkt. Ihre Vor­machtstellung erleichtert nicht eben die Kritik an ihrer Ausrich­tung. Im literarischen Bereich verwaltet sie das Erbe einer Methode, die im 19. Jahrhundert aufgrund ihres Bemühens um historische und philologische Präzision als streng und modern gegolten hatte. Doch trotz dieses weit zurückliegenden Bruchs blieb der Hort der Gelehrsamkeit taub für die epistemologische Herausforderung, die sich in den fünfziger Jahren zu manifestie­ren begann. Angesichts des triumphierenden Positivismus und des Atomismus seiner Methode bedeutet die strukturalistische Herausforderung einen regelrechten Grabenkrieg gegen das Mandarinentum, gerüstet mit jüngeren wissenschaftlichen Mo­dellkonstruktionen holistischer Herkunft.

Die Fermate erreichen diese Kämpfe im Mai 1968 mit dem Zu­sammenbruch des alten Lehrgefüges. Das Gewicht der Sorbonne hatte die Protestierenden in eine Außenseiterposition gezwun­gen und sie dazu getrieben, sich nach Stützpunkten, Nahtstellen und neuen Bündnissen zwischen den Disziplinen umzusehen, die Definition eines ambitionierten Programms in Angriff zu neh­men und sich nach möglichst umfassender Vertretung in akade­mischen Lektoraten und Berufungskommissionen umzutun, um die eingesessenen Mandarine auszumanövrieren und ins Abseits zu stellen. Diesbezüglich »trat die strukturalistische Linguistik« auf institutioneller Ebene »gegenüber dem herrschenden Modell als Anfechtung und Modernität auf« \ In diesem Modell war die Sprachreflexion auf eine völlig nebensächliche, ja buchstäblich

282 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque

»primäre« Rolle verwiesen, denn sie blieb auf den Spracherwerb in den unteren Klassen der Elementarschule beschränkt. Sobald die Sprachbeherrschung für erreicht galt, konnte man zur Krö­nung kommen, dem eigentlichen literarischen Studium, das frei­lich von den Funktionsmechanismen der Literatur völlig abge­schnitten war und auf rein ästhetischen Betrachtungen fußte. Man betrieb eine radikale Trennung zwischen der linguistischen Kenntnis, die sich allenfalls über das Erlernen einer Fremdspra­che erwerben ließ und als bloße technische Fertigkeit diente, und der vermeintlich höherwertigen Arbeit mit dem literarischen Er­zeugnis schöpferischer Genies: »Im traditionellen Aufbau des Literaturstudiums stand die Arbeit an der Sprache in Abhängig­keit, in untergeordneter Position zur Arbeit am literarischen Text.«2

Die Rückkehr von André Martinet

Die einzige bemerkenswerte Ausnahme an der Sorbonne bildete André Martinets Vorlesung in allgemeiner Sprachwissenschaft. Als Martinet 1955, international hoch angesehen, aus den USA wiederkehrt, bekommt er, dessen ungeachtet beargwöhnt, an­fangs eine kleine Enklave zugewiesen, um ihn kaltzustellen. Er sieht sich mit einer Lehrveranstaltung im alten Institut für Sprachwissenschaft betraut, in einem kleinen Saal für höchstens dreißig Studenten. Die Nachfrage sprengt bald den zu engen Rahmen; zudem muß André Martinet auf Anhieb dreißig thèses von Afrikanisten betreuen, die nach Beschreibungsmöglichkei­ten für ihre Sprachen suchen. Da die Wände nicht versetzt wer­den können, muß die Universitätsverwaltung Martinet stufen­weise einen geräumigeren Saal stellen, und so kündet seine Wegstrecke innerhalb der Mauern der Sorbonne von der zuneh­menden Vorliebe für die Linguistik im Lauf der sechziger Jahre. Im folgenden Jahr teilt man ihm den Hörsaal Guizot zu, der ihm

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nur zwei Jahre reicht. 1960 unterrichtet er im Hörsaal Descartes, der bis zu vierhundert Studenten faßt: »1967 war der Hörsaal Descartes zu klein geworden und man gab mir Richelieu, wo sich, unter Nutzung der Erweiterungen, bis zu sechshundert Leute unterbringen lassen.«3

Der Hörsaal Richelieu, das ist die Weihestatt! Auch wenn Martinet über seine immense Belastung klagt — seine Veranstal­tung gehört nun zum Pflichtprogramm des modernen Semiolo-gen, zumal er nicht nur wegen seiner einhellig anerkannten Qua­litäten als Pädagoge in Frankreich die Ausnahme bildet. Hier findet eine ganze Studentengeneration das Rüstzeug für die Kri­tik am Mandarinentum, die die gesamten sechziger Jahre bestim­men wird : »Man ist jung, man ist gegen die Alten, und es trifft sich, daß die Avantgardebewegung der Strukturalismus ist : Also nichts wie hin zum Strukturalismus.«4 Dabei bedeutet das struk-turalistische Programm für die junge Generation einen Klärungs­prozeß und fungiert gleichzeitig als vorläufige Moral, eine Moral der Vorläufigkeit im Sinne Descartes'.

Beim Protest gegen die Mandarine zielen die Attacken auch hier hauptsächlich gegen jede Erscheinungsform des schwammi­gen Psychologismus, wie ihn die traditionellen Historiker pfle­gen, »eine wahre Seuche an der französischen Universität, nicht nur bei den Literaten, auch bei den Philosophen«5.

Ein einzelner Neuerer: Jean-Claude Chevalier

Als junger Assistent im Fach Französische Grammatik verteidigt Jean-Claude Chevalier 1968 seine thèse, La Notion de complé­ment chez les grammairiens (Der Begriff des Komplements bei den Grammatikern).6 Im Vorwort führt er behutsam den Termi­nus der Epistemologie ein, in Anführungsstrichen, als verwende er ein in seinen Kreisen noch anrüchiges Wort. Wieder findet sich in dieser Doktoratsthese der Zentralbegriff der Epoche, der Be-

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griff des Einschnitts. Diese aufrührerische Euphorie, deren Jean-Claude Chevalier sich als eines »hygienischen Vergnügens«7 er­innert, strebt auf theoretischer Ebene nach einem begrifflichen Bruch, nach Eröffnung eines neuen Feldes. Dieses Denken des kommenden Bruchs bringt eine Aufwertung vergangener Ein­schnitte mit sich. So erkennt Jean-Claude Chevalier am Horizont des Jahres 1750 eine Diskontinuität bei den Grammatikern, die bis dahin nur den Terminus der Herkunft verwendet hatten und von da an den Begriff des Komplements benutzten: »Man geht von einem morphologischen System zu einem semantischen Sy­stem der Syntax über, was eine beachtliche Veränderung dar­stellt.« 8

Dennoch fühlte sich Chevalier damals nicht als Neuerer; ihm schien, er habe eine redliche Arbeit in historischer Grammatik geleistet. Nur ohne sein Wissen konnte man aus ihr die gleiche epistemologische Reflexion herauslesen wie bei einem Louis Althusser oder einem Michel Foucault. Schon damals markiert Julia Kristeva in der Zeitschrift Critique Chevaliers Arbeit als bemerkenswertes Dispositiv des Einschnitts, der die gesamte intellektuelle Avantgarde in den Bann zog.

Todorov steht vor dem Nichts

Einmal abgesehen von der Ausnahme Martinet, der lediglich die Funktionsweise der Sprache lehrt, findet eine Reflexion über die Literatur auf der Grundlage der neuen Methoden der struktura-len Linguistik an der Sorbonne überhaupt nicht statt. Die Ver­zweiflung, die den jungen Bulgaren Tzvetan Todorov bei seiner Ankunft in Frankreich 1963 befällt, illustriert das.

Nach Abschluß seines Studiums an der Universität von Sofia suchte Todorov in Paris einen institutionellen Rahmen zur Ent­wicklung dessen, was er eine Theorie der Literatur nannte — eine Reflexion über den literarischen Gegenstand, die nicht von exo-

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genen, psychologischen oder soziologischen Elementen aus­ginge. Ebensogut hätte er eine Nadel in einem Heuhaufen suchen können. Mit einem Empfehlungsschreiben des Dekans der gei­steswissenschaftlichen Universität von Sofia versehen und einer positiven Antwort gewiß, nimmt er Verbindung zum Dekan der Sorbonne auf, um zu erfahren, was sich auf diesem Gebiet an der Sorbonne tut : »Er schaute mich an, als käme ich von einem ande­ren Stern, und erklärte mir äußerst kühl, in seiner Fakultät be­treibe man keine Literaturtheorie, und es käme nicht in Frage, daß man sie betreibe.«9 Verdutzt nimmt Todorov an, es läge ein Mißverständnis vor, und fragt, ob es statt dessen einen Ausbil­dungsgang in Stilistik gebe, worauf der Dekan ihn auffordert, er möge sagen, in welcher Sprache. So redet man weiter aneinander vorbei, und Todorov ist zusehends unbehaglich zumute, denn »ich konnte ihm ja nicht sagen, in französischer Stilistik, da ich mir vor ihm ein fragwürdiges Französisch zusammenstotterte. Er hätte mir entgegnet, ich solle doch erst einmal die Sprache ler­nen.« 10 Selbstverständlich war die Rede von allgemeiner Stilistik, und der Dekan bestätigt Todorov das Nichtvorhandensein eines solchen Forschungsgebiets.

Erst durch eine Verkettung von Zufällen wird Todorov schließlich bei seiner Suche nach einer französischen Reflexion über das, was später Poetik heißen wird, doch noch fündig. Nachdem er mit Hilfe einer Empfehlung seines Vaters, seinerseits Bibliothekar in Sofia, mit der Direktorin der Sorbonne-Biblio­thek bekannt geworden ist, tröstet er sich mit intensiver Lektüre. Diese Bibliothekarin macht ihn mit den Arbeiten ihres Neffen François Jodelet bekannt, eines Assistenten der Psychologie an der Sorbonne. Der sagt ihm, er kenne einen anderen Assistenten an der Sorbonne, der im literarischen Bereich arbeite, Gérard Genette: »Ich habe mich also mit Genette getroffen. Er begriff sofort, was ich suchte, und teilte mir mit, daß jemand in diese Richtung arbeite: Roland Barthes, so daß ich dessen Seminar besuchen müsse.« n

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Die Unzufriedenheit der Philologen

Immerhin konnte man an der Sorbonne den Strukturalismus in der Anglistik kennenlernen. So kam Marina Yaguello 1963 zum Zeit­punkt der Berufung von Antoine Culioli, der bislang Assistent in Nancy gewesen war, ans Anglistische Institut. Durch Culiolis Ar­beit über das Altenglische und den Vokalwandel gewann man nicht nur Zugang zu einem synchronischen Verfahren, sondern auch zu einem »ganz und gar strukturalistischen in dem Sinne, daß die Ver­änderung eines Vokals die des gesamten Systems nach sich zog«12.

Doch diese linguistische Ausbildung wendet sich nicht an die große Masse der Studenten, die sich an der Sorbonne in französi­scher Philologie eingeschrieben haben. Die mit den damaligen Literaturlehrveranstaltungen unzufriedene Französischstudentin Françoise Gadet etwa gerät ganz zufällig in eine Veranstaltung von Antoine Culioli. Sie soll für einen verhinderten Kommilito­nen mitschreiben und ist fasziniert: »Ich sagte mir, hier herrscht wirklich Strenge, hier gibt es einen Anspruch.«13 Sie entscheidet sich bei der licence de lettres für ein Zertifikat in Linguistik, be­gegnet Martinet und schwenkt von der Literatur auf die struktu-rale Linguistik um. Für Françoise Gadet heißt Strukturalismus Wahl der Strenge : »Wenn man in den sechziger Jahren die Atmo­sphäre an der Sorbonne erlebt hat, dann ist einem klar, daß es keine anderen Orte gab, wo man hingehen konnte. Wenn man gesehen hat, was für ein Friedhof sie war, dann versteht man die Begeisterung für den Strukturalismus.«14 Literatur lehrten seinerzeit unter anderem Gérard Castex, Jacques Deloffre, Ma­rie-Jeanne Durry, Dichterin und Apollinaire-Spezialistin, und Charles Dédéyan, ein armenischer Fürst, der vergleichende Literaturwissenschaft vortrug. Allesamt gewissenhafte Professo­ren, vertrieben sie indes mit einer einzigen Vorlesung ihre Zuhö­rer : »Ich habe das bei Dédéyan erlebt, da waren fünfhundert Stu­denten bei der ersten Sitzung, und bei der zweiten waren es noch drei«15, erzählt Philippe Hamon, der ebenfalls, wie viele seiner

Die Anfechtung der Sorbonne: Alt und Neu im Widerstreit 287

Generation, Mitte der sechziger Jahre die Linguistik wählte: »Zum ersten Mal konnte eine sogenannte Humanwissenschaft so etwas wie Strenge erreichen; es war ein klarer, nachweisbarer, nachvollziehbarer, reproduzierbarer Diskurs.«16 Auch Elisabeth Roudinesco, die 1964 ihr Studium der Literaturwissenschaft an der Sorbonne aufnahm, war sehr unzufrieden. Rasch begriff sie, daß ihren Interessenschwerpunkten in dem Unterricht, den sie erhielt, in keiner Weise entsprochen wurde: »Wenn man Philo­logie studierte, lautete die entscheidende Frage: Hast du den letzten Barthes gelesen? Ansonsten lehrte man uns dummes Zeug.«17 An der Sorbonne gab es somit in der Philologie einen sehr ausgeprägten Schnitt zwischen zwei Redeweisen, zwischen zwei Arten von Interessenschwerpunkten, und die wachsende Kluft zwischen Lehrenden und Studenten wurde zur Quelle vie­ler Frustrationen, allerdings auch zum Pulverfaß, das alsbald ex­plodieren sollte. Diese Unzufriedenheit wird auch von den Phi­losophen geteilt: »Die Sorbonne, das ist die absolute Leere«, erzählt François Ewald18, unzufrieden mit seinen damaligen Pro­fessoren, mit Raymond Aron, der Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft mit sardonischem und überheblichem Lä­cheln entgegentrat.

Das Gefühl siderischer Leere ist so groß, daß François Ewald mit seinem Freund François George plant, nach dem Vorbild der Cahiers pour l'analyse eine eigene Zeitschrift herauszugeben, die Cahiers pour l'époché heißen soll, aber nie zustande kommt. Sie sollte einem Gespür vom Ende der Geschichte Ausdruck verlei­hen, der Idee einer in der Abenddämmerung liegenden Welt, wie sie der neuen strukturalistischen Sensibilität entspricht, mit der er bald in Berührung kommt, da er die Macher der Cahiers pour l'analyse an der Rue d'Ulm kennt und an der Sorbonne die Ver­anstaltungen Jacques-Alain Millers sowie die Seminare von Lacan besucht: »In dieser Hinsicht bin ich ein Kind des Strukturalis­mus. Ich bin mit der Lektüre von Bachelard und Canguilhem, mit der französischen Epistemologie großgeworden.«19

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Die Dynamik der Sozialwissenschaften, ihr regelrechtes Auf­bersten in den sechziger Jahren entspricht also einer Erwartung. Muß man somit die Vereinnahmung von Seiten mancher Litera­ten, Historiker und Philosophen als Ausdruck einer kindlichen Wachstumskrise von Wissenschaften sehen, die sich um Institu­tionalisierung bemühten und sich deshalb besonders rigoros ge-bärdeten? »Ich würde eher von einer Alterskrankheit der Sozial­wissenschaften sprechen, denn ich sehe nicht, worin sie etwas eröffnet hätten«, antwortet Roger-Pol Droit20, der in der Hin­wendung zum Strukturalismus den Wendepunkt eines von der Soziologie und Anthropologie verfolgten Durkheimismus er­blickt, der mit einem Vierteljahrhundert Verspätung in der Lin­guistik der dreißiger Jahre ein Instrument der Objektivierung ge­funden hätte: »Es handelt sich also eher um ein Nachspiel, in dem die Sozialwissenschaften wahrscheinlich so etwas wie den Ausdruck ihrer Modernität gefunden haben.«21 Sicherlich läßt sich dieser Erneuerungsdrang mit einer früheren Durkheimschen Bestrebung in Beziehung setzen, da aber diese Tradition keinen durchschlagenden Erfolg verbuchen konnte, stellt sich ihr mittels der Linguistik erneuertes Programm gegenüber der verände­rungsfeindlichen Sorbonne als fortschrittlich dar.

Die Brennpunkte der Modernität

Die Aufbruchbewegung der sechziger Jahre verfolgt die Strategie, die universitäre Zentralinstitution zu erschüttern. Die Innovation kommt von der Peripherie ; sie umringt Paris von der Provinz aus oder pflanzt sich in die Enklaven der Hauptstadt ein : »Diese Uni­versität war unfähig, aus sich heraus etwas Neues zu vollbrin­gen.« 22 Bereits im Zweiten Kaiserreich hatte der Philosoph Cour­not festgestellt, daß Frankreich bis zur Renaissance mit einer blühenden Universität ausgestattet gewesen sei, aus der die Refor­mation hätte entspringen können, die schließlich die Entwicklung

Die A nfechtung der Sorbonne : Alt und Neu im Widerstreit 289

der Universitäten Nordeuropas mit sich brachte. Seither hat man, um am Habitus des Homo academicus zu rütteln, jedesmal eine neue Institution gründen müssen: das Collège de France, die ENS, die EPHE, das CNRS. Das Geschehen der sechziger Jahre setzt also die Tradition fort, nach der eine Reform des Systems sich nur über eine Revolution zustande bringen läßt. Selbst auf dem Höhepunkt des strukturalistischen Paradigmas darf das von Verlagsstrukturen, Zeitschriften und Presse entfachte Getöse nicht darüber hinwegtäuschen, daß die traditionelle Institution nach wie vor die zentrale Legitimitätsposition einnimmt. »Der Strukturalismus war nie vorherrschend ; das zu behaupten, wäre irrig, und zwar insbesondere auf literarischem Gebiet.«23

Dennoch wird eine im Umbruch befindliche Forschung insti­tutionelle Rahmenbedingungen finden, um eine intensive Arbeit mit neuer Ausrichtung zu betreiben. Immer radikaler setzt man die Strukturalität des Textes anstelle der Untersuchung der Ge­nese, wird der Werkbegriff durch den Funktionsbegriff abgelöst, greift man in der literarischen Analyse die Perspektive der russi­schen Formalisten auf, die sich um das Konzept der Textimma­nenz bewegt. Ein Programm bündelt verschiedene Forschungen, die gemeinsam auf das linguistische Modell bauen, um das schöp­ferische Subjekt aus seiner bislang für wesentlich gehaltenen Rolle zu entlassen und im selben Zuge der strukturalen Totalität des Textes den Primat zuzuerkennen. Die innere Rationalität des Textes muß sich der Subjektivität des Autors entziehen, da sie sich ohne sein Wissen zur Aussage bringt. Die Kritik, sei es im Namen der Logik oder der Ästhetik, fließt in eine vorwiegend deskriptive Sicht des literarischen Werkes ein, die die verschiede­nen Ähnlichkeits- und Unterschiedsebenen miteinander in Be­ziehung setzt — eine eigentlich linguistische Arbeitsweise mithin. Das Dezennium, das 1960 beginnt, ist also in Frankreich eine be­sonders unruhige Zeit, »in der man fasziniert das (hauptsächlich strukturalistische) Modell der Linguistik und seine methodologi­schen Anstrengungen entdeckt«24.

290 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque

Eine der Hochburgen dieser strukturalistischen Erneuerung ist Straßburg mit dem romanischen Philologen Georges Straka. Der Freund von Greimas publiziert vor allem semiotische Arbei­ten in der 1963 gegründeten Zeitschrift Les Travaux de lingui­stique et de littérature (Tralili), die in tausend Exemplaren aufge­legt und von Klinksieck vertrieben wird. Straka organisiert Kolloquien, versammelt französische und ausländische Lingui­sten in Straßburg und verbreitet ihre Forschungen dank des Ver­lags Klinksieck und der Ausstrahlung der Straßburger Universi­tät, die 1929 die große historiographische Revolution der Annales miterlebt hatte.

Die andere Stätte der Innovationen und Konvergenzen ist die Fakultät von Besançon. Die Regsamkeit dieses Universitätszen­trums hängt damit zusammen, daß die jüngeren Wissenschaftler sich einer abgelegenen Universität zuwandten, wobei Besançon einen besonders fernen, abgeschotteten Ort bedeutete. Dort treffen junge Forscher wie Bernard Quémada, Georges Matoré, Henri Mitterand und Louis Hay aufeinander, die gleichsam zur Zusammenarbeit verurteilt sind. Hier ist die Ausrichtung bewußt interdisziplinär, werden Brücken zwischen den Lehrenden an der geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Fa­kultät gebaut, um die Labormethoden in den Humanwissen­schaften zur Anwendung zu bringen : »Der interdisziplinäre Dia­log wurde überall geführt, ob im Zug oder im Restaurant. Henri Mitterand, der immer einen Sinn fürs Praktische gehabt hat, sagte, gäbe man Les Cahiers du rapide 59 heraus, stünden sie garantiert auf einem weit höheren Niveau als die Mehrzahl der institutionalisierten Zeitschriften.«25 In Besançon, diesem Zentrum des Austauschs, dominiert der Lerneifer und das Neu­erungsstreben: »Was uns interessierte, waren alle diese neuen Dinge, die aufkamen.«26 Die Werke von Barthes, Greimas oder Lévi-Strauss finden in dieser Zeit intellektueller Hochspannung besonders begeisterte Aufnahme. Dem Germanisten Louis Hay steht der Grammatiker und Philologe Henri Mitterand zur Seite,

Die A nfechtung der Sorbonne : A It und Neu im Widerstreit 291

der sich des Erscheinens der thèse von Jean Dubois, Le Vocabu­laire politique et social en France de 1849 à 1879 (Paris 1962), als ei­nes besonders wichtigen Moments erinnert. Diese thèse hat eine ganze Generation dazu angespornt, nach einer Parallele, nach ei­ner wechselseitigen Entsprechung der Diskursstrukturen jenseits der Klassenstrukturen und der Strukturen des Vokabulars zu for­schen. Durch diese Dynamik überwandt Besançon die Abschot­tung und bündelte so weit verstreute Fachleute wie Jean-Claude Chevalier in Lille, Jean Dubois erst in Rouen, dann in Paris, Grei-mas in Poitiers usw., bevor diese Kräfte weithin ausstrahlten.

Natürlich weichen die einzelnen Forschungsaspekte deutlich voneinander ab. Barthes, die Bezugsgröße der Epoche, interes­sierte sich eher für die Codes, die in einem Werk wirken, wäh­rend Greimas hinter dem Text die Systematik wiederzufinden hoffte, die die Funktionsweise des menschlichen Geistes be­stimmt. Doch gab es jenseits der Unterschiede die »Situation des Kritikers als Erforscher der Immanenz«27, wie es ein Schüler Hjelmslevs, der Kopenhagener Professor Knud Togeby, aus­drückte: Er hatte 1965 Les structures immanentes de L· langue française veröffentlicht, und so ist der Begriff der Immanenz bald zur Losung für die junge Generation der nouvelle critique gewor­den.

Der Osten Frankreichs segelt also entschieden voraus, und der Wind bläst kräftig, denn auch Nancy entwickelt sich seit 1960 zu einem dynamischen Forschungszentrum im Zuge der Einrich­tung der Société de traduction automatique durch Bernard Pottier, die bereits 1961, anläßlich eines Kolloquiums zu diesem Thema, Naturwissenschaftler und Linguisten anlockt. Dieser Zweig der Sprachanalyse überzeugt berufsmäßige Wissenschaft­ler von der Linguistik. So auch den Ingenieur Maurice Gross vom Rechenzentrum des Laboratoire central de l'armement: »Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was ein Linguist war. Ich wußte nicht einmal, daß es so etwas gab.«28 Über die Beschäfti­gung mit maschineller Übersetzung wird Maurice Gross zum

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Linguisten und geht im Oktober 1961 nach Harvard, wo er Noam Chomsky kennenlernt. Die Zeit ist reif für Arbeitsgrup­pen, für ein Aufbrechen der Forschungsbereiche, die das »Seins­verfehlen« des Zentrums an der Peripherie wettzumachen versu­chen.

Anfang der sechziger Jahre stellt die KPF noch eine einflußrei­che politische Kraft dar, und die Zahl der Intellektuellen ist groß, die als aktive oder passive Mitglieder in ihren Reihen stehen. Ein bedeutender kommunistischer Linguist, Marcel Cohen, leitet eine marxistische Forschungsgruppe, in der sich zahlreiche struk-turalistische Linguisten wiederfinden. Diese Gruppe versammelt sich regelmäßig bei einem ihrer Mitglieder, und um Marcel Co­hen herum trifft man Jean Dubois, Antoine Culioli, Henri Mit­terand und André-Georges Haudricourt. Doch bald führen so­wohl die politische Entwicklung wie auch Marcel Cohens für allzu restriktiv erachtete Auffassung der linguistischen Arbeit die Mitstreiter in die Diaspora: »Cohen hatte eine Vorstellung von Marxismus, die von der Soziologie und von Durkheim geprägt war. [...] Die Amerikaner waren bei ihm immer sehr schlecht an­gesehen.«29 Bei aller Anerkennung der Wichtigkeit dieser Gruppe betont André-Georges Haudricourt den sektiererischen Charakter Cohens : »Der wackere Cohen war sehr totalitär, für ihn gab es die Partei und die anderen.«30 Die Gruppe beschäftigte sich mit den russischen Formalisten der zwanziger Jahre, mit der sowjetischen Linguistik, der von Vinogradov, und zwar hinsicht­lich des Aufbaus einer Sprachsoziologie, die deutlich von der strukturalistischen Perspektive abwich. Daher rührte das rasche Verschwinden der Gruppe, trotz ihrer Bedeutung als fruchtbarer Begegnungsort.

Die A nfechtung der Sorbonne : Alt und Neu im Widerstreit 293

Der Aufruhr wächst

Das vielförmige Aufbersten der Wißbegierden kann sich nicht immer in der offiziellen Société de linguistique de Paris (SLP) zum Ausdruck bringen. Es bedarf anderer Übermittlungskanäle, und deshalb konstituiert sich 1960 in Paris die Société d'études de la langue française (SELF). Gründer sind drei Hörer der Vorle­sung von Robert-Léon Wagner: Jean-Claude Chevalier, Jean Dubois und Henri Mitterand. Robert-Léon Wagner, Professor an der École des hautes études, hat für die Verbreitung der struktu-ralen Linguistik in Frankreich eine entscheidende Rolle gespielt. Der Mediävist, von Haus aus Philologe, hat als erster Benveniste, Jakobson, Hjelmslev in seinen Seminaren bekannt gemacht: »Er hat Keime gelegt.«31

Die SELF entstand als Reaktion auf eine sarkastische Bemer­kung von Michel Riffaterre, der in den USA forschte und sich von Jean-Claude Chevaliers Privatbibliothek enttäuscht gezeigt hatte. Chevalier beschloß daraufhin, einen Freundeskreis ins Le­ben zu rufen, dessen Mitglieder ihre Erkenntnisse austauschen. Allmonatlich versammelt sich eine kleine Gruppe, um Referate von Semantikern wie Greimas, Lexikologen wie Guilbert oder Dubois, Syntaktikern wie Chevalier oder Stilistikern wie Me-schonnic zu hören. Kurz darauf erscheinen die Beiträge dann als Artikel. Dieser »Wohlfahrtsausschuß von Habenichtsen«32 wird bald bedeutsam. Er löst sich 1968 nicht auf, weil er gescheitert wäre, sondern weil seine Katalysatorrolle inzwischen vom Um­fang der durch ihn in Gang gesetzten Bewegung überholt worden ist.

Von den anderen Zusammenschlüssen Mitte der sechziger Jahre seien erwähnt : das Enseignement pour la recherche en an­thropologie sociale (EPRAS) an der École des hautes études, wo Greimas 1966 mit Unterstützung von Oswald Ducrot und Chri­stian Metz auf zwei bis drei Jahre hin einen Versuchsstudiengang für Graduierte einrichtet, und die Gründung der Association in-

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ternationale de linguistique appliquée (AFLA) im Jahr 1964, bei deren Seminaren bis zu zweihundert Besucher zusammenkom­men : »Das Seminar von Nancy schleuste 1967 unglaublich viele Forscher durch. Der zukünftige Stab von Vincennes war nahezu vollständig vertreten.«33

Eine weitere Stätte der Erneuerung war die Sechste Sektion der EPHE, insbesondere mit dem Seminar von Roland Barthes, der 1964 einen Kurs über die Küche gab. Kurz zuvor, 1962, war er Leiter eines Forschungsbereichs mit dem Titel »Soziologie und Sémiologie der Zeichen und der Symbole« geworden. Neben der besonders regen Tätigkeit der Literaturwissenschaftler stimu­lierte auch das Werk von Lévi-Strauss zu neuen Fragestellungen.

So fand dessen Strukturale Anthropologie bei ihrem Erschei­nen 1958 aus drei Gründen Eingang ins literarische Milieu34: durch die Ergiebigkeit des phonologischen Modells in einer hu­manwissenschaftlichen Disziplin, durch die achronische Lektüre des Ödipus-Mythos und durch die Formel von der Transformier-barkeit der Mythen. Zwei Jahre später schaltet sich Lévi-Strauss mit einem aufsehenerregenden und polemischen Artikel über »La morphologie du conte de Vladimir Propp«35 direkt in literarische Fragen ein. Und 1962 bringt er seine berühmte, gemeinsam mit Roman Jakobson verfaßte Studie zu Baudelaires Sonett Die Kat­zen heraus, worin die Autoren zeigen, daß das Sonett vollständig von den phonetischen Möglichkeiten bestimmt wird, die Baude­laire zu Gebote standen.36 Diese Streifzüge von Lévi-Strauss auf dem Feld der Literatur zeigen das Vermögen der Methode, im Namen einer allgemeinen Sémiologie auf breitem Gebiet Anwen­dung zu finden ; für die frisch zur Linguistik konvertierten Lite­raturwissenschaftler sind sie Bestätigung für Wissenschaftlich­keit und Aussichtsreichtum ihres Programms.

Auch Jean Roussets Werk Forme et signification bekräftigt 1962 die immanentistische Orientierung der literarischen Neue­rer. Im Untertitel seines Buches hebt er den Begriff der Struktur heraus.37 Dem Denken und Schreiben Paul Valérys verpflichtet,

Die A nfechtung der Sorbonne : Alt und Neu im Widerstreit 295

der zum literarischen Hauptbezugspunkt einer neuen Ästhetik werden sollte, greift Rousset die Idee auf, daß die Form die Ideen befruchtet: »Die Struktur des Werkes ist erfinderisch.«38 Jean Rousset sieht in seiner kritischen Arbeit von jedem subjektiven Urteil ab, um sich desto eingehender der Herausarbeitung der formalen Strukturen zuzuwenden. Seine Lehren, gewichtig im Programm des literarischen Strukturalismus, fußen nicht auf der Linguistik, sondern auf einer erneuerten Literaturkritik und Rhe­torik-Reflexion wie der Leo Spitzers und Gaétan Picons. Spitzers stilistischen Studien entlehnt er eine der großen Ideen des literari­schen Strukturalismus der sechziger Jahre : die Untersuchung ei­nes einzelnen Werks, das als vollständiger Organismus betrachtet und in seinem inneren Zusammenhang, sich selbst genügend, er­faßt wird : »Madame Bovary bildet einen unabhängigen Organis­mus, ein Absolutes, eine Gesamtheit, die sich durch sich selbst versteht und erhellt.«39

Jean Rousset bricht mit einer Kritik, die sich als jenseitig des Werkes zeigt, indem sie es dermaßen in seiner Kontextualität und seiner Genese auflöst, daß alles da ist — bis auf die Gegenwart des Werkes selbst. Auf diese Wiedereinsetzung der Literarizität des Werks beruft man sich gegen die Statthalter der traditionellen Li­teraturwissenschaft. Diese neue Kritik sucht sich ihr Rüstzeug zunächst in der Jungschen Psychoanalyse, bei den Archetypen und dem Imaginären Jungs, wobei sie sich zudem von den An­schauungen Gaston Bachelards anregen läßt, sodann bei der the­matischen Kritik Jean-Pierre Richards und bei Georges Poulets systematischer Reflexion der Zeitlichkeit. In einer zweiten Phase bedient sie sich dann der Linguistik, so daß sie sich mit einem streng wissenschaftlichen Programm schmücken kann.

1964 : der Durchbruch für das semiologische Abenteuer

Im Jahre 1964 wird die unumschränkte Herrschaft der Sorbonne gebrochen. Der Aufruhr an der Peripherie führt zum ersten gro­ßen Sieg, ermöglicht durch die spektakulär gestiegenen Studen­tenzahlen im Bereich der Geistes- und Humanwissenschaften, eine Folge des Babybooms.

Als 1964 die Universität von Nanterre gegründet wird, bedeu­tet das für viele Neuerer die Gelegenheit, eine universitäre Posi­tion vor den Toren von Paris zu besetzen, während die Linguisten Bernard Pottier und Jean Dubois damals ins Zentrum der Institu­tion vordringen. Immer stärker zeigt sich eine Verlagerung aus den peripheren Orten wie der EPHE hinein in die geisteswissen­schaftlichen Fakultäten. Was sich bereits in Straßburg und Besan­çon bemerkbar gemacht hatte, nimmt natürlich in der Pariser Re­gion ganz andere Ausmaße an. Überdies bietet sich damit einer allgemeinen Sprachwissenschaft, die nicht länger der einen oder anderen Abteilung für Sprache oder traditionelle Philologie un­terstellt ist, die Gelegenheit, ihren Marsch durch die Institutionen anzutreten. Damit kann die Linguistik, die nunmehr als das ge­meinsame Anliegen aller erscheint, die es mit Sprache zu tun ha­ben, ein Publikum gewinnen, das weit über den engen Kreis der Fachlinguisten hinausreicht.

Jean Dubois spielt dabei eine maßgebliche Rolle, zumal er gleich drei Ämter innehat : Er ist Herausgeber bei Larousse, or­dentlicher Professor an einer Pariser Universität und Angehöri­ger der Berufungskommission am CNRS, eine Position, die ihm Kontakte zu Louis Guilbert, Robert-Léon Wagner, Algirdas Ju­lien Greimas, Bernard Quémada und anderen eröffnet. Er kann

1964 : der Durchbruch für das semiologische Abenteuer 297

also Forschungsarbeiten anleiten, Ernennungen an der linguisti­schen Abteilung von Nanterre vornehmen und eine ganze Gene­ration von Linguisten in den Stand ordentlicher Professoren er­heben. Außerdem steht er in enger freundschaftlicher Beziehung zu Roland Barthes, der seinen Bruder Claude Dubois im Sanato­rium kennengelernt hatte. Über politische und ausbildungsmä­ßige Divergenzen hinaus — Bernard Pottier war rechts und lehrte Spanisch, während Dubois in der KPF war und Französisch lehrte — behielt die Verbundenheit mit einer Gemeinschaft struk-turalistischer Linguisten die Oberhand: »Eines Tages holte Pot­tier uns ab und sagte, ihr müßt uns helfen, Martinet ist an der Sor­bonne in Gefahr, und so machten Dubois und ich uns auf, ihn zu retten.« l

Jean Dubois leitete Forschungsgruppen, denen Linguisten wie Claudine Normand, Jean-Baptiste Marcellesi und Denise Maldi-dier angehörten. Zudem gelang es ihm, Fachleute anderer Diszi­plinen für die Linguistik zu gewinnen wie Joseph Sumpf, den er 1967 in Nanterre als Assistent für Soziolinguistik am Fachbereich Sprachwissenschaft einstellte. Sumpf hatte seit 1963 am CNRS in der Bildungssoziologie gearbeitet und am Centre d'études socio­logiques unter der Leitung von Liliane Isambert. Er besuchte da­mals das Seminar von Pierre Naville, in dem die Notwendigkeit der Formalisierung diskutiert wurde, um an die Strukturen her­anzukommen. In diesem Seminar saßen neben den Soziologen auch Anthropologen wie Claude Meillassoux und Colette Piot: »Den Begriff der Formalisierung hat Naville von Saussure und Piaget bezogen, was aber nicht heißt, daß darauf sein Hauptau­genmerk lag.«2

Joseph Sumpf soll die Funktion des Philosophieunterrichts im französischen Schulsystem erforschen. Im Hinblick darauf er­stellt er seinen Corpus, eine stattliche Menge von Gesprächs­protokollen und Aufsätzen, und sucht Jean Dubois auf, um sich zu erkundigen, wie er dieses Material analysieren soll : »Jean Du­bois hat mich auf die Linguistik gebracht, die von Harris, und auf

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dieser Basis hat er mich dann in Nanterre eingestellt.«3 Hier dient der Strukturalismus als ein besonderer Ansatz zur Analyse eines Dokumentenbestands, einer Gesamtheit von Zeichen, von Spu­ren, aus denen heraus eine innere Kohärenz gefunden werden muß.

Es ist das, was Michel Foucault 1965 vor tunesischem Publi­kum als »Deixologie« bezeichnet hat, eine Analyse der inneren Regelzwänge (contraintes internes) des Dokuments als solches: »Es geht darum, das Determinationssystem des Dokumentes als Dokument zu finden.«4 Diese »Deixologie« als essentielle Ebene der humanwissenschaftlichen Praktiken fundiert »die methodo­logische Bedeutsamkeit, die epistemologische Bedeutsamkeit, die philosophische Bedeutsamkeit des Strukturalismus«5. Eines der Charakteristika dieser Umwälzung liegt im Bestreiten des traditionellen Einschnitts zwischen dem, was unter ein literari­sches Werk fällt und von der Kritik eingeordnet und abgesegnet wird, einerseits, und den übrigen Schreibtatsachen andererseits. Jede Spur (trace) findet als Dokument eigener Ordnung Berück­sichtigung. Das entsakralisierte Werk ist nur noch Sprachtatsa­che, eine bloße Schreibfalte (pli d'écriture), zu der eine andere Schreibtatsache hinzutritt. In einem solchen diskursiven Ge­menge treten die Grenzen zwischen den Disziplinen zurück, um der eigentlichen linguistischen Analyse Platz zu machen. Und da diese sich auf die Saussureschen Grundprinzipien zurückbesinnt, macht sie, zu Lasten eines zeitlichen Ansatzes, die literarische Analyse in ihrer Synchronie geltend. Das Werk wird nicht mehr als Ausdruck seiner Zeit, sondern als Raumfragment in der in­neren Logik seiner Funktionsweise begriffen. Diese Logik des Werks erschließt sich nicht mehr aus exogenen, kontextuellen Kausalitätsbeziehungen, sondern aus einem Feld syntagmati-scher oder paradigmatischer Kontiguitätsbeziehungen, die keine Kausalitätsverhältnisse mehr bedingen, sondern lediglich solche des Kommunizierens der verschiedenen Codes rund um eine be­stimmte Zahl von Polen.

1964 : der Durebbruch für das semiologisebe Abenteuer 299

Communications Nr. 4 : ein semiologisches Manifest

In der vierten Nummer der Zeitschrift Communications wird in diesem Jahre, 1964, die Ausbreitung des linguistischen Modells auf dem literarischen Feld als das kommende Programm vorge­stellt. Tzvetan Todorov schreibt seinen ersten Artikel in französi­scher Sprache: »La description de la signification en littérature«. Darin erarbeitet er eine Stratigraphie der Analyseebenen. Er un­terscheidet die phonematische Distribution, in der die inhaltliche Ebene nicht zum Zuge kommt, die grammatikalische Ebene, die er als die der Inhaltsform definiert und die in der Literatur eine entscheidende Rolle für die Bedeutung spielt, und schließlich die Inhaltssubstanz, die unter die Semantik fällt. Dieser Ansatz ver­steht sich als radikal formalistisch, und wenn Todorov in der Lite­ratur Spuren anderer, aus dem sozialen oder nationalen Leben einfließender Bedeutungssysteme anerkennt, so »bleibt die Un­tersuchung dieser Systeme selbstverständlich außerhalb der lite­rarischen Analyse im strengen Sinn«6.

Claude Brémond fragt ebenfalls nach den Aussichten und Grenzen der formalen Analyse, und zwar konkret anhand von Wladimir Propps Werk Morphologie des Märchens (München 1972). Sich auf Propp stützend, verteidigt er die Fundamente ei­ner eigenständigen Sémiologie der Erzählung, die die traditionel­len Inhaltsanalysen ersetzen soll. Ausgehend von einem Corpus von etwa hundert russischen Volksmärchen, hatte Propp jedes Märchen auf der Basis eines Verzeichnisses von einunddreißig Funktionen transkribiert, die es nach seiner Auffassung gestat­ten, den Handlungen sämtlicher Märchen des untersuchten Corpus erschöpfend Rechnung zu tragen. Claude Brémond verteidigt die formale Analysemethode mit ihrem deskriptiven Blickwinkel gegen die Statthalter der traditionellen Literaturge­schichte : »Versessen darauf, die Fragen der genetischen Filiation zu lösen, vergessen sie, daß Darwin erst nach Linné möglich wird.«7

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Propps Methode ist für Claude Brémond besonders anregend, und er denkt über die Bedingungen ihrer Verallgemeinerung nach. Allerdings macht er sich dabei einen Teil der 1962 von Lévi-Strauss formulierten kritischen Einwände zu eigen. So sagt er sich von Propps finalistischem Postulat los, das diesen zwar zu einer voll­kommeneren Umsetzung des untersuchten Materials ins Modell führt, um den hohen Preis jedoch der Opferung der Teile für das Ganze, die sich aus der Reduzierung der Märchenmotive auf ihre invariante Funktion ergibt. Claude Brémond schlagt für die me­thodische Annäherung an die Narration eine Differenzierung der Analysemaßstäbe vor : auf der einen Seite die Arbeit des Klassifi-zierens, der vergleichenden Untersuchung der verschiedenen For­men von Narrativität, auf der anderen Seite die Inbezugsetzung nicht der Formen untereinander, sondern der »narrativen Schicht einer Botschaft mit den sonstigen Bedeutungsschichten«8.

In dieser Nummer der Communications erscheint auch Ro­land Barthes' Aufsatz »Elemente der Sémiologie«, in dem er ein Seminar verarbeitet, das er an der Sechsten Sektion der EPHE gibt. Dieser Artikel ist für ein breiteres Forscherpublikum be­stimmt, daher gibt er sich als Manifest für eine neue Wissen­schaft: die Sémiologie. Diese theoretische Darstellung bildet übrigens den Rahmen für Barthes' eigene Forschungen, denn zur selben Zeit verfaßt er Die Sprache der Mode. Zu jener Zeit erlebt Barthes einen wahren »methodologischen Rausch«9 und stellt seine eigene Schreibtätigkeit zurück zugunsten einer Forschung, die sich als wissenschaftliche Arbeit versteht. In dieser Spannung zwischen dem Semiologen und dem Schriftsteller durchläuft Barthes damals die stärkste Negation seiner Schriftstellernatur, seiner Subjektivität, die er im Namen der Wissenschaft opfert: »Es gibt zwei Phasen bei Roland Barthes. In der ersten glaubte er an die Notwendigkeit und Möglichkeit, eine Wissenschaft vom Menschen zu schaffen. Weshalb sollte nicht, so wie sich im 19. Jahrhundert die Naturwissenschaften konstituiert hatten, das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Human Wissenschaften sein?«10

1964 : der Durchbruch für das semiologische Abenteuer 301

Die in Communications Nr. 4 erschienenen »Éléments de sé­miologie« liefern ein didaktisches Exposé, worin die Lehren Saussures und Hjelmslevs im Hinblick auf die Errichtung dieser neuen Wissenschaft vorgestellt werden. Barthes übernimmt die Saussureschen Begriffspaare Sprache (langue)/Sprechen (parole), Signifikant/Signifikat, Syntagma/System und schreibt sich inso­weit in eine strikte strukturalistische Orthodoxie ein. Diesen Di­chotomien fügt er Hjelmslevs Umverteilung der Saussureschen Termini hinzu: den Sprachbau (die Sprache im Saussureschen Sinne), die Norm (die Sprache als materielle Form) und den Sprachgebrauch (die Sprache als Summe der Gewohnheiten einer bestimmten Gesellschaft). Diese Trilogie gestattet es Hjelmslev, den Begriff langue radikal zu formalisieren und das Saussuresche Paar langue/parole durch das Paar Sprachbau/Sprachgebrauch zu ersetzen.

Was Barthes an dieser linguistischen Revolution festhält, ist ihre allgemeine Tragweite für die Errichtung einer neuen Wissen­schaft, und im Hinblick darauf kehrt er den Vorschlag Saussures, der die Sémiologie an den Horizont der Entwicklung der Lin­guistik stellte, um. Er definiert also im Gegenteil das Programm einer Sémiologie als Untereinheit der Linguistik.11 Zum Nach­weis ihrer Leistungsfähigkeit zitiert er sämtliche Anstrengungen herbei, die diesbezüglich in den verschiedenen Disziplinen unter­nommen worden sind. Diese künftige, noch zu errichtende Wis­senschaft der Sémiologie stellt sich als die Wissenschaft von der Gesellschaft dar, soweit sie sich signifiziert: »Die soziologische Bedeutung des Begriffs Langue/Parole liegt auf der Hand.«12

Dennoch sieht Barthes die ersten positiven Zeichen für eine Verwirklichung der Sémiologie nicht in der Soziologie, die sich gegen den Begriff der Immanenz sperrt, sondern vielmehr in der Geschichtswissenschaft, wie sie unter der Ägide von Fernand Braudel mit seiner Unterscheidung Ereignis/Struktur von den Annales praktiziert wird, ferner in der Anthropologie von Lévi-Strauss, der das Saussuresche Postulat vom unbewußten Charak-

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ter der Sprache (langue) übernommen hat, sowie in der Psycho­analyse von Lacan, »für den der Wunsch selbst wie ein Bedeu­tungssystem gegliedert ist«13. Die universale Semantisierung der Gebräuche zeitigt ein Reales, das sich definiert als das, was intel-ligibel ist. Die Soziologie wird nun mit einer Sozio-Logik in eins gesetzt, und die Bedeutung resultiert aus dem Prozeß, der Signi­fikant und Signifikat vereint, sowohl in seiner Saussureschen wie in seiner Hjelmslevschen Version.

In dieser noch zu errichtenden Sémiologie schreibt Barthes vier Disziplinen eine Antriebsrolle zu: »Wirtschaftswissenschaft, Linguistik, Ethnologie und Geschichtswissenschaft bilden ge­genwärtig ein quadrivium von Pilot-Wissenschaften.«14 Die Sé­miologie muß ihre Scheidelinien, ihre Grenzen ziehen; sie wird auf dem Relevanzprinzip aufbauen, das heißt auf dem Bedeu­tungsfeld der an sich selbst untersuchten Objekte, also von einer Situation der Immanenz ausgehen. Dazu muß der Corpus homo­gen sein und per Definition sonstige Systeme, psychologischer, soziologischer und anderer Art, ausklammern. Die zweite Aus­richtung dieser Wissenschaft ist ihr Ahistorizismus : Der Corpus sollte diachronische Elemente weitestmöglich ausgrenzen; »er sollte mit einem bestimmten Zustand des Systems, mit einem >Ausschnitt< der Geschichte zusammenfallen«15. Das bei dieser Bedeutungssuche verwendete Instrumentarium findet Barthes hauptsächlich in einer konnotativen Linguistik, die an Hjelmslevs Gegensatz Denotation/Konnotation anknüpft, den Barthes be­reits in den Mythen des Alltags angewandt hatte.

Um dem ehrgeizigen Projekt der Errichtung eines semiologi-schen Programms mehr Gewicht zu verleihen, stellt Barthes, ebenfalls im Jahre 1964, noch einmal die Essenz seiner Chroni­stentätigkeit der Jahre 1953 bis 1963 in einem Sammelband zu­sammen, dem er den Titel Essais critiques gibt. Aus ihm läßt sich eine im Aufbau befindliche, tastend erarbeitete Sémiologie her­auslesen, ein wahres wissenschaftliches Bastelwerk, das sich mehr als seine ersten Arbeiten auf die Problematik des Zeichens

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konzentriert. Sie greift auf verschiedene Modelle zurück, bei­spielsweise auf den Binarismus Jakobsons oder Trubetzkoys Analyse in Termini differentieller Positionen. »Zu diesem Zeit­punkt also, zwischen 1962 und 1963, [...] macht sich bei Barthes die innere Revolution bemerkbar.« 16

Barthes definiert die strukturalistische Tätigkeit

In diesem Sammelband definiert Barthes, was er unter Struktura­lismus versteht. Das Phänomen läßt sich in keine Schule fassen, da dies eine gar nicht bestehende Forschungsgemeinschaft und Solidarität zwischen all diesen Autoren voraussetzte. Wie also den Strukturalismus bestimmen? »Der Strukturalismus ist [...] im wesentlichen eine Tätigkeit [...]. Das Ziel jeder strukturalisti-schen Tätigkeit [...] besteht darin, ein >Ob]ekt< derart zu rekon­struieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine >Funktionen< sind). Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objekts [...].«17 So gibt es gleichwohl einen gemeinsamen Horizont in dieser Tätigkeit, der über die Verschiedenheit der auf der Suche nach dem strukturalen Menschen begriffenen Disziplinen und die Einzigkeit des jeweiligen Forschers hinausgeht. Der struktu-rale Mensch definiert sich dadurch, daß er Bedeutung herstellt, und das Verfahren besteht darin, sich im wesentlichen für den be-deutungsherstellenden Akt zu interessieren anstatt für seinen In­halt selbst. Die strukturalistische Tätigkeit wird als »eine Tätig­keit der Nachahmung«18 ins Auge gefaßt, als eine Mimesis, die nicht auf einer Analogie der Substanz, sondern der Funktion gründet. Als Vorläufer für diese Verschiebung der Forschung zi­tiert Roland Barthes gleichermaßen die Werke von Claude Lévi-Strauss, Nicolai Trubetzkoy, Georges Dumézil, Wladimir Propp, Gilles Gaston-Granger, Jean-Claude Gardin und Jean-Pierre Ri­chard. Überdies erlaubt es diese Tätigkeit, die Sonderung zwi-

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sehen künstlerischer, literarischer und wissenschaftlicher Arbeit zu überwinden. In dieser Hinsicht stellt Barthes jene Tätigkeit, die sich der Linguistik bedient, um eine Wissenschaft von der Struktur zu errichten, auf eine Ebene mit der Schreibweise von Butor, der Musik von Boulez, der Malerei von Mondrian, deren Kompositionsweisen ebenso am Simulakrum des Objekts teilha­ben wie die semiologische Arbeit.

In einem stark von Saussure geprägten Ansatz definiert Barthes den Strukturalismus nicht als eine bloße Reproduktion der Welt, so wie sie ist, sondern als Erzeuger einer neuen Katego­rie, die sich weder auf das Reale noch auf das Rationale zurück­führen läßt. Die strukturalistische Tätigkeit verweist auf das Funktionale, auf die Untersuchung der Bedingungen des Denk­baren, dessen, was Bedeutung allererst möglich macht, und nicht den einzelnen Inhalt. Bedeutung ist eine Kulturtatsache, die zur Naturalisierung neigt, und genau dieser Prozeß ist von der Sé­miologie aufzuschlüsseln. Mit seiner Absicht, die sogenannte na­türliche, scheinbar unverrückbare Bedeutung ins Wanken zu bringen, zeigt dieses Programm eine radikal kritische Funktion gegenüber der herrschenden gesellschaftlichen Ideologie an.

Aufgabe des Semiologen ist also nicht, eine dem untersuchten Werk zugrundeliegende, in ihm bereits vorhandene Bedeutung zu entziffern, sondern von den Regelzwängen der Ausarbeitung der Bedeutung, von den Bedingungen ihrer Geltung Rechen­schaft abzulegen. Die Dekonstruktion der Ideologie, der eta­blierten Bedeutung und deren Pluralisierung sind lauter For­men eines radikalen Historizismus, den man bei Michel Foucault systematisiert und mit einem Ahistorizismus kombiniert se­hen kann, wie er dem Postulat des Synchronischen eigen ist. Für Barthes ist der Strukturalismus keine wirkliche Schule, vielmehr ein wirklicher Bruch in der Entwicklung des Bewußtseins : »Der Strukturalismus kann historisch als der Übergang vom symboli­schen Bewußtsein zum paradigmatischen Bewußtsein definiert werden.«19 Dieses neue paradigmatische Bewußtsein äußert sich

1964 : der Durchbruch für das semiologische Abenteuer 305

durch ein komparatistisches Verfahren, das nicht von der Bedeu­tungsfülle ihrer Substanz ausgeht, sondern auf der Ebene ihrer Form ansetzt. Und die Wissenschaft par excellence dieses para­digmatischen Bewußtseins, das Modell der Modelle ist für Barthes die Phonologie: »Sie ist es, die durch das Werk von Claude Lévi-Strauss hindurch den strukturalistischen Aufbruch definiert.«20

Die Bestimmung zur Kritik

Diese Bewußtseinsveränderung kann nicht allein auf eine Ver­schiebung zwischen Disziplinen im Feld der Sozialwissenschaft zurückzuführen sein; sie ist auch Ausdruck einer Periode, in der der Intellektuelle, der Schriftsteller seinen kritischen Blick, seine Revolte nicht auf die gleiche Weise in Anschlag bringen kann wie unmittelbar nach dem Krieg. Der Gegenstand der Revolte hat sich gewandelt, er besteht nicht mehr in der Idee einer globalen Subversion der sozialen Ordnung. Fortan betrifft die Revolte »wirklich das Ganze, das Gewebe unserer Evidenzen, das heißt das, was man die westliche Zivilisation nennen könnte«21. In ei­ner Destabilisierung der herrschenden westlichen Werte, einer ra­dikalen Kritik der kleinbürgerlichen Ideologie, der Meinung, der Doxa wird sich die Barthesche Kritik wie die sämtlicher Struktu-ralisten üben. Dieses paradigmatische Bewußtsein oder Bewußt­sein der Paradoxie, das auf Erschütterung der Doxa abhebt, voll­zieht sich über die Durchleuchtung und Demontage der Logiken und Modelle, der Seins- und Erscheinungsweisen der ideologi­schen Konstruktionen. Gegenstand der Kritik ist also das Über-Ich, das die Denkweisen der herrschenden Rationalität bilden, und was diese konnotieren. Dafür ist freilich eine strenge Er­kenntnis der Funktionsweise der Sprache Voraussetzung.

Diese Angriffsrichtung scheint wirksamer als die bloße Zu­rückweisung der vergangenen Werte im Namen avantgardisti-

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scher literarischer Prinzipien, die dann bald ins bestehende Sy­stem integriert zu werden drohen: »Jede Avantgarde wird sehr leicht und sehr schnell vereinnahmt. Vor allem in der Literatur.«22

Die Konsumgesellschaft, die sich im Laufe der fünfziger Jahre breitgemacht hat, hat eine derartige Warenrotationskapazität, daß auch die Kulturgüter ihrem Gesetz unterworfen sind, und der Kreislauf, der vom radikalen Bruch zum Handelsobjekt reicht, ist noch nie so schnell gewesen. Ihr Selbstregulierungsme­chanismus ist die Assimilation, und so »gibt es einen Surrealis­mus in den Schaufenstern von Hermès oder der Galeries La-fayette«23.

Die technische Gesellschaft, die Gesellschaft kultureller Mas­senkonsumtion erschwert es also, ihren Maschen zu entkommen und Revolte oder Verweigerung zu äußern, sie läßt dies geradezu illusorisch werden. Das ist sicherlich einer der Gründe, weshalb die Sémiologie als ein zur Wissenschaft und zur Kritik bestimm­ter Diskurs, als Zuflucht, als Freistatt erschien. Wer kein Rim­baud, Bataille oder Artaud zu sein vermag, dem gestattet sie, die Herrschaftsmechanismen zu demontieren und damit eine unein­nehmbare, nicht zu vereinnahmende Position der Extraterritoria­lität zu besetzen, einen Außenstandpunkt, der im Namen der wissenschaftlichen Positivität auftritt. Die Subversion der Spra­che vollzieht sich nun durch die Sprache selbst und muß als erstes die Trennwände niederreißen, die die verschiedenen Gattungs­grenzen zwischen Roman, Dichtung und Kritik festlegen. Alle diese Ausdrucksformen unterliegen der Textualität und damit ein und demselben Analyseraster, dem des paradigmatischen Be­wußtseins: »Ich glaube, daß man sich jetzt zu einer tiefgreifende­ren Revolte anschickt als früher, und zwar genau deshalb, weil sie sich wahrscheinlich zum ersten Mal gerade auf das Instrument der Revolte selbst erstreckt, welches die Sprache ist.«24 In diesem Sinne fühlt sich Barthes als jemand, der die Arbeit des Schriftstel­lers mit anderen Mitteln weiterführt. Nie ist daher über der Span­nung zwischen dem Schriftsteller und dem Semiologen, die man

1964 : der Durchbruch für das semiologische Abenteuer 307

bei ihm erkennen kann, der literarische Horizont ausgeblendet worden, auch wenn seine Objekte zeitweilig die Küche oder die Kleidung gewesen sind und seine Sprache die technische Sprache der Linguistik. Die Sémiologie erscheint als moderne Möglich­keit, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Literatur zu machen. Im Jahre 1964 weckt dieses Programm wachsende Begeisterung.

Das Goldene Zeitalter des formalen Denkens

Der semiotische Strukturalismus stellt sich zugleich als der am stärksten formalisierte Zweig des Strukturalismus dar, als der­jenige, der den »harten« Wissenschaften, der mathematischen Sprache am nächsten kommt. Mit Sicherheit ist seine Ambition die weitreichendste, denn so wie Algirdas Julien Greimas, der Vordenker des Programms, sie versteht, begnügt sich die Semio-tik nicht mit einem Dasein als Zweig des linguistischen Stammes, sie soll vielmehr das gesamte Feld der Humanwissenschaften um­fassen: »Ich habe seit je, von Beginn an eine Semiotik im Auge gehabt, die über die Linguistik hinausgeht, welche nur einer ihrer Teilbereiche ist.«1 Insofern bleibt Greimas der Saussureschen Konzeption treu, als er sowohl die Anthropologie als auch die Se­mantik, die Psychoanalyse wie die literarische Kritik darunter zu versammeln gedenkt.

Die Nähe zu den Mathematikern und Logikern äußert sich bei einigen Linguisten auch auf institutioneller Ebene, durch ihre Mitwirkung an den Lehrveranstaltungen des Institut Poincaré an der Pariser Fakultät der Wissenschaften. So hält Antoine Culioli dort seit 1963 ein Seminar in formaler Linguistik ab. Algirdas Ju­lien Greimas unterrichtet dort ebenso wie Bernard Pottier, Jean Dubois und Maurice Gross. Greimas' Seminar handelt von der Semantik, einem Gebiet, das bislang nicht zum traditionellen Feld der Linguistik gezählt wurde: »Hier haben sich dann nach und nach Nicolas Ruwet, Oswald Ducrot und Marcel Cohen zusammengefunden, etwas später auch Tzvetan Todorov. Eine weitere wichtige Persönlichkeit war Lucien Sebag, der unglückli­cherweise in dem Sommer starb, als wir ein gemeinsames Seminar

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ins Auge gefaßt hatten. Wir hatten vor, eine Verbindung zwi­schen Anthropologie, Semantik und Psychoanalyse herzustellen. Er hat sich das Leben genommen, und ich habe das Lacan nicht verziehen.«2

Greimas' Strukturale Semantik, die 1966, im Jahr aller struktu-ralistischen Erfolge, erscheint, ist im Grunde aus dem Seminar hervorgegangen, das er 1963/64 am Institut Poincaré abgehalten hat. Der Nachdruck, mit dem Greimas für eine allgemeine Se-miotik eintritt, die alle Bedeutungssysteme umgreifen soll, führt zur Öffnung der linguistischen Arbeit für alle anderen Felder. Auch die Tatsache, daß die beiden Lehrmeister der Linguistik in Frankreich, Martinet und Greimas, aneinander vorbeireden, läßt eine andere Ausrichtung deutlich erkennen : »Wenn ich Greimas lese, finde ich mich nicht mehr zurecht. Die Sémiologie driftet ja in alle Richtungen ab.«3 Martinet setzt ganz auf die Beschreibung der Funktionsweise der Sprache (langue) und setzt damit der lin­guistischen Arbeit enge Grenzen. Dem entgegnet Greimas: »Martinet ist ein dicker Bauer, der sich gut auf seinem Acker aus­kennt. Wenn jemand sich mit Musik oder Malerei befassen wollte, schickte ich ihn zu Martinet, der ihm dann sagte: b e ­schäftigen Sie sich mit Phonetik, und kommen Sie in einem Jahr wieder.< Nicht gerade berückende Aussichten!«4

Der Roland Barthes der Elemente der Sémiologie nimmt sehr deutlich Greimas' Perspektive einer allgemeinen Semiotik ein, auch wenn er mit der Stelle an der Sechsten Sektion der EPHE seinem Lehrmeister aus Alexandria in institutioneller Hinsicht zuvorgekommen ist und 1965 mit Hilfe von Lévi-Strauss dafür sorgt, daß Greimas dort eine Berufung erhält. Sobald dieser Stu­diendirektor geworden und die Strukturale Semantik erschienen ist, schafft sich die Semiotik in Frankreich institutionelle Grund­lagen, abermals dank der Unterstützung von Lévi-Strauss, der mit der Erarbeitung eines strukturalistischen Programms vorne liegt und bereits fester etabliert ist.

Im Jahre 1966 formiert sich eine Forschungsgruppe um Grei-

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mas als semio-linguistische Sektion des Laboratoire d'anthro­pologie sociale der EPHE und des Collège de France, also bei Lévi-Strauss und seinem Anthropologenstab. Dort findet man Oswald Ducrot, Gérard Genette, Tzvetan Todorov, Julia Kri-steva, Christian Metz, Jean-Claude Coquet und Yves Gentil­homme versammelt.5 Parallel zur Forschungstätigkeit wurde anspruchsvoller Semiotikunterricht erteilt, der sich auf allge­meine Sprachwissenschaft, Mathematik, Logik, Grammatik und Semantik stützte.

Die strukturale Semantik : der Greimassismus

Angesichts der besonderen Schwierigkeiten, ihren Gegenstand und ihre spezifischen Methoden zu konstituieren, und wegen ihres späten Auftretens am Ende des 19. Jahrhunderts ist die strukturale Semantik »immer die arme Verwandte der Lingui­stik« 6 gewesen. Gerade deshalb verankert Greimas die Semantik auf dem allerformalsten Terrain, dem der Mathematiker und der Logiker, denen »die Linguistik Rechnung tragen muß«7 . Das linguistische Modell, dessen er sich bedient, um seine struktu­rale Semantik zu errichten, findet sich bei Saussures formali­stischstem Erben, Hjelmslev: »Claude Lévi-Strauss hat einmal gesagt, ehe er sich ans Schreiben begebe, lese er jedesmal drei Seiten aus Marxens Achtzehntem Brumaire. Für mich sind das Seiten von Hjelmslev.«8

Im Rückgriff auf den Diskontinuitätsbegriff der Mathematik stellt Greimas zwei verschiedene Analyseebenen einander ent­gegen: auf der einen Seite der Untersuchungsgegenstand, die Sprache (langue), auf der anderen Seite die linguistischen Instru­mente, die eine Metasprache darstellen. Unter einer Hjelmslev-schen Perspektive wird sich nun alles auf der Ebene zweier Metasprachen ansiedeln: einer deskriptiven, in der die Bedeutun­gen in der Sprache {langue) formuliert werden, und einer metho-

Das Goldene Zeitalter des formalen Denkens 311

dischen Metasprache. Immer noch Hjelmslev folgend, schließt dieser Ansatz gegenüber den Saussureschen Distinktionen neue Instrumente, neue Bezeichnungen ein. Greimas differenziert zwischen den Phemen des Signifikanten und den Semen des Si­gnifikats, die er als zwei verschiedenen Seiten zugehörig betrach­tet. Die Einheit Signifikant/Signifikat ist somit in Frage gestellt und in zwei heterogene Ebenen aufgespalten: »Einmal in der Kommunikation realisiert, ist die Verbindung von Signifikat und Signifikant also dazu bestimmt, in dem Augenblick aufgelöst zu werden, in dem man die Analyse der einen oder der anderen Seite der Sprache (langage) nur ein kleines bißchen vorantreiben möchte.«9 Ausgehend von dieser kleinsten distinktiven Einheit, der des Semens, können nun Lexeme, Paralexeme, Syntagmen usw. aufgebaut werden.

Als eine weitere Entlehnung aus der Logik soll der Begriff der Isotopie die Zugehörigkeit ganzer Texte zu homogenen semanti­schen Ebenen zum Vorschein bringen, die als strukturelle Reali­täten der sprachlichen Äußerung gedeutet werden können: »Der Wert dieser Techniken läßt sich [...] für die Humanwissenschaf­ten mit der algebraischen Formalisierung in den Naturwissen­schaften vergleichen.«10 Dieses Modell soll also die Human­wissenschaften in die Lage versetzen, den gleichen Grad an Wissenschaftlichkeit zu erreichen wie die sogenannten harten Wissenschaften. Dazu muß die strukturale Semantik sich von je­der humanistischen Perspektive trennen und sich der Anschau­ungen entledigen, um sie durch Prozeduren der Verifikation zu ersetzen. Dies induziert eine Vereinheitlichung der Intentionali-tät des Sprechers, indem diese in einer Hierarchie kontextueller Verschränkungen aufgelöst wird.

Wie bereits bei Saussure, doch bei Greimas noch verstärkt, ist damit der Ahistorizismus des Verfahrens impliziert, das darauf aus ist, dem Realen eine zeitlose und ordnende strukturelle Reali­tät abzugewinnen, unabhängig vom signifizierten Inhalt und dem kontextuellen Rahmen: »Wir haben das Recht zu der An-

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nähme, daß das achronische Organisationsmodell der Inhalte, das wir so in sehr weit voneinander entfernten Gebieten antref­fen, eine allgemeine Tragweite besitzen muß. Seine Indifferenz gegenüber den investierten Inhalten [...] zwingt uns, es als ein metasprachliches Modell anzusehen.« n Somit will Greimas die ereignishafte Kontingenz der menschlichen Geschichte überwin­den zugunsten einer strukturellen, jeder empirischen Spur entle­digten Geschichte. In diesem semiotischen Projekt, dem am stärksten szientistischen der strukturalistischen Phase, ist die ma­thematische Terminologie allgegenwärtig und fungiert als uner­läßliches Modell: »Algorithmus von Prozeduren«, »Regeln der Äquivalenzenbildung«, »Konversionsregeln« usw.

Dieses logisch-szientifische Verfahren findet sich übrigens in den beiden Projekten wieder, die diesem szientistischen Struktu­ralismus am nächsten stehen, denen von Lévi-Strauss und Lacan. Der im strukturalistischen Paradigma rekurrente Begriff des Ein­schnitts steht hier in der Semiotik an zentraler Stelle, da er die Scheidung zwischen zwei von unterschiedlichen Realitäten her­rührenden Strukturen herstellt, doch »wie läßt sich von einer im­manenten Theorie der Sprache zu einer immanenten Theorie der Bedeutung im allgemeinen übergehen? Wie, mit anderen Wor­ten, aus dem Binarismus der Zeichen den der Bedeutung erschlie­ßen?«12

Antwort auf diese entscheidenden Fragen gibt Claude Bré-mond13, der in Greimas' Lektüre von Wladimir Propp zwei Ana­lysestufen unterscheidet. Den ersten Moment bildet ein indukti­ves Vorgehen, das vom Modell der Morphologie des Märchens ausgeht: »Greimas hat die Sequenz der von Propp vorgeschlage­nen Funktionen überdacht, um daraus — und dieser Gedanke ist verdienstvoll — ein besser strukturiertes System von Grundoppo­sitionen zu entwickeln.« u Greimas lieferte einige nützliche Ana­lyseinstrumente, indem er zum Beispiel Propps Figuren anhand ihrer operationalen Ebene in Akteure und Aktanten unterschied, wodurch er für den Mythos ein Aktantenmodell mit sechs Ter-

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mini aufbauen konnte, das leistungsfähiger ist als das Sieben-Fi­guren-Schema Propps.

Doch Greimas beschränkt sich nicht auf dieses erste Stadium der theoretischen Ausarbeitung; bald geht er zu einer zweiten, deduktiven Abstraktionsetappe über, auf der er a priori die Exi­stenz eines transzendenten Prinzips ansetzt, von dem aus man die verschiedenen Stufen hinabsteigen kann, die zu dessen kon­kreten, textuellen Manifestationen führen. Diese deduktive Vor­gehensweise definiert sich anhand von zwei Zentralbegriffen: dem semiotischen Viereck als elementarer Bedeutungseinheit und der semiotischen Generierung der signifikativen Objekte. Claude Brémond hält dieses Viereck für »völlig unergiebig«, es rühre in Wahrheit aus einer »mystischen Vorstellung, einem tran­szendenten Prinzip«15. Nichts berechtigt in seinen Augen zu ei­ner Konstruktion, die von einer Extrapolation des Proppschen Modells ausgeht und als Modell der Modelle für jeden Text im allgemeinen und sodann für jeden möglichen, geschriebenen oder ungeschriebenen Text dienen soll: »Letztlich läßt man da­mit die Reichhaltigkeit des ganzen Universums auf einem Steck­nadelkopf, auf diesem schlichten Postulat beruhen.«16

Das vom Aristotelischen Viereck — dem Viereck der konträren und der kontradiktorischen Gegensätze — abgeleitete semioti-sche Viereck dient sodann als Matrix, um eine unbegrenzte Zahl narrativer Strukturen zu erklären: »Es ist der krasseste Fall von unwiderlegbarer Theorie im Sinne Poppers.« v Durch die An­wendung des Vierecks wird der Erzählung, sei sie filmisch oder textuell, zuallermeist eine Ausgangsstruktur aufgesetzt, die inso­fern stets treffend erscheint, als man ohne Verifizierungsarbeit an ihre vier Ecken setzen kann, was man will: »Ich fand die Anwen­dung des semiotischen Vierecks immer etwas skandalös. Ich denke, daß man das Recht hat, es zum Schluß der Analyse einzu­setzen, keinesfalls aber zu Beginn.«18 Das semiotische Viereck gestattet es, die Distanzierung der empirischen Welt, des Refe­renten zu radikalisieren zugunsten eines intelligiblen Kerns, der

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sich als unsichtbarer Generalschlüssel zu jeder bedeuteten Reali­tät darstellt. Die Bedeutung wird also unmittelbar aus einer Struktur hergeleitet, die ihr immanent ist.

Paradoxerweise hat dieses semiotische Programm, das sich als das umfassendste darstellte, da es ja die Lehren Propps, Lévi-Strauss' Mythenanalyse und Hjelmslevs Prolegomena miteinan­der verknüpfte, nicht die erhofften Resultate erbracht. Ganz im Gegenteil, der Greimassismus hat sich bald in wachsender selbst­bezüglicher Abstraktheit abgekapselt; er fungierte als Orthodo­xie einer zusehends schwindenden Gemeinde und wandte die ausgeklügeltsten Mittel akribischer Logik auf, um damit zu ziem­lich enttäuschenden, ja oftmals tautologischen Ergebnissen zu kommen: »Ich weiß noch, daß ich Gutachter für die höchst um­fangreiche thèse eines sehr bekannten Greimas-Schülers war, die von der Ehe handelte. Er kommt zu dem Schluß, daß die Ehe eine binäre Struktur sei. Auf eine gewisse Weise ist das richtig, aber sind für eine solche Schlußfolgerung unbedingt tausend Seiten Analyse nötig?«19 War dem Greimassismus auch keine große Zu­kunft beschieden, so ist doch Greimas selbst im strukturalisti-schen Enthusiasmus der sechziger Jahre einer der größten Hoff­nungsträger gewesen: »Die Strukturale Semantikwar ein geniales Buch, randvoll von Ideen, ein Hauptwerk der Epoche«, meint Jean-Claude Coquet20, der Greimas an der Universität von Poi­tiers kennenlernte, wo er ein Jahr lang mit ihm unterrichtete, ehe dieser Poitiers verließ.

Als Greimas aus Poitiers wegging, hinterließ er einen Schüler, der eine diplôme d'études supérieures vorbereitete, zu deren Be­treuung er sich an Jean-Claude Coquet wandte : »François Ra­stier war sehr eng mit Greimas verbunden, der ihn als seinen gei­stigen Zögling ansah. Rastier hat mir eröffnet, was strukturale Semantik hieß. So habe ich gelernt, Greimas zu verstehen, und ich war fasziniert von seiner intellektuellen Gewandtheit und Überzeugungskraft.«21 Die seinerzeit am weitesten verbreitete Linguistik war diejenige, die es auf das Subjekt und auf die Ge-

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schichte abgesehen hatte. Vor diesem Hintergrund nahm Grei-mas sich dementsprechend als der Radikalste und daher Wissen­schaftlichste aus, ein Erfolg, der die andere Ausrichtung der strukturalen Linguistik, die von Emile Benveniste vertretene, in den Schatten gestellt hat. Das von Greimas übernommene Hjelmslevsche Modell fußt nämlich auf der Erstellung eines so­genannten »normierten«, »objektivierten« Textes. Damit diese Bereinigung eines szientifischen Objekts glückt, schaltet Grei­mas alle dialogischen Manifestationen, alle Formen, die sich auf ein Subjekt (das Ich, das Du) beziehen, aus. In diesem Stadium erzielt er somit normgerechte Aussagen in der dritten Person. Des weiteren normiert er die Texte dadurch, daß er alle Zeitbe­züge zugunsten eines durchgehenden Präsens beseitigt. Sprachli­che Merkmale, die zur Unterscheidung von Vorher und Nachher dienen, geraten dabei zum vagen Hinweis auf eine ferne Vergan­genheit: »Daher Greimas' Interesse an Märchen, an mythischen Erzählungen, über die es sich leichter arbeiten ließ.«22 Doch diese vierfache Negation, die des Ich (des Subjekts), des intersubjekti­ven Dialogs, des Jetzt in der Zeit und des Hier im Raum, scheitert bald daran, daß die zur Erklärung anstehenden narrativen Struk­turen zugunsten einer Ontologisierung der Struktur verküm­mern müssen.

Wird die Semiotik fähig sein, das vereinheitlichende Pro­gramm der Wissenschaften vom Menschen zu verwirklichen ? Ihr wissenschaftlicher Imperialismus steht außer Zweifel, und so wird die erwähnte Zusammenarbeit an einem Forschungsinstitut mit einem weiteren Unternehmen globalen Anspruchs — der strukturalen Anthropologie — nur von kurzer Dauer sein.

Barthes als Semiotiker

Zwischen 1960 und 1964 hat Greimas in Roland Barthes einen Schüler, der sich bereits erhebliches Ansehen erworben hat. Da-

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mais nährt Barthes sich von Greimas' Theorie, um die Berufung zum Schriftsteller zugunsten eines strengen und wissenschaftli­chen Diskurses zu unterdrücken. Von intuitivem Wesen, ist Barthes darauf angewiesen, seine Empfindungen zu rationalisie­ren, und in Greimas findet er denjenigen, der in der Rationalisie­rung am weitesten geht. »Man kann nichts von Barthes verstehen, wenn man nicht begreift, daß, selbst wenn er in der höchsten Ab­straktion zu denken scheint, dies in Wahrheit eine affektive Aus­wahl bemäntelt.«23 Das binäre Modell Saussures paßt ihm wie angegossen, denn sein Denken ist immer dichotomisch. Es setzt nämlich einen aufgewerteten gegen einen abgewerteten Pol, das Gute gegen das Schlechte, was ihm gefällt, gegen das, was ihm mißfällt, den Geschmack gegen die Abscheu vor dem Abge­schmackten, den Schriftsteller gegen den Schreiber. Wenn er auch später dem Ausdruck seiner Affekte freien Lauf lassen wird, so bleiben diese Anfang der sechziger Jahre, als er die Prinzipien ei­nes semiologischen Programms, den Thesen Greimas' verwandt, noch im verborgenen.

Die theorielastige, szientistische Phase des damaligen Barthes läßt sich auch mit der Sorge um akademische Würden erklären. Wenn ihm auch eine glanzvolle Laufbahn geglückt ist, sind ihm tra­ditionelle Universitätsdiplome verwehrt gewesen. Der Wunsch nach Anerkennung begründet seine Arbeitsethik, und hinter dem Bild des Dilettanten, als der er bei den Spezialisten gilt, verbirgt sich strenge arbeitsame Askese: »Er war von Grund auf das Gegenteil eines Bohémiens, mit einer typisch kleinbürgerlichen Lebensführung und dem unbedingten Wunsch, nicht von un­vermuteten Geschehnissen erschüttert zu werden.«24 Anfang der sechziger Jahre arbeitet Barthes an dem Werk, das er gerne zu sei­ner thèse d'État (Habilitationsschrift) gemacht hätte, Die Sprache der Mode. Auf der Suche nach einem Betreuer begibt er sich in Greimas' Begleitung zu André Martinet: »Ich hätte beinahe Die Sprache der Mode als thèse betreut. Ich habe mein Einverständnis gegeben, ihm aber gleichzeitig gesagt, daß dies keine Linguistik

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sei.«25 Angesichts solch geringer Begeisterung sucht Barthes Lévi-Strauss auf und bittet ihn, die Betreuung seiner thèse zu übernehmen. Wieder begleitet Greimas ihn und erwartet in ei­nem Bistro nebenan wie ein banger Vater das Ergebnis der Unter­redung: »Barthes kam nach einer halben Stunde wieder und sagte, daß Lévi-Strauss abgelehnt hätte.«26 Seine Mißbilligung betraf die allzu beschränkte Spannweite des Projekts, da sich Barthes' Arbeit lediglich auf das geschriebene System der Mode und nicht auf die Mode im allgemeinen erstreckte. Barthes dagegen vertrat die An­sicht, daß auf diesem Gebiet ausschließlich das Geschriebene signifikant sei. Diese Meinungsverschiedenheit setzte Barthes' Hoffnungen auf akademische Anerkennung ein Ende. Doch das Buch, der Ertrag einer langwierigen Arbeit von 1957 bis 1963, kam 1967 bei Seuil heraus. Barthes lag ganz besonders viel an ihm; es hatte für ihn den Wert einer thèse, auch wenn er den Titel nicht er­halten hatte: »Wir haben seinen Text drei Mal zusammen durchge­sehen und jedesmal überarbeitet«27, bezeugt sein geistiger Vater.

Es handelt sich also sowohl in theoretischer wie affektiver Hinsicht um einen Höhepunkt von Barthes' Beziehungen zu Greimas. Das Buch ist von ihm geprägt und präsentiert sich von vornherein als eine methodologische Arbeit, die sich — und des­halb der Zwist mit Lévi-Strauss — nicht auf die getragene Klei­dung, sondern nur auf die versprachlichte Kleidung (vêtement parlé) anwenden läßt. Im wesentlichen bearbeitet Barthes das Sy­stem der Mode in einer Hjelmslevschen Perspektive als Meta­sprache. Der Übergang von der realen über die verbildlichte zur »geschriebenen« Kleidung vollzieht sich mittels shifters (Ver-schieber), ein Begriff, den Barthes von Jakobson übernimmt, al­lerdings in einem speziellen Sinn, da er hier auf keine besondere Mitteilung verweist. Die shifters »dienen [dazu], eine Struktur in eine andere zu transponieren — also, wenn man so will, von einem Code zum anderen überzugehen«28. So definiert Barthes drei Operatoren, die dies möglich machen : Der wichtigste shifter ist der »Schnittmusterbogen«, der zweite das »Nähprogramm«, und

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die dritte Übersetzung ist jene, »die es erlaubt, von der ikoni­schen zur gesprochenen Struktur, von der Darstellung der Klei­dung zu ihrer Beschreibung überzugehen«29.

Die formalistischen Vorgaben einer Normierung der funktio­nellen Sprachgebräuche haben Barthes dazu veranlaßt, der »ge­schriebenen« Kleidung den Vorrang zu geben, weil nur sie eine immanente Untersuchung zuläßt, die keine Rücksicht auf parasi­täre praktische Funktionen zu nehmen braucht: »Aus diesen Gründen haben wir hier die gesprochene Struktur für die Unter­suchung gewählt.«30 Anschließend definiert er seinen Corpus, der in Modejournalen des Jahrgangs 1958/59 besteht, wobei er die Zeitschriften Ε lie und Le Jardin des modes vollständig auswer­tet. Barthes schreibt seine Studie in eine strikte Saussuresche Or­thodoxie ein, indem er die Unterscheidung langue/parole wieder­gibt durch die Opposition zwischen der abgebildeten Kleidung, die er der parole zuordnet und die daher für den wissenschaftli­chen Blick ungeeignet ist, und der »geschriebenen« Kleidung, die der langue zugehört und somit ein mögliches Objekt der Wissen­schaft darstellt.

Barthes' Analyse fußt auf der von Hjelmslev aufgestellten Op­position: »Das Problem, das sich mit der Überlagerung zweier semantischer Systeme in einer einzigen Aussage stellt, ist haupt­sächlich von Hjelmslev behandelt worden.«31 Er übernimmt also die Trennung zwischen Ausdrucksebene (A) und Inhaltsebene (I), die durch eine Relation (R) verbunden werden. Daraus ergibt sich an zwei Gelenkstellen eine Zerlegung des Systems, entweder in Denotations- und Konnotationsebene oder in die Ebene der Objektsprache und die der Metasprache. Die Mode wird einem Formalisierungsverfahren, also einer Aushöhlung der Substanz unterzogen, und über diese Bewegung erfaßt Barthes ihr Wesen. Sie erscheint als Signifikantensystem, als eine vom Signifikat ab­geschnittene klassifikatorische Tätigkeit. »Der Mode [gelingt] gewissermaßen eine unmittelbare Heiligung des Zeichens: das Signifikat ist vom Signifikanten getrennt [...].«32 Sie funktioniert

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gemäß einer doppelten Setzung : Einerseits läßt sie sich, da sie ein »naturalistisches« System ist, als logisches System darstellen: Die populäre Presse praktiziert eine naturalisierte Mode, sie über­nimmt Bruchstücke der Welt und verwandelt sie in Träume von der Stange. Auf der anderen Seite praktiziert eine »vornehmere« Presse eher die reine, ideologischer Substrate entledigte Mode. Wenn Barthes am Ende dieser langen Studie einsichtig macht, daß das volle Signifikat den Signifikanten der Entfremdung dar­stellt, findet er zu Schlüssen soziologischer Ordnung zurück, ohne in die Fallstricke des Soziologismus zu geraten. Sein »Sy­stem der Mode« ist der Ertrag einer taxonomischen Sémiologie. Das Neue daran ist das Aufbieten dieser großen klassifikatori-schen Leistung, um das Subjekt in der Sprache aufzulösen.

Ironische Aufnahme findet das Werk bei Jean-François Revel, der seine These mit folgendem Syllogismus veranschaulicht: Die Ratte knabbert am Käse ; Ratte ist ein Silbengebilde ; also knab­bert das Silbengebilde am Käse. »Gewiß, der strukturalistischen Ratte ist nichts unmöglich. Aber kann die >geschriebene< Ratte noch Käse fressen? Das mögen uns die Soziologen sagen.«33

Aber die Resonanz ist überwiegend sehr freundlich. Raymond Bellour führt ein Gespräch mit Barthes in den Lettres françaises^', und Julia Kristeva sieht einen neuen Schritt getan zur Entmystifi­zierung der Sémiologie von innen heraus, durch sich selbst: »Barthes' Arbeit unterläuft die Strömung, die die moderne Wis­senschaft beherrscht: das Zeichendenken.«35

Kristeva begrüßt an Barthes' Buch ein radikales Ins-Gericht-Gehen mit der Metaphysik der Tiefe und dem zwischen Signifi­kant und Signifikat gesetzten Einschnitt zugunsten der Bezie­hungen der Signifikanten untereinander — in Übereinstimmung übrigens mit Lacans Saussure-Lesart und seiner Signifikanten­kette. Barthes' Sprache der Modellen eine ganze Generation glau­ben, daß dasselbe Vorgehen auch auf andere Felder angewandt werden könnte; denn wenn Barthes aus der »geschriebenen« bzw. beschriebenen Mode Vesteme hatte isolieren können,

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warum dann nicht Gusteme und sonstige distinktive Einheiten auf allen Ebenen der sozialen Praxis ausfindig machen?

Obwohl also Barthes 1967 sofort ein spektakuläres Echo her­vorrief und man sich eifrig über sein Werk hermachte, nimmt er selbst bald von seinen eigenen Aussagen und Ambitionen Ab­stand. Während er Greimas das Terrain der Semiotik überläßt, findet Barthes bald zu seiner Tätigkeit als Schriftsteller zurück und weist diese als Perspektive eines Strukturalismus auf, der kei­nen Sinn hätte, wenn es seinem Unterfangen nicht gelänge, die wissenschaftliche Sprache von innen zu unterwandern : »Die lo­gische Fortsetzung des Strukturalismus kann nur sein, der Litera­tur nicht mehr als Analysegegenstand, sondern als Schreibtätig­keit beizukommen. [...] Daher bleibt dem Strukturalisten nichts anderes übrig, als sich in einen Schriftsteller zu verwandeln.«36

Mit dem literarischen Horizont, den Barthes 1967 aus seinem methodischen Anspruch auferstehen läßt, wird auch eine andere Wiedergeburt möglich, die zum Prinzip selbst der Barthesschen Schreibweise wird — das Lustprinzip.

In einem Gespräch mit Georges Charbonnier erwidert Barthes auf die Frage, ob angesichts der Schwärmerei der Öffentlichkeit für das formale Denken das Buch des Jahres ein mathematisches Werk sein werde und von daher die Human­wissenschaften sich bald selbst aufzehrten, also nur eine vor­übergehende Erscheinung wären: »Die letzte zu durchlaufende Entwicklungsstufe besteht darin, daß sie [die Humanwissen­schaften] ihre eigene Sprache in Frage stellen und ihrerseits ein Schreiben werden.«37 Wenngleich Barthes den befreienden Aspekt der verallgemeinerten Formalisierung nicht bestreitet, die triumphierende Verbannung jegliches Referenten zur Bedeu­tungslosigkeit, die Verzahnung von Schreibweise und Formali­sierung in der Nachfolge Maliarmes nicht leugnet, erkennt er doch an, daß »die literarische Schreibweise eine Art referentieller Illusion bewahrt, die ihr Würze gibt«38. Diese Würze, das Schrei­ben als Figur des Begehrens des anderen, die Erotik der Sprache,

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die nicht vom Realen, sondern von der Illusion des Referenten ausgeht, diese ganze Ästhetik der Barthesschen Schreibweise be­reitet schon seit 1967 eine radikale Wende vor, die nach 1968 zur Entfaltung kommen wird.

Die Ideologie der Strenge

Hjelmslev hat das semiotische Programm in Frankreich inspi­riert, aber auch andere Einflüsse sind in diesem Goldenen Zeit­alter des formalen Denkens zusammengetroffen. Spektakulären Erfolg hat etwa eine eigene Epistemologie der Mathematik, der Bourbakismus. Freilich stellt sich die mathematische Struktur bei Bourbaki in antididaktischer Gestalt dar, als eine Art Verstellung des Ursprungs — im historischen und empirischen Sinne — des mathematischen Wissens: »Die Logik der Darlegung und der Kontext der Beweisführung gewinnen erdrückend Oberhand über den Kontext der Erkenntnis und den des tastenden Versu-chens oder der Forschung. Die gesamte empirische, tastende Di­mension der Mathematik wird systematisch ausgeschaltet zu­gunsten einer rein formalistischen Darstellung.«39 Dieser Ansatz hat indes gerade auf didaktischem Gebiet Anfang der sechziger Jahre eine große Reform des Mathematikunterrichts zur Folge gehabt, die Einführung der sogenannten modernen Mathematik — eine verheerende Reform, der ihr Urheber selbst abschwor.

Die bourbakistische Ideologie hat sicherlich stark zur Ausprä­gung der strukturalistischen Mentalität und Tätigkeit beigetra­gen, dem, was Pierre Rémond als Ideologie der Strenge bezeich­net hat. Der Bourbakismus ließ das mathematische Gebäude als einen Prachtbau erscheinen, dessen Glanz so manchen ab­schreckte: »Die Verknüpfung, die Verkettung, die Fügung der Sätze ist darin als eine Art subjektlose, objektive Notwendigkeit gegeben, deren innere Stimmigkeit es zu analysieren gilt, ohne deshalb die eigentlichen historischen Prozesse des mathemati-

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sehen Erkennens in den Blick zu nehmen.«40 Die Faszination für dieses Modell ist eine typisch französische und entspricht dem Rang, den der für die Pariser Semiotikschule bedeutendste Lin­guist, Louis Hjelmslev, der Mathematik zuerkannte. So traf sich die Semiotik mit ihrer Erforschung der zwischen Sendestationen ausgetauschten Codes und Nachrichten und ihrer Bemühung um immer größere Formalisierung der Kommunikationsphänomene mit dem Bourbakismus.

Das andere Vorbild, aus dem der Strukturalismus seine Be­griffe und Methoden schöpft, ist das kybernetische Modell, das im Zeitalter der Massenkommunikation zunehmend zum Tragen kommt. Es liefert den Rahmen für besonders weitgespannte For­schungen und bildet einen interdisziplinären Kreuzungspunkt, an dem Begriffe aus der Algebra, der Logik sowie der Informa­tions- und Spieltheorie zusammenkommen.

Daher bietet es sich auch als mögliche Brücke zwischen den ma­thematischen Wissenschaften und den Humanwissenschaften an, als die Stelle, an der das gemeinsame Ideal der Intelligibilität, das sich im semiotischen Programm verkörpert, verwirklicht werden kann. Es besteht also eine osmotische Beziehung zwischen einem Formalisierungsdrang, der in der mathematischen Sprache die Aus­drucksform einer Kappung des Referenten findet, und der aus dem Osten kommenden Entwicklung formalistischer Untersuchungen zu Malerei, Musik, Literatur und Architektur. So erklärt sich auch die spektakuläre Verbreitung hochformalisierter Werke: »Es war eine Zeit, in der sich Lacan und Chomsky genauso gut verkauften wie San Antonio. Ich wohnte in Puteaux und erinnere mich noch, daß ich meine Bücher im Laden an der Pont de Neuilly kaufen ging. Dort habe ich mir Les Idéalités mathématiques von Desanti und die Schriften y on Lacan geholt.«41

Diese formalen Modellbildungen erheben den Anspruch, jede Grenze zwischen mathematisch-logischer Formalisierung und den Wissenschaften vom Menschen zu tilgen. Jean Piaget ist ein besonders markanter Vertreter der Bestrebung, die Psychologie

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in eine bruchlos auf die Mathematik zurückgehende Tradition einzuschreiben. Er erstellt zu diesem Zweck ein Kreisschema des szientifischen Wissens, das auf eine einheitliche Interdependenz-konzeption der verschiedenen Wissenschaften hinausläuft, in der Mathematik, Physik, Biologie und Psychologie wie in einem Zir­kel verbunden sind.42 Die Semiotiker waren regelrecht fasziniert von logischen Formalisierungen, die sie auf die Sprache anwand­ten. Die Anleihe beim Logizismus, der Paradigmentransfer auf das Feld der Linguistik war um so verlockender, als auch die Lo­giker selbst sich mit sprachlichen Problemen befaßt hatten. Die Reflexion über sprachliche Operationen etablierte sich, und die Logiker waren insofern im Vorteil, als sie eine fast vollkommene Formalisierung erreicht hatten: »Die Verlockung war also groß, zu versuchen, diese logischen Formalisierungen für die Sprache zu adaptieren, aber ich halte das für eine Art Selbstentmündi-gung.«43

Ohne die Notwendigkeit zur Formalisierung und Modellbil­dung in Abrede zu stellen, glaubt Oswald Ducrot, daß dieses Ziel aus einem linguistikeigenen Konzept heraus verwirklicht werden muß, das sich nicht darauf beschränken darf, aus der Sprache Ur­teile in Termini von »wahr« und »falsch« zu extrahieren. Auch wenn es in der Sprache durchaus eine Tendenz gibt, wahre Sätze zu bilden und diese zu einem Vernunftschluß zu verknüpfen, ist doch auch anderen Dimensionen Rechnung zu tragen, die von den Logikern ausgeblendet werden: »Mich hat diesbezüglich eine Bemerkung von Antoine Culioli beeinflußt, der einmal ge­sagt hat: >Die Wahrheit? Kenn' ich nicht.<«44

Die logische Wende Lacans

Mitte der sechziger Jahre, genauer gesagt im Jahre 1965, löst auch auf dem Feld der Psychoanalyse der Logizismus das Saussuresche linguistische Modell ab. Lacans Text »Die Wissenschaft und die

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Wahrheit« illustriert die Kehre, die er unter dem Einfluß der École normale supérieure und Jacques-Alain Millers vollzieht. Miller versucht, von Frege ausgehend, auf den Begriff der struk-turalen Kausalität zurückzukommen, den Althusser in seiner Marx-Lektüre in den Vordergrund stellt, und damit Lacans Be­griff der suture (Naht) eine Anwendungsgrundlage zu geben. Gottlob Frege hat mit seinem Werk Die Grundlagen der Arith­metik (1884) die moderne symbolische Logik begründet und da­bei die empiristische Methode einer Kritik unterzogen. Die Sym­bolsprache muß von jeglicher Bezugnahme auf ein bewußtes Subjekt Abstand nehmen: »Logisch ist, was außerhalb jeder An­schauung gedacht oder konstruiert ist; logisch ist, was so allge­mein ist, daß es allen Sprachen angehört, und man sich keine Sprache vorstellen könnte, die dessen ledig wäre.«45 Es liegt auf der Hand, worin Lacans Interesse am Werk eines Logikers liegen mag, der das psychologische Subjekt ausschließt.

Wie Elisabeth Roudinesco ausführt, leitet Jacques-Alain Mil­ler, wenn er die Fregesche Konzeption der Null und ihrer Sukzes­soren [G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, § 77 ff., A.d.Ü.] mit der Signifikantentheorie bei Lacan verknüpft, eine Umdeu-tung des Lacanismus ein, die zwei Konsequenzen hat, eine politi­sche und eine theoretische : »Auf theoretischer Ebene besteht sie darin, den Lacanismus zum Modell par excellence eines Freudia­nismus zu machen, der per se den Idealen der Psychologie ent­kommen kann. [...] Auf politischer Ebene erlaubt es diese Um-deutung, qualifizierte Gegner als Abweichler gegenüber einer Doktrin zu bezeichnen, die für die wissenschaftliche Normierung in ihrer allmächtigen Einzigkeit steht.«46 Nachdem er sich den Aufschwung der Humanwissenschaften zunutze gemacht hat, um mit Hilfe der Saussureschen Linguistik das Subjekt zu dezentrie­ren, radikalisiert Lacan abermals seine Freud-Lektüre, um einer Rolle als Baumeister der Humanwissenschaften zu entgehen und der damit verbundenen Gefahr auszuweichen, einen neuen Hu­manismus des vollen Subjekts zu begründen.

Das Goldene Zeitalter des formalen Denkens 325

Die Logik von Kurt Gödel mit ihrem Theorem der Unvoll-ständigkeit [Beweis der Unvollständigkeit einer widerspruchs­freien axiomatischen Zahlentheorie (1931): Eine mathematische Theorie, die die Arithmetik umfaßt und die widerspruchsfrei ist, kann nicht alle in ihr wahren Aussagen beweisen. A.d.Ü.] erlaubt ihm, die Wahrheit als einen Begriff zu fassen, der sich der integra­len Formalisierung entzieht : »Er folgert, daß die Erfahrung des cartesischen Zweifels dem Sein des Subjekts eine Trennung zwi­schen dem Wissen und der Wahrheit auferlegt.«47 Diese logische Wende kündigt den Übergang vom Ich-Thema {moi-thème) zum mathema an und bildet den Ausgangspunkt für Lacans vielfältige topologische Kunstgriffe. Manche halten diese Formalisierung für weniger auf die Psychoanalyse in ihrer Praxis gemünzt als vielmehr auf ihre Vermittlung. Es handele sich vor allem um ein didaktisches Bemühen um methodisch strenge Ausarbeitungen: »Es ist deutlich, daß Lacan diese Objekte nicht als mathematische Objekte benutzt. Ihr Status ist ein rein metaphorischer.«48 An­dere halten die topologische Wende für sehr viel wesentlicher; sie erlaube es Lacan, die Struktur des Subjekts wieder in den Griff zu bekommen: »Für ihn ist die Struktur des Subjekts topologisch, er hat es so gesagt.«49

Diese Struktur, die man jahrhundertelang durch die Figur der Kugel, durch die Vollständigkeit darzustellen vermeinte, fällt in Wirklichkeit ins Asphärische und Unvollständige. Aus dieser Subjektauffassung erwachsen die vielfältigen topologi-schen Kunstgriffe, die Kugel zu wenden und einzukerben, um die wahre Struktur des Subjekts als eine in den topologischen Kno­ten fundamental gespaltene zu erfassen.

Über ihre Differenzen hinaus stehen Claude Lévi-Strauss, Al-girdas Julien Greimas und Jacques Lacan Mitte der sechziger Jahre für den am ausgeprägtesten szientistischen Strukturalis­mus, der sich am radikalsten auf die Suche nach einer verborge­nen Tiefenstruktur begibt, seien es nun die mentalen Bereiche als Struktur der Strukturen bei Lévi-Strauss, das semiotische Viereck

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bei Greimas oder die asphärische Struktur des Subjekts bei La­can. Sie sind die drei Galionsfiguren des im Zenit stehenden for­malen Denkens. Es ist ihr Ziel, die Humanwissenschaften mit gleichem Recht in der Republik der Wissenschaften ansässig zu machen wie die Naturwissenschaften.

Die großen Zweikämpfe

Barthes/Picard

Der homerische Kampf, der die Spieleinsätze der Epoche inso­fern am besten verdeutlicht, als dabei neue Kritik und alte Sor­bonne aufeinandertrafen, ist sicher das Wortgefecht, das Roland Barthes und Raymond Picard sich über Racine, den Klassiker der Klassiker geliefert haben, der dabei zum Objekt des Streits, ja des Skandals geworden ist.

Würde die alte Sorbonne sich ausgerechnet von denjenigen entmachten lassen, die keinerlei Wertunterscheidung zwischen dem Zeitungsgeschreibsel und den Juwelen der Nationalliteratur trafen? Die Provokation war zu augenfällig, als daß eine Reaktion hätte ausbleiben können; die französische Philologie war belei­digt. Die Auseinandersetzung wird zu einem besonders markan­ten Zeitpunkt, Mitte der sechziger Jahre, und auf einem beson­ders beliebten Gebiet ausgetragen, dem der Tragödie. Dabei begegnen sich zwei Widersacher ganz verschiedener Couleur: Raymond Picard gehört der altehrwürdigen Sorbonne an, woge­gen Roland Barthes aus einer modernen, aber marginalen Institu­tion heraus spricht. Damit gewinnt diese Auseinandersetzung die Qualität der großen Racineschen Dramen. Dieser Kampf wird Epoche machen, und die einschlägigen Lager werden sich auf ihn berufen, um ihre Schützengräben zu ziehen; er wird zum Aus­gangspunkt der gespaltenen Identität einer Literaturgeschichte, die fortan in zwei einander fremde Sprachen zerfällt.

Bereits 1960 hat Roland Barthes im Club français du livre UHomme racinien und in den Annales1 einen Aufsatz über Ra-

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eine veröffentlicht. Erfolg verbuchen beide Studien — und eine dritte zum selben Thema — jedoch 1963, als sie unter dem Titel Sur Racine im Verlag Le Seuil erscheinen. Daß die neue Kritik sich mit dem Nouveau roman befaßt, mochte vom Standpunkt der Sorbonne noch angehen, daß sie sich aber am Dichter der Klas­sik, der Tradition vergreift, um an ihm die fragwürdigen Kriterien ihres Analyserasters auszuprobieren, ein Gemisch linguistischer Methoden, psychoanalytischer Blickrichtung und anthropologi­scher Ambition, das grenzt an einen Skandal. Übrigens greift Barthes die Tradition frontal und direkt an: »Wenn man Litera­turgeschichte betreiben will, muß man vom Individuum Racine absehen.«2

Daß Barthes' Artikel in den Annales publiziert wird, ist auf­schlußreich für die Tradition, in die er sein Herangehen an die Li­teraturhistorie einschreibt, denn er beruft sich gegen die Vertreter des literarischen Positivismus auf Lucien Febvre. Er macht sich Febvres Kampf gegen die historisierende Geschichtsschreibung, gegen die Vorrangigkeit des Ereignisses zu eigen, um für die not­wendige Trennung zwischen der Geschichte der literarischen Funktion und der Geschichte der Literaten einzutreten. Zu die­sem Zweck greift Barthes auch auf Febvres Problemstellung zu­rück: die Lage des Schriftstellers in seinem Milieu, im Zusam­menhang mit seinem Publikum zu untersuchen und, allgemeiner, die Tatsachen kollektiver Mentalität, also das, was Febvre die mentale Ausstattung einer Epoche genannt hat: »Anders gesagt: Literaturgeschichte ist nur möglich, wenn sie soziologisch wird, wenn sie sich für die Tätigkeiten und Institutionen, nicht aber für die Individuen interessiert.«3

Barthes teilt die Idee der Annales, daß der Kritiker aktiven An­teil nimmt und sich deshalb nicht damit begnügen kann, Doku­mente zu sammeln und Quellenmaterial zusammenzutragen, ohne sie zu befragen und ihnen neue Hypothesen zuzumuten. Ebenso wie die Geschichte für Lucien Febvre nicht einfach Gege­benheit war, weshalb er für eine Problemgeschichte eintrat, muß

Die großen Zweikämpfe 329

für Barth.es der Literaturkritiker eine paradoxe Einstellung ge­winnen, das Werk den eigenen zeitgenössischen Vernehmungen unterziehen und somit seinerseits an der unbegrenzten Tragweite des literarischen Werkes teilnehmen. Barthes unterzieht also Ra­cine einer zugleich analytischen und Strukturalistischen Lektüre. Der Autor ist nun kein Kultobjekt mehr, sondera ein Terrain zur Erforschung der Geltung neuer methodischer Ansätze.

Barthes sucht nach der Struktur des Racineschen Menschen, und diese enthüllt sich vornehmlich über eine minutiöse Dialek­tik des Raums, über eine Logik der Plätze. So setzt er den Innen­raum, den des Zimmers, der mythischen Höhle, die vom Vorzim­mer — dem szenischen Ort der Kommunikation — getrennt ist durch die Tür als Transgressionsobjekt, gegen das Außen, das drei Räume faßt: den des Todes, den der Flucht und den des Ereignisses : »Zusammengenommen ist die Racinesche Topogra­phie konvergent. Alles läuft auf den tragischen Ort zu, aber alles verfängt sich darin.« 4

Von dieser Topo-Logik ausgehend, sieht Barthes die tragische Einheit sich nicht so sehr in der individuellen Einmaligkeit der Racineschen Personen verwirklichen als vielmehr in der Funk­tion, die den Helden als Eingeschlossenen definiert: »Derjenige, der nicht hinaus kann, ohne zu sterben: seine Grenze ist sein Vorrecht, die Gefangenschaft seine Auszeichnung.«5 Diese funk­tionelle, binäre Opposition, die inneren und äußeren Raum ab­grenzt, erlaubt auch die Unterscheidung zweier Formen des Eros : die Liebe, die in der Kindheit wurzelt, die schwesterliche Liebe, deren Erscheinungsformen friedvoll sind, und Eros als Er­eignis, brutal, plötzlich, mit unheilvollen, verheerenden Folgen, Quell der Entfremdung, die Barthes für Racines wahres Thema hält : »Die Racinesche Verworrenheit ist wesentlich ein Zeichen, das heißt ein Signal und eine Androhung.«6

In diesem mythischen Kampf von Schatten und Licht, der die Racineschen Helden antreibt, entfaltet sich eine dialektisch ge­wendete Logik der Plätze in Termini der Kontiguität und der

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Hierarchie. Der Racinesche Held entsteht durch seine Fähigkeit zum Bruch; er wird geboren aus seiner Abtrünnigkeit und er­scheint sodann als Geschöpf Gottes, Produkt des unsühnbaren Kampfes zwischen dem Vater und seinem Sohn. Stimmig zeigt Barthes, daß Racine das Ereignis, das außerhalb des Bühnenge­schehens stattfindet, durch den Logos ersetzt, durch die verbale Kommunikation als Quelle der Zerrüttung. Sie selbst ist Ort der Tragik, die in der Sprache sich entfaltet und verzehrt. Barthes fin­det also bei Racine die dem Strukturalismus eigene Verselbständi­gung der Sprache wieder: »Die grundlegende Realität der Tragö­die ist also dieses Sprechhandeln {parole-action). Seine Funktion ist evident: Sie besteht darin, die Machtbeziehung zu vermit­teln.« 7

Diese Analyse der Racineschen Tragödie, die Jakobsons Bina­rismus ebenso in Anschlag bringt wie die Freudschen Kategorien oder den strukturalen synchronischen Ansatz, fordert den ge­lehrtesten Racinianer der Sorbonne, den Verfasser von La Car­rière de Jean Racine und Herausgeber von Racines Werken in der »Bibliothèque de la Pléiade«, großen Werkspezialisten Raymond Picard zu einer besonders heftigen Reaktion heraus. 1965 publi­ziert er ein Buch mit dem vielsagenden Titel Nouvelle Critique ou nouvelle imposture (Neue Kritik oder neuer Betrug). Picards Re­plik richtet sich vor allem gegen das Überwiegen der psychoana­lytischen Entschlüsselung, deren sich Barthes bedient, um das Racinesche Theater verständlich zu machen. Picard ist bemüht, den Helden, deren verhinderte heimliche sexuelle Leidenschaften Barthes enthüllt hat, wieder einen züchtigen Schleier überzuwer­fen : »Man muß Racine wieder lesen, um sich davon zu überzeu­gen, daß seine Personen andere sind als die von D. H. Lawrence. [...] Barthes hat beschlossen, eine hemmungslose Sexualität auf­zudecken.«8 Picard schmäht den Systematismus von Barthes' Vorgehensweise und denunziert sein Einbekenntnis, über Racine nicht das Wahre sagen zu können, kurz, er spricht ihm das Recht ab, sich überhaupt über einen Autor zu äußern, dessen ausgewie-

Die großen Zweikämpfe 331

sener Kenner er nicht ist. Für Picard ist Barthes »das Werkzeug einer Kritik aus dem Bauch«9, die sich mit pseudowissenschaftli­chem Jargon schmückt, um Albernheiten und Absurditäten von sich zu geben, und das Ganze auch noch im Namen des biologi­schen, psychoanalytischen, philosophischen usw. Wissens. Die­ses Verwirrspiel der Kritik bezichtigt Picard der Tendenz zur Verallgemeinerung, der Neigung, den konkreten Einzelfall für eine zum Universalen berufene Kategorie zu halten. In dieser mo­dernistischen Undeutlichkeit, für Raymond Picard eine Mi­schung aus Impressionismus und Dogmatismus, »ließe sich alles und jedes sagen«10.

Es handelt sich also um eine regelrechte Gegenattacke Picards, den Barthes' Racine-Studie gar nicht persönlich im Visier hatte, der sich jedoch zum Sprachrohr einer Sorbonne macht, die sich von solchen strukturalistischen Umtrieben behelligt fühlt und den zum Idol gewordenen Barthes gerne an den Pranger gestellt sähe, bevor man zur Einstampfung seiner Schriften schreitet. Barthes ist übrigens überrascht von der Heftigkeit der Polemik, die da gegen ihn angestrengt wird : »Ich war auf Picards Angriff nicht gefaßt. Ich hatte die universitäre Kritik nie angegriffen, ich hatte sie bloß gekennzeichnet, benannt.« n Er schreibt diese At­tacke dem Umstand zu, daß für die Literaturexamina einiges auf dem Spiel steht. In dieser Hinsicht ist die neue Kritik gefährlich, weil sie die Absolutheit, die Unantastbarkeit der Auswahlkrite­rien eines kanonisierten Wissens in Frage stellt, das sich in der Gewißheit seiner Werte und Methoden etabliert hat. In der Ver­teidigung eines kontrollierbaren, an der Elle einer unverrückba­ren Wahrheit meßbaren Wissens sieht Barthes den Grund für die Angriffe.

Selbstverständlich ergreift die gesamte Strukturalistengenera-tion gegen die Sorbonne Partei : »Menschlich stehen wir noch im­mer auf Barthes' Seite. Ich würde von heute aus nicht sagen, daß Picard intellektuell vollkommen im Unrecht war, aber er war vollkommen im Unrecht mit seiner Aggressivität. Da Barthes

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und Greimas keine agrégés waren, konnten sie nicht an der Uni­versität lehren. Barthes' thèse war abgelehnt worden, und den Linguisten war keine Universitätslaufbahn möglich, was viele bedrückte. Sie waren Opfer eines regelrechten Verbots. Die Romanisten standen damals überwiegend rechts und waren von akademischen Rücksichtnahmen geprägt.« 12 Picards Entgegnung verdeutlicht die In-sich-Geschlossenheit des akademischen Dis­kurses und beweist erneut dessen Unwillen, sich neuen Fragestel­lungen zu öffnen.

Der Ästhetikprofessor Olivier Revault d'Allonnes zählt die Punkte und plädiert für ein Unentschieden. Zwischen dem sozio­logischen Standpunkt von Lucien Goldmann, dem psychoanaly­tischen von Charles Mauron, dem biographischen von Raymond Picard und dem strukturalistischen von Roland Barthes will er keine Entscheidung treffen: »Sie haben alle Recht. All dies ist in der Phädra vorhanden, und gerade daran erkennt man vielleicht die großen Werke. Sie enthalten Schichten, um Adornos geologi­sche Metapher aufzugreifen.« ° Einstweilen wird Picards Buch, wie Louis-Jean Calvet zeigt, in der Presse freundlich aufgenom­men. Jacqueline Piatier ergreift in Le Monde seine Partei und spricht von den »erstaunlichen Interpretationen, die Roland Barthes über die Tragödien Racines vorgelegt hat«14. Das Journal de Genève labt sich an Picards Gegenangriff: »Roland Barthes: K. o. in hundertfünfzig Seiten«15. Anfangs zeigt Barthes sich an­geschlagen, denn er verträgt keine Polemik. Seinem Freund Phi­lippe Rebeyrol vertraut er an: »Weißt Du, das, was ich schreibe, ist etwas Spielerisches, und wenn man mich angreift, bleibt davon nichts mehr übrig.«16 Doch die polemische Debatte, die Picard in die Öffentlichkeit getragen hat, kommt wie ein Bumerang zur Sorbonne zurück.

Bald findet eine Generation enthusiastischer Studenten Gele­genheit zur Anfechtung des akademischen Wissens, als Barthes im Jahr 1966, auf dem Höhepunkt des strukturalistischen Para­digmas, mit Kritik und Wahrheit auf Picard antwortet. Das Er-

Die großen Zweikämpfe 333

scheinen des Buches wird mit großem Getrommel angekündigt; der Band trägt eine Bauchbinde mit der Aufschrift: »Muß man Barthes verbrennen?« Die Dramatisierung wird also bis zum äu­ßersten getrieben, so daß Barthes gleichsam in der Rolle der dem Scheiterhaufen trotzenden Jungfrau auftritt. Das bietet eine erst­klassige Gelegenheit, eine intellektuelle Gemeinde für das ambi-tionierte Programm der Elemente der Sémiologie zu entflammen und damit ein breites Publikum zu gewinnen. Barthes antwortet diesmal selbst polemisch.

Er beklagt : »Im Staat der Literatur wird die Kritik nicht weni­ger gezügelt als die Polizei«17. Barthes wertet Picards Kritik als Ausdruck der extrem traditionellen Literaturgeschichte, die sich an einen verschwommenen Begriff vom »Wahrscheinlichen der Kritik« klammert, das sich von selbst versteht und daher keines Beweises bedarf. Der Begriff bemäntelt drei Bezugsgrößen: die Objektivität des Kritikers, seinen Geschmack und die Klarheit der Darlegung. Barthes kennzeichnet die so beschaffene Litera­turkritik als alte Kritik : »Diese Regeln stammen nicht aus unserer Zeit; die beiden letzteren stammen aus dem Jahrhundert der Klassik, die erste aus dem Jahrhundert des Positivismus.«18 Er geht auch mit dem Postulat ins Gericht, daß die Literaturkritik auf der Ebene der Literatur zu bleiben habe. Auf diesem Gebiet verläßt Barthes in gewisser Weise die Immanenzproklamationen, um den Inhalt zu verteidigen, die exogenen Elemente, die die all­gemeine Ökonomie des literarischen Textes erhellen sollen und den Rückgriff auf die Geschichte, auf die Psychoanalyse, auf eine ganze anthropologische Kultur erfordern. Gegen das positivisti­sche Verfahren stellt Barthes den kritischen Akt als Akt des Schreibens im vollen Sinne des Wortes — als Arbeit über die Spra­che. Indem er so die Figur des Schriftstellers mit der des Kritikers zusammenführt, untergräbt er die Konturen, die Beschränkun­gen, die Verbote, durch die die Trennung in verschiedene Schreib­gattungen begründet wurde.

Barthes' Verteidigungslinie gegen Picard ist eine doppelte:

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Zum einen beansprucht er die Rechte des Kritikers als Schriftstel­ler, Sinnträger, wahrhafter Schöpfer in seiner aktiven Eigenlek­türe des Werks, und zum anderen sieht er sich als Vertreter eines wissenschaftlicheren Diskurses, der die Schreibweise nicht mehr als Dekorum, sondern als Quelle von Wahrheit betrachtet. Unter diesem Gesichtspunkt stützt Barthes sich auf die gesamte struk-turalistische Strömung und zieht die Arbeiten von Lacan ebenso heran wie die von Jakobson, Lévi-Strauss und anderen. Kraft der Dekonstruktionsarbeit der Humanwissenschaften ersetzt er die traditionelle Literaturgeschichte durch eine »Wissenschaft von der Literatur«19, als deren Sprecher er auftritt. Sie definiert sich nicht als Wissenschaft von den Inhalten, sondern als Wissen­schaft von den Bedingungen des Inhalts, also dessen Formen. Das Modell für diese Wissenschaft findet Barthes in der Lingui­stik: »Ihr Vorbild wird die Linguistik sein.«20 Die Sprache ist demnach das wahre Subjekt, das sich an die Stelle des Begriffs vom Autor setzt. Die Suche nach einer verborgenen und letztgül­tigen Werkbedeutung ist vergebens, weil sie sich auf einen Begriff vom Subjekt stützt, der in Wahrheit eine Absenz ist: »Was man auch von einem literarischen Werk sagen mag, es bleibt ihm im­mer [...] Redeweise, Subjekt, Absenz.«21

Indem er eine neue geschichtliche Ära ankündigt, die sich auf die Einheit und die Wahrheit des Schreibens gründet, spricht Barthes das Bestreben einer Generation aus, die im Aufbrechen des kritischen Diskurses der Humanwissenschaften eine Schreib­weise erblickt, die die eigentlich literarische Schöpfung einholt. Er entblößt und destabilisiert einen akademischen Diskurs, der sich demgegenüber taub stellt. Auch nach 1966 sind von dieser Fehde noch ferne Echos zu vernehmen, und die Grobheit von René Pommiers Äußerungen22 macht deutlich, welcher Einbruch in das akademische Wissen Barthes' gelungen ist — gleichsam eine Schwalbe, die den Frühling von 1968 ankündigt.

Die großen Zweikämpfe 335

Lévi-Strauss/Gurvitch

Die zweite Konfrontation der sechziger Jahre spielt sich zwi­schen Lévi-Strauss und einem Teilbereich der Soziologie ab, der von der markanten Persönlichkeit Georges Gurvitchs geprägt ist und sich gegen die Vereinnahmung durch den Strukturalismus wehrt, auch wenn ihm der Begriff der Struktur selbst nicht fremd ist. Sie zeigt eine weitere Front der damaligen Auseinanderset­zungen an, die für Lévi-Strauss, der unbedingt die Soziologen ge­winnen muß, wenn er alle Wissenschaften von dem Menschen um eine struktural gewordene Anthropologie verbünden will, von wesentlicher Bedeutung ist. Daher ist die Polemik zwischen Lévi-Strauss und Gurvitch wegen ihres entscheidenden theoreti­schen und institutionellen Gewichts äußerst lebhaft. Im Mittel­punkt steht dabei der Strukturbegriff.

Gurvitch legt 1955 seine Konzeption der sozialen Struktur dar.23 Ebenso wie Murdock definiert er sie als ein Phänomen, das die Idee einer Kohärenz der sozialen Institutionen anzeigt. Als Phänomen kann der Strukturbegriff zu anderen Termini in Bezie­hung, in Gegensatz gebracht werden. So müssen für Gurvitch die sozialen Klassen unterschieden werden, insofern sie strukturiert sind und insofern sie organisiert sind. Die sozialen Strukturen unterliegen Destrukturierungs- und Restrukturierungsvorgän-gen; sie sind also in einen Prozeß, in eine Dialektik eingebunden. Für Gurvitch überschreitet das soziale Phänomen als solches die Struktur und darf daher nicht auf sie reduziert werden: »Es ist sehr viel reicher als sie [die Struktur], und seine Fülle schließt stärker das Unerwartete ein.«24 Gurvitch kritisiert demnach den Strukturalismus sowohl als einen Reduktionismus, der den Reichtum des Realen ausdünnt, wie auch als eine Statik, die die gesellschaftsimmanente Bewegung erdrückt.

Lévi-Strauss antwortet besonders scharf: »Mit welchem Recht erhebt sich Gurvitch hier zu unserem Zensor? [...] Weil er ein rei­ner Theoretiker ist, interessiert er sich nur für den theoretischen

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Teil unserer Arbeiten.«25 Soll man dem Einmaligkeitscharakter des Ereignisses den Vorrang geben oder den Dauerhaftigkeiten der Struktur ? Diese rekurrente, schon seit Durkheim und Tarde aufgeworfene Debatte der Soziologie tritt erneut in den Brenn­punkt der Konfrontation zwischen Lévi-Strauss und Gurvitch, die ein in den sechziger Jahren vielzitierter Aufsatz von Gilles Gaston-Granger beleuchtet.26

Der Epistemologe Granger definiert stimmig die Alternative, in der die sinnliche Erfassung der Welt und die intelligible Kon­zeption des wissenschaftlichen Schemas einander entgegenzuste­hen scheinen. Dazu hält er Gurvitchs Vorgehensweise gegen die von Lévi-Strauss: »Für Gurvitch ist die Struktur in gewisser Weise ein Sein; für Lévi-Strauss ist sie nur ein Modell.«27 Da Gur­vitch das mathematische Handwerkszeug, die Modellbildung verwirft, betrachtet er die Struktur als ein Phänomen, während sie für Lévi-Strauss ein Erkenntnisinstrument darstellt. Granger bezeichnet Gurvitchs Vorgehensweise als aristotelisch, wohinge­gen Lévi-Strauss »die Partei einer Mathematik vom Menschen«28

vertrete. Zwar weist Granger auf die Gefahr einer Hypostase des Erkenntnisinstruments hin, das zum Erkenntnisgegenstand der Sozialwissenschaften werden kann, entscheidet aber im Be­wußtsein um diese Klippe: »Man muß dieses Risiko eingehen.«29

Granger ergreift also Partei für das strukturale Vorgehen, selbst wenn er einen kritischen Abstand wahrt, indem er Lévi-Strauss vorhält, von Analysemodellen zu Schemata von universeller Be­stimmung überzugehen und damit Gefahr läuft, wieder eine On-tologisierung seiner Begriffsbildungsinstrumente einzuführen.

Im Abstand von dreißig Jahren meint Granger, freimütiger als damals — denn er hatte Gurvitch nicht allzusehr kränken wol­len —, daß dieser »neben Lévi-Strauss unendlich klein war und eine leere Scholastik betrieb«30. Was Lévi-Strauss angeht, so hatte Granger ihn lediglich vor der Gefahr gewarnt, die Strukturen für existierend zu halten, für Seinsweisen, die, wie bei Piaton, wirkli­cher wären als die Wirklichkeit. Nichtsdestoweniger erhoffte er

Die großen Zweikämpfe 337

sich von ihm die Konstituierung einer großen strukturalen Sozio­logie oder Anthropologie, die den Schlüssel für ein wissenschaft­liches Verständnis des Menschen in der Gesellschaft liefern sollte. Unter diesem Gesichtspunkt sieht Granger die Tragweite von Lévi-Strauss' Programm heute allerdings weniger optimistisch: »Ich glaube, daß Lévi-Strauss' Werk nicht das erbracht hat, was ich mir von ihm versprochen hatte.«3I

Grangers strenges Urteil über Gurvitch läßt dessen Bedeut­samkeit für eine Vielzahl von Soziologen und Anthropologen au­ßer acht. Sicher, er war eine etwas megalomanische Persönlichkeit von gleichsam naturwüchsiger Eitelkeit, die ihn glauben ließ, allein sein Werk sei ernst zu nehmen. Diesem sich zu widmen würde übrigens seinem späteren Assistenten Roger Establet zu­kommen: »Ich sollte über sein Werk lehren.«32 Gurvitch war be­rüchtigt für seinen Dogmatismus : »Wenn er sagte, es gebe vier­zehn Tiefenstufen, dann waren es weder dreizehn noch fünfzehn, und er verwies ironisch auf Durkheim, der derer nur drei gefun­den hatte.«33 Doch hinter solchen dogmatischen Proklamationen verbarg sich eine anrührende, von der Geschichte verletzte und von verzehrender Leidenschaft getriebene Persönlichkeit. Gur­vitch wohnte in der Rue Vaneau in der Wohnung, in der Marx bei seinem Aufenthalt in Frankreich gelebt hatte, und war in Paris ein Exulant, der, stets hoffend, in die Sowjetunion zurückkehren zu können, nur Bücher sammelte. Die Bedingungen, die er in unab­lässiger Verhandlung mit den sowjetischen Behörden für seine Rückkehr stellte, machen ihn besonders sympathisch. Er wollte auf russisch zu den Arbeitern am Fabrikausgang sprechen dürfen und darüber hinaus ungehindert die russischen Archive konsul­tieren, um eine Geschichte der russischen Revolution zu schrei­ben an dem Ort, wo er Volkskommissar gewesen war. Er war also ein Soziologe, der immer von dem Terrain abgeschnitten bleiben sollte, das er gerne beackert hätte, und als er endlich 1964 seine Einreisegenehmigung bekam (wobei er allerdings auf Anraten seiner Frau auf die Forderung einer russischen Ansprache an die

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Arbeiter verzichtet hatte), verhinderte der Tod die Verwirkli­chung seines Wunsches.

Gurvitch ist in diesem Zeitraum der fast charismatische An­führer von Forschern gewesen, die sich der strukturalistischen Welle mehr oder weniger widersetzten; zu ihnen gehörten Sozio­logen wie Jean Duvignaud oder Pierre Ansart, Philosophen wie Lucien Goldmann oder Henri Lefebvre und Anthropologen wie Georges Balandier. Die meisten wollten übrigens nicht in eine di­rekte Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss eintreten. Die Alter­native stellt sich eher zwischen den beiden Galionsfiguren der So­ziologie, Raymond Aron und Georges Gurvitch. Doch selbst in dieser Gurvitch-Gruppe hat der Strukturalismus die Arbeitsthe­men beeinflußt und auf die methodologischen Entscheidungen gewirkt.

Da ist natürlich Lucien Goldmanns Empfänglichkeit für einen Strukturalismus, den er als genetisch, als für die Geschichte offen bezeichnet. Auch bei den Soziologen der Gruppe macht sich die­ser Einfluß bemerkbar, etwa bei Pierre Ansart, der bei Gurvitch eine thèse vorbereitete und dennoch für den strukturalistischen Beitrag aufgeschlossen war: »Ich erinnere mich an den ersten Tag, an dem ich etwas vom Strukturalismus hörte. Es war in einer Vor­lesung, die Georges Davy uns gehalten hatte, als er gerade von der Verteidigung von Lévi-Strauss' thèse kam. Er gab uns eine sehr spannende Stunde über die Elementaren Strukturen der Ver­wandtschaft, die er uns als eine einzigartige intellektuelle Mög­lichkeit vorstellte.«34 So nahm sich Pierre Ansart in seiner thèse complémentaire — die er übrigens 1969, nach Gurvitchs Tod, ver­teidigte — einer ausgesprochen strukturalistischen Problematik an. In Anlehnung an Goldmanns Vorgehen versuchte er, anhand des Anarchismus die Strukturiertheit einer Denkweise in ihren homogenen Beziehungen zu den ökonomischen, praktischen Strukturen und zu den Weltanschauungen ihrer Zeit darzustel­len : »Für uns, die wir unseren Weg suchten, nahm sich der Struk­turalismus als außerordentlich fruchtbar für die Arbeit aus.«35

Die großen Zweikämpfe 339

Auch wenn der Strukturalismus auf diese Gruppe linker So­ziologen Einfluß ausübte, unterlag er doch einer heftigen Kritik, die in ihm die Enthüllung einer technischen Gesellschaft auf dem Wege der Entmenschlichung erblickte. So vor allem bei einem Kolloquium in Royaumont im Jahre 1960, wo Jeannine Verdès-Leroux, Sonya Dayan, Pividal, Tristani, Claude Lefort und an­dere sich Gurvitchs Kritik am Strukturalismus anschlössen. Ins­besondere der Gurvitch nahestehende Jean Duvignaud hat den Strukturalismus mit der ihn hervorbringenden Gesellschaft in Bezug gesetzt: »Viele sind in diesen Konflikt geraten, denn da war mehr als der äußere Anschein. Die Frage war, ob eine Gesell­schaft sich von innen heraus verändern kann.«36 Für Duvignaud bildet der berühmte epistemologische Einschnitt, der den ideolo­gischen Strukturalismus zur offiziellen Lehre der Universität und der Intelligenzija erhebt, den Einschnitt zwischen den herrschen­den Gesetzen der Technostruktur und denen eines etwaigen glo­balen Wandels : »Ich würde also sagen, daß Lévi-Strauss' Denken sich bewahrheitet hat, ja evident geworden ist, weil es, nach dem Umweg über die Wildnis, die Strukturen des zweiten Industrie­zeitalters wiedergefunden hat.«37 Jean Duvignaud stellt die Hypothese auf, daß die Vernachlässigung der Geschichte bei Lévi-Strauss weniger aus der Feststellung eines Reproduktions­verhältnisses, einem Erkalten der Zeitlichkeit bei den sogenann­ten kalten Gesellschaften der Tropen rühre, sondern vielmehr aus der Vorahnung der in der postindustriellen Gesellschaft vonstat-tengehenden Entwicklungen, bei denen derzeit die Kommunika­tion über die Veränderung siegt.

Ein Buchereignis : Das wilde Denken

Auch die beiden monstres sacrés der französischen Intelligenzija, Jean-Paul Sartre und Claude Lévi-Strauss, sind Gegner im Geiste. Wie erinnerlich, hatte letzterer das Erscheinen der Kritik der dia-

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lektischen Vernunft aufmerksam vermerkt, doch vorerst keine Einwände gegen die Sartresche Philosophie erhoben : nicht weil er das Terrain der Philosophie geräumt hätte, sondern weil er eine ernste und polemische Erwiderung auf eigenem Terrain, dem der Anthropologie, vorbereitete. Diese Entgegnung nimmt er in ein Buch auf, das als ein Hauptwerk in die Geschichte der Anthropo­logie eingehen wird und wie Das Ende des Totemismus 1962 er­scheint: Das wilde Denken. Sie bildet darin das Schlußkapitel, »Geschichte und Dialektik«. Lévi-Strauss beschränkt sich nicht auf eine Erwiderung auf die Sartreschen Thesen; er will vor allem die Denkweise der kalten Gesellschaften erklären : Er vertieft die Erörterung, die er in Rasse und Geschichte angerissen hatte, wo­bei er diesmal versucht, über Inhaltsunterschiede hinaus die Uni­versalität der Mechanismen des Denkens aufzuzeigen. Er nimmt hier eine entscheidende Verschiebung gegenüber den Thesen von Lucien Lévy-Bruhl vor, der die vom Partizipationsprinzip ge­prägte prälogische Mentalität der primitiven Gesellschaften der vom Kontradiktionsprinzip gesteuerten logischen Mentalität der Zivilisierten gegenübergestellt hatte.

Entgegen der anthropologischen Tradition behauptet Lévi-Strauss : »Das wilde Denken ist in demselben Sinne und auf die­selbe Weise logisch, wie es unser Denken ist [...].«38 Das wilde Denken, das lange Zeit für den primären Ausdruck des Affekti­ven ausgegeben wurde, wird hier aufgefaßt über die Spannweite der Zwecke, die es sich zuweist, sowohl analytisch als auch syn­thetisch ; es verfährt wie unser abendländisches Denken mit den Mitteln des Verstandes und fußt auf einem System von äußerst mannigfaltigen Unterscheidungen und Gegensätzen.

Dennoch gibt es durchaus zwei Denkweisen, die sich jedoch nicht hierarchisch klassifizieren lassen, sondern sich von zwei strategischen Ebenen her definieren. Das wilde Denken rührt aus einer Logik des Sensiblen und verwirklicht sich in Zeichen und nicht in Begriffen, es bildet ein geschlossenes, endliches System, das von einer vorgegebenen Anzahl von Gesetzen gesteuert wird.

Die großen Zweikämpfe 341

Dem geschlossenen, zirkulären System des wilden Denkens stellt Lévi-Strauss dann das offene System des wissenschaftlichen Den­kens gegenüber, das ein anderes Verhältnis zur Natur aufweist. Das wilde Denken ist einem Denken verwandt, in dem Wörter und Dinge miteinander in einem Reduplikationsverhältnis ver­bunden sind. Es ist eine Wissenschaft vom Konkreten, aber des­halb nicht spontan oder verworren, wie man lange Zeit geglaubt hat. Es findet sich bevorzugt bei Alltagsverrichtungen der primi­tiven Gesellschaften: Jagd, Früchtepflücken, Fischfang. »Der Reichtum an abstrakten Wörtern ist eine Eigenschaft nicht nur der zivilisierten Sprachen«39. Lévi-Strauss berichtet von der Ratlosigkeit der Ethnographen angesichts des Kenntnisschatzes der Indianerstämme, angesichts ihrer Befähigung, ihre Tier- und Pflanzenwelt zu unterscheiden, zu klassifizieren und darzustel­len. So haben die Hopi-Indianer dreihundertfünfzig Pflanzen verzeichnet und die Navajo über fünfhundert. Dieses Denken des Konkreten führt Klassifikationen in sorgsamer Bemühung um Identifizierung durch, damit dieses Wissen mit Hilfe eines gan­zen Systems von Vorschriften und Verboten im Alltagsleben an­wendbar wird.

In dem Werk Das Ende des Totemismus veranschaulicht Lévi-Strauss die Hauptthese des Wilden Denkens. Er zeigt, daß die Anthropologen bislang auf eine Aporie gestoßen sind, wenn sie sich darauf beschränkten, im Totemismus Ähnlichkeiten zwi­schen der Tier- oder Pflanzenwelt und der Menschenwelt festzu­stellen. Der Wert der totemischen Klassifizierung liegt im Gegen­teil in einer Strukturhomologie zwischen zwei Reihen, wobei die eine natürlich und die andere sozial ist. »Die totemische Illusion kommt also in erster Linie von einer Verkehrung des semanti­schen Feldes, von dem Phänomene des gleichen Typus abhän­gen.« 40 Der Totemismus spielt die Rolle, die binären Oppositio­nen zu integrieren; er soll kenntlich machen, was der Integration im Wege stehen könnte. Die natürlichen Arten werden ausge­wählt, nicht weil sie eßbar, sondern weil sie denkbar sind.41 Es

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besteht also eine Osmose zwischen Methode und Realität, eine Homologie zwischen dem menschlichen Denken und dem Ge­genstand, auf den es sich bezieht. So verwandelt sich die ethno­graphische Forschung in logische Konstruktion und kann da­durch die Stufe der Anthropologie, also die der Erforschung der Grundgesetze des menschlichen Geistes erreichen.

Lévi-Strauss setzt sich hier von der funktionalistischen Inter­pretation Malinowskis ab, der lediglich die naturalistische, utili-täre, affektive Ebene herauslöst, wenn er erklärt, die Konzentra­tion des Interesses auf die Pflanzen- und Tierwelt spiegele die Tatsache, daß die erste Sorge der primitiven Gesellschaften die Ernährung sei. Für Lévi-Strauss muß die Erklärung auf einer Ebene gesucht werden, die tiefer geht als ein einfacher Identitäts­mechanismus, indem sie nämlich bei der Interferenz Natur/Kul­tur ansetzt: »Der Totemismus schafft eine logische Äquivalenz zwischen einer Gesellschaft natürlicher Arten und einer Welt so­zialer Gruppen.«42 Es ist also stets diese Grenzlinie zwischen Na­tur und Kultur, auf der der Strukturalismus vorankommt und der sich sein Projekt verdankt.

Dem Wilden Denken wird sofort eine überwältigende Auf­nahme zuteil, was dazu beiträgt, daß das strukturale Programm über die anthropologischen Fachkreise hinausstrahlt. Der Erfolg ist so groß, daß eine Journalistin von France-Soir jene Leser vor­warnt, die durch die Umschlagabbildung der Stiefmütterchen hätten zum Kauf von Lévi-Strauss' Buch verlockt werden kön­nen: Das schöne Blumenbouquet, das da in den Schaufenstern der Buchhandlungen ausliegt, könnte an ein Werk der Botanik denken lassen, so daß sich die Journalistin zu dem Hinweis be­müßigt sieht, es handele sich um einen sehr anspruchsvollen Es­say. Claude Roy vergleicht die Bedeutung von Lévi-Strauss' Buch mit Freuds Psychopathologie des Alltagslebens: »Freud hat auf ge­niale Weise bewiesen, daß unsere Unvernünftigkeiten ihre ver­nünftigen Gründe haben, die das Bewußtsein nicht gewahrte. Und jetzt erbringt Lévi-Strauss den tief reichenden und neuarti-

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gen Beweis, daß das scheinbare Chaos der primitiven Mythen und Rituale in Wirklichkeit einer Ordnung und Prinzipien ge­horcht, die bislang unsichtbar geblieben waren.«43

In einer ausführlichen Studie in der Zeitschrift Critique geht Edmond Ortigues von einer Methodenanalogie zwischen Claude Lévi-Strauss und Paul Valéry aus. Der Dichter wie der Ethnologe hätten das gleiche formale Ansinnen: »Eine Familie im Geiste: ein ähnliches Übergehen der Geschichte, ein gleiches Insistieren, die Sensibilität des Intellekts gegen die Intelligenz der Emotio­nen zu verteidigen.«44 Jean Lacroix widmet dem Buch seine Ru­brik in Le Monde und begrüßt darin das Zustandekommen eines strikt wissenschaftlichen Werks, hält aber Abstand zu dem, was er die »auf die rigoroseste Weise atheistische Philosophie dieser Zeit«45 nennt und was mitunter einem Vulgärmaterialismus gleichkommt, der in mathematischen Aussagen den Widerschein der freien Verstandestätigkeit erblickt. Le Monde räumt dem Ereignis ungewöhnlich viel Platz ein, denn zu dem Artikel von Lacroix vom November 1962 kommen noch der Artikel von Yves Florenne im Mai 1962 und das Gespräch mit Lévi-Strauss am 14. Juli 1962. Claude Mauriac bespricht das Werk im Figaro, während Robert Kanters seine Begeisterung im Figaro littéraire kundtut und scharfsinnig vermerkt, daß »die Humanwissenschaften heute die Quellen der Kunst von morgen sind«46.

Die strukturalistische Gemeinde äußert sich in Gestalt von Roland Barthes' lobender Besprechung beider Werke von Lévi-Strauss. Barthes feiert die Ersetzung einer Soziologie der Sym­bole durch eine Soziologie der Zeichen und die Einführung einer Sozio-Logik, die an das globale semiologische Projekt anschließt. Lévi-Strauss' Verdienst besteht für Barthes in der Ausdehnung der menschlichen Freiheit auf einen Bereich, der ihr bislang ent­ging: »Die Soziologie, zu der Claude Lévi-Strauss auffordert, [...] ist eine Soziologie des eigentlich Menschlichem : Sie gesteht dem Menschen das unbegrenzte Vermögen zu, die Dinge bedeu­ten zu lassen.«47

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Lévi-Strauss/Sartre

Das wilde Denken bildet einen jener seltenen Momente, in denen ein Buch in seiner Unumkehrbarkeit, durch seine Tragweite und seine Fähigkeit, unsere Sicht der Welt und der anderen zu verän­dern, ein wirkliches Ereignis bedeutet. In dieses Kernstück des strukturalistischen Dispositivs rückt Lévi-Strauss seinen Angriff gegen Sartre ein — ein gezielter, zeitlich versetzter und besonders polemischer Gegenstoß gegen dessen Kritik der dialektischen Ver­nunft Nicht nur Sartres Charisma wird ins Visier genommen, son­dern auch der Rang der Philosophie als Königsdisziplin und der der Geschichtsphilosophie, dem Historizismus eingeräumte Vor­zugsplatz, der sich nun vom strukturalen Horizont verjagt sieht. Die Geschichte ist nichts anderes als eine Erzählung, verurteilt zur Idiographie. Lévi-Strauss beanstandet die Art, mit der Sartre sie in eine vereinheitlichende, totalisierende Perspektive hebt: »Im Sy­stem Sartres spielt die Geschichte genau die Rolle eines Mythos.«48

Das Gelebte, die Ereignisse, das historische Material, alles unter­stehe dem Mythos. Von diesem Postulat her versteht Lévi-Strauss nicht, warum die Philosophen, und Sartre vornean, sich darauf ver­steifen, der Geschichte diese Vorrangstellung einzuräumen. Diese Faszination wird als der Versuch gewertet, ein kollektives Zeitkon-tinuum wiederherzustellen, entgegen dem Vorgehen des Ethnolo­gen, das sich in der räumlichen Diskontinuität entfaltet. Ein sol­ches Kontinuum ist für Lévi-Strauss rein mythisch und illusorisch, und sei es nur durch die Wahl einer bestimmten Region, einer be­stimmten Epoche usw., die es von Seiten des Historikers voraus­setzt. Er kann also nur Geschichten konstruieren, ohne je zu ir­gendeiner signifikanten Globalität zu gelangen: »Eine wahrhaft totale Geschichte würde sich selbst neutralisieren: ihr Produkt wäre gleich Null.«49 Deshalb gibt es keine geschichtliche Totalität, sondern nur eine Vielheit von Geschichten, die nicht an ein zentra­les Subjekt, den Menschen gebunden sind. Geschichte kann daher nur parteilich sein und »partiell« bleiben.50

Die großen Zweikämpfe 345

Dies ist eine regelrechte Schmähschrift gegen die Geschichts­philosophie: Ihre »angebliche historische Kontinuität ist nur mit­tels trügerischer Einzeichnungen gesichert«51. Die Historizität sei der letzte Zufluchtsort eines transzendentalen Humanismus, und Lévi-Strauss fordert die Historiker auf, sich der zentralen Stellung des Menschen, ja sogar der historischen Disziplin selbst zu entledigen: »Die Geschichte führt überallhin, unter der Be­dingung allerdings, daß man aus ihr heraustritt.«52

Der mit der Menschheit in eins gesetzten Geschichte hält Lévi-Strauss das wilde Denken als zeitlos entgegen, das die Welt zugleich als synchronische und diachronische Totalität erfassen will. Sartre antwortet diesem Sturmangriff nicht direkt, aber in seiner Zeitschrift analysiert Pierre Verstraeten Lévi-Strauss' Schrift unter dem Titel: »Claude Lévi-Strauss ou la tentation du néant« (Lévi-Strauss oder die Versuchung des Nichts). Er ist der Auffassung, daß »Lévi-Strauss willentlich die Bereiche der Sé­miologie und die der Semantik (oder der Linguistik) verwechselt, indem er systematisch die Prinzipien der Semantik auf jedes se-miologische Feld anwendet«53. So hat Lévi-Strauss die Macht der Dialektik unter Beweis gestellt, allerdings negativ, indem er die Nichtigkeit aufdeckt, die in ihr nach seiner Auffassung die histo­rische Zeitlichkeit darstellt. Verstraeten verweist also das Imagi­näre von Lévi-Strauss auf seinen eigenen Untersuchungsgegen­stand zurück, so wie Lévi-Strauss der Sartreschen Philosophie den Rang eines Mythos zugemessen hatte. Dieser unterschwel­lige Kampf zwischen den beiden monstres sacrés der Epoche en­det mit dem Triumph von Lévi-Strauss' strukturalem Programm, also mit der Niederlage des von Sartre verkörperten Historizis-mus.

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Ricœur/Lévi-Strauss

Auch die Debatte mit der Zeitschrift Esprit ist durch Das wilde Denken ausgelöst worden. Als Vertreterin einer Philosophie des Subjekts fühlt diese sich unmittelbar angesprochen und an­gefochten. Zur Vorbereitung einer Lévi-Strauss gewidmeten Nummer der Zeitschrift setzt der Herausgeber, Jean-Marie Domenach, eine Gruppe von Philosophen mehrere Monate auf das Studium von dessen Werk an. Aufsätze von Jean Cuisenier, Nicolas Ruwet und anderen nehmen sich Das wilde Denken vor, und das Heft schließt mit einer Debatte zwischen Lévi-Strauss und dem Stab, der über sein Werk gearbeitet hat. Bei der schriftli­chen Wiedergabe hat Lévi-Strauss einige Äußerungen gestrichen, so etwa: »Meine Formel ist die von Royer-Collard: Das Gehirn sondert Gedanken ab, wie die Leber Bilis absondert«54, und je­der Wiederaufnahme der Diskussion, von zahlreichen Zeitschrif­ten aus dem Ausland mehrfach angefragt, hat er sich widersetzt. Dennoch rechnet ihm Jean-Marie Domenach die Teilnahme an diesem Streitgespräch hoch an : »Ich bin ihm dankbar, daß er an dieser Debatte teilgenommen hat, denn ich bewundere seine in­tellektuellen Fähigkeiten.«55

In dieser Kontroverse treffen hauptsächlich zwei divergierende Ausrichtungen aufeinander, die Paul Ricceur in seinem Aufsatz »Structure et herméneutique« darlegt. Die Wissenschaftlichkeit der strukturalen Arbeit über die Codes, die in Sprachen und My­then Verwendung finden, bestreitet Ricceur nicht, Einspruch er­hebt er jedoch gegen die Grenzüberschreitung, die darin besteht, begründungslos zur Stufe der Verallgemeinerung, der Systemati­sierung überzugehen. Für Ricceur gilt es, zwei Herangehensebe­nen deutlich voneinander zu unterscheiden: Die erste Ebene baut auf die linguistischen Gesetze auf und bildet die unbewußte, nichtreflexive Schicht, einen kategorialen Imperativ, der nicht notwendig auf ein bewußtes Subjekt bezogen werden muß. Die­se Ebene veranschaulicht sowohl die binären Oppositionen der

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Phonologie als auch die der elementaren Strukturen der Ver­wandtschaft, anhand derer Ricœur übrigens die Gültigkeit von Lévi-Strauss' Analysen anerkennt: »Das strukturalistische Un­ternehmen [scheint mir] so lange vollkommen legitim und vor je­der Kritik geschützt zu sein, als es der Bedingungen und damit auch der Grenzen seiner Gültigkeit bewußt bleibt.«56

Mit dem Wilden Denken verallgemeinert Lévi-Strauss sein Verfahren insofern, als dieses ebensogut wie in den Tropen in den gemäßigten Breiten funktioniert und zum logischen Denken in einer homologen Beziehung steht. Nun setzt Ricœur das totemi­sche Denken dem biblischen Denken entgegen, insoweit dieses ein umgekehrtes Verhältnis von Diachronie und Synchronie impliziert. Der Objektivität eines formalisierten Sinns stellt er keinen Sinn-Subjektivismus entgegen, sondern das, was er das Objekt der Hermeneutik nennt: »Das heißt, die von diesen suk­zessiven Wiederaufnahmen eröffneten Sinndimensionen; dabei stellt sich nun die Frage : Bieten alle Kulturen so viel zum Wieder­aufgreifen, zum Neuformulieren, zum Überdenken?«57 Ricœur kennzeichnet den Übergang von der strukturalen Wissenschaft zur strukturalistischen Philosophie als »kantische Philosophie ohne transzendentales Subjekt, ja [...] absoluten Formalismus«58. Als Alternative bietet er eine Hermeneutik auf, die dem Stadium der formalen Entschlüsselung zwar durchaus Rechnung trägt, sich aber zum Ziel setzt, das Verstehen des anderen mit dem Ver­stehen seiner selbst zusammenfallen zu lassen im Durchlaufen der Phase der Sinninterpretation, durch ein Denken, das sich un­aufhörlich denkt und überdenkt.

Die Kennzeichnung der »kantischen Philosophie ohne tran­szendentales Subjekt« wird von Lévi-Strauss in seiner Erwide­rung aufgegriffen und übernommen, er akzeptiert also die Ter­mini, verwirft aber die Suche nach einem Sinn des Sinnes : »Wir können nicht zugleich versuchen, die Dinge von außen und von innen zu verstehen.«59 Lévi-Strauss verortet vielmehr die wissen­schaftliche Etappe seiner Arbeit im Stadium der notwendigen Ta-

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xonomie der Gesellschaft, und dies erfordert, sich den Vorstoß auf andere, noch nicht ausreichend abgesteckte Gelände zu versa­gen.

Die Ära der großen Debatten geht mit einer weitgreifenden Infragestellung und Problematisierung der disziplinaren Grenzen einher. Die Begegnungen zwischen den Disziplinen führen dazu, daß viele das Feld wechseln, ihre Analyseinstrumente und Zu­ständigkeitsbereiche vervielfachen. Das neue Glaubensbekennt­nis heißt Interdisziplinarität. Um ein guter Strukturalist zu sein, geziemt es sich, Linguist und Anthropologe zu werden und dem Ganzen ein Quentchen Psychoanalyse und Marxismus hinzuzu­fügen. Es ist eine besonders fruchtbare und spannende Periode, in der Menschen und Begriffe in Bewegung geraten, Grenzen über­schreiten und die Befestigungen umgehen — Vorzeichen eines eher ideologischen denn szientistischen Strukturalismus. Für die Eroberung von Machtpositionen und die Erschütterung der alten Sorbonne erwies sich derlei Geschmeidigkeit als dienlich. Sie mag an Paul Ricœurs Mißerfolg am Collège de France, wo er im No­vember 1969 Michel Foucault unterlag, nicht unbeteiligt gewesen sein.

Die Vervielfachung dieser Begegnungen und Auseinanderset­zungen nötigt die Einzeldisziplinen oftmals dazu, ihre Position neu zu bestimmen. André Green unternimmt dies in der Psycho­analyse, deren Praxis er unter dem Gesichtspunkt des gängigen Gegensatzes von Geschichte und Struktur untersucht.60 Er ver­wirft sowohl Sartre, der der Psychoanalyse jegliche theoretische Grundlage abspricht, als auch Lévi-Strauss, der aufgrund seines Panlogizismus vom Menschen nichts als dessen physisch-chemi­sche Struktur in Betracht zieht. Die Arbeit Freuds verteidigend, behauptet Green die Untrennbarkeit von Geschichte und Struk­tur in der psychoanalytischen Praxis : »Die Geschichte ist nicht denkbar ohne die Wiederholung, die ihrerseits auf die Struktur verweist; die Struktur ist, was den Menschen betrifft, nicht denk­bar ohne dessen Beziehung zu seinen Erzeugern, den Konstitu-

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enten des Symbolischen, woraus sich ein Zeitlichkeits-Zeitlosig-keitsverhältnis ergibt, das die Dimension der Geschichte impli­ziert.« 61 Angesichts der Mißhelligkeiten und Reibungen, durch die es zu Bannflüchen und Ausschließlichkeitsmodellen kommt, erscheint André Greens Standpunkt eines wohltemperierten Strukturalismus als die Position des Weisen, der dem Überspan­nen des Bogens rechtzeitig entgegentritt.

Die signifikanten Ketten

Die Abspaltung

Von der Abspaltung im Jahr 1953 bis zu seiner Exkommunikation 1963 hat Lacan durch enge Anbindung an das in vollem Auf­schwung begriffene strukturalistische Paradigma seine Positionen ausbauen können. Dieser Anknüpfungspunkt wurde in dem Au­genblick bedeutsam, als die Verhandlungen um den Beitritt der 1953 gegründeten Société française de psychanalyse zur Interna­tional Psychoanalytical Association (IPA) scheiterten. Denn rasch wurde der Verzicht auf die Lacanschen Behandlungsmetho­den zur Bedingung erhoben, ja schlicht der Ausschluß Lacans selbst, der zum Haupthindernis für die allgemeine Versöhnung geworden war.

Der verfemte Lacan ruft seine Getreuen zusammen und grün­det 1964 die École française de psychanalyse, die sich bald darauf in École freudienne de Paris umbenennt, indessen ein anderer Teil der Société française de psychanalyse (SFP), der sich um Jean Laplanche gruppiert, 1963 unter dem Namen Association psychanalytique de France die Aufnahme in die IPA erwirkt. Wie in der trotzkistischen Bewegung werden Abspaltungen und Tren­nungen das Ferment der lacanianischen Bewegung. Denn die Spaltung derjenigen, die immerhin zehn Jahre gemeinsam in der SFP verbracht haben, ist nicht nur durch das Ersuchen um Ab­segnung seitens der International Psychoanalytical Association, sondern noch durch mancherlei andere Streitigkeiten verursacht.

Zum einen mehren sich ob der Praxis der Kurzsitzung beunru­higende Meldungen über die Auslastungsrate der Wartezimmer ;

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zum anderen löst die Mixtur aus individueller, sogenannter Lehr­analyse und Unterricht auch Bedenken hinsichtlich der Risiken solcher Genrevermengung aus: »Doch vor allem die Tatsache, daß sich Lacan nicht im geringsten bereitfand, von seinen Prakti­ken abzusehen, förderte auf einmal deren Bedeutsamkeit zutage. [...] So war das, was in unseren (in meinen) naiven Augen für ne­bensächlich gegolten hatte, zum Hauptpunkt geworden.«* Als Folge davon fand sich die Mehrzahl der Anhänger von Lacans theoretischen Thesen in einer anderen Organisation als der sei­nen zusammen.

Die Gefahr der Vereinzelung, der Marginalisierung wird nun zu Lacans Hauptsorge. In der Überzeugung, wer nicht für ihn sei, sei zwangsläufig gegen ihn, betreibt er eine Politik des »Wer mich liebt, der folge mir«, doch um sie zum Erfolg zu führen, muß er so viel Höhe gewinnen, daß sein Charisma obsiegen kann. Exiliert, verpönt, endgültig aus seiner Kirche ausgestoßen, identifiziert sich Lacan mit Spinoza, der ebenfalls Opfer einer zweistufigen Exkommunikation geworden war: einer der excom-municatio maior entsprechenden Cherem am 27. Juli 1656, ge­folgt von der Cbammata, also der Unmöglichkeit, in die jüdische Gemeinde von Amsterdam zurückzukehren.2 Um das Bild des Märtyrers vollständig zu machen, verläßt Lacan zudem seine Lehrstätte im Hôpital Sainte-Anne.

In diesem Augenblick steht Lacan alleine da, ohne Colombey-les-Deux-Eglises als Zufluchtsort, doch der Verfasser der Rede von Rom kehrt als Held auf die Bühne zurück : »Ich gründe, so allein, wie ich es in meiner Beziehung zur psychoanalytischen Sa­che stets gewesen bin, die Ecole française de psychanalyse«, ver­kündet er am 21. Juni 1964. Er gewinnt Fernand Braudels und Louis Althussers Beistand für die Einrichtung eines Ablegers der Sechsten Sektion der EPHE an der École normale supérieure. Durch diesen Ortswechsel kann er seine Hörerschaft beträchtlich ausweiten und, dank der Bürgschaft der Philosophen, eine maß­gebliche strategische Position auf dem intellektuellen Feld beset-

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zen. Nun willigt er in François Wahls dringendes Ersuchen ein, den Hauptteil seines schriftlichen Werks zu publizieren, was er bisher stets abgelehnt hatte, so daß 1966 bei Seuil die Schriften er­scheinen.

Lacan ist für seine Theoriepolitik auf Unterstützung angewie­sen. Nach einem abschlägigen Bescheid von Paul Ricceur3 lädt er zur Inauguralsitzung seiner Lehrveranstaltung im Salle Dussane der École normale supérieure Lévi-Strauss ein, der, wiewohl La-cans Stil nicht gerade nach seinem Geschmack ist, der Einladung Folge leistet. Lacan schafft es somit, sein Scheitern bei der IPA und die Schwächung seiner Bewegung infolge der Spaltung in ruhmreiche Stärke zu verwandeln, symbolisiert durch seinen Un­terricht an der Ecole normale supérieure, wo sich fünf Jahre lang das intellektuelle Paris tummelt, um den Schamanen der Mo­derne zu sehen und seine Rede zu vernehmen: »Aus der interna­tionalen psychoanalytischen Bewegung ausgestoßen, wird das Lacansche Werk also im französischen Abenteuer des Struktura­lismus an wichtiger Stelle stehen.« 4

Der Signifikant

Die Spur des Strukturalismus in der Lacanschen Theorie des Un­bewußten ist namentlich am zentralen Stellenwert abzulesen, den der Signifikant darin einnimmt. Wir haben bereits beobachtet, wie Lacan in den fünfziger Jahren von Saussure den Begriff des Zeichens übernahm und die Stellung von Signifikat und Signifi­kant so modifizierte, daß letzterer aufgewertet wurde. In seinem Seminar Les Psychoses (1955/56) erläutert Lacan, daß indes das Signifikat nicht von seinen Bindungen an den Signifikanten be­freit ist; es gleitet unter ihm, bis es einen Knüpfpunkt erreicht, den sogenannten Steppunkt, »durch den der Signifikant das Glei­ten der Bedeutung, das sonst unbegrenzt wäre, anhält«5. Der Si­gnifikant Lacans gleicht also nicht dem Saussures, selbst wenn

Die signifikanten Ketten 353

der Saussuresche Signifikant »nicht nur das Homonym, sondern auch das Eponym des Lacanschen Signifikanten ist«6. Nach sei­ner Verselbständigung gegenüber dem Signifikat erhält der Be­griff des Signifikanten zu Beginn der sechziger Jahre für Lacan noch größere Bedeutung, da er nun das Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert. »Genau am 6. Dezember 1961, im Verlauf des Seminars über die Identifikation also, formuliert La­can erstmals seine Definition des Signifikanten und unterscheidet ihn hier und hinfort deutlich vom Zeichen.«7 Erst 1964 indes, in den Vier Grundbegriffen der Psychoanalyse, bekommt der Signi­fikant wirklich die Stelle des Subjekts für einen anderen Signifi­kanten, an der man ihn seither kennt.

Der Signifikant vertritt dann das Subjekt, dessen Existenz sich als von ihren Wirkungen abwesende Ursache darstellt, abwesend mithin von der signifikanten Kette, durch die es intelligibel wird. Das Subjekt wird nicht auf nichts reduziert, aber auf den Status des Nichtseins ; es ist das nichtsignifikante Fundament der Signifikanz der Signifikanten, das heißt deren Existenzbedingung selbst. Die Arbeit des Analytikers gründet daher auf der Restitution der inter­nen Logik dieser signifikanten Kette, da keines der Elemente an sich fähig ist, eine Zeit des Bedeutens darzustellen. Der Signifikant ist dann ein Subjekt für einen anderen Signifikanten und erfüllt da­her seine Funktion nur dadurch, daß er ständig zurücktritt, um ei­nem neuen Signifikanten Platz zu machen. Lacan bildet diese Kette ab, indem er das Sigel S verdoppelt zu S2, das die Signifikanten­kette darstellt, und Sl, den zusätzlichen Signifikanten, der sie vor­antreibt. Was das Subjekt betrifft, so ist es nirgendwo, es sei denn an der Stelle des Signifikanten, von dem es seine Stelle bekommt, welche ist, nirgendwo zu sein. Es wird transkribiert unter dem Zei­chen des schräggestrichenen S, zu sich selbst versetzt, für immer gespalten. Das Je des Subjekts des Begehrens ist für immer vom Moi getrennt. Der vierte Term der Struktur des Signifikanten wird vom Objekt besetzt, das gleichfalls exzentriert ist gegenüber dem, was ausgesagt wird. Es wird als Objekt (klein) a dargestellt.

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Der Begriff des Signifikanten bei Lacan ist also von zentralem Interesse, gelangt aber erst seit den sechziger Jahren als wesentli­cher Bestandteil der Strukturalistischen Woge zur vollen Bedeu­tung. In diesem Zusammenhang erschließt sie, was Jean-David Nasio die »Nabel«-Bedeutung eines Begriffs nennt, also seine Entstehensbedingungen und seine Entwicklung.8 Aus dieser si­gnifikanten Struktur heraus wird sich, einer doppelten Logik von Orten und Kräften folgend, eine Dialektik entwickeln. Diese Dialektik, die den Primat des Signifikanten über das Signifikat zugrunde legt, setzt somit die Welt als Phantasma und kenn­zeichnet die Ordnung der Dinge als der Sprache (langage) un­tergeordnet. In diesem Sinne gehört die signifikante Kette, wenngleich sie aus einem sehr freizügigen Umgang mit der Saus­sureschen Auffassung erwächst, dennoch zu einer allgemeineren, typisch strukturalistischen Konzeption, welche die Sphäre des Diskurses autonomisiert und die Ordnung der Dinge aus der Ordnung der Wörter errichtet. Die Welt wird nur noch durch den Signifikanten des Mangels zusammengehalten, durch »das Ding«, das Lacan von Heidegger übernimmt, um die Vierteilung in Erde, Himmel, Menschen und Götter zu benennen. »Das Ding dingt Welt«, heißt es bei Heidegger9, doch wie bei ihm »trägt [das Ding] dieses Geviert, weil es im wesentlichen durch eine Leere konstituiert wird«10. Der Raster der Welt schreibt sich da­mit aus einem zentralen Mangel ein, der die Bedingung ihrer Ein­heit ist.

Das Objekt (a)

Einen der Haupttermini der signifikanten Struktur bei Lacan stellt das Objekt (a) dar, nach Serge Leclaire eine gravierende wis­senschaftliche Entdeckung : »Eine Erfindung, die den Nobelpreis verdient, eine wirkliche Erfindung.« n Diese Innovation wurde in zwei Schritten vollzogen: Lacan erwähnt zunächst das »kleine

Die signifikanten Ketten 355

andere« als Vermittlungselement zwischen dem schräggestriche­nen Subjekt und dem Anderen, und zwar in einer imaginären Funktion. In seiner zweiten Bedeutung wird es zum Objekt (a) als Objekt des Mangels, als metonymisches Objekt des Begeh­rens, als einfacher Signifikant des Begehrens, der von einem Bezug auf ein begehrendes Subjekt ebenso abgeschnitten ist wie von der Funktion einer irgend gearteten symbolischen Refe­renz auf ein unbewußtes Signifikat. Das Objekt (a) ist nicht mehr dem Imaginären zugehörig, sondern dem Realen in der Lacan-schen Bedeutung des Terminus, nicht der Realität also, sondern dem, was der Signifikanz widersteht: »Das Reale ist das Unmög­liche.«

Lacan, der diesem Partialobjekt (genannt a) einen maßgebli­chen Stellenwert zuweist, setzt es auf der Ebene der Abfallfunk­tion an. Es belebt die anfängliche Abtrennung des Fötus wieder, der von der Plazenta, die in den Müll kommt, für immer geschie­den wird. So kennzeichnet es die Libido als die vervielfältigte Kette der Begehren, die vergeblich versucht, sich an die Stelle der anfänglichen Trennung zu setzen. Das Objekt (a) wird »an der Stelle des Abfalls der signifizierenden Operation« u verortet. Es wird in Beziehung zu allen Körperteilen stehen, die mit der Funktion des Abfalls, des Durchgangs oder der Trennung in Zu­sammenhang gebracht werden können. Das Objekt (a) als stän­dig wiedererstehendes und immer mangelndes Objekt des Be­gehrens gewinnt zunehmend an Bedeutung im Lacanschen Dispositiv, bis es schließlich das Objekt der Psychoanalyse selbst verkörpert. »Das Objekt der Psychoanalyse [...] ist nichts ande­res als das, was ich schon über die Funktion, die das Objekt a in ihr spielt, vorgebracht habe.«13 Es ist das Objekt des Triebs, wel­ches das Gesetz des Begehrens funktionieren läßt, ebenso wie das Objekt eines Phantasmas: »Das Objekt (a) ist das Negativ des Körpers.« M Dennoch läßt sich das Objekt (a), wie bedeutsam im Lacanschen Dispositiv es auch sei, nicht als isoliertes Objekt be­nennen: Es existiert nur durch die Artikulation, die es vom Rea-

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len aus an das Symbolische und an das Imaginäre anbindet. Was aber den Modus dieser Artikulation vorgeben und es dem Begeh­ren erlauben wird, sich zu äußern, ist die Kastration: »Die Ka­stration ist das Gesetz, mit dem das menschliche Begehren als partiale Wahrheit geordnet wird.«15 Durch sie geschieht der Ein­tritt in die Ordnung des Gesetzes, die mit dem Namen-des-Va-ters verbunden ist, das heißt einer Figur, die aufgespalten werden kann in die des realen Vaters und die des symbolischen Vaters.

In diesem Punkt kehrt Lacan Freuds negative Sichtweise um, die das Gesetz als Verbot erfaßt, und macht es zum Element einer Positivität, nämlich der des Begehrens. Wiewohl der Hauptteil seiner Lehre über das Sprechen vermittelt wird, privilegiert Lacan in den beginnenden sechziger Jahren wie später Jacques Derrida die Schrift und setzt in enger Anlehnung an Saussure den Signifi­kanten mit der Letter gleich (Der entwendete Brief/Buchstabe). »Das Ding macht Wort (fait mot), sagt Lacan, im Sinne von mo­tus: es ist Sprechen, aber auch Schweigen, welches das Sprechen stillstellt und den Atem schneidet.«16 In der psychoanalytischen Praxis ist das Objekt (a) zum unentbehrlichen Werkzeug man­cher Analytiker geworden: »Das Objekt (a) ist brauchbar. Einige Analytiker behaupten sogar, daß man je nach dem gewählten Objekt auf diesen oder jenen Trieb schließen könne. Es erlaubt, das Begehren wieder in Gang zu setzen, und vermeidet es somit, daß man in die Verzweiflung zurückfällt.«17

Lacan sagte über dieses Objekt (a), man müsse es als einen Eckstein der Psychoanalyse ansehen. Wenn Lacan die Regeln ei­ner Wissenschaft etabliert und ihr dabei zugleich einen funda­mental pessimistischen Kern erhält, so liegt dies daran, daß ihr Ansatzpunkt, das Objekt, auf das sie sich stützt, gleichbedeu­tend mit unwiederbringlichem Verlust ist; es ist der Einschlags­punkt der signifikanten Kette. Lacan stellt also die Erforschungs­regeln der signifikanten Kette auf, ohne sich dabei der geringsten Illusion über das Vermögen des Analytikers hinzugeben, wieder­zufinden, was für immer verloren ist. Die analytische Therapie

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reduziert sich nicht auf eine positivistische Anamnesearbeit. Anstelle des verlorenen Objekts wird »eine aus Signifikanten bestehende Konstruktion [ausgearbeitet], aber wovon wird sie gesteuert? Vom Objekt als Verlorenem.«18 Serge Leclaire hält das Partialobjekt aufgrund seiner Labilität für das notwendige Ge­gengewicht, um dem reinen Signifikanten, einem von den Di­mensionen des Imaginären bereinigten Symbolischen zu entge­hen. Es gehört somit zu den Hauptlehren Lacans, und es hat an sich den Vorzug, die dogmatische Abschließung zu verhindern: »Alle Analytiker, die wirklich etwas Interessantes herausfanden, haben vom Objekt gesprochen. Freud selbstredend, aber auch Melanie Klein, Winnicott oder Lacan.« 19

Die Frage der Signifikanz stellt sich für Lacan aus dem Gedan­ken einer signifizierenden Sequenz heraus. Zwischen der Aussage und ihrer nachträglichen Interpretation liegt immer ein Zeitab­stand. Diese zeitliche Differenz erfordert nun auch den Rekurs auf das Objekt (a) als Substitut zur Herauslösung der Bedeutung aus dem Verhältnis Signifikant/Signifikat. Man kann sich sogar fragen, ob Derrida nicht einfach von Lacan dieses (a) übernom­men hat, das ihm die Bildung des in seiner Dekonstruktionsarbeit zentralen Begriffs der différance erlaubt. Für Lacan wäre das Ob­jekt (a) in gewisser Weise das Mittel, die Entleerung des Signifi­kats in der signifikanten Kette auszugleichen: »Die Ausfällung des Objekts (a) als Objekt-Ursache [cause: im Hintersinn auch das, was plaudert; A.d.Ü.] des Begehrens und Objekt des Begeh­rens als solches ist das, was das Subjekt zum Reden bringt, und zugleich das, worüber es reden wird, wobei es sich ihm doch ständig entzieht.«20 Der Arzt ist also froh darüber, die Anhörung seines Patienten an diesen Objekten (a) festmachen zu können.

Allerdings räumen nicht alle Analytiker, nicht einmal die stark von der Lacanschen Lehre geprägten, dem Objekt (a) dieses Ge­wicht ein: »Ich arbeite überhaupt nicht mit dem Objekt (a).«21

Am kritischsten geht André Green mit diesem Kernpunkt um. 1966 hatte er in den Cahiers pour l'analyse einen Text über das

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Objekt (a) publiziert, in dem er, von Frege ausgehend, den Standpunkt Lacans zu dieser Frage und Jacques-Alain Millers Auffassung über die Beziehungen zwischen (a) und der Naht darlegte. Damals war André Green, der gleichzeitig in der der IPA angehörenden Société psychanalytique de Paris (SPP) ver­blieb, von Lacans Arbeit fasziniert : »Die Liebe, die ich für Lacan empfand, hat sieben Jahre angehalten.«22 Green, derzeit Leiter der SPP, hat also einen überaus interessanten und zugleich beson­ders offenen Weg genommen, da er stark von der Lacanschen Lehre beeinflußt war und dennoch in institutioneller und theore­tischer Distanz geblieben ist. Seine Haltung entwickelte sich aus theoretischen Gründen zu einer immer deutlicheren Kritik der Lacanschen Position: »Je mehr Zeit vergeht, desto weniger bin ich seiner Auffassung, aber er hat mich tief geprägt.«23

André Green besucht Lacans Seminar im Januar 1961, was sei­ner Faszination für Winnicott keinen Abbruch tut, auf den er im Juli desselben Jahres beim Kongreß von Edinburgh stößt. Wenn André Green sich konzeptuell mit dem Objekt (a) auseinander­gesetzt hat, so sagt er heute: »Ich glaube nicht, daß die psycho­analytische Theorie sich mit einer Theorie des Partialobjekts be­gnügen kann. Indem man das sogenannte totale Objekt ausspart, führt man die Notwendigkeit des großen Anderen wieder ein, des großen A, das nichts anderes bedeutet als Gott.«24 Green fragt nach den augustinischen Quellen Lacans, und zwar insbe­sondere dem Augustinus der Pascalschen Lesart (Schriften über die Gnade) in ihrer Doppelung von Religion und mathematischer Formalisierung.25 Diese Doppelpoligkeit sieht Green auch bei Lacan am Werk. Nicht der Kirche, die er kritisierte, wohl aber ih­ren Vätern habe er die Chance zu einer Erneuerung gegeben: »Zuerst muß die Sache [die Frage des Filioque] struktural ange­gangen werden: Das allein erlaubt eine exakte Beurteilung der Funktion der Bilder. De Trinitate besitzt alle Merkmale eines theoretischen Werkes; wir können es als ein Modell heranzie­hen.« 26 Lacans Neulektüre Freuds verweist auf einen reinen Si-

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gnifikanten, der sich religiös deuten läßt. Ob nun die Ersetzung der Freudschen Kastration als Angst durch die Lacansche Einset­zung der Kastration in einen vom Namen-des-Vaters hergeleite­ten ontologischen Status oder die trinitäre Ordnung des Subjekts als Reales/Symbolisches/Imaginäres: die ganze christliche The­matik läßt sich bei Lacan nachweisen, der im übrigen ein großer Kenner der Schriften gewesen ist. Der große Andere steht in un­bestimmter Position zur Triebkette, er ist ein exterritorialer Si­gnifikant, ein wahres Äquivalent der Seele. »Lacan verwarf die Gefolgschaft, die Freud in Totem und Tabu Goethe geleistet hat — >Im Anfang war die Tat< —, und gestand ein, daß er ihr eine vom heiligen Johannes abgeleitete Formel vorziehe : >Im Anfang war die Sprache.·««27

Auch andere Lesarten sind möglich. So erkennt der Philosoph Alain Juranville im reinen Signifikanten zwar auch die Figur Got­tes wieder, jedoch nicht den Gott der Religion, sondern den einer absoluten Vernunft. Indes, die Äußerlichkeit gegenüber der Welt des Dings als inkarniertem Signifikanten verweist auf die beim heiligen Augustinus gegebene Erfüllung als Gottesgenuß jenseits der Abschließung der Welt. Lacans Position ist also durchaus ein radikaler, wenn auch dialektisch gewendeter Idealismus eigen. Bestätigt findet man diesen Idealismus, wenn Lacan die Welt als Phantasma setzt, wenn er die Einheit der Welt auf einen anfängli­chen Mangel, ein ursächliches Aufklaffen bezieht. Der Hauptsi­gnifikant ist überall und nirgendwo ansässig, er entzieht sich der innerweltlichen Welt und ortet sich gleichzeitig darin. Wie Gott ist er nur ein Name. Ein essentieller Name, ist er doch insofern die Bedingung, in dieser Welt zu sein, als man die Kastration als symbolische Operation ertragen haben muß. Lacans ganze Ar­beit der Kontextverschiebung, der Ausklammerung des orga­nischen Teils des Freudianismus, der Zuflucht zur Linguistik, dann zur Topologie als intellektualistischen und formalisierbaren Herangehensweisen läßt sich als säkulare Anstrengung deuten, an die Regel heranzureichen, an das Gesetz einer Ordensgeistlich-

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keit, die zu ihrem Heil gelangt, nachdem sie alle Auswege und Schlupflöcher verriegelt hat, die nicht zum großen Anderen füh­ren.

Diese christliche Lacan-Lesart könnte durchaus erklären, wes­halb zahlreiche Jesuiten — und bei weitem nicht die geringsten — wie Michel de Certeau oder François Roustang oder Katholiken wie Françoise Dolto das Lacansche Abenteuer begleitet haben: »Für mich bedeutet Lacan die Wiederbegegnung mit der katholi­schen, theologischen, nachtridentinischen Intelligenz, im Sinne einer erneuten Aufmerksamkeit für die Frage der Trinität«28, ge­steht der Philosoph Jean-Marie Benoist zu, worin er mit Philippe Sollers übereinstimmt. Beide glauben, daß Lacan die nachtriden-tinische Öffnung möglich gemacht hat, die des barocken Den­kens. Viele Christen sind Lacan gefolgt, »weil sie dachten, er werbe für Gott, bis sie merkten, daß er nur für sich selber warb«29.

Diese religiöse Dimension wurde sorgsam verhehlt, als die Stunde des Strukturalismus kam, wo nur von Wissenschaft, Theorie und Formalisierung die Rede war. Dennoch sind in den Seminaren die Spezialisten für Religionsgeschichte stark vertre­ten gewesen. Bernard Sichere ist indes nicht der Ansicht, daß La­can versucht hätte, einer katholischen Lesart von Freud zum Er­folg zu verhelfen, vielmehr habe er zu einer Zeit, als sich alles darum drehte, der abendländischen Metaphysik den Garaus zu machen, tatsächlich als einziger vertreten, daß man die religiöse Frage nicht umgehen könne, ohne der Rückkehr des Verdrängten in seinen fanatischsten und grauenhaftesten Formen zu verfallen: »Das heißt nicht, daß die Psychoanalyse religiös sein muß. Es heißt, sich zu fragen, weshalb einer von Freuds letzten Texten ge­rade Der Mann Moses und die monotheistische Religion gewesen ist.«30 In dieser Hinsicht haben sowohl Freud als auch Lacan die Religion in der Funktion eines über Jahrhunderte hinweg effi­zienten Vermittlers zwischen dem Verbot und der sexuellen Rea­lität gesehen und die Frage aufgeworfen, welcher Diskurs in der

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zeitgenössischen Gesellschaft an diese Stelle gerückt sei. Lacan aber ist konfrontiert mit der totalen Zerrüttung der Symbolik, in der nichts die vermittelnde Rolle des religiösen Diskurses über­nommen hat. Weder der politische noch der wissenschaftliche Diskurs können als dominierende und organisierende Fiktionen herhalten, so daß Lacan diese Statthalterrolle der Psychoanalyse zugewiesen hat, freilich ohne sich Illusionen hinzugeben: »Ideal­typisch, denn die Psychoanalyse kann keine Religion sein.«31

Der Affekt

Das Modell der signifikanten Kette hatte zur Folge, daß eine für bedeutungslos gehaltene Dimension fallengelassen wurde: die des Affekts — ein weiterer Kernpunkt der Kritik André Greens an Lacan. 1960 hatte Green in Bonneval den Vortrag von Jean Laplanche und Serge Leclaire über das Unbewußte gehört, und er teilte Laplanches Vorbehalte gegen die sprachliche Konzeption des Unbewußten. Zum selben Zeitpunkt erklärte Lacan beim Kolloquium von Royaumont über den Affekt: »Auf dem Freud-schen Felde sucht das Bewußtsein, trotz der Wörter, ebenso ver­geblich das Unbewußte auf seine Negation zu gründen (dies Un­bewußte stammt vom heiligen Thomas), wie der Affekt unfähig ist, die Rolle des protopathetischen Subjekts zu übernehmen [...].«32 Jean-Bertrand Pontalis bittet daraufhin André Green, in Les Temps Modernes eine Abhandlung über den Affekt zu schrei­ben. Der Aufsatz wird 1961 publiziert, und weitergefaßt greift André Green die Thematik in einem 1970 veröffentlichten Werk33 abermals auf: »Meines Erachtens gibt Lacan eine anti-freudsche Version des Unbewußten.«34

Für André Green beruht die Fruchtbarkeit der Freudschen Theorie auf der Heterogenität des Signifikanten. Freud faßt den Signifikanten nicht als eine Batterie austauschbarer Termini auf, die wie in der Sprache homogen zueinander sind, sondern als eine

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Reihe von Ebenen, deren Materialien unterschiedlicher Natur sind. Nach André Green gilt es, wie Freud zu differenzieren in : das Material der psychischen Triebrepräsentaten (die endosoma-tische Erregung), das Material des Unbewußten (die Sachvorstel­lung) und das Vorbewußte (die Sachvorstellung mit der Wortvor­stellung, die ihr korrespondiert). Diese Ebenen sind völlig verschieden und haben mitunter überhaupt keine Verbindung: »Beweis dafür ist, daß psychosomatische Störungen existieren, denen eine Repräsentanz gerade abgeht.«35 Lacan aber führt uns, so Green, zurück zu einer platonischen Auffassung, welche die Dinge auf eine Art Sprachessenz bezieht. Wo Freud heterogeni-siert, homogenisiert Lacan so weit, daß er den Intellektuellen ein reines Unbewußtes präsentieren kann, wohingegen laut Green die analytische Arbeit darin besteht, Rechenschaft von der Kom­plexität abzulegen. Diese Eliminierung des Affekts zugunsten ei­nes gereinigten Signifikanten erklärt, weshalb Saussure in sol­chem Maße als Inkarnation modernen Bewußtseins angesehen worden ist. Denn auch er mußte, um die wissenschaftliche Natur der Linguistik zu begründen, den Referenten, das Sprechen, das Einzigartige, die Diachronie usw. eliminieren. Die Devitalisie­rung des sprachlichen Sinns als der Preis, der für die Geburt der modernen Linguistik entrichtet wurde, findet mit der Lacan-schen Psychoanalyse ihre Entsprechung, die sich bei ihrer Leug­nung des Affekts auf den Saussureschen Schnitt stützen kann. Dabei läßt sie andere linguistische Quellen, die mehr vom Affek­tiven ausgehen, zum Beispiel die Arbeiten des Saussure-Schülers Charles Bally36, unberücksichtigt.

Das immer stärkere Formalisierungsstreben hat in beiden Fäl­len, in der strukturalen Linguistik wie in der Lacanschen Psycho­analyse, die Dimension des Affekts ausgeklammert. Die Sachlage scheint leichter beherrschbar, wenn man das Feld begrenzt und homogenisiert. Doch »der Affekt ist etwas, was man nicht wirk­lich in den Griff bekommt, etwas Flüchtiges, Verschwimmen­des, Diffuses, Abgründiges, voller Unordnung und Lärm. Ge-

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rade deshalb halte ich ihn für wesentlich.«37 Freud hat in seinen Studien über die Hysterie die Notwendigkeit betont, die trauma­tischen Erinnerungen wiederzufinden, aber auch den Affekt, der mit ihnen einhergegangen ist. Auf die den Psychoanalytikern so wichtige Kristallmetapher Bezug nehmend, vertritt Serge Vider-man die Auffassung, daß man in der Psychoanalyse der Illusion näher sei als dem Kristall. Die Negierung des Affekts, das schräg­gestrichene kleine (a) könnte auch auf eine Kerndimension der analytischen Therapie zurückzuführen sein, deren Lacan sich be­dient haben muß, gegen die er sich jedoch gleichzeitig bis zur Verdrängung hat absichern wollen: die Übertragung.

Einerseits hat Lacan in seinem Bemühen um Formalisierung und um Bereinigung der analytischen Situation die Übertragung auf ein Minimum reduziert, weil sie Quell der abwegigsten, der am schwersten rationalisierbaren Gefühle ist. Namentlich den Terminus Gegenübertragung hat er verbannt und unter der Ru­brik des Begehrens des Analytikers neutralisiert: »Er hat es ver­boten, davon zu sprechen oder diesen Ausdruck zu benutzen.«38

Derlei Ausblendung erleichterte er sich mit dem Vorwand, daß Freud selber sich zur Gegenübertragung recht wenig geäußert habe. Ob er sich dadurch auch gegen seine persönlichen Neigun­gen zu überschießender Affektion hat schützen wollen? Es ist nicht auszuschließen, daß er nachträgliche theoretische Rechtfer­tigungen ausgearbeitet hat, um seine eigenen affektiven Triebe im Zaum zu halten. Ist die Übertragung in der Therapie zurückzu­halten, so empfiehlt Lacan sie andererseits in der Vermittlung und Lehre der Psychoanalyse. Das erste Jahrbuch der Ecole freu­dienne präzisiert, daß der Unterricht der Psychoanalyse nur auf dem Wege einer Arbeitsübertragung möglich sei. Aber sie ändert ihren Charakter; als Vektor der Wissenschaft ist sie bar aller Ge­fühle und verweist auf »den, der angeblich weiß«. Das Lacansche Subjekt ist ein entkörperlichtes Subjekt. Wieder findet man die dem Strukturalismus eigene Thematik der Negation von Indivi­dualität und Singularität: »Die Lacansche Operation muß dop-

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pelt, das heißt vollkommen widersprüchlich sein. Einerseits muß sie die Subjektivität erhalten [...] und sie andererseits von jeder Inkarnation, Menschwerdung, Affektivität usw. entleeren, um sie zu einem mathematischen Objekt zu machen.«39

André Greens Kritik zur Frage des Affekts hält Jean Clavreul für nicht wirklich fundiert. Zwar hat Lacan sich stets den Wonnen der Intersubjektivität verweigert, in der man sich haßt oder liebt. Aber deshalb hat er den Affekt nicht übergangen; er spricht unausgesetzt von der Liebe, vom Haß, vom Verhaßlieben (bainamoration) und hat sogar der Angst ein Seminar gewidmet: »Allerdings weist Lacan auf so etwas wie eine Abhängigkeit des Affekts vom Spiel der Signifikanten hin.«40

Auch Serge Leclaire ist von André Greens Kritik an der Aus­klammerung des Affekts bei Lacan nicht überzeugt, da er diesen Affektbegriff für zu verschwommen hält und ihm den der Trieb­ökonomie oder -bewegung vorzieht. »Ich erinnere mich an ein Streitgespräch mit Green, in dem ich andere Formeln vorschlug und anmerkte, daß man zu einer Stelle neigt (affecter) oder seine Zuweisung (affection) bekommt, aber den Affekt zu einem Eck­stein zu erklären — das nun doch nicht.«41

Dennoch hat Lacan den Affekt durchaus einzusetzen gewußt, und zwar in der von ihm vorangetriebenen Beziehung der Arbeitsübertragung mit seinen Schülern. Er zögert nicht, die Ebenen zu vermengen, denn das aus einer persönlichen Analyse erworbene Wissen wird im Namen der Gebotenheit der Lehrver­mittlung sofort in den organisatorischen Macht- und Wissens­kreislauf rückinjiziert. In Reaktion auf diese Tendenz »ist die APF die einzige Vereinigung der Welt, in der es keine Didaktiker gibt, da man die Auffassung vertritt, daß die Analyse eine persön­liche Angelegenheit ist«42.

Immerhin verfolgen die von Lacan eingerichteten organisato­rischen Bindeglieder das Interesse, das analytische Wissen durch Anreicherung aus der fortlaufenden Arbeit unter Analytikern zu dynamisieren und zu verhindern, daß es im Dogma erstarrt. Die

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Vereinbarung der passe, die Kontrollen, die Vielzahl von cartels, dies sind Werkzeuge : »Ich habe über die passe gesagt, daß sie eine Beobachtungsstation für die Übertragungsverhältnisse ist.«43 Bei den cartels, Arbeitsgruppen von mindestens drei und höchstens fünf Personen, gibt es zwei Typen : Entweder es tritt eine Person von außen hinzu (»l'un en plus«), oder es verkörpert reihum einer aus der Gruppe selbst den »plus un«, auf den die Übertragung ge­schieht. Diese Maßnahmen sollen vor allem die als unvollendet betrachtete analytische Arbeit fortsetzen. Durch die oftmals hef­tigen Rückschläge des tätigen Unbewußten ermöglichen sie es, Selbsttäuschungen auszuräumen. Für Claude Dumézil hat Lacan den schwierigen, den einzig gangbaren Weg gewiesen, der darin besteht, nach und nach die Spielzeuge zu zerstören, deren er sich bedient, und damit die Möglichkeiten der analytischen For­schung offenzulassen.

Das mythologische Universum

Während die signifikante Kette bei Lacan auf der Ebene des Un­bewußten funktioniert, liegt sie für Lévi-Strauss in der unaufhör­lichen Bezugnahme der Mythen untereinander und eröffnet den Zugang zur Bedeutung der Mythologie. Die Matrix der Bedeu­tungen läßt sich aufgrund von Transformationen sichtbar ma­chen, die den Verdichtungs- und Verschiebungsvorgängen des Unbewußten nahekommen. Aus einer regelrechten Syntax sol­cher Transformationen ergibt sich nach Lévi-Strauss die Struktur der Mythen. Die Tetralogie Mythologica, die Lévi-Strauss den Mythen widmet, nimmt Abstand von der zu Anfang des Jahr­hunderts vorherrschenden symbolistischen Theorie, die die my­thische Erzählung als von ihrem Umfeld abgeschnittenes Objekt betrachtete und die je einzelnen Termini der mythischen Erzäh­lung auf einen verborgenen Sinn hin untersuchte. Lévi-Strauss' Vorgehen versteht sich auch als Überwindung des Funktionalis­mus, der mit Malinowsky darauf abzielt, der sozialen Funktion der Mythen in ihrem besonderen Kontext Rechnung zu tragen. Lévi-Strauss integriert die Untersuchung der Mythen in ein sym­bolisches System, legt dabei aber die Betonung auf den Begriff des Systems, des Gefüges, der Struktur, indem er den Mythos in Minimaleinheiten — Mytheme — unterteilt, die er in Paradigmen einordnet. Sein Versuch erstreckt sich also im wesentlichen auf eine interne Dekodierung des Mythendiskurses. Die Mythen werden aufeinander bezogen und, anders als bei den Funktionali-sten, weitgehend unabhängig von den Kommunikationsbedin­gungen und von ihrer Funktion untersucht. Ziel des Unterneh­mens ist, über die Ermittlung ihrer Verschiedenheit eine allen

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Mythen gemeinsame Struktur zu restituieren. Aus der Gegen­überstellung ihrer Differenzen und Variationen soll die Intelligi-bilität der Mythen erwachsen. Diese Ausrichtung hatte bereits Wladimir Propp 1928 vorgeschlagen. Die Mythenanalyse mit der Arbeit der Pénélope vergleichend, weist Lévi-Strauss auf den Un­endlichkeitscharakter der Dekodierarbeit und auf die Relativität der daraus zu beziehenden Erkenntnisse hin : »Wie beim Mikro­skop [...] hat man auch hier nur die Wahl zwischen mehreren Ver­größerungen.« 1

Der Mythos als Modus der Derealisierung

Lévi-Strauss betrachtet die Mythen nicht als Materialien, um eine Gegenüberstellung von Infrastruktur und unbewußtem Psychis­mus zu erarbeiten, sondern als mögliche Schlüssel zu den Träu­men, zu den Invarianten des menschlichen Geistes. Sie sind das Objekt par excellence, das sich dem äußeren Determinismus, den sozialen Zwängen am ehesten entzieht. Und unter diesem Ge­sichtspunkt sind sie besser geeignet als die Verwandtschaftsbe­ziehungen, um an die eigentlichen Strukturen des menschlichen Geistes heranzukommen: »Sie [die Mythen] ermöglichen es, ei­nige Operationsweisen des menschlichen Geistes zutage zu för­dern, die im Lauf der Jahrhunderte so konstant und über unge­heure Räume hinweg so allgemein verbreitet sind, daß man sie für grundlegend halten und versuchen darf, sie in anderen Gesell­schaften und anderen Bereichen des geistigen Lebens wiederzu­finden [...].«2 Ihre Bedeutung wird also aus einer signifikanten Kette hervorgehen, und nach Art der Lacanschen Konzeption des Unbewußten wird das Signifikat, ohne dabei ausgeschlossen zu werden, unter dieser Kette gleiten. Dieses Bedeutungssystem, das intern mit einer gewissen Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Realen funktioniert, negiert jedoch keineswegs die Umge­bung, die lokal die Mitteilung der mythologischen Botschaft be-

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stimmt: »Die mythische Syntax [...] unterliegt auch den Zwän­gen der geographischen und technologischen Infrastruktur.«3

Gleichwohl werden die Mythen untereinander gedacht, jenseits der Diversität der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat. Sie werden als Derealisierungsmodus verstanden, als ununterbro­chener Ausfluß von in ihren internen Variationen zu erfassenden Vorstellungen: »Die Mythen sagen letztlich alle dasselbe.«4 Sie verweisen auf eine doppelte Einheit: die Einheit des Systems, in das sie integriert sind, und die Einheit der Botschaft, auf die sie sich beziehen. Somit signifiziert der Mythos in der Selbstbezüg-lichkeit der Botschaft und in ihrer Beziehung zu einer anderen Botschaft seine Bedeutung in einer verdoppelten Emphase.

Die signifikante Kette des Mythos

Lévi-Strauss' Beschäftigung mit der Mythologie der amerika­nischen Indianer begann sehr früh, mit seinem ersten Unter­richtsjahr in der Sektion Religionswissenschaften der EPHE, das 1951/52 der »Wiederkehr der Seelen« gewidmet war: »Meine Gedanken über die Mythologie [...] wurden an der Ecole Pratique des Hautes Etudes entworfen.«51955 legt er dann in seinem Arti­kel über »Die Struktur der Mythen«6 die methodologischen Prinzipien dar, nach denen die konstitutiven Einheiten des My­thos keine isolierten Beziehungen sind, sondern Beziehungs­bündel, die nur durch Kombination eine Bedeutungsfunktion erlangen: »Dieses System hat somit zwei Dimensionen: eine diachronische und eine synchronische.«7

Der Anthropologe soll nicht mehr den letzten Sinn, die Es­senz des Mythos in einer Invariante suchen, sondern jeden My­thos in der Gesamtheit seiner Versionen definieren und damit zu einer signifikanten Kette gelangen, da nur sie anstelle des an­fänglichen Chaos einen Ausgangspunkt interpretativer Ord­nung setzen kann. In der Wiederholung muß die Struktur des

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Mythos zutage treten, die somit einem oder mehreren Codes un­terliegt, in denen sich die mythische Substanz der Botschaft ver­birgt.

Das wilde Denken, erschienen 1962, ist ein Präludium der spä­teren Tetralogie. In diesem Werk will Lévi-Strauss zeigen, daß das mythische Denken ebenso strukturiert ist wie das wissenschaftli­che Denken, es sei genauso fähig zu Analogien und Verallgemei­nerungen. Er geht mit Jungs Archetypenlehre und seinem Begriff vom kollektiven Unbewußten ins Gericht und erklärt, eine »Theorie des Überbaus«8 skizzieren zu wollen. Beruhen soll diese auf der Verbindung mehrerer Erklärungssysteme sowie auf der Wiedereinsetzung des Mythos in die signifikante Kette der anderen Mythen, von denen er nur ein Element eines allgemeinen Transformationsprozesses ist. In diesem Sinne sind die aus der Phonologie übernommene binäre Opposition, die Opposition zwischen markierten oder nichtmarkierten Termini und vor al­lem der Umstand, daß die Bedeutung aus der Position resultiert, allesamt mythenanalytische Anleihen aus der Linguistik, die sich mehr denn je als heuristisches Modell aufdrängt. Die Substitution eines Elements durch ein anderes in der signifikanten Kette erfor­dert interne Verschiebungen im mythischen System.

Arbeitsgegenstand des Anthropologen ist also die »Einord­nung aller bekannten Varianten eines Mythos in eine Reihe«9. Die Emphase, die Wiederholung nimmt einen besonderen Rang ein; sie ist essentiell insofern, als sie die Struktur des Mythos selbst in seiner doppelten, seiner synchronischen und diachroni­schen Dimension manifestiert. Das mythische Denken, »eine Art intellektuelle Bastelei«10, verwertet in einem fortwährenden Pro­zeß Ereignisreste, weshalb sich Lévi-Strauss gegen das Suchen nach den letzten Ursprüngen ausspricht, da es ja gerade Sache der Analyse sei, jeden Mythos durch die Gesamtheit aller seiner Ver­sionen zu definieren. Damit fordert er zu einer unbegrenzten, endlosen Suche auf, denn das mythische Denken springt kraft ständig stimulierter Fruchtbarkeit immerzu in neue Gefüge über,

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in Umkehrungen und Begriffsvertauschungen, die in von Mal zu Mal komplexere Kombinationen integriert werden.

In diesem Spiel ist gleichwohl ein Bereich zu erkennen, der im toten Winkel des anthropologischen Blicks liegt und im Zuge sei­nes Gleitens unter der signifikanten Kette als Analysehorizont entschwindet: die soziale Realität. Die Bezugnahme auf das Ökosystem, auf die gesellschaftliche Organisation nimmt erst durch Einbettung in eine signifikante Kette Sinn an, die per Defi­nition abseits einer stets auf Abstand gehaltenen referentiellen Realität errichtet wird. Die distinktiven Oppositionen sind inner­halb der Struktur angesiedelt und konstituieren wiederum die Strukturalität der signifikanten Kette.

Das Subjekt ist, auf die gleiche Weise wie bei Saussure, aus die­ser wissenschaftlichen Perspektive ausgeschlossen: »Das Subjekt bildet ein epistemologisches Hindernis« n für Lévi-Strauss. Für ein »Ich denke« gibt es keinen Platz: »Mythen haben keinen Au­tor« n. So führt Lévi-Strauss sein Werk der Dezentrierung eines Subjekts fort, das von einem mythologischen Universum be­herrscht wird, welches ohne sein Wissen in ihm spricht. Der Mensch ist als Analyseebene nur relevant, um die seiner Denk­weise innewohnenden organischen Zwänge zu offenbaren : »Das Problem besteht also darin, diese geistigen Schranken zu definie­ren und zu inventarisieren.«13 Im Grunde genommen verfolgt Lévi-Strauss seit der Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen das gleiche Ziel, bloß mittels anderer Untersuchungsgegen­stände. Es gibt also keinen signifikanten Bruch in seinem kohä­renten Werk, das sich an der Nahtstelle von Natur und Kultur ansiedelt, um die natürlichen Grundlagen der Kultur zu unter­mauern (und damit die Anthropologie zu einer Naturwissen­schaft erhebt, befreit von der Vormundschaft der Philosophie, die Lévi-Strauss verwirft und gegen die er wiederholt spöttisch polemisiert).

Das mythologische Universum 371

Der Referenzmythos

Nachdem er die Grundlagen seiner Methode befestigt hat, eröff­net Lévi-Strauss seine Erkundung auf dem weiten Feld der india­nischen Mythen Amerikas mit der 1964 erschienenen Studie Das Rohe und das Gekochte. Dabei geht er von einem Referenzmy­thos aus, dem sogenannten Mythos vom »Vogelnestausheber« der Bororo-Indianer Zentralbrasiliens, der als Grundlage der Un­tersuchung von hundertsiebenundachtzig Mythen dient, die zu etwa zwanzig Stämmen gehören und zusammen eine Reihe bil­den, welche die Frage nach dem Ursprung der Nahrungszuberei­tung, der Küche beantwortet. Die Geschichte geht so :

Ein Sohn, der sich des Inzests mit seiner Mutter schuldig ge­macht hat, wird von seinem Vater losgeschickt, den Seelen der Toten die Stirn zu bieten. Dank einer guten Großmutter und eini­ger Tiere kann er sich seines Auftrags entledigen. Erzürnt, seine Pläne vereitelt zu sehen, fordert der Vater seinen Sohn auf, mit ihm zu kommen, um Aras zu fangen, die an den Felswänden ni­sten. Die beiden Männer gelangen zum Fuß der Felswand : Der Vater stellt eine lange Stange dagegen und befiehlt seinem Sohn hinaufzuklettern. Kaum hat dieser die Höhe der Nester erreicht, schlägt sein Vater die Stange nieder, und die Aasgeier stürzen sich auf den Sohn. Nachdem sie sich an seinen Hinterbacken gesättigt haben, retten die Vögel ihn. Zurück im Dorf, rächt sich der Sohn. Er verwandelt sich in einen Hirsch und geht mit solcher Wucht auf seinen Vater los, daß er ihn aufspießt. Von dem makabren Festmahl bleiben nur die entfleischten Knochen auf dem Grund des Wassers und die Lungen, die in Form von Wasserpflanzen auf der Oberfläche schwimmen. Auch an den Frauen seines Vaters (darunter seine eigene Mutter) wird er sich rächen.

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Die Dekodierung : die kulinarische Vermittlung

Lévi-Strauss' Vorgehen ähnelt der Freudschen Analyse der Träume, denn jede Sequenz wird aus ihrem Kontext herausgelöst und mit anderen Sequenzen in anderen Mythen verglichen. Gleichwohl unterscheidet sich die Frageweise grundlegend von der Psychoanalyse, denn die Deutung verhält sich gleichgültig gegenüber der Verfehlung des Sohnes, dem Inzest, sie bemüht sich vielmehr darum, die Oppositionen zwischen den sinnlichen Qualitäten anhand der binären Organisation ihrer Positionen zu erschließen. Die Bororo scheinen in diesem Mythos der inzestuö­sen Verfehlung ledig. Der wahre Schuldige ist weniger der Inzest­täter, der als Held erscheint, als vielmehr der Vater, der sich an seinem Sohn hat rächen wollen und mit dem Tod bestraft wird. Der Gegenstand des Mythos liegt nach Lévi-Strauss anderswo: nicht im Inhalt seines Wortlauts, sondern in der Erklärung des Ursprungs der Nahrungszubereitung — ein Motiv, das gar nicht vorzukommen scheint —, weil nämlich die Küche die Vermitt­lungsoperation par excellence zwischen Himmel und Erde, zwi­schen Natur und Kultur ist. Die Ursprungsmythen vom Feuer lassen eine doppelte binäre Opposition erkennen, die zwischen »roh« und »gekocht« und zwischen »frisch« und »verfault«. Die Achse, die »roh« und »gekocht« verbindet, obliegt der Kultur, während jene, die »frisch« und »verfault« verbindet, der Natur zugehört. Das Feuer, der wesentliche Vermittler für die Entste­hung der Küche, übt seine Funktion auf zweierlei Weise aus. Es vermeidet durch die Vereinigung von Sonne und Erde die Dis­junktion, es bewahrt den Menschen vor dem Verfaulten, aber be­seitigt auch die Risiken einer Konjunktion, aus der eine ver­brannte Welt entstünde. Die Grundregel von Lévi-Strauss' Interpretation besteht darin, die Dekodierung auf die Binnenor­ganisation des Mythos zu zentrieren und so von verschiedenen Mythemen her zu paradigmatischen Ensembles zu gelangen. Um den Sinn dieses Referenzmythos zu erhellen, muß eine tiefere Ra-

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tionalität zugrunde gelegt werden, die sich herleiten läßt aus der Erforschung der permutierenden Ensembles, der Artikulationen der Zeichensysteme, die in einer langen Mythenreihe zutage tre­ten; daraus ergibt sich die Notwendigkeit dieser ausführlichen Vergleichsforschung, die für die signifikante Reihe konstitutiv ist.

Ausgehend von empirischen, beobachtbaren Kategorien wie »gekocht« und »roh«, »feucht« und »verbrannt«, restituiert Lévi-Strauss hinter diesen ethnographischen Beobachtungen konzeptuelle Werkzeuge, abstrakte Begriffe, die die Denkweise der primitiven Gesellschaften erhellen. Er nimmt also die ethno­graphische Beobachtung durchaus ernst, hält aber gleichwohl ei­nen theoretischen Horizont für vorrangig. Den im mythischen Diskurs erkennbaren sinnlichen Qualitäten wird logische Quali­tät zuerkannt, welche die fünf Sinne um fünf Grundcodes ver­doppelt. Wie Lacans Auffassung des Unbewußten ist auch das mythische Denken wie eine Sprache strukturiert. »Indem das mythische Denken sein Material der Natur entnimmt, geht es wie die Sprache vor, welche die Phoneme unter den natürlichen Lau­ten auswählt.«14

Das Infra- und das Suprakulinarische

Im zweiten Band der Mythologie^ Vom Honig zur Asche, geht Lévi-Strauss von den Oppositionen zwischen sinnlichen Qualitä­ten zu den Oppositionen von Formen über: hohl/voll, Behälter/ Inhalt, intern/extern. Es zeigt sich, daß die Analyse komplexer wird und sich nun mit weniger durchschaubaren Mythen befaßt, die zwar durchaus das gleiche aussagen, aber ungleich differen­zierter. Diese Mythen spiegeln eine neue Dimension wider, näm­lich die des Übergangs von der Kultur zur Gesellschaft, von der paläolithischen Ökonomie zur neolithischen Ökonomie, von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Ackerbaugesellschaft. Mit den Gegenständen Honig und Tabak erforscht Lévi-Strauss aber-

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mais den Bereich der Küche, allerdings im weiteren Sinne, denn beide erscheinen als »kulinarische Paradoxa«15. Der Honig wird von den Indianern als fertiges Nahrungsmittel, als eine Gabe der Natur betrachtet ; er ist also ein infrakulinarisches Erzeugnis. Der Honig, Symbol des Abstiegs zur Natur, kann gut sein, aber er kann genausogut giftig sein. Er ist also ambivalent und birgt in dieser Hinsicht Risiken, wie sie der Mythos vom »nach Honig verrückten Mädchen« veranschaulicht, der auf die Verführbarkeit der Kultur durch die natürliche Ordnung und auf die Gefahr ihrer Auflösung verweist. Hingegen ist es die Funktion des Tabaks, der ein suprakulinarisches Erzeugnis ist, die Beziehung zwischen der Ordnung der Natur und der Kultur wiederherzustellen, die vom Honig aufgelöst werden kann. Mit seinen nach oben strebenden Rauchkringeln bindet er, was der Honig aufgelöst hat, im Modus des Aufsteigens an die Kultur zurück. Die zweite Verschiebung, die Lévi-Strauss vornimmt, besteht in der Unterscheidung zwi­schen einer symbolischen Ebene von unmittelbar wahrnehmba­ren Bildern und einer — neuen — Kategorie des Imaginären, die sich dann einschaltet, wenn ein Bild benötigt wird, das der Sym­bolismus nicht enthält: »Wir sehen alle die großen mythischen Themen umgekehrt [...], etwa so, als gälte es, die Darstellung ei­nes Wandteppichs anhand des Fadenlabyrinths zu entziffern, das man auf der Rückseite sieht [...].«16

Das menschliche Leben muß also ein empfindliches Gleichge­wicht zwischen den zwei Gefahren finden, die eine Natur ohne Kultur und eine Kultur ohne Natur darstellen, da sie beide das Risiko einer Hungersnot bergen. Diese dialektische Wendung des Verhältnisses Natur/Kultur, in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft zunächst als Tatsache, als Ordnung der Dinge aufgefaßt, wird hier als ein Mythos begriffen, den die Kultur braucht, um sich mit und gegen die Natur zu konstituieren: »Un­ter dem Einfluß von neueren Erkenntnissen in der Tierpsycholo­gie und in den Naturwissenschaften [bin ich] dazu übergegan­gen, Begriffe der Kulturordnung einzuführen.«17 Die Opposition

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Natur/Kultur verschiebt sich nunmehr vom Status einer dem Realen immanenten Eigenschaft zu einer dem menschlichen Geist eigenen Antinomie: »Der Gegensatz ist nicht objektiv, es sind die Menschen, die das Bedürfnis haben, ihn zu formulie­ren.« 18 Der ethnographische Kontext bildet nur den Rahmen, den Ausgangspunkt für eine Reflexion, die sich von den Bräu­chen, Vorstellungen und Riten der Populationen, aus denen der Mythos stammt, lösen muß, um ein höheres Abstraktionsniveau zu erreichen, so daß »der Kontext eines jeden Mythos mehr und mehr aus anderen Mythen besteht«19. Mithin stellen Honig und Tabak, im Unterschied zu den statischen Begriffen »roh« und »gekocht«, dynamische Ungleichgewichte dar, Oppositionen nicht in räumlichen, sondern in zeitlichen Termini.

Die kulinarische Moral

Im dritten Band, Der Ursprung der Tischsitten, erweitert Lévi-Strauss sein bisher auf Südamerika begrenztes Areal und bezieht in seine komparative Studie Mythen der Indianer Nordamerikas ein. Er begibt sich auf ein noch komplexeres Niveau, indem er an­stelle der Termini die Opposition zwischen den verschiedenen Gebrauchsweisen erforscht, an die sie gebunden oder nicht ge­bunden sind. Wir bleiben auf dem Gebiet der kulinarischen Ver­mittlung, allerdings mit einem neuen und zentralen Gegenstand, nämlich dem Erscheinen der Moral. Es ist dies die dritte Darstel­lungsebene der Logiken: Nach der Logik des Sinnlichen und je­ner der Formen geht es nun um eine Logik der Aussagen.

Die geregelte Welt ist auch eine bedrohte Welt, sobald man in ihr die Grenzlinien verschiebt, sobald man die üblichen Abstände überschreitet. Die guten Sitten spielen auf dieser Ebene eine regu­lierende Rolle. Jeder Verstoß zieht Störungen nach sich, denen dann das ganze natürliche wie kulturelle Universum ausgesetzt ist. Lévi-Strauss hält zwei Ethiken gegeneinander: Während der

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Abendländer die Vorkehrungen der Hygiene einhält, um sich als einzelnen zu schützen, respektiert man sie in den sogenannten primitiven Gesellschaften, damit die anderen nicht der eigenen Unsauberkeit zum Opfer fallen. Der »Wilde« beweist so im Un­terschied zum »Zivilisierten« mehr Demut vor der Ordnung der Welt.

Nachdem er sich dem Ursprung der Küche und ihrer Umge­bung gewidmet hat, versucht Lévi-Strauss also, ihren Umfang auszumachen: die verschiedenen Arten des Zubereitens und Ver-speisens der Gerichte. Jede Etappe illustriert die Tatsache, daß »die Kultur sich nicht als ein Bereich, sondern als eine Operation definiert, jene nämlich, die aus der Natur ein wahrhaftes Univer­sum macht. [...] Diese Operation ist eine Vermittlung, die zu­gleich trennt und vereint.«20 Natur wird also ständig kulturali-siert und Kultur im Gegenzug naturalisiert, wobei das mythische Denken in beide Richtungen wirkt.

Die Tetralogie

Als 1971 der vierte und letzte Band dieser Tetralogie, Der nackte Mensch, erscheint, ist ein Ausnahmewerk vollbracht, die Mytho­logie^ die Lévi-Strauss sieben Jahre beschäftigt haben. Die Presse begrüßt das Ereignis seiner Bedeutung gemäß. Le Monde publi­ziert ein Dossier; darin liest man neben einem Gespräch, das Lévi-Strauss Raymond Bellour gewährte, Artikel von Hélène Cixous: »Der Blick eines Schriftstellers«, von den Historikern Marcel Détienne und Jean-Pierre Vernant : »Eurydike, die Bie­nen-Frau«, und von dem Linguisten und Musikwissenschaftler Nicolas Ruwet: »Wer hat geerbt?«, sowie einen Aufsatz von Ca­therine Backès-Clément.

Das Fernsehen bietet den Zuschauern sogar einen »lehrreichen Sonntag«, wie Le Figaro es nannte: Lévi-Strauss ist Sonntagsgast. Er beschließt, hauptsächlich das von ihm gegründete Laboratoire

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d'anthropologie sociale zu porträtieren, und so werden zahlrei­che Feldforschungen vorgestellt, die von Françoise Zonabend, Pierre Clastres, Maurice Godelier und Françoise Izard durchge­führt worden waren. Der nackte Mensch wie die Tetralogie insge­samt werden einhellig gerühmt.

Der vierte Band scheint zunächst von den ersten dreien inso­fern abzuweichen, als nicht mehr von Küche oder kulinarischen Metaphern die Rede ist. Tatsächlich jedoch bilden die Bände eine tiefe Einheit, und für Lévi-Strauss war von Anfang an klar, daß, wenn der erste Terminus der Mythologica »cru« lautete, der letzte » nu« sein würde, da er am Ende seiner mythologischen Reise das Äquivalent seines brasilianischen Referenzmythos der Bororo wiederfindet. Überdies, »wenn für die Indianer des tropischen Amerika der Übergang von der Natur zur Kultur durch den Übergang vom Rohen zum Gekochten symbolisiert ist, so ist er für die Indianer Nordamerikas symbolisiert durch die Erfindung der Ausstaffierung, des Schmucks, der Kleidung und, darüber hinaus, des Handelsaustausche«21. Dem in den Naturzustand — das heißt auf den Zustand des Rohen — zurückgeführten Helden des tropischen Amerika entspricht in Nordamerika der in den Zustand der Nacktheit zurückgeführte Held.

Dieses Buch kehrt zu den Determinismen zurück, die der ökonomischen Infrastruktur eignen. Die Tetralogie vollendet sich mit dem Nackten Menschen: »Damit schließt sich ein großes Sy­stem, dessen invariante Elemente sich stets in Form einer Schlacht zwischen der Erde und dem Himmel um die Eroberung des Feuers darstellen lassen.«21 Das entscheidende, grundlegende Element ist die Eroberung des Feuers im Himmel durch einen ir­dischen Helden, der sich, freiwillig oder nicht, darauf eingelassen hat. Der Erdofen erscheint als Hauptoperator der doppelten Er­oberung von Feuer und Wasser durch die kulinarische Kunst des Kochens. Der Erdofen, der Angelpunkt dieser mythischen Er­zählungen, spielt als Hauptoperator die Rolle eines formalen Schemas: »Das antizipierte Bild des Erdofens [...] determiniert

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den Übergang vom Zustand der Natur zum Zustand der Gesell­schaft.« 23

Im »Finale« vom Nackten Menschen, das nach Art eines musi­kalischen Motivs auf die Ouvertüre des ersten Bandes antwortet, erinnert Lévi-Strauss an die methodologische Notwendigkeit, daß für den Zugang zur Struktur das Subjekt zurücktreten muß. Indem er so das Subjekt aufs Korn nimmt, greift er die Polemik wieder auf, die er gegen die Anmaßungen des philosophischen Diskurses geführt hat. Den Kritikern, die ihm vorgehalten haben, daß er durch seine formalen Reduzierungen der Botschaften, die die von ihm untersuchten Gesellschaften formulieren, das menschliche Universum einer Verarmung unterziehe, entgegnet er: »Freilich ist es der Philosophie allzu lange gelungen, die Wis­senschaften vom Menschen in einem Zirkel gefangenzuhalten, da sie ihnen nicht gestattete, dem Bewußtsein einen anderen Unter­suchungsgegenstand zuzuerkennen als es selbst. [...] Was nach Rousseau, Marx, Durkheim, Saussure und Freud der Struk­turalismus zu vollenden sucht, ist, dem Bewußtsein ein anderes Objekt zu enthüllen; das heißt, es gegenüber den menschlichen Erscheinungen in eine Position vergleichbar derjenigen zu verset­zen, von der die Naturwissenschaften bewiesen haben, daß nur sie der Erkenntnis ermöglichen konnte, sich zu üben.«24 Im Ho­rizont dieser Kritik steht die Hoffnung, den Status der Naturwis­senschaft dadurch zu erreichen, daß man u. a. unter Zuhilfenahme des anthropologischen Wissens Zugang zu den Funktionsbedin-gungen des menschlichen Geistes hat. Die innere Spannung zwi­schen Natur und Kultur verdoppelt sich um die Spannung inner­halb von Lévi-Strauss' Diskurs selbst: seinen Ehrgeiz, an die unantastbaren Gesetze der neuronalen Natur des menschlichen Gehirns heranzukommen, und den beharrlichen Willen des Schöpfers, der das Forschungsterrain der Humanwissenschaften gewählt hat, um ein Kunstwerk zu schaffen.

Diese Spannung ist in der Komposition der Mythologica selbst erkennbar, die nach dem Muster der Tetralogie Wagners entwor-

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fen ist — mit einer Ausnahme, wie Catherine Backès-Clément zeigt25: Das Rohe und das Gekochte handelt vom Ursprung der Küche und doppelt damit das Thema der Genese von Welt und Gesetz im Rheingold Der Ursprung der Tischsitten entspricht mit seiner Behandlung der Verwandtschaftsbeziehungen, der Inzeste und ihrer Vermeidung der Walküre. Vom Honig zur Asche korre­spondiert mit Siegfried als Akkulturation der Wildheit und Der nackte Mensch selbstverständlich der Götterdämmerung als Rück­kehr zu den Ursprüngen nach dem Verschwinden des errichteten Systems, um dann zum »Finale« zu gelangen. Die musikalische Analogie ist durchgehalten seit der Definition des Mythen-Pro­jekts in der »Struktur der Mythen«, wo Lévi-Strauss den mytho­logischen Gegenstand mit einer Orchesterpartitur vergleicht, die vertikal und horizontal gelesen werden muß. Das Rohe und das Gekochte ist der Musik gewidmet und nimmt die Gestalt einer Fuge an. Noch ausdrücklicher ist die musikalische Bezugnahme im Nackten Menschen: »Mir [...] scheint es gewiß, daß ich ver­sucht habe, mit Sinn ein Werk vergleichbar mit denen zu errich­ten, welche die Musik mit Tönen schafft.«26

Musik und Mythologie erscheinen Lévi-Strauss als aufeinan­der bezogene Bilder seit Erfindung der Fuge, deren Aufbau sich in der mythischen Erzählung wiederfindet. Die Musik hat das Erbe des Mythos angetreten : »Wenn der Mythos stirbt, wird die Musik auf dieselbe Weise mythisch, wie die Kunstwerke [...].«27

Andererseits wird die wissenschaftliche, wenn nicht szientisti-sche Perspektive des Programms der strukturalistischen An­thropologie fortwährend und mit zunehmendem Optimismus hinsichtlich ihres Analysevermögens wiederholt: »Der Struktu­ralismus [...] unterbreitet den Wissenschaften vom Menschen ein epistemologisches Modell, das unvergleichlich stärker ist als jene, über die sie zuvor verfügten.«28 Das zielt natürlich auf die Philo­sophie, die stets das Subjekt privilegierte, dieses »unerträglich verwöhnte Kind, das allzu lange die philosophische Szene be­herrscht [...] hat«29.

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Ein naturalistischer Strukturalismus

Wenn Lévi-Strauss den Menschen wiederfindet, dann als menschliche Natur, und er stützt sich im Nackten Menschen auf die Forschungen über den Sehvorgang, über die Hirnrinde, die zeigen, daß die Wahrnehmungsdaten in Form binärer Oppositio­nen bearbeitet werden. Damit wäre Binarismus nicht bloß ein äu­ßerer logischer Apparat, der dem Realen übergestülpt würde, sondern reproduzierte eigentlich nur die Natur der Funktions­weise des menschlichen Körpers, »und wenn er eine unmittelbare Eigenschaft unserer nervlichen und zerebralen Organisation bil­det, dürfte es nicht verwundern, daß er auch den am besten geeig­neten gemeinsamen Nenner liefert, um menschliche Erfahrungen in eins zu bringen, die, oberflächlich betrachtet, nicht aufeinan­der rückführbar scheinen«30.

Lévi-Strauss hegt also die Hoffnung, am Tag des Jüngsten Ge­richts im Kreise der Naturwissenschaftler zu erwachen. Das aber hat seinen Preis : Die narrativen Inhalte der Mythen sind aus der signifikanten Kette zu beseitigen und, wie bei den Phonemen, die Mytheme auf einen oppositiven Wert zu reduzieren. Die Erobe­rung der Wissenschaft gründet sich somit auf Beziehungen der Kompatibilität bzw. Inkompatibilität, doch sie führt Lévi-Strauss zu einem »logischen Formalismus«31, der dazu verhilft, die My­theme im Innern eines Mythos zueinander in Beziehung zu set­zen. Dieser Formalismus untermauert sowohl die syntagmatische Verkettung als auch die Überlagerung von Mythemen, die ver­schiedenen Mythen entnommen werden und die paradigmati­schen Ensembles konstituieren. Der Geist wiederholt die Natur, weil er Natur ist; diese Isomorphie ist total und stellt den tradi­tionellen Einschnitt zwischen diesen beiden Realitätsordnungen in Frage. In dieser Hinsicht kann man von einem radikalen Mate­rialismus Lévi-Strauss' sprechen, der auf die Frage, auf welches letzte Signifikat diese signifikanten Ketten verweisen, präzisiert : »so ist die einzige Antwort, die dieses Buch andeutet, die, daß die

Das mythologische Universum 381

Mythen den Geist bezeichnen, der sie mit Hilfe der Welt, von der er selbst ein Teil ist, erarbeitet«32.

Folglich ist in diesen mythologischen Ketten sehr wohl ein Kausalismus am Werk, aber er ist neuronal und impliziert per De­finition das weitestgehende Abrücken vom semantischen Inhalt der mythologischen Aussagen, vom sozialen Referenten, auf den er verweist. Dieser soziale Referent kommt in den Mythologica zwar vor, da diese alle ethnographischen Informationen Lévi-Strauss' zusammentragen, aber seine Relevanz wird auf ein blo­ßes Dekorum reduziert, ein reines Ausgangsmaterial, dessen man sich bedient, ohne daß es einen entscheidenden Einfluß auf die Denkweise nähme. Denn nur auf dem grammatikalischen Niveau offenbart der Mythos die logischen Regeln seiner Aussage, wes­halb es die einzige relevante Ebene seiner Notwendigkeit dar­stellt. Allein die grammatikalische Ebene erlaubt den Zugang zu den mentalen Bereichen und enthüllt durch das Symptom, für das sie steht, was sie zu sagen vermeidet. Die Wahrheit des Mythos besteht »in inhaltslosen logischen Beziehungen oder genauer sol­chen Beziehungen, deren invariante Eigenschaften ihren opera­torischen Wert erschöpfen«33. Damit kann Lévi-Strauss die Spie­gelbeziehung zwischen sozialer Realität und Mythos umgehen. Er entrât mit Recht den Mechanismen, die einem Widerspiege­lungsdenken eignen, dies jedoch, um es durch eine der Mytholo­gie interne Logik zu ersetzen, die sich jeder äußeren Regel mit Ausnahme der neuronalen entzieht.

Die notwendige Autonomisierung des kulturellen Feldes ge­genüber dem sozialen Feld wird bis ans Ende ihrer Logik getrie­ben, bis es einen vom letzteren unabhängigen Horizont bildet. Das phonologische Modell dient als theoretische Begründung für das Extrahieren des sozialen Inhalts, der Botschaft zugun­sten des Codes : »Die Aussage, nach der die Elemente, die den Mythos bilden, unabhängiger Bedeutung entbehren, ist eine Folge der Anwendung phonologischer Methoden auf die My­then. In der Tat ist die Abwesenheit von Bedeutung ein Kenn-

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Ein naturalistischer Strukturalismus

Wenn Lévi-Strauss den Menschen wiederfindet, dann als menschliche Natur, und er stützt sich im Nackten Menschen auf die Forschungen über den Sehvorgang, über die Hirnrinde, die zeigen, daß die Wahrnehmungsdaten in Form binärer Oppositio­nen bearbeitet werden. Damit wäre Binarismus nicht bloß ein äu­ßerer logischer Apparat, der dem Realen übergestülpt würde, sondern reproduzierte eigentlich nur die Natur der Funktions­weise des menschlichen Körpers, »und wenn er eine unmittelbare Eigenschaft unserer nervlichen und zerebralen Organisation bil­det, dürfte es nicht verwundern, daß er auch den am besten geeig­neten gemeinsamen Nenner liefert, um menschliche Erfahrungen in eins zu bringen, die, oberflächlich betrachtet, nicht aufeinan­der rückführbar scheinen«30.

Lévi-Strauss hegt also die Hoffnung, am Tag des Jüngsten Ge­richts im Kreise der Naturwissenschaftler zu erwachen. Das aber hat seinen Preis : Die narrativen Inhalte der Mythen sind aus der signifikanten Kette zu beseitigen und, wie bei den Phonemen, die Mytheme auf einen oppositiven Wert zu reduzieren. Die Erobe­rung der Wissenschaft gründet sich somit auf Beziehungen der Kompatibilität bzw. Inkompatibilität, doch sie führt Lévi-Strauss zu einem »logischen Formalismus«31, der dazu verhilft, die My­theme im Innern eines Mythos zueinander in Beziehung zu set­zen. Dieser Formalismus untermauert sowohl die syntagmatische Verkettung als auch die Überlagerung von Mythemen, die ver­schiedenen Mythen entnommen werden und die paradigmati­schen Ensembles konstituieren. Der Geist wiederholt die Natur, weil er Natur ist; diese Isomorphie ist total und stellt den tradi­tionellen Einschnitt zwischen diesen beiden Realitätsordnungen in Frage. In dieser Hinsicht kann man von einem radikalen Mate­rialismus Lévi-Strauss' sprechen, der auf die Frage, auf welches letzte Signifikat diese signifikanten Ketten verweisen, präzisiert : »so ist die einzige Antwort, die dieses Buch andeutet, die, daß die

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Mythen den Geist bezeichnen, der sie mit Hilfe der Welt, von der er selbst ein Teil ist, erarbeitet«32.

Folglich ist in diesen mythologischen Ketten sehr wohl ein Kausalismus am Werk, aber er ist neuronal und impliziert per De­finition das weitestgehende Abrücken vom semantischen Inhalt der mythologischen Aussagen, vom sozialen Referenten, auf den er verweist. Dieser soziale Referent kommt in den Mythologica zwar vor, da diese alle ethnographischen Informationen Lévi-Strauss' zusammentragen, aber seine Relevanz wird auf ein blo­ßes Dekorum reduziert, ein reines Ausgangsmaterial, dessen man sich bedient, ohne daß es einen entscheidenden Einfluß auf die Denkweise nähme. Denn nur auf dem grammatikalischen Niveau offenbart der Mythos die logischen Regeln seiner Aussage, wes­halb es die einzige relevante Ebene seiner Notwendigkeit dar­stellt. Allein die grammatikalische Ebene erlaubt den Zugang zu den mentalen Bereichen und enthüllt durch das Symptom, für das sie steht, was sie zu sagen vermeidet. Die Wahrheit des Mythos besteht »in inhaltslosen logischen Beziehungen oder genauer sol­chen Beziehungen, deren invariante Eigenschaften ihren opera­torischen Wert erschöpfen«33. Damit kann Lévi-Strauss die Spie­gelbeziehung zwischen sozialer Realität und Mythos umgehen. Er entrât mit Recht den Mechanismen, die einem Widerspiege­lungsdenken eignen, dies jedoch, um es durch eine der Mytholo­gie interne Logik zu ersetzen, die sich jeder äußeren Regel mit Ausnahme der neuronalen entzieht.

Die notwendige Autonomisierung des kulturellen Feldes ge­genüber dem sozialen Feld wird bis ans Ende ihrer Logik getrie­ben, bis es einen vom letzteren unabhängigen Horizont bildet. Das phonologische Modell dient als theoretische Begründung für das Extrahieren des sozialen Inhalts, der Botschaft zugun­sten des Codes : »Die Aussage, nach der die Elemente, die den Mythos bilden, unabhängiger Bedeutung entbehren, ist eine Folge der Anwendung phonologischer Methoden auf die My­then. In der Tat ist die Abwesenheit von Bedeutung ein Kenn-

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zeichen der Phoneme.«34 Die Analogie von Mythologie und Musik untermauert von daher bei Lévi-Strauss den Ehrgeiz ei­ner konstruierten, vom Gegenstand gelösten Theorie. Es er­wächst daraus zwar ein faszinierendes Monument, nämlich das Werk von Lévi-Strauss selbst, aber um den Preis eines Verlusts, den das prinzipielle Aufgeben jeder hermeneutischen Perspek­tive hinterläßt. Die logizistische Reduktion geht, auf die gleiche Weise wie bei Lacan, auf eine Vermeidung des Affekts in der si­gnifikanten Kette aus. So dient die Sexualität der indianischen Gesellschaften Amerikas zu allem, bloß nicht zu sexuellen Zwecken; sie entspricht einer »Dialektik der Öffnung und Schließung«35 und mündet daher in eine entsexualisierte Welt, während es in Wirklichkeit um nichts anderes geht als das eine. Die Ähnlichkeit des — strukturalen — Vorgehens von Lévi-Strauss und Lacan bekundet und offenbart sich abermals in La-cans Äußerung, »sexuelle Beziehungen existieren nicht«. Diese Vermeidung resultiert zum Teil aus einer Verneinung des Sub­jekts, das als unsubstantieller Ort begriffen wird und einem an­onymen Denken anheimgestellt ist, das sich in ihm entfaltet mit dem Versprechen einer besseren Kenntnis seiner selbst, »wenn es sich nur wie eine Spinne in den Maschen des strukturalen Netzes auflöst«36.

Ein Apparat zur Beseitigung der Zeit

Der zweite tote Winkel der Mytbologica ist die Geschichte, und Lévi-Strauss perzipiert eine besondere Beziehung der Mythen zur Zeitlichkeit. Tatsächlich sind Mythologie wie Musik »Appa­rate zur Beseitigung der Zeit«37. Der Gegenstand, den Lévi-Strauss gewählt hat, hat Beweiskraft in seiner Polemik gegen die Philosophen, die das der Historizität zuerkannte Vorrecht, das er für maßlos überstiegen hält, ins Wanken bringen will. Deshalb ist die Geschichte bei ihm noch nicht abwesend, denn wir haben ja

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bereits gesehen, daß Lévi-Strauss dem Funktionalismus vorwarf, sie zu ignorieren.

Der Platz der Geschichte ist derjenige, »der zu Recht der ir-reduziblen Kontingenz zukommt [...]. Um gangbar zu sein, be­ginnt eine Untersuchung, die ganz auf die Strukturen ausgerich­tet ist, damit, sich vor der Macht und Nichtigkeit des Ereignisses zu verbeugen.«38 Es gibt also eine Verdrängung der Klio, die sich als Voraussetzung für ein wissenschaftliches Verfahren darstellt, insofern die von Lévi-Strauss aufgestellten Dichotomien — Not-wendigkeit/Kontingenz, Natur/Kultur, Form/Inhalt usw. — die Struktur der Wissenschaft und das Ereignis der Kontingenz zuschlagen. Nun ist diese Relegation der Historizität keine Ei­genheit der kalten Gesellschaften: So sieht Lévi-Strauss das »griechische Wunder« (den Übergang vom mythischen zum phi­losophischen Denken) als ein simples historisches Vorkommnis, was nichts anderes bedeutet, als daß es sich dort zugetragen hat, das sich aber auch anderswo hätte ereignen können, da keinerlei Notwendigkeit es unausweichlich machte. Am Endpunkt seines mythologischen Abenteuers angelangt, radikalisiert Lévi-Strauss seinen Standpunkt. Die von den Mythen enthüllte Zeit sei nicht nur die wiedergefundene Zeit Prousts, sie sei die »abge­schaffte« 39 Zeit: »Wenn die Analyse der Mythen zu ihrem Ende geführt wird, erreicht sie eine Ebene, auf der die Geschichte sich selbst aufhebt.«40

Hier findet sich eines der Hauptmerkmale des strukturalisti-schen Paradigmas wieder: die Vorrangstellung, die der Gegen­wart zuerkannt wird, ein Präsens im Stillstand allerdings, in dem Vergangenheit und Zukunft sich in einer eingeebneten, statischen Zeitlichkeit auflösen, ein Denken in einer versöhnten Gegenwart, das historische Teleologie genauso von sich weist wie die Idee vom Verrinnen der Zeit. Lévi-Strauss entlehnt von Marcel Proust die Idee eines »von der Ordnung der Zeit freigewordenen Men­schen« 41. Dieses Freiwerden von der Zeit, diese Abweisung der Geschichte führt Lévi-Strauss bis zur »Wiedereinsetzung einer

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Daseinsphilosophie (philosopie de la présence) «42. Dieses Dasein ist kein anderes als das der Natur, die die Geschichte ausgesto­chen hat, des Gehirns, des universalen Genotyps, der wie ein bi­närer Apparat funktioniert, ist das Wiedereinrücken des mensch­lichen Denkens in die lebende, gegenwärtige Materie.

Menschheitsdämmerung

Das Ende der Geschichte leitet über zum Dämmerungsthema im »Finale« vom Nackten Menschen. Am Endpunkt dieses großen Erklärungsopus des mythologischen Universums läßt Lévi-Strauss den Leser den Geschichtspessimismus spüren, der ihn von Werkbeginn an durchpulst. Alles, was so gelehrsam unter­sucht wurde, ist immer nur flüchtiges Aufscheinen einer zum Untergang, zum unausweichlichen Tode verurteilten Welt. Die Mythologica schließen also mit einer Menschheitsdämmerung, analog zu Wagners Götterdämmerung. Diese Mythen lassen ein komplexes Gebilde erkennen, das »langsam aufblüht und sich wieder schließt, um in der Ferne zu versinken, als ob es niemals existiert hätte«43.

Die Zeit entrollt sich in der Logik ihres Schwindens, sie selbst schreibt in eine Atmosphäre der Dämmerung ihre eigene Aus­streichung ein. Damit verwirklicht Lévi-Strauss seine anfängliche Konzeption einer Anthropologie als Entropie: »Die Lyrik des Todes ist die schönste, aber auch die beängstigendste.«44 Nach­dem um den Preis der Entfaltung eines hochkomplexen Begriffs­apparates die Struktur sich selbst enthüllt worden ist, hat sie uns somit keine Botschaft mitzuteilen außer der, daß man sterben muß : »Diese riesige Anstrengung ist also an ihre Vergeblichkeits-grenze gelangt; sie mündet in NICHTS, dem letzten Wort, das nicht zufällig ans Ende dieses feierlichen >Finales< gesetzt wurde.«45 Lévi-Strauss' Polemik gegen die Philosophen, insbe­sondere Sartre, und sein reservierter Tonfall gegenüber der Philo-

Das mythologische Universum 385

sophie im allgemeinen dürfen nicht zu der Annahme verleiten, daß die Philosophie bei ihm nicht vorkomme.

Stets hat er den Strukturalismus nicht nur als wissenschaftliche Methode oder als eine neue Sensibilität aufgefaßt, die auf der Ebene des literarischen, bildnerischen und musikalischen Schaf­fens einigen Widerhall findet, sondern auch als eine Philosophie vom Ende der fortan verwirkten Geschichte. Hier, meint Jean-Marie Domenach, »trägt er zu dieser Zerstörung bei, indem er mittels des Wissens den Witz, das Leben und die Kraft der Kultur abtötet. Was daran so grauenhaft ist, ist die mörderische Seite die­ser Philosophie. [...] Anstatt oben herauszukommen, bei der Hoffnung oder der Wiedergeburt, landet er unten, bei dem, was ich ein Requiem oder De Profundis genannt habe. Bleibt nur noch, die Schrift in der Entropie untergehen zu lassen.«46 In die­ser Menschheitsdämmerung steckt ganz offenkundig gleichsam eine Abdankung vor der Geschichte.

Als Zeichen des Zerfalls der Ideologien, aus dem er sich nährt, ist der Strukturalismus somit ein Entwurf zur Neubildung einer rückstandlosen globalisierenden Ideologie, Entfaltung des syn­thetischen Verstandes und zugleich dessen Zerstörung in einer schwindelerregenden Todesspirale.

Afrika : ein Prüfstein des Strukturalismus

Lévi-Strauss und viele Anthropologen nach ihm haben den ame­rikanischen Kontinent mit Hilfe des strukturalen Rasters durch­kämmt, um das Unbewußte in den sozialen Praxen der indigenen Populationen besser zu begreifen. Hingegen scheinen diejenigen, die sich dem afrikanischen Forschungsfeld zuwandten, mehr Ab­stand gegenüber dem strukturalen Paradigma gewahrt zu haben, das direkt mit der Kolonialgeschichte konfrontierten Gesell­schaften nur unzureichend gerecht wurde. Überdies müssen die Forscher über sehr viel umfangreichere Populationen arbeiten als die schmalen Indianergemeinschaften, die dem Genozid entron­nen sind. Die Verschränkung der lokalen Vorstellungen und Bräuche mit den kolonialen Institutionen führt zudem zu Akkul-turationsphänomenen, die eine binäre Reduktion der sozialen Organisation in Afrika erschweren, und relativiert somit den geo­graphischen Anwendungsbereich des strukturalen Paradigmas. Zwar gibt es auch bei den Afrikanisten strukturalistische Anthro­pologen, doch insgesamt kann man von einer Binarität auf dem Feld der Anthropologie ausgehen, die sich mit den Grenzen zwi­schen dem Forschungsterrain der an Lévi-Strauss orientierten Amerikanisten und dem der von Georges Balandier geschulten Afrikanisten deckt, auch wenn dies natürlich stark vereinfacht ist.

Georges Balandier: die Afrikanistik

Georges Balandier ist der Wegbereiter einer ganzen Generation von Afrikanisten gewesen. Seine ethnologische Ausbildung er-

Afrika: ein Prüfstein des Strukturalismus 387

fährt er bei seinem Vorbild Michel Leiris. Mit Jean Duvignaud, Roger Bastide und anderen gehört er zu dem kleinen Soziologen­kreis, der sich bei Georges Gurvich in der Rue Vaneau versam­melt. Er begreift die Soziologie Schwarzafrikas aus einer militan­ten, antikolonialen Perspektive. Am Horizont seiner Arbeit steht also die direkte Auseinandersetzung mit der politischen Dimen­sion. Strukturalismusgeschädigt, hat Balandier seine kritischen Positionen gegenüber dem herrschenden Paradigma der sechzi­ger Jahre büßen müssen: »Ich habe das mit dem Collège de France bezahlt. Claude Lévi-Strauss hat alles getan, um Kandida­turen herbeizuführen, die denen, die ich vorschlagen konnte, äquivalent waren.«x

Dennoch war er Lévi-Strauss sechs oder sieben Jahre lang sehr verbunden, bis dieser ans Collège de France kam. Wie es scheint, geht das Zerwürfnis zwischen den beiden Männern auf ein nich­tiges Vorkommnis zurück, ein schlechtes Wortspiel, das Lévi-Strauss hinterbracht wurde, der daraufhin tief verstimmt war. Der Bruch der beiden wäre also trotz ihrer unterschiedlichen Me­thoden und Forschungsterrains keineswegs zwangsläufig gewe­sen. Beide gehörten unter anderem einer Organisation an, die nach 1954 der UNESCO angeschlossen wurde, dem Internatio­nalen Rat der Sozialwissenschaften, in dem Lévi-Strauss Gene­ralsekretär war und Georges Balandier eine Forschungsabteilung leitete. »All dies ging den Bach herunter wegen eines trivialen Zwischenfalls, wegen Tratsch.«2 Die Polemik setzte 1962 mit ei­ner heftigen Kritik an der Inkonsequenz von Georges Balandiers Aussagengefüge ein.3 Der Bruch war endgültig und symbolisiert jenseits des Geplänkels, des Aneinandergeratens zweier Emp­findlichkeiten durchaus auch zwei divergierende Ausrichtungen.

Georges Balandier ist stark vom Existentialismus der Nach­kriegszeit geprägt worden. Resistancekämpfer im Zweiten Welt­krieg, dem Musée de l'Homme und Michel Leiris verbunden, wird er von Leiris bei den Temps Modernes in den Kreis um Sartre eingeführt. Indessen ist er bei den großen Nachkriegsdebatten

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nicht vertreten, denn bereits 1946 reist er als Anthropologe nach Schwarzafrika, nach Dakar, und wird Chefredakteur der Présence africaine. Er arbeitet entschieden an der Entkolonisierung Afri­kas mit und wird zu »einem ihrer aktiven Agenten bei den afrika­nischen Leadern«4. Als Beteiligter am Geschichtsprozeß hat Georges Balandier fast täglich mit Leopold Sédar Senghor, Sékou Touré, Houphouët-Boigny, Nkrumah zu tun. Und wenn er die Figur des anderen, der Alterität, des als unterschiedliche Kultur eingeforderten Schwarzseins entdeckt, hat er unmittelbar das Gefühl, inmitten der Ereignisse zu wirken, nicht nur aufgrund seiner Ablehnung der kolonialen Bedingungen und seines politi­schen Emanzipationsbegehrens, sondern auch wegen der histori­schen Ansprüche dieser Völker, die jenseits des kolonialen Ein­schnitts wieder an ihre eigene Geschichte anknüpfen wollen.

Sein Forschungsterrain steht mitten im Umbruch. Seit Ban­dung erhebt sich der afrikanische Kontinent, und die Auseinan­dersetzungen nehmen zu, während die Bevölkerung Verelen­dung und zunehmende Verslumung erlebt. In einer bislang in Clans organisierten Welt tauchen Parteien und Gewerkschaften auf. Georges Balandier trifft also keineswegs eine in der Zeit er­starrte Gesellschaft an: »Ich kann mich deshalb keineswegs der Vorstellung anschließen, daß in diesen Gesellschaften der My­thos alles gestalte und Geschichte nicht vorhanden sei, unter Be­rufung darauf, daß alles ein System von Relationen und Codie­rungen mit einer Logik möglicher Permutationen sei, die es erlaubt, daß die Gesellschaft sich ins Gleichgewicht bringt.«5 Im Gegenteil, Balandier erfährt die Bewegung, die Fruchtbarkeit des Chaos, die Untrennbarkeit von Diachronie und Synchronie: »Ich erkenne, daß die Gesellschaften nicht hervorgebracht werden, sondern sich hervorbringen; denn keine entkommt der Ge­schichte, auch wenn die Geschichte sich auf andere Weise her­stellt, auch wenn sie plural ist.«6

Zurück in Frankreich, geht Balandier an die Sechste Sektion der EPHE, wo er einen Studienbereich für die Soziologie

Afrika: ein Prüfstein des Strukturalismus 389

Schwarzafrikas gründet; auch tritt er 1954 als Beauftragter für Humanwissenschaften in den Stab des Staatssekretärs der Men-dès-France-Regierung, Henri Longchambon, ein. 1961 erhält er einen Ruf von Jean Hippolyte an die École normale supérieure, um dort ein Seminar abzuhalten, das er bis 1966 betreut: »Der Strukturalismus war ein Strom, der alles überschwemmte, nach­dem er vieles in seinen Fluten mitgerissen hatte.«7 In dieser Hochburg des in den sechziger Jahren triumphierenden Struktu­ralismus kann er einige Geographen, Historiker, Literaten und Philosophen für die Anthropologie gewinnen, darunter Jean-Noël Jeanneney, Régis Debray, Emmanuel Terray und Marc Auge.

Die Faszination, die er auf die Generation, die gegen den Alge­rienkrieg gekämpft hat, ausübt, hängt mit seiner Fähigkeit zu­sammen, sich in seiner Theorie mit den Turbulenzen der Ge­schichte auseinanderzusetzen und der Abgeschiedenheit des wissenschaftlichen Elfenbeinturms zu entgehen. Mit Beginn des Studienjahres 1962 gibt er seinen ersten Kurs an der Sorbonne: »Die Afrikanistik, die ich darlegte, machte keinerlei Zugeständ­nisse an die strukturalistische Mode.«8 Was Balandier bei seiner Ankunft in Afrika bestürzt hatte, war die gesellschaftliche Misere gewesen. Im Politischen sah er den geeigneten Weg zur Emanzi­pation, und die politische Dimension sollte für ihn zum bevor­zugten Forschungsgegenstand werden, worin er sich ebenfalls von der strukturalistischen Vorgehensweise unterschied. 1967 publiziert er seine Anthropologie politique, in der er die klassische Auffassung von der Macht als einer reinen Verwaltung repressi­ver Gewalt überwindet und die Dimensionen des Imaginären und des Symbolischen einbezieht. Indem er den verwandelten Körper des Inhabers der politischen Macht in den Mittelpunkt der Ana­lyse stellt, trifft er sich auf afrikanischem Gebiet mit Marc Blochs Studie zu Les Rois thaumaturges. Er betont damit eine Dimen­sion, die in der strukturalistischen Tradition, die sich abseits des Politischen errichtet, weitgehend verhehlt wird und die der tote

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Winkel der strukturalen Anthropologie in Frankreich geblieben ist. Balandier muß sich also auf Arbeiten stützen, die von poli­tisch ausgerichteten angelsächsischen Afrikanisten seit 1945 ge­leistet worden sind wie Meyer Fortes, John Middleton, Siegfried-Frederick Nadel, Michael-Garfield Smith, D. Apter oder J. Beattie.

Er übernimmt die kritischen Einwände, die Edmund Leach gegenüber der Anwendung des strukturalistischen Verfahrens auf die Untersuchung politischer Systeme formuliert hat. Im Falle der politischen Organisation der Kachin erkennt Edmund Leach ein Oszillieren zwischen dem aristokratischen und dem demo­kratischen Pol, das ständige Abwandlungen und Adjustierungen der soziopolitischen Struktur erfordert: »Die Strenge einiger strukturalistischer Analysen ist nur Schein und führt in die Irre«9, da diese auf irrealen Gleichgewichtszuständen beruhen. Auf an­derem Wege als Lévi-Strauss setzt Balandier dessen Infragestel­lung des westlichen Ethnozentrismus fort, tendierte jener doch auf der Ebene der politischen Reflexion dazu, dem Ethnozentris­mus eine allzu eng gefaßte, auf den Staatsapparat reduzierte Defi­nition zu geben. Doch bereits 1940 hatten Edward Evans-Prit-chard bei den Nuer im Sudan und Meyer Fortes bei den Tallensi in Ghana eine Dichotomie zwischen segmentären Systemen ohne Staat und Staatssystemen aufgestellt.10

Aber Balandier geht noch weiter, indem er die auf ein einziges Prinzip, die Ausschlußregel, gründende Typologie in Frage stellt. An ihre Stelle setzt er ein synthetisches Herangehen an das Politi­sche, das auch die sozialen Schichtungen und die Verwandt­schaftsregeln innerhalb desselben Ensembles berücksichtigt. Er verwirft also das strukturalistische Postulat, daß die Variablen isoliert werden müssen, damit sie in ihrer endogenen Logik un­tersucht werden können, und setzt ihm ein globales Vorgehen entgegen, in dem die verschiedenen Ebenen des Realen, des Ima­ginären und des Symbolischen in einem dynamischen und des­halb definitionsgemäß instabilen Gleichgewicht ineinandergrei-

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fen. Diese Konzeption erlaubt es, Vorstellungen wie die der »of­fenen Strategien«, die ihren Urhebern Entscheidungsspielraum schaffen, zuzulassen und ihnen Gewicht beizumessen; so kann sie beispielsweise über eine Vielzahl von Heiratsallianzen, die als ebenso viele Bestandteile des politischen Dispositivs aufgefaßt werden, die Verwandtschaft in die Machtverhältnisse einbezie­hen.

Nach Balandier kann man daher nicht mehr, wie bislang die Anthropologie, behaupten, das Politische beginne dort, wo die Verwandtschaft aufhört. Sein Ansatz öffnet sich auch den histori­schen Problemstellungen: »Eine spürbar gewordene Notwen­digkeit hat also die dynamische Gesellschaftstheorie, die politi­sche Anthropologie, die politische Soziologie und die Geschichte dazu gebracht, ihre Anstrengungen zu vereinen.« n Der Dialog mit den Historikern beginnt dann auch 1968 in einer Sendung der Lundis de l'histoire, die das Buch von Balandier zum Thema hat und in der er mit Jacques Le Goff und Pierre Vidal-Naquet disku­tiert.12 Balandiers synthetisches und diachronisches Vorgehen nähert sich in der Tat den Forschungen der Historiker, nament­lich der Mediävisten, bei denen bestimmte Quellen, etwa die Heldengedichte, Sippenkriege auch in ihrer politischen Relevanz darstellen. Balandiers Definition des Politischen umfaßt mithin ein breites Spektrum: »Man muß die Politik differenziert be­trachten: einmal als Mittel, die Regierung der Menschen zu ge­währleisten, und als Mittel für Strategien, deren sich die Men­schen bedienen. Man neigt allzusehr dazu, die beiden Ebenen zu vermengen.« 13

Die Nachfahren von Balandier und Lévi-Strauss

Es wäre müßig, die jeweilige Ausstrahlung von Lévi-Strauss und Balandier gegeneinander abzuwägen, um in Erfahrung zu brin­gen, wer von beiden mehr Einfluß gehabt hat. Ganz zweifellos

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hat die strukturalistische Woge Lévi-Strauss auf die Hohe des Ruhms gehoben, während Balandier eher im Schatten geblieben ist. Indes muß hier der ebenso entscheidende wie häufig ver­kannte Einfluß von Balandier neu bewertet werden. Hat Lévi-Strauss Nachfahren, so hat Balandier deren viele, namentlich die Afrikanisten, wozu auch die »Bankerte« zählen, die sich zwei Väter zuschreiben.

Zu ihnen gehört der derzeitige Präsident der EHESS, Marc Auge. 1960 bereitete er an der École normale supérieure die agré­gation de lettres vor, und da er, zur Literatur ebenso hingezogen wie zur Philosophie, nicht recht wußte, welche Richtung er ein­schlagen sollte, hörte er sich Lévi-Strauss und Balandier an. Die Ethnologie schien ihm der Mittelweg, auf dem sein Sinn fürs Schreiben mit seinem Drang nach eher spekulativer Reflexion zu vereinbaren wäre. Dank Balandier bietet sich die Gelegenheit, in die ORSTOM einzutreten, und so schiffte sich Marc Auge 1965 ein in Richtung afrikanischer Kontinent, an die Elfenbeinküste : »Mein Freund Pierre Bonnafé hatte mir geraten, Balandier aufzu­suchen, und ich geriet an einen sehr aufmerksamen Menschen, der durch seinen unkonventionellen Kursus verlockte.«14 In Ba-landiers Seminar erhielt Marc Auge die Ausbildung zum Afrika­nisten, allerdings gewann er nicht den Eindruck, daß sich zwi­schen den von Balandier gebotenen Perspektiven und denen des Lévi-Straussschen Strukturalismus eine maßgebliche Kluft auf­tat: »Es ist richtig, daß sich in jenen Jahren in Balandiers Semina­ren eine Kritik an Lévi-Strauss abzeichnete, aber ich war zu sehr Neuling, um dem eine grundlegende Bedeutung beizumessen.« 15

An der Elfenbeinküste schärft Marc Auge seinen Sinn für die kolonialen und neokolonialen Phänomene, die tiefe Spuren bei den Lagunenpopulationen der Alladian hinterlassen haben, und rückt dadurch, was die Berücksichtigung des Geschichtli­chen angeht, näher an Balandier heran. Doch sein erster For­schungsgegenstand liegt eher auf der Linie von Lévi-Strauss, denn die Monographie, an der er arbeitet, will die Logik der

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Verwandtschaftsbeziehungen der Alladian wiedergeben. Diese »hätte noch dem Begriffsstutzigsten bewußt gemacht, daß die Transformationssysteme sehr wohl existieren. [...] Es gibt zwar zahlreiche Varianten, die aber von gemeinsamen Referenzmodel­len bei der Besiedlung des Raumes, bei den Wohnweisen, bei den Formen der Machtübertragung ausgehen. Bei den Gesellschaften im Westen findet man die reinsten Stammesgesellschaften ohne Zentralgewalt, am anderen Landesende einen Souverän an der Spitze einer autonomen politischen Gewalt und zwischen den beiden sämtliche Übergangssysteme.«16 Auch wenn Auges vor­dringliches Augenmerk der Erforschung der Verwandtschaftsre­geln gilt, konzentriert er sich bald auf Fragen der Macht und des Zusammenhangs des Politischen und des Religiösen, auf Themen also, die Balandiers Forschungen näherstehen, ohne daß er des­halb die Fruchtbarkeit des Strukturalismus in Frage gestellt hätte.

Auch Dan Sperber erfuhr seine Ausbildung sowohl bei Balan-dier wie bei Lévi-Strauss, und zwar in dieser Reihenfolge. Sper­ber, der 1963 einen der ersten Texte Nelson Mandelas übersetzte, brachte der Dritte-Welt-Kampf zur Anthropologie, die er als Er­gänzungswissenschaft benötigte, um die kulturelle Dimension der politischen Probleme der dritten Welt zu begreifen: »Ich ging also erst einmal zu Balandier. Es war eine Zeit, in der die Struktu-ralisten, in der Lévi-Strauss nicht zu meinem Horizont gehör­ten.« 17 Er hatte 1962 seine licence abgeschlossen und sich dann im troisième cyclebei Balandier eingeschrieben.

Nachdem er 1963 nach England gegangen war, arbeitete Dan Sperber mit Rodney Needham zusammen, der ihn für den Struk­turalismus gewann: »Letztlich waren es zum einen Needham und zum anderen die empiristische Atmosphäre Englands, die in mir ein sehr lebhaftes Interesse am Strukturalismus geweckt ha­ben.« 18 Dan Sperbers zahlreiche Vorträge auf britischem Boden rühmen den Strukturalismus : »Ich erinnere mich an ein Referat in einem Oxforder College, wo ich zum Zeitpunkt, als de Gaulle den Engländern den Beitritt zum gemeinsamen Markt verweigert

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hatte, den Strukturalismus verteidigte. Einer der Lehrer sagte daraufhin: >Sperber tut uns auf intellektueller Ebene an, was de Gaulle uns auf politischer Ebene antut.< Für damalige Verhält­nisse schien es, als träte ich für etwas ziemlich Exotisches und Fragwürdiges ein.« 19

Erst bei seiner Rückkehr nach Frankreich 1965 hat Dan Sper­ber, der dann im CNRS arbeitete, mit großer Regelmäßigkeit die Seminare von Lévi-Strauss besucht. Heute glaubt er, daß er dank Lévi-Strauss bei der Anthropologie geblieben ist, »nicht in dem Sinne, daß ich einfach eine Art Übereinstimmung, eine Überzeu­gung empfunden hätte, sondern weil er es möglich gemacht hat, allgemeine Fragen auf wissenschaftliche Weise zu stellen«20.

Die Vorbehalte der Afrikanisten

Zahlreiche Afrikanisten können jedoch dem Strukturalismus nichts abgewinnen. So Claude Meillassoux, dessen außerge­wöhnlicher Werdegang verdeutlicht, daß sich der Beruf des An­thropologen eher aus einem Zusammenspiel von Zufällen und Gelegenheiten ergab als aus dem üblichen universitären Ausbil­dungsweg. Meillassoux war kein Afrikanist vom Fach, sondern stand von seiner Ausbildung und seinen Aktivitäten her dem Ethnologenberuf ziemlich fern. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaft und der Politischen Wissenschaften ging er 1948 in die USA, um an der Universität vom Michigan eine business school zu besuchen. Nach seiner Rückkehr kümmerte er sich um die Textilfirma seiner Familie in Roubaix. Von den Auf­gaben der Geschäftsführung nicht recht befriedigt, brach er er­neut in die USA auf. Wieder zurück in Frankreich, arbeitete er als Vermittler zwischen amerikanischen Fachleuten und französi­schen Unternehmen. Anfang der fünfziger Jahre engagierte er sich in der neuen Linken und im CAGI (Centre d'action de la gauche indépendante) an der Seite von Claude Bourdet, Pierre

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Naville und Daniel Guérin. Arbeitslos geworden, suchte er eine neue Stellung und geriet an Balandier, der jemanden brauchte, um die Arbeiten der britischen Funktionalisten über Schwarz­afrika zu exzerpieren: »Auf diese Weise absolvierte ich meine Se­minare in Ethnologie. Ich hatte ein Büro in der Avenue d'Iéna. Ich schrieb meine Karteikarten und führte endlose Diskussionen mit Balandier.«21 Nachdem er Balandiers Kurs besucht hatte und so­mit ausgebildet war, wurde Meillassoux 1956 eine Feldstudie an der Elfenbeinküste angeboten, wo er sich vornehmlich um die ökonomischen Aspekte kümmern sollte.

In den sechziger Jahren organisierte Meillassoux nach einem Seminar unter der Schirmherrschaft des IAI (International Afri-can Institute) über Handel und Märkte in Westafrika ein interna­tionales Kolloquium, zu dem er unter anderem Emmanuel Ter-ray, Michel Izard und Marc Piot einlud. Es sollte ursprünglich an der Elfenbeinküste abgehalten werden, doch da Terray dort Auf­enthaltsverbot hatte und Meillassoux sich den Weisungen der Landesregierung nicht beugen wollte, fand es in Sierra Leone statt. Michel Izard schlug Meillassoux vor, ein Seminar über Afrika ins Leben zu rufen, das nie offiziell anerkannt wurde und unter dem Namen Meillassoux-Seminar bekannt war. Schon die Existenz dieses Ortes der Debatten und Auseinandersetzungen belegt, daß theoretische Auffassungsunterschiede zugunsten em­pirischer Erörterungen des auf dem Feld erhobenen ethnogra­phischen Materials in den Hintergrund treten konnten. Meillas­soux jedoch blieb, darin Balandier treu, stets sehr kritisch gegenüber dem Strukturalismus, der in der Anthropologie trium­phierte: »Man hat sich der primitiven Gesellschaften zu allen möglichen Zwecken bedient, und der Strukturalismus hat sie als Material benutzt, um seine Ideen über das strukturierende Den­ken geltend zu machen, das letztlich das Denken der Computer ist. Das binäre Denken ist ein bürokratisches Denken.«22

Obschon mit dem Strahlenkranz der Wissenschaftlichkeit ge­schmückt, arbeitet der Strukturalismus von Lévi-Strauss nach

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Meillassoux' Ansicht im Grunde mit Analogien. Mangels der Möglichkeit, seine eigene Problemstellung, seine eigene Axioma-tik zu entwickeln, stützt Lévi-Strauss sich sukzessive auf die eine oder andere Wissenschaft, um seine Thesen zu untermauern, so daß seine Schüler jedesmal gleichsam auf dem falschen Bein er­wischt werden. Sie müssen dem höllischen Takt ihres Lehrmei­sters folgen, der ihnen immer ein Stück voraus ist : »Ich habe die Veranstaltungen von Lévi-Strauss am Collège de France gehört. Er ist ein Zauberer, der eine Tür einen Spalt weit öffnet. Man glaubt an die Entdeckung des Steins der Weisen, da schließt er die Tür schon wieder, um in der nächsten Stunde von etwas anderem zu sprechen. Und doch ist es faszinierend, weil er zu spannenden geistigen Vergleichen und Kombinationen anregt.«23

Vom strukturalistischen Modell enttäuscht wurde Jean Du-vignaud in einer anderen Region Afrikas, dem Maghreb : Es erwies sich als außerstande, der Komplexität und den Wandlungen der Verwandtschaftssysteme gerecht zu werden: »Ich bin vom Struk­turalismus abgekommen, als ich in Chebika (Tunesien) arbei­tete.« 24 Die vier Jahre währenden Forschungen über Chebika wurden 1968 publiziert25 und dienten als Vorlage für Bertucellis ausgezeichneten Film Mauern aus Ton. Duvignaud wurde in Lévi-Strauss' Zeitschrift L'Homme dafür kritisiert, daß er die Verwandtschaftsstrukturen umgangen habe, doch hatte er sehr wohl versucht, die von Lévi-Strauss aufgestellten Analysekatego­rien anzuwenden, allerdings ohne Erfolg. Freilich betrachtet auch Jean Duvignaud, der der Soziologengruppe der Gurvitchianer und Balandier sehr nahesteht, die Bestrebungen des strukturali­stischen Paradigmas äußerst kritisch : Er sieht darin eine Wieder­aufnahme des Comteschen Erbes, die »in eine Art Ontologie des Institutierten«26 mündet. Das strukturalistische Apriori trifft sich mit dem Funktionalismus in der Voraussetzung einer Positivität der sozialen Kohärenz, in seiner holistischen Sicht des Sozialen: »Es ist nicht ausgemacht, daß Anfechtungen, Abweichungen, Formen der Subversion und der Revolte, Idiotismen und Figuren

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der Anomie in eine Totalität integrierbar sind und letztlich dem Überleben der Gesamtheit dienen.«27

Tatsächlich war Jean Duvignaud im Herzen von Chebika auf einen Ort gestoßen, der keinerlei Zweck oder Regel gehorcht, eine Zone der Leere, des Umherziehens und des Wartens, die jeg­lichem Reduktionismus zu trotzen schien und nicht auf das strukturale Raster einer in sich geschlossenen Totalität rückführ-bar war. Nach Duvignaud bleibt die phänomenologische Per­spektive in ihrer Absicht gültig, das Bewußtsein durch das Be­wußtsein von etwas zu definieren. Sie erinnert uns an die Dimension des Erlebens, die hinter den formalen Logiken ver­borgen bleibt. Ohne in bestimmten Punkten die Geltung der strukturalistischen Methode in Abrede zu stellen, schlägt Du­vignaud vor, diese Epistemologie für den Teil der kollektiven Er­fahrung zu öffnen, der sich nicht auf einen wie auch immer gear­teten Determinismus verkürzen läßt.

Der Strukturalismus erfaßt Afrika

Es scheint also, als habe es eine unausgesprochene räumliche Ar­beitsteilung gegeben: Als Michel Izard 1963 ins CNRS und ins Laboratoire d'anthropologie sociale eintrat, bildete er als Afrika-nist eher die Ausnahme. Getragen wurde die Afrikanistik damals auf der einen Seite von Balandier und auf der anderen vom Sektor für Studien der Denksysteme in Schwarzafrika, den Marcel Gri-aule in der Nachfolge von Germaine Dieterlin eingerichtet und Michel Cartry fortgeführt hat. Doch mit dem Erfolg des Struk­turalismus sah die Lage 1968 ganz anders aus: Es war der Afri­kanistik gelungen, in Lévi-Strauss' Laboratoire d'anthropologie sociale vorzudringen, »was mit dem Eintritt von Tarditz zusam­menhängen muß, der wohl der erste Afrikanist war, der Lévi-Strauss nahestand«28. Die Aufnahme von Afrikanisten in Lévi-Strauss' Forschungsstätte zeigt demnach, daß strukturalistische

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Methode und afrikanisches Terrain nicht so unvereinbar sind, wie eine bestimmte Geopolitik der Forschung nahelegen könnte. Daß das Laboratoire heute von der Afrikanistin Françoise Héri­tier-Auge geleitet wird, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Das afrikanische Haus hat viele Wohnungen. So ist auch für Jean Pouillon, einen weiteren Afrikanisten im Gefolge von Lévi-Strauss, »das Afrika Balandiers ganz und gar nicht das Afrika, das ich kenne«29. Überdies hat sich durch das Interesse zahlreicher marxistischer Afrikanisten am Strukturalismus, mit Forschern wie Emmanuel Terray, Maurice Godelier und anderen, der Ein­flußbereich dieser Analyserichtung im Laufe der sechziger Jahre verstärkt.

Ob Afrika die Schwellen, die Grenzen des Strukturalismus markiert, ist also keineswegs sicher. Doch legt es gewiß eine Ana­lyse nahe, die sich mehr den politischen Phänomenen zuwendet und der gesellschaftlichen und geschichtlichen Dynamik Rech­nung trägt, Perspektiven also, die in der strukturalistischen Strö­mung am Rande geblieben, wenn nicht verdrängt worden sind.

Die Zeitschriften

Zu den Charakteristiken dieser Periode gehört der Aufschwung der Zeitschriften, die mit ihrer wachsenden Zahl und ihrem zu­nehmenden Einfluß einen außerordentlichen intellektuellen Auf­bruch anzeigen. Sie werden zu Begegnungsstätten und bieten den idealen Rahmen, um die Kraft des strukturalistischen Paradigmas zur Geltung zu bringen. Die traditionellen Institutionen werden umspielt durch interdisziplinäre Gruppierungen, wie sie gerade Zeitschriften ermöglichen, als Austauschstellen und Stützpunk­te, von denen aus sich der Einfluß in konzentrischen Kreisen fortpflanzt.

Durch die strukturelle Geschmeidigkeit, die der Organisation einer Zeitschrift eigen ist, durch die Möglichkeit, in kürzester Frist theoretische Streitfragen und konzeptuelle Vorstöße zu re­flektieren, konnte der Strukturalismus seine Erfolge mehren, be­vor diese in Tages- und Wochenblättern weitergetragen wurden. Unter den Zeitschriften, die eine humanwissenschaftlich interes­sierte Leserschaft zu Anhängern des Strukturalismus machen werden, lassen sich drei Typen unterscheiden: solche, die sich an das Fachpublikum einer bestimmten Disziplin wenden, solche, die sich als Foren der geforderten Interdisziplinarität verstehen, und schließlich solche, die, an eine politische Strömung gebun­den, sich von diesem Phänomen »herausgefordert« sehen und sich dem Dialog mit seinen Vertretern öffnen. Wie bereits er­wähnt, erschien 1956 die erste Nummer von Lacans Zeitschrift La Psychanalyse, die den berühmten Bericht von Rom, einen Text von Heidegger und einen wichtigen Artikel von Emile Benve-niste über die Funktion der Sprache bei Freud enthält.

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Die Veröffentlichung der Thesen des Philosophen und des Linguisten in einer Zeitschrift für Psychoanalyse verrät die Öffnungsbestrebungen der Société française de psychanalyse: »Wenn die Psychoanalyse die Sprache bewohnt, muß sie sich dem Dialog öffnen. [...] Die Öffnung der Psychoanalyse für die Hu­manwissenschaften ist ein Vorgang, der mit dem exterritorialen Standort Schluß macht, den sie lange Zeit für sich in Anspruch genommen hat.« 1 La Psychanalyse will sich also nicht auf den strikten Bahnen des Freudianismus und in den internen Debatten der analytischen Zunft ansiedeln, sondern sich als eines der Or­gane einer strukturalen Modernität darstellen, die aus dem Dia­log mit den anderen Humanwissenschaften heraus den Freudia­nismus neu zu begründen fähig sind. Bereits genannt haben wir die Gründung von UHomme im Jahre 1961 durch Lévi-Strauss, der Pierre Gourou und Emile Benveniste als Mitarbeiter gewinnt. Das Organ präsentiert sich als französische Zeitschrift für An­thropologie, aber auch seine Ziele reichen, wie die Einbeziehung eines Geographen und — abermals — des gefragtesten Linguisten der Periode erkennen läßt, über das reine Fachmilieu hinaus.

Langages

Die treibende Kraft der strukturalistischen Erneuerung kommt freilich aus der Linguistik, und in diesem Bereich ist während der sechziger Jahre das Erscheinen neuer Medien zu beobachten. Wenn zwischen 1928 und 1958 nur eine einzige Zeitschrift für Linguistik, Le Français moderne, herauskommt, so ist die Periode von 1959 bis 1969, in der insgesamt sieben Zeitschriften gegrün­det werden, besonders fruchtbar. Sie sind Ausfluß des Booms der linguistischen Reflexion, der sich in bestimmten Zentren ausge­prägt hat.

1966, in dem Jahr, als der Strukturalismus seine Weihen be­kommt, entsteht die von André Martinet geleitete Zeitschrift La

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Linguistique2. Im selben Jahr lanciert der Verlag Larousse mit Langages1 seine eigene Zeitschrift für Linguistik. Sie versammelt die namhaftesten Vertreter der modernen Sprachwissenschaft, und der Mitarbeiterstab ist im wesentlichen aus den Treffen, Se­minaren und Kolloquien von Besançon hervorgegangen. Konzi­piert hat das Projekt ein Verfechter des strukturalen Denkens, Algirdas Julien Greimas. Er schlägt eine Reihe von Schwerpunkt­themen vor, mit denen jeweils ein oder zwei Spezialisten betraut werden sollen, und bei ihm finden auch die vorbereitenden Sit­zungen statt. Dank Jean Dubois kommt das Projekt bei Larousse unter.

Wendet sich Martinets Zeitschrift an ein reines Fachlinguisten­publikum, so hat Langages andere Ziele. Hier geht es von Anfang an darum, die strukturalistische Methode auf das weite Feld der Humanwissenschaften auszudehnen, die Forschungsnetze der verschiedenen Disziplinen miteinander zu konfrontieren und zu verknüpfen. Die erste Nummer bestätigt das Grundprinzip der Linguistik als Leitwissenschaft : »Die Erforschung der Sprache ist grundlegend für die Humanwissenschaften, für Philosophen, Psychoanalytiker und Literaturwissenschaftler, und dieser An­spruch erfordert ausführliche wissenschaftliche Information. Diese Erforschung erstreckt sich auf die Gesamtheit der signi-fizierenden Systeme.«4 Die breit angelegte Konzeption eines semiologischen Projekts, das die Linguistik umgreift und in sich einschließt, entspricht vollkommen dem 1964 von Roland Barthes definierten Programm, der übrigens anonym den Eröff­nungstext in der ersten Nummer der Zeitschrift verfaßt: »Es war ein ganz neuer Typ von >linguistischer< Zeitschrift. [...] Sie bettete die Linguistik ins große Feld der Kultur ein, eine Konzeption, die im Paris des Jahres 1966 sehr sinnträchtig war.«5 Das ambitio-nierte und solide Projekt stützt sich auf Gruppen, die schon seit mehreren Jahren in dieser Richtung arbeiten, und ist den ver­schiedenen Reflexionsbereichen rund um die Sprache aufge­schlossen: der Musik mit Nicolas Ruwet, der Logik mit Oswald

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Ducrot, der Medizin mit Henry Hécaen, der Literatur mit Ro­land Barthes, der Informatik mit Maurice Gross.

Die Vorbereitung für die Lancierung der Zeitschrift vollzieht sich also in euphorischer Stimmung. Allerdings löst schon die er­ste Nummer einen schweren Konflikt aus, denn es machen sich bereits mehrere Schulen die Urheberschaft der modernen Sprachreflexion streitig. Todorov ist der verantwortliche Redak­teur der Eröffnungsnummer, die sich mit »semantischen For­schungen« beschäftigt. Diese geben den Thesen Chomskys viel Raum, was Greimas erbost (Todorov »hat eine amerikanische Nummer gemacht«6), der sich zurückzieht. Der Bruch ist irrepa­rabel. Jean Dubois wie Nicolas Ruwet beziehen immer stärker an Chomsky orientierte Positionen; und als Greimas gegangen ist, will Barthes vermeiden, in dem Disput Partei zu ergreifen und »sucht infolgedessen nur eines, nämlich das Weite«7. Der Redak­tionsrat der Langages tritt nicht mehr zusammen, so daß die Ver­antwortung für die Weiterführung des Unternehmens Jean Du­bois zufällt, der die Herausgeberposition bei Larousse innehat. Trotz dieser Krise gelingt es ihm im Zuge der strukturalistischen Woge, bei Larousse eine Reihe »Langages« zu starten. In ihren besten Zeiten erzielt die Zeitschrift eine Auflage von fünftausend Exemplaren. Dieser Erfolg ist um so beachtlicher, als der lingui­stische Diskurs ein sehr technischer ist.

Communications

Eine wichtige Rolle für die Verbreitung der strukturalistischen Thesen wird auch die 1961 gegründete Zeitschrift Communi­cations spielen. Sie geht aus dem CE CM AS hervor, dem Centre d'études et de communication de masse an der Sechsten Sektion der EPHE, eingerichtet im Januar 1960 auf Initiative von Georges Friedmann. Gedacht ist an eine Symbiose von Soziolo­gie und Sémiologie. Schon der Titel verdeutlicht, daß es darum

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gehen soll, die Bedeutung der von den modernen Informations­medien übermittelten Nachrichten zu entziffern: Presse, Radio, Fernsehen, Werbung, denen zu diesem Zeitpunkt immer grö­ßeres Gewicht zukommt. Es geht also um die Erkundung der Modernität, in der »technische Zivilisation und Massenkultur organisch miteinander verbunden sind. [...] Die Inhalte, die Substanzen vergehen, aber die Form, die Seinsweise und folglich der Sinn der Sache bleiben.«8

Die von Georges Friedmann geleitete Zeitschrift gestaltet ein hinsichtlich der Beziehung zum Strukturalismus bunt gemisch­tes Redaktionskomitee.9 Communications veröffentlicht zwei programmatische Ausgaben, die von einer Gruppe um Roland Barthes vorbereitet werden: 1964 die Nummer 4, in der nament­lich »Éléments de sémiologie« von Barthes erscheint, und ganz besonders die 1966 erschienene Nummer 8, die der strukturalen Analyse der Erzählung gewidmet ist und als Manifest der franzö­sischen Strukturalistenschule gelten wird.10

Tel Quel

1960 publiziert der Verlag Seuil die Zeitschrift Tel Quel11; sie wird rasch zum Sprachrohr des synkretistischen Anspruchs, mit dem der Strukturalismus auftritt. Sie vertritt die Synthesebestre­bung der Epoche um so deutlicher, als sie aus keiner besonderen Disziplin der Humanwissenschaften hervorgeht. Lanciert wird sie von Schriftstellern, und ihr Zielpublikum ist die intellektuelle Avantgarde. Von dem seit 1958 geplanten Projekt »hatte François Wahl gesagt, es würde der Parnaß von Napoleon III. sein, jenem neuen Napoleon III., der 1958 General de Gaulle war«12.

Mit ihrem Motto greift die Zeitschrift einen Ausspruch von Nietzsche auf: »Ich will die Welt und will sie so, wie sie ist (tel quel), und will sie wieder, will sie ewig.« D Die Eingangserklä­rung der ersten Nummer deutet auf eine vornehmlich literarische

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Absicht hin, die der Poesie »den höchsten Platz des Geistes«14

zumißt. Die ganze Gruppe ist im wesentlichen literarisch ausge­richtet, doch wenn auf dem Umschlag im Untertitel das Wort »Wissenschaft« fällt, so zeigt dies, daß das Projekt sich zur Be­förderung einer neuen Schreibweise alle avantgardistischen und modernistischen Formen der Humanwissenschaften aneignen will. Und in den sechziger Jahren verkörpert diese wissenschaftli­che Modernität eben der Strukturalismus — daher der umfas­sende Untertitel : »Literatur/Philosophie/Wissenschaft/Politik«. Das Augenmerk bleibt indes ein literarisches : »Diese politische, periodische und aktualisierende Tätigkeit ist stets im Namen des literarischen Schaffens und von Schriftstellern geführt wor­den.« 15 Ziel ist also, Einfluß auf die Literatur zu nehmen, die Schreibweise zu verändern und mit Hilfe der strukturalistischen Beiträge eine neue Stilistik zu begründen. Die Zeitschrift ist so­mit von vornherein interdisziplinär ausgerichtet; sie wirkt als Tauschplatz, dessen einziges Prinzip es ist, die Avantgarde wider­zuspiegeln. Dabei bildet die vom Strukturalismus erneut ins Ge­spräch gebrachte Rhetorik den Grundstein des Projekts.

Zum Gegner erklärt Tel Quel die klassische Literaturgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts : »Sich absetzen von der Idee der Literatur, die im Nachkriegsfrankreich herrschte, das heißt von einer Literatur der psychologischen Restauration«16. In diesem Sinn gab es wohl ungetrübtes intellektuelles Einverneh­men zwischen dem strukturalistischen Paradigma, das es auf die Schemata von Bewußtsein, Subjekt und Beherrschung der Ge­schichte abgesehen hatte, und dem Projekt Tel Quel, das auf die Humanwissenschaften rekurrierte, um die Idee einer harmoni­schen, positivistischen Literaturgeschichte zunichte zu machen. Die Zeitschrift sollte also zu einem Kreuzungspunkt werden, einem interessanten und brisanten Gemisch aus Lacanismus, Althusserianismus und Barthesianismus, so daß Tel Quel zumeist als das Organ einer imaginären strukturalistischen Internationale gilt. So bekommt in den sechziger Jahren Marcelin Pleynet als Tel-

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Quel-Verantwortlicher den Auftrag von einer Ärztezeitschrift, einen Artikel über den Strukturalismus zu verfassen. Das Vor­recht, das dem Unbewußten und den formalen Strukturen einge­räumt wird, sprengt den Psychologismus : »Die beste Art zu sa­gen, daß es mit der Psychologie in der Literatur aus war, bestand darin, sich für die Psychoanalyse zu interessieren.«17

Die Stärke von Tel Quel liegt in der Unabhängigkeit von jed­weder Partei oder Institution — und darin, daß kein Fachan­spruch verteidigt werden muß. Die Logik von Tel Quel besteht darin, stets die Avantgarde-Stellung zu halten. Da diese aber je­derzeit vom System vereinnahmt, geschluckt und verdaut werden kann — »Lauf, Genosse, die alte Welt ist hinter dir« —, erwächst daraus eine zuallermeist terroristische Konzeption, die darauf baut, den Gegner (im allgemeinen den nächststehenden) nieder­zumachen und sich gleichzeitig für das Opfer einer ständigen Verschwörung zu halten. Tel Quel pflegt einen wahrhaft terrori­sierten Terrorismus, beschrieben in Marcelin Pleynets Formel: »Es gilt jedesmal, der Umzingelung zu entgehen.«18 Tel Quel, 1960 gegründet, schweigt allerdings zu Algerien und entwickelt sich im folgenden zu einer der radikalsten prochinesischen Zellen Frankreichs.

Die Geschichte der Zeitschrift ist eine Geschichte brutaler Li­nienwechsel, bei denen jedesmal wertvolle Mitarbeiter auf der Strecke bleiben: »In Wahrheit ist die Geschichte von Tel Quel keine Geschichte von Ausschlüssen. Es ist eine Geschichte der Ausschlüsse einzelner, um den Einschluß von sehr viel größeren Forschungsfeldern zu ermöglichen.«19 Die erste Öffnung voll­zieht sich dank Sollers' Parteinahme für den Nouveau roman, die Thibaudeau und Ricardou zum Eintritt in die Gruppe veranlaßt. Die zweite ergibt sich aus dem Einschluß des Bereichs Poesie mit dem Beitritt von Denis Roche und Marcelin Pleynet. Pleynet übernimmt übrigens später den Posten des Generalsekretärs, der 1962 durch den Fortgang von Jean-Edern Hallier vakant wird; dieser Bruch wird 1971, als der Maoismus triumphiert, hingestellt

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als »Scheitern eines Versuchs von rechts, sich der Zeitschrift zu bemächtigen«20.

Von 1962 bis 1967 reitet Tel Quelzui der ansteigenden struktu-ralistischen Welle, dieser Zeitraum wurde im nachhinein als »for­malistische Epoche«21 der Zeitschrift bezeichnet. Barthes, der fe­ste Freundschaftsbande mit Philippe Sollers und Julia Kristeva knüpft, nähert sich der Zeitschrift, »was zu einem Bruch zwi­schen Leuten wie Genette, Todorov und mir [Claude Brémond] auf der einen Seite und Tel Quel auf der anderen geführt hat«22. Für Barthes verkörpert die Gruppe um Tel-Quel die Moderni­tät. Noch verstärkt werden die freundschaftlichen Verbindun­gen durch die Zugehörigkeit zum Verlagshaus Seuil, in dem so­wohl Barthes' Arbeiten als auch Tel Quel erscheinen. In der Reihe »Tel Quel« erscheint übrigens 1966 auch Kritik und Wahrheit von Barthes, der »die Zeitschrift Tel Quel ein für mich lebens­wichtiges Unternehmen«23 genannt hat. Jacques Derrida steht Tel Quel ebenfalls sehr nahe, veröffentlicht in der Zeitschrift Texte und unterstützt ihre Positionen. Sehr präsent ist der lacania-nische Diskurs mit den Artikeln von Sollers und Kristeva, treuen Hörern von Lacans Seminar.

Auch der Althusserianismus nimmt Einfluß, nämlich auf die Neulektüre von Marx, die in der im vertrauten Kreis T Q genann­ten Gruppe vordringliche Bedeutung bekommt, insbesondere als 1967 der Dialog mit der KPF und der Nouvelle Critique aufge­nommen wird. Die auf die Kulturrevolution abzielenden prochi­nesischen Positionen sind unter Berufung auf einen Althusseria­nismus reinsten Wassers gefaßt worden. Zum Zeitpunkt der maoistischen Wende bricht der 1963 zu der Zeitschrift gekom­mene Jean-Pierre Faye mit der Gruppe, ein Zerwürfnis, das mit dramatischen Szenen und unflätigen Beschimpfungen einher­geht. Aber auch wenn sich die großen Brüche in der Geschichte von Tel Quel im Zuge politischer Orientierungen ereignen, sind sie im Grunde zweitrangig für eine Zeitschrift, deren Stra­tegie und Zweck literarisch bleiben.

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Das kommunistische Tauwetter

Literarische Ambitionen sind nicht die Hauptsorge der Presseor­gane der KPF, die von der Umsetzung der offiziellen politischen Linie in Anspruch genommen sind. Das schließt allerdings gele­gentliche Öffnungen mit dem Ziel, der KPF mehr Gehör in den Intellektuellenmilieus zu verschaffen, nicht aus. In den Jahren des Tauwetters, der friedlichen Koexistenz, der beginnenden Entsta-linisierung öffnet sich die von Louis Aragon und Pierre Daix ge­leitete literarische Wochenzeitschrift der KPF, Les Lettres fran­çaises, den Ausdrucksformen der Avantgarde, den Reflexionen formaler Fragen, um aus dem Muster des sozialistischen Realis­mus herauszukommen: »Um Les Lettres françaises, um eine be­stimmte Avantgarde der KPF herum sind also die ersten Begeg­nungen mit der literarischen Avantgarde-Bewegung, mit dem Strukturalismus und der Universität vor 1968 zustande gekom­men.« 24

Jean-Pierre Faye, der dem Stab von Tel Quel angehört, schreibt regelmäßig in den Lettres françaises, und er schafft es, die Direktion der Zeitung so sehr für den Formalismus zu interessie­ren, daß diese ihn beauftragt, ein Gespräch mit Jakobson zu ver­öffentlichen: »Mit Jakobson habe ich mich sehr schnell befreun­det. Sobald er nach Paris kam, meldete er sich bei mir.«25

Als zweite Zeitschrift der KPF öffnet sich La Nouvelle Cri­tique der Debatte. Gegründet im Dezember 1948 als Organ für den theoretischen Kampf, den es nach der Konstituierung des Kominform zu führen galt, wurde die Wochenzeitschrift der KPF-Intellektuellen damals unter ihrem Chefredakteur Jean Ka­mpa auf Kurs gebracht. Es war die stalinistische Ära, das Zeitalter der zwei Wissenschaften (der bürgerlichen und der proletari­schen), des Jdanovismus und des Lyssenkismus. Eine solche Zeit­schrift hätte mit der strukturalistischen Herausforderung nichts im Sinn gehabt, doch wird im März 1966 bei der Sitzung des Zen­tralkomitees in Argenteuil und daran anschließend im Januar

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1967 beim XVIII. Parteitag in Levallois eine andere Linie be­schlossen, aus der eine neue Politik gegenüber den Intellektuellen erwächst. Auf die Politik der belagerten Festung folgt eine »Logik der Öffnung«26. La ,Nouvelle Critique ist nun, gemäß der 1967 ausgegebenen neuen Losung, relativ eigenständig ge­genüber der KPF-Führung und soll auf dem Feld der Sozialwis­senschaften neue Tendenzen aufspüren. Die Suche nach neuen Bündnissen veranlaßt vor allem die Intellektuellen in der KPF, die Stellung einer von den Sozialwissenschaften befruchteten Ge­schichte aufzuwerten. Antoine Casanova publiziert zahlreiche Einlassungen zu diesem Thema, erneut erschienen 1974 in dem Sammelband Aujourd'hui l'histoire, in dem man neben den Bei­trägen kommunistischer Historiker auch solche von André Le-roi-Gourhan, Jacques Le Goff, Jacques Berque, Georges Duby und Pierre Francastel lesen kann.

La Nouvelle Critique entwickelt sich also seit 1967 zu einem Ort der Debatten, der Öffnung für die Modernität und insofern der Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus. Gewiß macht sich die Zeitschrift der KPF die strukturalistischen Thesen nicht zu eigen, aber sie diskutiert und kommentiert sie. Selbst vor der Wende von 1967 wurden bestimmte Positionen oder wichtige Debatten dort ausgetragen. Hier hat Althusser seinen berühmten Artikel »Freud und Lacan« veröffentlicht, der den Marxismus für das psychoanalytische Wissen und den Lacanismus öffnet.27

Auch die Debatten zum Verhältnis von Humanismus und Mar­xismus in den Jahren 1965/66 haben in diesem Rahmen statt­gefunden. Nachdem bei Maspero die neue Marx-Lektüre von Althusser und den Althusserianern veröffentlicht wurde, versuchte La Nouvelle Critique, »eine Klärung herbeizuführen zwischen der Anverwandlung des Marxismus an einen philosophischen Humanismus, wie sie Garaudy und Schaff dachten, und der Be­hauptung eines antihumanistischen Charakters, wie sie Althusser verfocht«28.

1967 spricht die Tel-Quel-Reâakûon die Kollegen der erneu-

Die Zeitschriften 409

erten Nouvelle Critique darauf an, ob man in Sachen intellektuel­ler Modernisierung zusammenarbeiten wolle. Darauf reagiert die Zeitschrift der KPF begeistert und bescheinigt der Tel-Quel-Gruppe »hohes literarisches und wissenschaftliches Niveau«, so daß die Kommunisten sich sogar bereit erklären, bei den Schrift­stellern von Tel Quel in die Schule zu gehen, deren »Forschung unsere Sympathie verdient und [zeigt], wieviel wir von ihr lernen können«29.

Wenn sich eine Ära des Dialogs mit den verschiedenen Formen des Strukturalismus eröffnet, übernimmt die Zeitschrift der KPF freilich noch lange nicht dessen sämtliche Thesen. Zudem veröf­fentlicht La Nouvelle Critique im selben Jahr, 1967, vier Artikel, die den Strukturalismus angreifen, ohne sich allerdings mit Althusser, der Parteimitglied ist, direkt anzulegen.30 Pierre Vilar und Jeannette Colombel werfen Michel Foucaults Werk Die Ordnung der Dinge vor, die Geschichte zu entleeren, Georges Mounin kritisiert die massenhafte und verwässerte Verbreitung des linguistischen Modells, und Lucien Sève verteidigt einen wis­senschaftlichen Humanismus gegen den theoretischen Anti-humanismus der Althusserianer.31 Bei aller Distanz wirkt La Nouvelle Critique an der Bekanntmachung und Verbreitung des Strukturalismus mit, und infolgedessen schließen sich einige In­tellektuelle der KPF an, die sie als debattenfreudig erleben : Ca­therine Backès-Clément, Christine Buci-Glucksmann, Elisabeth Roudinesco. Diese Wende im Verhältnis der KPF zu den Intellek­tuellen ist nicht nur Ergebnis eines internationalen Tauwetters, sie wird für die Parteiführung auch durch den konkurrierenden kulturellen und politischen Aufruhr der studentischen Jugend notwendig, die mit der Partei brechen und sich ihre eigenen Orte der Theoriebildung schaffen wird.

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Der maoistische Pol

Die Hochburg des Protests befindet sich im Umkreis des Philo­sophen Louis Althusser an der Ecole normale supérieure in der Rue d'Ulm. Dort lancieren ein paar Schüler des caïman für die agrégation in Philosophie Ende 1965 die Cahiers marxistes-léni­nistes (CML). Die von der Union des étudiants communistes ver­triebene Zeitschrift trägt als Wahlspruch das Lenin-Zitat: »Die Theorie von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« Die erste Auf­lage von tausend Exemplaren ist sofort vergriffen. Anläßlich der Nummer 8 kommt es jedoch zu einer schweren Krise, und Ro­bert Linhart sperrt die Auslieferung, weil er mißbilligt, daß die dem politischen Kampf gewidmete Zeitschrift plötzlich eine Nummer erarbeitet, die sich mit Artikeln über Aragon, Borges oder Gombrowicz ausschließlich um Literatur kümmert. Robert Linhart geht mit Jacques-Alain Miller ins Gericht: »Alles, was du willst, ist eine akademische Karriere, eine bourgeoise Autoritäts­position!«32 Im Milieu der Rue d'Ulm kommt es 1966 zu zwei Abspaltungen : Zunächst zieht Jacques-Alain Miller eine Gruppe mit sich, die einen Epistemologiezirkel gründet, von dem dann Les Cahiers pour l'analyse herausgegeben werden; und der »pro­chinesische« Sektor der Union des étudiants communistes wird im November 1966 aufgelöst und bildet nun die Union des jeu­nesses communistes marxistes-léninistes (UJCML). Seit der Nummer 9/10 ist Dominique Lecourt Herausgeber der Cahiers marxistes-léninistes, und es macht sich ein immer deutlicherer Be­zug auf Althusser bemerkbar. Diesem ist die Nummer 11 gewid­met, insbesondere mit der Veröffentlichung von Auszügen aus Matérialisme historique et matérialisme dialectique.

Ab Nummer 14 werden die Cahiers marxistes-léninistes zum theoretischen und politischen Organ der JC (ML), und dieses Heft ist der chinesischen Kulturrevolution gewidmet. Der Bruch mit der KPF wird vollzogen, die gemäß der chinesischen Linie als revisionistisch abgetan wird. Althusser, der in der KPF bleibt,

Die Zeitschriften 411

billigt das, indem er in dieser Nummer einen Artikel über die Kulturrevolution veröffentlicht, ohne ihn allerdings zu signieren. So paradox dies angesichts der Kluft zwischen der Verherrli­chung des maoistischen China einerseits und den strukturalisti-schen Positionen andererseits auch scheinen mag, zieht diese Symbiose eine ganze Studentengeneration politisch wie theore­tisch in den Bann.

Der Herausgeber der Cahiers marxistes-léninistes, Dominique Lecourt, ist eine Symbolfigur für dieses Doppelengagement. 1965 als Gräzist an die ENS gekommen, wechselt er später zur Philo­sophie. Anfang der sechziger Jahre kämpft er in der UNEF [Union nationale des étudiants de France, A.d.Ü.] gegen den Algerienkrieg und kommt im Zuge dieser militanten Aktion in den Bannkreis der Positionen Althussers. 1966 gehört er zu den fünf Gründern der UJCML: »In den Themen der Kulturrevolu­tion klangen viele Thesen von Althusser nach.«33 Die theoreti­schen Auseinandersetzungen bilden für Dominique Lecourt eine wichtige Triebkraft seines politischen Kampfes ; ab 1967 besucht er das Seminar von Georges Canguilham, der »in meiner Ausbil­dung eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat«34. Da auch Lacan in der Rue d'Ulm lehrt, läßt er sich dieses Schauspiel nicht entge­hen, wenngleich die maoistischen Aktivisten »etwas verdutzt von dieser Atmosphäre waren, die sich mit unseren proletarischen Idealen schwer in Einklang bringen ließ«35.

Ziel der jungen Studenten der ENS war es, in der Marx-Inter­pretation eine ebenso unanfechtbare wissenschaftliche Strenge zu erreichen, wie sie Lévi-Strauss in der Darstellung des wilden Denkens gelungen war. Doch man mußte die Sache von zwei En­den anpacken, einen theoretischen und einen politischen Kampf führen. Das mißfiel einigen Althusserianern, darunter Domi­nique Lecourt und Robert Linhart, an der von Jacques-Alain Mil­ler, François Régnault und Jean-Claude Milner vorbereiteten Nummer 8 der Cahiers marxistes-léninistes: »Diese Nummer er­schien uns total esoterisch, und mehrere irrwitzige Sitzungen, die

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bis drei Uhr morgens dauern sollten, endeten schließlich mit ei­ner Spaltung. Wir diskutierten dort über den epistemologischen Bruch und den Signifikanten. Besonders lebhaft erinnere ich mich an die große Sitzung des Zerwürfnisses, wo Robert Linhart stundenlang mit Jean-Claude Milner über den Signifikanten und das Insignifizierte des Signifikanten diskutierte, um herauszube­kommen, inwieweit dies materialistisch sei. Das hatte einen ge­wissen Schneid.«36

Aus diesem Bruch geht die Zeitschrift der jungen althusseria-nischen Generation, Les Cahiers pour l'analyse, hervor, die man als althusserianisch-lacanianisch bezeichnen kann. Sie verortet sich in der Perspektive eines Kampfstrukturalismus als Gesamt­philosophie und beruft sich sowohl auf Althusser als auch auf La­can, Foucault und Lévi-Strauss. Dort findet man die Zöglinge von Althusser und Lacan, denn sämtliche Mitglieder des Redak­tionsrats, der sich aus Alain Grosrichard, Jacques-Alain Miller, Jean-Claude Milner und François Régnault zusammensetzt, ge­hören der Organisation der lacanianischen Psychoanalyse, der École freudienne de Paris an.

Von 1966 bis 1969 werden die Cahiers pour l'analyse eine epi-stemologische Arbeit leisten und die Psychoanalyse, die Lingui­stik und die Logik auf ihre Wissenschaftlichkeit hin befragen, um die eine, als Diskurstheorie, als Philosophie des Begriffs konzi­pierte Wissenschaft zu errichten. Die Zeitschriften haben ein Zitat von Georges Canguilhem zum Motto: »Einen Begriff erarbeiten heißt seine Extension und sein Fassungsvermögen va­riieren lassen, ihn verallgemeinern durch Einverleibung der Aus­nahmemerkmale, ihn aus seinem Ursprungsgebiet herausholen, ihn als Modell nehmen oder, umgekehrt, ein Modell für ihn su­chen, kurz, ihm schrittweise Transformationen zufügen, die von der Funktion einer Form geregelt werden.«37

Mit den Cahiers pour l'analyse hat man an der ENS in der Rue d'Ulm die symptomatischste Strömung des strukturalistischen Aufruhrs der sechziger Jahre vor sich, in seinen vermessensten

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Ambitionen, in seinen radikalsten szientistischen Experimenten, in seiner elitärsten Erscheinungsform einer Dialektik von Avant­garde und Masse, die im Namen des Weltproletariats zu sprechen vorgibt und sich zu den terroristischsten und terrorisierendsten theoretischen Praxen berechtigt sieht.

Handelt es sich um eine Karikatur, um eine ubuhafte Parodie oder, im Gegenteil, um ein ernsthaftes Unternehmen, das den frühen Strukturalismus ablöst? Wahrscheinlich beides, und diese explosive Mischung wird einer Generation von Philosophen gei­stige Nahrung sein.

Ulm oder Saint-Cloud: Althu oder Touki?

In den sechziger Jahren stellen sich die Philosophen der Heraus­forderung der Humanwissenschaften. Sie machen sich das struk-turalistische Programm zu eigen, bewahren sich auf diese Weise eine herrschende Stellung auf dem intellektuellen Feld und ver­meiden die Marginalisierung, die ansonsten den klassischen Hu­maniora widerfährt. Somit findet der Strukturalismus entschei­dende Schaltstellen durch sein Einsickern in die École normale supérieure, die Hochburg wissenschaftlicher Legitimität, was es ihm gestattet, die klassischen Universitätsinstitutionen gleichzei­tig zu umgehen und überflügeln (auch wenn die ENS im heftigen Wettbewerb um die Reproduktion der Führungskräfte der Na­tion gegenüber der ENA zurückgefallen ist).

Die Studenten der ENS sehen sich gewissermaßen einer binären Ausbildungsstruktur gegenüber, je nachdem, ob sie sich zur Rue d'Ulm oder nach Saint-Cloud orientieren. Auf der einen Seite, in Saint-Cloud, besuchen sie die Veranstaltungen von Jean-Toussaint Desanti, der seinen Studenten eher die neuen Disziplinen der Hu­manwissenschaften anrät. Er empfiehlt ihnen, sich im szientifi-schen Wissen zu schulen und unter Umständen auf die Philosophie zu verzichten. Louis Althusser hingegen konstruiert eine Theorie, die der Philosophie den obersten Rang bewahrt, und fordert seine Studenten auf, die Geltung der einzelnen Humanwissenschaften anhand der Kriterien einer Philosophie des Begriffs zu überprüfen. Althusser und Desanti gemeinsam ist also die Strategie, das struk-turalistische Paradigma einzuschließen, dies aber in verschiedener Gestalt, denn Althusser fordert, im Namen der Philosophie zu sprechen, während Desanti eher zu einer Konversion aufruft.

Ulm oder Saint- Cloud: A Uhu oder Touki ? 415

Saint-Cloud

Jean-Toussaint Desanti steht in der Traditionslinie der Phänome­nologie und kommt bereits 1938 durch Merleau-Ponty zur Lek­türe Husserls. In der Nachkriegszeit engagiert er sich in der KPF : »Die Erfahrung der politischen Kämpfe hat mich zu Marx und seinen Nachfolgern geführt.«1 Als alter ulmien, der 1935 sein Studium an der ENS begann, hat Desanti auch Jean Cavaillès kennengelernt — eine entscheidende Begegnung, denn zu seinem philosophischen Hauptgegenstand sollte Desanti die Mathema­tik machen und sich daher im wesentlichen der epistemologi-schen Arbeit zuwenden. Daraus bezieht er die Einsicht, daß die Philosophie kein autonomer, gründender Diskurs, sondern viel­mehr ein abgeleiteter Diskurs sei: »Wenn man ernsthaft Philoso­phie betreiben will, muß man sich im Herzen der Positivitäten niederlassen, so Desanti wörtlich.«2

In den sechziger Jahren herrschte ein latenter Konflikt, eine Konkurrenzsituation zwischen den beiden Philosophen, von de­nen der eine, Althusser, sich immer stärker für den Marxismus-Leninismus engagierte, während der andere, Desanti, sich davon freimachte und bereits 1958 mit der KPF gebrochen hatte. Dabei hatte Desanti den Kandidaten für die agrégation der Rue d'Ulm, darunter Althusser, geholfen, die Prüfung zu bestehen, und hatte Althusser nach bestandener agrégation sogar das Parteibuch der KPF ausgehändigt: »Ich war es, der ihn dazu gebracht hat, in die Partei einzutreten — leider!«3 Desanti bedauert es, Althusser ei­nen Weg gewiesen zu haben, den er seit Ende der fünfziger Jahre für eine Sackgasse hält. Dessen Arbeit betrachtet er als ein philo­sophisches Werk der Komplexifizierung des Marxismus4, das aber »nur eine Auf Schubfunktion [hatte], denn dieses hochelabo-rierte Unternehmen zur Aufrechterhaltung des Marxismus-Leni­nismus ist den Problemen unserer Zeit herzlich wenig angemes­sen. Wer ist heute schon Leninist, außer den Albanern?«5

Desanti verbindet bei seiner Erforschung der mathematischen

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Idealitäten Strukturalismus und Phänomenologie. Jene sind indes nicht das Ergebnis einer Weltflucht, eines Ausbruchs aus dem Feld der Erfahrung: »Sie sind der Forderungsmodus, der die Produktivität dieser Art von Gegenständen, der Idealobjekte, begreifen läßt.«6 Sie wurzeln in einem originär symbolisierbaren Feld, gehören also weder direkt in die Sphäre der Intelligibilität noch in die der Sinnenwelt, sondern in ein Dazwischen. Desanti stützt sich in seiner Erforschung der mathematischen Objekte auf die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten Strukturent­wicklungen sowie auf die Leistungen der Bourbaki-Gruppe, mit denen symbolisch definierte Problemgegenstände konstruiert werden können: »Es ist eine schlanke Struktur, aus der heraus man jedoch sehr tragfähige Theoreme gewinnen kann, die es ge­statten, Eigenschaftsketten in ursprünglich differenzierten Ob­jektfeldern zu beherrschen.«7

In diesem Sinne trieb Desanti der Wunsch nach Aufdeckung der Struktur, der Form, der Einheit. Sein Theorieprojekt, die signifikanten Verknüpfungen mit Abschlußprinzipien und Über­gangsregeln festzulegen, ist mit dem strukturalistischen Vorha­ben verwandt. Dabei verzichtet er jedoch nicht auf die sinnstif­tenden Akte und auf jene eidetische Suche nach einem Gebiet, in dem der Sinn vorgebildet, also reaktivierbar ist. Darin bleibt er fundamental phänomenologisch: »Das Erfordernis, die Verhal­tensweisen an die Determinierung einer zugrundeliegenden Struktur rückbinden zu müssen, wirft wieder die Subjektfrage auf. Das Subjekt wird nicht aufgehoben, denn wenn es nichts be­deutet, gibt es auch keine Struktur. Da, wo es kein Erleben gibt, gibt es keine Struktur. Die Struktur ist die Struktur von dem und dem, von dem, was sich tut, was getan wird, was man tun will, und diese Beziehung muß man begreifen. Das ist das Problem, das sich heute stellt.«8

Die Laufbahn des Epistemologen für Sprachwissenschaften und Desanti-Schülers Sylvain Auroux mag ein Licht auf das bei seinem Lehrmeister herrschende Verhältnis von Philosophie und

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Wissenschaft werfen. 1967 in die khâgne eingetreten, eröffnet ihm Desanti den Strukturalismus : »Der Strukturalismus war die Gegenkultur, und wir haben uns darin gesuhlt.«9 Auroux geht auf die ENS in Saint-Cloud, macht seine agrégation, danach ein Doktorat in Philosophie, unterrichtet eine Weile am Gymnasium und tritt dann in den Fachbereich Sprachwissenschaft am CNRS ein. Er folgt also Desantis Ratschlag, sich im Inneren einer Positi-vität niederzulassen, im vorliegenden Fall der Linguistik, und wird Forschungsdirektor am CNRS, unter lauter Linguisten: »Leute wie ich haben Althusser immer als einen Ideologiefabri­kanten wahrgenommen. [...] Er hat die Großtat vollbracht, eine platonische Version des Marxismus anzubieten.«10

Im Gegensatz zur Errichtung einer Epistemologie, die in ei­nem kritischen Außenverhältnis zu den Wissenschaften steht, hielt Desanti dazu an, eine epistemologische Arbeit der Wissen­schaften von innen heraus vorzunehmen, was Sylvain Auroux wahrmachen sollte : »Wie Desanti damals sagte : Mathematikphi­losoph sein heißt, auf dem Feld der Mathematiken zu stehen.« n

Das Überwechseln Sylvain Auroux' zur Linguistik bedeutet al­lerdings nicht, daß sich die Seminaristen der ENS von Saint-Cloud von der Philosophie abgewandt hätten, zumal sie durch Martial Gueroult die Geschichte der philosophischen Texte durchaus kennenlernten.

Ulm

Der Tutor der neuen Generation an der Rue d'Ulm heißt Louis Althusser. Agrégé in Philosophie des Jahrgangs 1948, hat er die Aufgaben eines von der Schule abgestellten Repetitors für die Kandidaten der agrégation übernommen, wurde also von der ENS zum caïman in Philosophie berufen. Mehr als Desanti ist Althusser der Ansicht, daß die Philosophie gegenüber den mo­dernen Sozialwissenschaften eine Rolle zu spielen habe, nämlich

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als Theorie der theoretischen Praxen, die imstande ist, die wis­senschaftliche Gültigkeit der Positivitäten abzuwägen, um sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Für Althusser behält die Philosophie ihre angestammte Rolle als Königsdisziplin, auch wenn sie ihren Diskurs erneuern und sich veränderten Problem­stellungen öffnen muß.

Die maßgebliche Rolle, die Althusser und die Althusserianer in den sechziger Jahren im Ausstrahlungsbereich des Struktura­lismus gespielt haben, beruht auf der Fähigkeit, die Herausforde­rung insbesondere der strengen Humanwissenschaften anzuneh­men und somit im Glanz der Modernität zu erstrahlen, sie dabei aber in die traditionelle Form eines umfassenden, wahrheitstra­genden philosophischen Diskurses umzulenken.

Die Rue d'Ulm wird zum Epizentrum der strukturalistischen Ideologie, zum innerfranzösischen Symptom für das Gewicht der Humanwissenschaften im universitären Ausbildungsgang. Die Rue d'Ulm ist in dieser Hinsicht ideal dazu geeignet, die alte Sorbonne abzuhängen. Inbegriff des Auserlesenen, verkörpert die École einen doppelten Vorzug, angestammte wissenschaft­liche Legitimität und avanciertesten Modernismus: »Ich weiß noch sehr gut, daß man der universitären Philosophie mit ihrer Mischung aus Humanismus und Spiritualismus überdrüssig war«12, berichtet der ehemalige ulmien Jacques Bouveresse. Als dann die »echten« Humanwissenschaften aufkamen, wurde das als regelrechte intellektuelle Befreiung erlebt. Dabei ging es frei­lich nicht darum, sich alle Humanwissenschaften anzueignen, denn die »echten« waren drei an der Zahl: Psychoanalyse, An­thropologie und Linguistik bildeten das konstitutive Trio des strukturalistischen Paradigmas, und man schaute verächtlich auf die bereits als traditionell geltenden Humanwissenschaften, die empirischen Klassifikationswissenschaften Psychologie und So­ziologie.

Die Philosophen versuchten also, diese drei Wissenschaften der Öffentlichkeit zu verkaufen : »Die betroffenen Wissenschaft-

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1er haben das gebilligt, wie es oftmals der Fall ist, denn die Philo­sophie vermag, selbst wo sie verachtet wird, eine breitere Öffent­lichkeit zu erobern, als es die an ein arg begrenztes Publikum ge­wöhnten Wissenschaftler erwarten dürfen.«13 Indem sie ihre Problemstellungen erneuerte, machte die Philosophie die Sozial­wissenschaften gesellschaftsfähig, die den Vorzug eines lesbaren, strengen und formalisierbaren Diskurses aufwiesen. Das Unter­nehmen war derart erfolgreich, daß die Philosophen sich hüteten, es im Namen der Philosophie zu führen, die man damals als erle­digt ansah; man ersetzte ihn durch den Terminus »Theorie«, wie in der gleichnamigen Reihe, die bei Maspero erschien und von Louis Althusser herausgegeben wurde.

Allerdings ging es nicht darum, Anthropologe, Linguist oder Psychoanalytiker zu werden, sondern sich der Strenge dieser Disziplinen zu bedienen, um gleichzeitig im Namen einer diesen theoretischen Praxen überlegenen Theorie deren Szientismus zu demontieren — ein Werk der internen Subversion ebenso wie der Aneignung zugunsten der Philosophen. Das erforderte verdeck­tes Vorgehen und hatte laut Jacques Bouveresse einen hohen Preis: »Es war eine Zeit, in der man den Eindruck eines Spiels ohne alle Regeln hatte. Ab dem Augenblick, wo bestimmte dog­matische Vorgaben akzeptiert sind, können Sie beliebige Be­hauptungen ohne argumentative Verbindlichkeit aufstellen.« u

Marx an der Rue d'Ulm!

Althussers erste Neuerung an der Rue d'Ulm besteht darin, im Allerheiligsten der Elitenreproduktion Marx auf den Lektüreplan zu setzen. Publiziert er 1960 seine Übersetzung der Philosophi­schen Manifeste Feuerbachs15, so beginnt er 1961/62 auf Wunsch seiner Studenten ein Seminar über den »jungen Marx«: »Das Buch über Montesquieu ist von 1959, seine ersten Texte über die Überdeterminierung, über den jungen Marx sind von 1960. Man

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hatte ihn gebeten, in der École ein Seminar über den frühen Marx zu veranstalten.«16

Unter den Hörern befinden sich Pierre Macherey, Roger Establet, Michel Pêcheux, François Régnault, Etienne Balibar, Christian Baudelot, Régis Debray, Yves Duroux und Jacques Rancière. Die Texte von Marx zu lesen, wie man Aristoteles oder Piaton liest, war für die Studenten der ENS seinerzeit ein er­staunliches Ereignis, auch wenn die Methode der Texterklärung innerhalb der wohlbekannten Kanons blieb. Waren Althussers Schüler von dessen »umwerfender Originalität«17 begeistert, so lag den jungen Studenten, die mit der Führung der KPF gebro­chen hatten, auch der politische Sieg gegen die Garaudy-Linie am Herzen. Für die Generation, die gegen den Algerienkrieg kämpfte, war dies maßgeblich. Das Zusammengehörigkeitsge­fühl wurde im übrigen durch den intensiven Umgang gestärkt, den das Internat an der École bedingte: »Es war eine Kampfge­meinschaft. Als Althusser seine ersten Artikel über den jungen Marx veröffentlichte, sagten wir uns : Das ist einmal ein vorzeig­barer, strenger Marxist.«18 Gesteigert wurde die Intensität des sozialen Lebens an der École durch die gemeinsame Theoriear­beit für die Unterrichtsvorbereitung; »wir hatten beschlossen, uns gegenseitig zu helfen, die agrégation zu bestehen«19.

Das Studienjahr 1962/63 widmet Althusser den Anfangsgrün­den des strukturalistischen Denkens. Er spricht über Lévi-Strauss, Montesquieu und Foucault. Jacques-Alain Miller behan­delt die Archäologie des Wissens bei Descartes, Pierre Macherey die Ursprünge der Sprache. Weitere Teilnehmer des Seminars sind Jacques Rancière, Etienne Balibar, Jean-Claude Milner und Mi­chel Tort.20

1964 richtet Althusser sein Seminar auf die Lektüre von Mar­xens Kapital aus : »Dabei dachte niemand an eine Veröffentli­chung. Es war ein freies und unbefangenes Tun.«21 Aber diese Arbeit, die eigentlich auf einen vertraulichen Kreis beschränkt bleiben sollte, wird beachtliches Aufsehen erregen, als 1965 bei

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Maspero das Kollektivwerk Das Kapitallesenxmd gleichzeitig eine Aufsatzsammlung von Althusser, Für Marx, erscheint : »Wir fan­den uns in einer unglaublichen Situation wieder, waren von heute auf morgen berühmt, ohne es zu wollen. [...] Es war die Zeit, in der die Korrektoren bei der agrégation unsere Namen in den Aufsät­zen als die der großen zeitgenössischen Philosophen zitiert fanden. Wir bekamen sofort einen Bekanntheitsgrad, der bis 1968 anhielt, und ich versichere Ihnen, das haben wir teuer bezahlt.« n

Diese Arbeit und ihre Publikation verzahnen sich selbstver­ständlich mit einer außeruniversitären Logik, als wichtiger Be­standteil der KPF-internen Konfrontationen, bei denen die Althusserschen Positionen seit 1963 Garaudys heftiger Kritik ausgesetzt sind. Die Rue d'Ulm dient als Angriffsinstrument so­wohl gegen den traditionellen Universitätsapparat wie auch ge­gen die KPF. Wie bei den Linguisten, die gegen die klassische Li­teraturgeschichte Front machen, wird der Strukturalismus zur Anfechtung der herrschenden Autoritäten eingesetzt, die man im Namen der Strenge und der Wissenschaftlichkeit als schwammig bloßstellt. Auch an der Rue d'Ulm, im Schmelztiegel des struktu-ralistischen Konzepts, praktiziert man eine Symbiose zwischen den verschiedenen Wissenskontinenten. Michel Pêcheux hat eine solide Ausbildung in Linguistik durchlaufen, viele besuchten die Lehrveranstaltungen von Georges Canguilhem und befaßten sich also mit Epistemologie. Das Werk von Lévi-Strauss kannten alle : »Mein Interesse an Lévi-Strauss begann teilweise in Reaktion ge­gen die Norm, die uns das Zertifikat in Moral und Soziologie auf­erlegte. In ihm war etwas von einer Gegenkultur.«23 Althusser vermehrte dieses strukturalistische Paradigma um einen neu gelesenen Marx und vollzog damit eine Rückkehr zu Marx nach Art der Rückbesinnung auf Saussure und Freud. Er hatte das erhebende Gefühl, endlich eine philosophische Synthese ver­wirklichen zu können, die den verschiedenen Formen der zeitge­nössischen Rationalität über die einzelnen Sozialwissenschaften hinaus Rechnung zu tragen vermochte.

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Althusser lehnte sich an die strukturalistischen Orientierun­gen an und nahm doch gleichzeitig kritischen Abstand im Namen des Marxismus. Die Begriffe, die er vorbrachte, standen von vornherein unter einer inneren Spannung, die erkennen läßt, wes­halb Althusser später von einem allzu engen »Flirt« mit dem Strukturalismus sprechen sollte. Damals ging es darum, dessen Schubkraft, die szientistische Seite eines erfolgreichen linguisti­schen Positivismus zu nutzen, der fähig schien, aus einem einfa­chen phonologischen Modell heraus sämtliche Bereiche des Wis­sens in einer globalen Sémiologie zu interpretieren. Aber in einer Nietzscheanischen Filiation stehend, die über Canguilhem ver­lief, waren Althusser und die Althusserianer gleichzeitig kritisch gegen jene eingestellt, die sich der Errichtung einer solchen Me­tasprache fähig glaubten. Wieder sieht man sich der Ambivalenz einer Aneignung gegenüber, die es erlaubt, anhand verbindender Themen auf der strukturalistischen Welle zu surfen und sie dabei gleichzeitig von innen heraus zu dekonstruieren: »Die etwas massiven Oppositionen vom Typ Subjekt/Struktur mit ihrer Idee vom Prozeß ohne Subjekt wurden so wichtig, weil sie dazu dien­ten, die begriffliche Zweideutigkeit zu decken, in der man sich bewegte.«24

In den ersten Jahren der Theorieausarbeitung indes neigten die Althusserianer dem Szientismus zu. Der politische Orientie­rungswandel, den sie von der KPF-Führung erwarteten, sollte sich durch die Wissenschaft vollziehen : »Man mußte die Wissen­schaft in den Befehlsstand erheben, wie man seinerzeit sagte.«25

Das wissenschaftsgläubige Allgemeinklima bestärkte sie in die­sem Enthusiasmus. Eine Generation, die glaubte, die Synthese zwischen moderner Rationalität und philosophischer Problema-tisierung verwirklichen zu können, erlebte es als Emanzipation. Jacques Rancière, der 1960 an die Ecole normale kam, war sofort von »der intellektuellen Dynamik, die um Althusser entstanden war«26, eingenommen, hatte sich doch die philosophische Kultur bis dahin auf Husserl und Heidegger beschränkt. Als er sein Stu-

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dium an der ENS aufnahm, »war die Generation, die die agréga­tion durchlief, die ganze alte heideggerianische Garde«27; es war das letzte Jahr, in dem der Heidegger-Schüler Jean Beaufret lehrte. Mit Althusser kommt es zur Öffnung für neue Wissens­felder, zur Ausdehnung der philosophischen Kultur auf neue Gegenstände und zum radikalen Bruch mit allem, was zur klassi­schen Psychologie gehört: »Für meine Generation bedeutete dies eine Art Befreiung gegenüber der universitären Kultur.«28

Ziehen die Strukturalistischen Linguisten gegen das Schema von Mensch und Werk zu Felde, umschiffen die Anthropologen und Psychoanalytiker die Bewußtseinsmodelle, so werden sich die Althusserianer den Humanismus vornehmen, der als Brim­borium aus den abgelaufenen Zeiten der siegreichen Bourgeoisie freudig zu Grabe getragen wird. Der Mensch muß abtreten, muß Segel und Seele streichen, um den verschiedenen Konditionierun­gen und ihren Logiken Platz zu machen. In diesem Sinne schließt das Althusserianische Unternehmen in seiner Anfechtung der Geltung des Subjekts und seiner Existenz überhaupt an die strukturalistische Gesamtbewegung an.

Verstärkung für Lacan

1963 hält mit Jacques Lacan ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den Humanismus und den Psychologismus Einzug in die ENS an der Rue d'Ulm, nachdem Althusser ihn dorthin ein­geladen hat. Auch er steht auf Kriegsfuß mit einer Institution, in diesem Fall der psychoanalytischen. Verfemt auch er, ein Ausge­schlossener des Apparats. Lacan wird mit Althusser ein so seltsa­mes wie faszinierendes Gespann für eine Generation bilden, die in Teilen althusserianisch-lacanianisch sein wird. Jacques-Alain Miller, derzeitiger Leiter der Ecole de la cause freudienne, er­klärt, Lacan auf Althussers Anregung anläßlich des Seminars ge­lesen zu haben, das dieser 1963/64 über die Grundlagen der Psy-

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choanalyse, hauptsächlich aber über Lacan abgehalten hat. Wie wir gesehen haben, wechseln viele Althusserianer von Marx zu Freud, von Althusser zu Lacan. Organ dieses aus dem Althusse-rianismus hervorgegangenen Rue-d'Ulm-Lacanismus sind die Cahiers pour l'analyse. Somit spalten sich die Althusserianer in diejenigen, die wie Etienne Balibar, Pierre Macherey und Jacques Rancière auf dem Feld der Philosophie bleiben, und diejenigen, die sich für die Psychoanalyse entscheiden.

Infolgedessen hat die Philosophie einmal mehr einen Teil ihrer lebendigen Kräfte an eine neue, anziehende Humanwissenschaft verloren. Die althusserianisch-lacanianische Strömung wird sich zur sogenannten antirevisionistischen Position bekennen: gegen die Revision des Marxismus durch die Sowjets und zugleich ge­gen die Revision des Freudianismus durch die offiziellen Nach­fahren in der IPA. Die Symbiose zwischen den beiden Strömun­gen hat theoretische wie strategische Gründe, was zur Folge hat, daß man sich auf eine feste Lehre, auf gleichsam geheiligte Texte stützt. Mitte der sechziger Jahre werden die chinesischen Massen, die auf dem Tian'anmen-Platz das kleine rote Buch schwenken, als Hoffnung auf das Ende der alten Welt erscheinen. Der Meister wird bald die Gestalt von Mao Tse-tung annehmen, dem Steuer­mann des neuen China, der die Geburt der neuen Welt begrüßt.

Mao-Denken, Lacan-Denken, Althusser-Denken mit verein­ten Kräften gegen das Moa-Denken {Moi — Ich). Der Molo-towcocktail, der die Radikalisierung der französischen Schüler-und Studentenschaft Ende der sechziger Jahre entzünden sollte, stand bereit.

Althussers Sprengsatz

Wenn auch kein Gott, Cäsar oder Tribun, erscheint Louis Althusser vielen als letzter Retter des Marxismus. Er versucht das schwierige Unternehmen zu bewältigen, den Marxismus in den Brennpunkt der zeitgenössischen Rationalität zu stellen, um den Preis seiner Ablösung von der Praxis, von der Hegeischen Dia­lektik, und damit die gängige, auf einen mechanischen Ökono­mismus gegründete stalinistische Vulgata zu überwinden.

Um eine solche Verschiebung vornehmen zu können, stützt sich Althusser auf den Strukturalismus und stellt den Marxismus als allein befähigt dar, die globale Synthese des Wissens zu ver­wirklichen und sich im Zentrum des Strukturalistischen Paradig­mas anzusiedeln. Damit beteiligt er sich an der Beseitigung des Erlebten, des Psychologischen, der Bewußtseinsmodelle wie auch der Dialektik der Entfremdung. Diese Beseitigung des Refe­renten vollzieht sich in Form eines »epistemologischen Ein­schnitts«, nach dem Modell des Bachelardschen Bruchs. Der scheidet die Ideologie auf der einen Seite von der Wissenschaft, verkörpert durch den dialektischen Materialismus, auf der ande­ren. Um von ihren ideologischen Schlacken befreit zu werden, müssen deshalb alle Wissenschaften von der Philosophie des dialektischen Materialismus her befragt werden, welche die wis­senschaftliche Rationalität fundiert. Nach dem Modell der Arbi-trarität des Zeichens in bezug auf den Referenten soll die Wissen­schaft »rein internen Anforderungen genügen«1, so daß das Kriterium der Wahrheit jenseits einer möglichen Falsifizierbar-keit der Aussagen liegt.

Diese Anfang der sechziger Jahre vollzogene Herauslösung

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des Marxismus aus seiner eigenen historischen Bestimmung war ein Mittel, ihn vor seinem raschen Verfall zu retten. Es entsprach der Notwendigkeit, vom offiziellen poststalinistischen Marxis­mus wegzukommen, der mit einem unheilvollen Erbe belastet und im Dogma befangen war. Mit Althusser wurde es möglich, den Marxismus zu komplexifizieren, seinen Fortgang mit dem der in voller Blüte stehenden Sozialwissenschaften zu verknüp­fen und gleichzeitig davon zu profitieren, indem der Marxismus nun als der Diskurs der Diskurse, als die Theorie der theoreti­schen Praxen selbst ausgegeben wurde. Einen wissenschaftli­chen, von den Ablagerungen der sich auf ihn berufenden Regime befreiten Marxismus wiederzubeleben, vor diese begeisternde Herausforderung stellt Louis Althusser eine militante, von den antikolonialistischen Kämpfen bewegte Generation.

Von Jesus zu Marx

Geboren am 16. Oktober 1918 in Birmandreis in Algerien, wird Louis Althusser 1939 Student der ENS. Die Jahre von 1940 bis 1945 verbringt er in Deutschland als Kriegsgefangener im Stalag ΧΑ in Schleswig-Holstein. Er korrespondiert mit René Michaud, der ihm den Marxismus nahebringt, und nimmt die Vorbereitung zur agrégation erst nach der Befreiung wieder auf, mit sieben­undzwanzig Jahren. Er besteht die Prüfung 1948, in dem Jahr, in dem er der KPF beitritt, und bleibt an der École normale supé­rieure in der Rue d'Ulm, wo er caïman wird und die Studenten auf die Wettbewerbsprüfung vorbereitet. Damals hinterlegt er bei Jean Hyppolite und Jankélévitch das Projekt einer thèse d'État über »Politik und Philosophie im Frankreich des 18. Jahrhun­derts«.

Anfänglich ist Althusser indes ein praktizierender Katholik, der sich an der Action catholique beteiligt und in seinen religiö­sen Überzeugungen durch seinen Lehrer Jean Guitton bestärkt

Althussers Sprengsatz 427

wird, der ihn von 1937 bis 1939 in Lyon während der khâgne be­gleitet. Nach dessen Auffassung ist Althusser, der zum Atheisten und Kommunisten gewandelt aus dem Krieg wiederkehrt, seiner Sehnsucht nach religiöser Absolutheit im Grunde treu geblieben, die er eben auf den Marxismus verlagert habe. Das freundschaftli­che Einverständnis der beiden Männer ist ungetrübt geblieben, trotz ihrer divergierenden Auffassungen und der Anfechtung, die Jean Guitton an der Sorbonne, wo er den Lehrstuhl für Philoso­phiegeschichte innehatte, durchzustehen haben mochte : »Sie ha­ben mich gelehrt, in Beziehung zu einem, zu zwei Begriffen zu treten, sie zu kombinieren, sie einander gegenüberzusetzen, sie zu vereinen, sie auseinanderzunehmen, sie umzudrehen wie Crêpes in der Pfanne und sie zu servieren, so daß sie genießbar sind.«2 In den Jahren 1945 bis 1948 steht Althusser im Einflußbe­reich sowohl der KPF als auch eines von Maurice Montuclard ge­gründeten Grüppchens von Lyoner Katholiken mit Sitz in Paris.

Die Faszination für die Religion, für die mystische Reinheit wird Althusser bis an sein Lebensende verfolgen, denn am Vor­abend des Dramas von 1980 bittet er seinen Freund Jean Guitton, zu seinen Gunsten für eine Begegnung mit Papst Johannes Paul II. einzutreten. Er erreicht eine Unterredung mit Kardinal Gar­rone, und bei einem Treffen mit dem Papst wird Jean Guitton be­kundet, daß dem Begegnungswunsch stattgegeben werde. Doch das Vorhaben scheitert an dem Mord, den Althusser wenig später an seiner Frau Helene verübt. Althusser, der große Leser Pascals, ist durchdrungen von der Drangsal einer tragischen Mystik, von der Unauflöslichkeit des Widerspruchs. Nachdem er den christli­chen Weg verlassen hat, verlagert er seine Suche nach dem Abso­luten auf einen geläuterten Marxismus, eine kristalline Philoso­phie, die es mit dem religiösen Glauben aufzunehmen vermag, ein Instrument zur Überwindung der Metaphysik, und unterlegt ihm eine totale, ausschließliche, strenge Wissenschaft: »In sei­nem Zimmer sehe ich die Werke Lenins neben denen der Teresa de Âvila stehen und stelle mir anhand seiner Person das Problem,

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das mich immer umgetrieben hat : das der Veränderung. Hat Althus-ser sich in seinem geheimen und tiefen Inneren verändert?«3

Die Ontologisierung der Struktur, die in den sechziger Jahren im Schwange war, ermöglichte es Althusser, das in der marxisti­schen Vulgata gebräuchliche Kausalitätssystem zu verschieben. Bislang beschränkten sich die Erklärungsmuster auf die mono­kausale Konzeption der Widerspiegelung. Alles mußte sich von der Ökonomie herleiten, so daß die Superstrukturen, der Über­bau, als bloße Übersetzungen der infrastrukturellen Substrate, der Basis, aufgefaßt wurden. Der Bruch mit diesem mechanischen Verfahren hatte den Vorteil, das Kausalitätssystem zu komplexifi-zieren, indem eine einfache kausale Wirkungsbeziehung ersetzt wurde durch eine strukturale Kausalität, in der die Struktur selbst über die Dominanz bestimmt. [Mit »Dominanz« ist das Dominie­ren einer der drei Instanzen Ideologie, Politik, Ökonomie je nach der ökonomischen Basis, der Produktionsweise einer Gesell­schaftsformation gemeint, und »Struktur« ist zu verstehen als die Art und Weise, wie diese Instanzen untereinander verbunden sind. Vgl. zu weiterer Erhellung V. Descombes, Das Selbe und das Andere, a. a.O., S. 152 f., A.d.Ü.] Aber das Althussersche Analyse­modell erlaubt auch, wie Vincent Descombes gesagt hat, das so­wjetische Wirtschaftsmodell zu retten, das, abgekoppelt von einer autonomisierten und anfechtbaren politischen und ideologischen Realität, weiterhin als dem sozialistischen Modell gemäß gilt. Althusser konnte somit einer Kritik des Stalinismus Rechnung tragen, die über die bloße offizielle Anfechtung des Personenkults hinausging, doch seine Kritik bewahrte, im Namen der relativen Autonomie der Instanzen einer Produktionsweise, die sozialisti­sche Basis des Systems. Er erkannte also die Brauchbarkeit des Strukturalismus für einen zu erneuernden Marxismus und für die Wahrung des Ansehens der Sowjetunion als sozialistisches Land. »Beinahe wäre die strukturalistische Doktrin an der ENS unter Althussers Leitung ausgearbeitet worden« 4, insbesondere durch seine Schüler von den Cahiers pour l'analyse.

Althussers Sprengsatz 429

Bislang hatten sich alle strukturalistischen Vorstöße in einer bestimmten Sphäre des Wissens angesiedelt: bei Lévi-Strauss in der Anthropologie, bei Lacan in der Psychoanalyse, bei Greimas in der Linguistik usw. Mit Althusser eröffnet sich die Möglich­keit, den Ehrgeiz auszuweiten auf eine strukturalistische Philo­sophie, die sich zugleich als solche und als Ausdruck vom Ende der Philosophie, als deren mögliche Überwindung im Namen der Theorie gibt. Außerdem deckt oder verdoppelt sich die von Althusser zum Begriff erhobene Trennung zwischen Wis­senschaft und Ideologie mit der sich allgemein durchsetzenden Teilung zwischen technischer Struktur und Ausführenden. Die Althusserianer »haben die Teilung zwischen gelehrter Elite und Fußvolk bestärkt und sie in ihren Zeitschriften, in ihrer maoisti-schen Bewegung in die Tat umgesetzt, hierarchisch gegliedert in Stäbe mit ihren Schaltstellen und Basiskomitees: eine Organisa­tionsform, die von der französischen Administration übernom­men wurde«5. Das Projekt versucht also, das Reflexionsfeld der Wissenschaften vom Menschen zu vereinheitlichen und es der Oberaufsicht der Philosophen zu unterstellen: »Es gab den Ver­such der Konstruktion einer einheitlichen Problemstellung der Sozialwissenschaften.«6

Ein strategisches Ziel

Althussers Eingreifen schreibt sich aber auch in eine weitere, po­litische Logik ein, die darauf zielt, die Geltung der offiziellen Po­sitionen der KPF-Führung anzufechten. Wie wir gesehen haben, wird in der Nouvelle Critique von März 1965 bis Februar 1966 unter den kommunistischen Intellektuellen eine große Debatte über das Verhältnis von Marxismus und Humanismus geführt. Es ist die Konfrontation zwischen den Thesen Roger Garaudys als Verfechters eines marxistischen Humanismus und denen Althus­sers, der den theoretischen Antihumanismus verteidigt: »Diese

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Kontroverse [...] scheint uns in konzisen Begriffen die wesentli­chen Fragen zum theoretischen Status des historischen Materia­lismus zu stellen.«7 Als erster geht Jorge Semprun gegen Althus-sers Position an, indem er das marxistische Denken, das ein dialektisches Denken ist, trennt vom Althusserschen Denken, das in Termini von Brüchen funktioniert. Gestützt auf Marxens 1843 verfaßte Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, zeigt er, daß selbst der junge Marx nie eine abstrakte Auffassung vom Menschen gehabt hat, den er im Gegenteil seit jener Zeit als ein vollständig gesellschaftliches Wesen definiert. Michel Simon be­harrt auf der Untrennbarkeit von Marxismus und Humanismus, wenngleich er sich der Position Althussers anschließt, wo dieser die Verwendung des Begriffs der Entfremdung außerhalb des va­gen Bereichs der Ideologie kritisiert. Er legt Wert darauf, zwi­schen dem abstrakten und universalisierenden Humanismus der aufsteigenden Bourgeoisie und den marxistischen Positionen zu unterscheiden, doch »der Humanismus bezeichnet etwas, was in seinem Grunde selbst dem Marxismus wesentlich ist«8. Pierre Macherey hingegen verteidigt Althussersche Positionen und setzt dem Synthese-Diskurs, den manche Ideologen der Partei­führung skizzieren, entschieden entgegen: »Zwischen dem Vor­gehen von Semprun und dem von Althusser herrscht ein Bruch.«9 Er bestreitet jede Möglichkeit des Dialogs zwischen zwei Diskursen, die den verwendeten Begriffen nicht dieselbe Bedeutung zuweisen. Der Anschein eines gleichen Terminologie-gebrauchs trügt, denn er bemäntelt gegensätzliche Konzeptio­nen. Dies gilt etwa für den Begriff des Praktischen, der sich bei Semprun auf ein Realobjekt bezieht, während er bei Althusser Theorieobjekt ist. Auch Michel Verret ergreift enthusiastisch Althussers Partei : »Diesen Humanismus kann, wie Althusser auf bemerkenswerte Weise unterstreicht, nur das gleiche theoretische Schicksal ereilen wie die Entfremdung.«10

Die Position Roger Garaudys, der seit 1963 vor Althussers Unterschlagung des jungen Marx warnte, wird also von zahl-

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reichen Partei-Intellektuellen stark in Frage gestellt. Doch die Philosophenversammlung von Choisy, die im Januar 1966 in An­wesenheit Althussers stattfindet, leitet einen erneuten Schulter­schluß des Ideologenstabs der Führung mit Garaudy ein : Lucien Sève, Guy Besse, Gilbert Mury, Pierre Boccara und Jean Texier bekunden dort ihr verschieden begründetes Nichteinverständnis mit Althussers Positionen. Bei dieser Gelegenheit attackiert Ga­raudy Althussers Wissenschaftsauffassung, die er als »überholt«, »naiv, schulmäßig und mystisch« bezeichnet, sowie seinen »fleischlosen Doktrinarismus« n.

Da Althusser somit als marxistischer Ketzer gegenüber dem Parteiapparat isoliert dasteht, leuchtet sein strategisches Interesse ein, seine Positionen auf der strukturalistischen Welle mitreiten zu lassen, welche die begeisterte Zustimmung der Intellektuellen Mitte der sechziger Jahre weckte. Althusser hatte den Vorzug, ei­nen »cartesianischen, in klaren und deutlichen Ideen verfaßten Marxismus« n zu verfechten, der den Intellektuellen ihren Stolz zurückgab, Kommunist zu sein. Die Rückkehr zu Marx, zu den Grundlagentexten, bei einer rein theoretischen, exegetischen Herangehensweise machte es möglich, der Verpönung des Kom­munistseins nach der Aufdeckung der Stalinschen Verbrechen zu entrinnen: »Althussers Arbeiten brachten wirklich frischen Wind.«13 Die Verhältnisse begünstigen den Erfolg der Althusser-schen Thesen, denn die KPF versucht seit Ende der fünfziger Jahre, ein neues Verhältnis zu den Intellektuellen aufzubauen, um allmählich vom Stalinismus loszukommen. Sie öffnet sich neuen künstlerischen Ausdrucksformen, den Avantgarden, und bricht so mit dem sozialistischen Realismus, ebenso wie sie neue theore­tische Anforderungen aufnimmt und damit das lyssenkistische Delirium der Vergangenheit überläßt. Maurice Thorez gibt sogar bereits 1959 die Gründung des Centre d'étude et de recherche marxiste (CERM) bekannt, dessen Leiter Roger Garaudy wird. Die KPF versucht damals, die Verluste des traumatischen Jahres 1956 wettzumachen, indem sie den unterbrochenen Dialog mit

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den Intellektuellen wieder aufnimmt. Althusser kommt also ge­rade recht zur Vollendung eines Prozesses, der, zu Beginn des Jahrzehnts eingeleitet, den Intellektuellen bei der Definition der neuen, poststalinistischen Politik einen bevorzugten Platz an­weist. Allerdings sind seine Thesen noch lange nicht vom Zen­tralkomitee der KPF übernommen worden, das im März zusam­mentritt und zu dem Schluß kommt: »der Marxismus ist der Humanismus unserer Zeit«14.

Nach dem Sieg der Garaudy-Linie wurden Althussers Arbei­ten von der Parteiführung sorgfältig aussortiert und aus der Bi­bliographie der zentralen Kaderschule getilgt. Dieser Fehlschlag mußte also ausgeglichen werden durch die Strahlkraft der ENS, in der Althusser die Theorieinitiative wieder in die Hand nehmen konnte. Von dort aus konnte er der Parteiführung einen marxisti­schen Diskurs entgegenhalten, der vom Strukturalismus befruch­tet war und den Rang moderner Rationalität beanspruchen durfte.

Roger-Pol Droit, der 1965/66 den Althusser-Schüler Michel Pêcheux als Lehrer in Philosophie gehabt hat, begeisterte sich mit Guy Lardreau, Christian Jambet und vielen anderen für das, was ihnen damals als die Inkarnation der Philosophie des Begriffs vorkam: den Althusserianismus-Lacanismus. Diese Ausbil­dungszeit erscheint ihm heute als »eine vergitterte Epoche: Git­ter im Sinne des erhellenden Begriffsrahmens. Man hatte den Eindruck, man brauchte nur die richtige Schablone anzulegen, und schon sähe man hervorspringen, was man ohne Gitter nicht wahrgenommen hätte. Die Struktur hat etwas davon : Sie ist von der Ordnung dessen, was in Hohlform oder als Leerstelle von dem erscheint, was man in der bunten Vielfalt des Realen nicht sieht. Und gleichzeitig sind es Gitter in der wörtlichen Bedeu­tung.« 15

Die Althusserianer hatten die Epistemologie in Mode ge­bracht. Es war die Zeit, in der man die Epistemologie von allem Möglichen betrieb, wodurch man behaupten durfte, nicht mehr

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Philosophie, sondern Wissenschaft zu betreiben. Diese Sachlage war um so paradoxer, als die Epistemologie durch ihren hermeti­schen Diskurs und die in verschiedenen Gebieten geforderte hochgradige Kompetenz zumeist auf kleine Zirkel begrenzt bleibt : »Einmal habe ich sogar erlebt, wie Derrida auf die Frage, ob das, was er mache, Wissenschaft sei, sagte: Nein, aber es könnte dazu werden.«16 In diese szientifische Perspektive hat das Althussersche Projekt sich eingeschrieben. Es entsprach auch dem Bedürfnis einer neuen Generation nach einem Einschnitt, die nicht die Bürde der Stalinschen Verbrechen tragen wollte und nach Absolutem dürstete. Dies eben ermöglichte die paradoxe Versöhnung eines oftmals aberwitzigen politischen Voluntaris­mus, einer eingefleischten Militanz, mit der Konzeption eines subjektlosen Prozesses, die mystischer Hingabe gleichkam: »Wie es bei allen Gläubigen so ist, entreißt das Subjekt sich seiner selbst, um zum Agenten eines Prozesses zu werden. Ich bin bei den Jesuiten erzogen worden. Keine Frage, wir haben uns unserer selbst entrissen, waren keine Subjekte mehr vor dem großen Sub­jekt, das der Prozeß war, und retteten so unsere Seelen. Das war durchaus miteinander vereinbar.«17 Althusser wird zur Kristalli­sationsfigur all derer, die den Akademismen entkommen wollen und bei ihm Halt finden: »Ich habe mein Studium in den Jahren von 1955 bis 1960 absolviert, und Althusser hat uns eine Art Er­leuchtung gebracht. Es war außerordentlich anregend.«18

Die Rückkehr zu Marx

1965 erscheinen zwei Werke, die sogleich zur Hauptreferenz der Epoche werden: eine Aufsatzsammlung von Althusser, Für Marx, und ein Gemeinschaftswerk, Das Kapital lesen, das einen Text von Althusser zusammen mit Beiträgen von Jacques Rän­dere, Pierre Macherey, Etienne Balibar und Roger Establet ent­hält. Beide Bände haben unverzüglichen und spektakulären Er-

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folg : Von Für Marx, erschienen bei Maspero in der Reihe »Theo­rie«, werden zweiunddreißigtausend Exemplare verkauft. Frag­lich ist, ob die Wahl der (1959 gegründeten) Éditions Maspero von Louis Althusser beabsichtigt war oder ob sie auf eine vorher­gehende Ablehnung seitens der Éditions Sociales zurückgeht. Guy Besse zufolge hat es Althusser vermeiden wollen, durch eine Publikation bei den Éditions Sociales die Gesamtpartei auf seine Positionen zu verpflichten, außerdem habe die Sorge um die Wirksamkeit zur Entscheidung für den Verlag Maspero geführt, der ein viel breiteres Publikum ansprach als das der KPF. Freilich scheint es, als habe hinter dieser zugleich kühnen und zaghaften Haltung eine Weigerung seitens der Parteileitung gesteckt : » 1979 hat Althusser mir versichert, daß er bei Maspero erst veröffent­licht habe, nachdem er sich eine Abfuhr geholt hatte.«19

Die Althusserianer kehren also zu Marx selbst zurück, abseits der bis dahin über sein Werk verfaßten Kommentare und Exege­sen, die einer direkten Kenntnis seiner Thesen im Wege standen. Im Akt des Marx-Lesens findet die erste Verschiebung der Althusserianer statt, die in diesem Punkt ganz mit dem struktu-ralistischen Paradigma einhergehen, da sie die Sphäre des Diskur­ses und die interne Logik eines in sich geschlossenen Systems pri-vilegieren. Zwar leitet sich Althussers Standpunkt nicht von der Linguistik ab, wirkt aber mit an der Autonomisierung der dis­kursiven Sphäre anhand einer neuen Theorie des Lesens, die von Marx selbst eingeleitet, von der Vulgata ignoriert und von Althusser wieder aufgenommen wurde.

Mit einer direkt von der Psychoanalyse und namentlich von Lacan entlehnten Bezeichnung wird diese neue Lektürepraxis »symptomal« genannt. Sie legt den Schwerpunkt auf das, was nicht sichtbar ist und was sich auf den Mangel, auf die Absenz be­zieht. Althusser unterscheidet bei Marx zwei Lektüremodi der Klassiker der politischen Ökonomie. Zunächst liest Marx den Diskurs der anderen — Ricardo, Smith usw. — innerhalb seiner ei­genen Denkkategorien, um dessen Mängel zu erfassen und Diffe-

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renzen herauszuarbeiten, und zeigt somit, was seine Vorgänger nicht wahrgenommen haben. Ergebnis dieser ersten Lektüre ist ein »Aufdecken von Übereinstimmungen und Abweichungen«20. Hinter diesem ersten Herangehen zeichnet sich bei Marx eine es­sentiellere Lektüre ab, die über die Mängel, Lücken und Auslas­sungen hinausgeht; sie erlaubt es ihm wahrzunehmen, was die klassische Ökonomie sehenden Auges nicht sah. Er macht Positi-vitäten manifest, die seine Vorgänger nicht zum Problem erho­ben, nicht befragt haben. So läßt Marx Antworten da zum Vor­schein kommen, wo die Frage nicht gestellt war, in einem rein innertextuellen Spiel : »Das Nichtsehen ist demnach dem Sehen immanent, es ist eine Form des Sehens, also notwendig an das Se­hen gebunden.«21 So wie der einzelne verschiedene Symptome seiner Neurose zum Ausdruck bringt, ohne das, was er an seinem eigenen Verhalten zu beobachten vermag, auf das beziehen zu können, was es verursacht, kann die politische Ökonomie nicht sehen und berechnen, was sie tut.

Dieser Lektüremodus vereinigt zwei Vorteile : Zum einen läßt er sich auf den Anspruch linguistischer Strenge ein, indem er den Schlüssel der Problemstellung innerhalb des Textes selber, in des­sen innerer Ökonomie sucht; und zum anderen liefert er eine Methode, die nach Art der Freudschen Analyse davon ausgeht, daß die wesentlichste Realität die verborgenste ist und weder in der Absenz des Diskurses noch in seiner Ausdrücklichkeit liegt, sondern im Dazwischen seiner Latenz, weshalb sie einer beson­deren Aufmerksamkeit oder Lektüre bedarf, um sich selbst offenbart zu werden. Wenn das Versehen das Sehen betrifft, so hängt die Sicht ab von den strukturalen Bedingungen, von den Existenzbedingungen des Sagens, vom Möglichkeitsfeld des Sa-gens und des Nichtsagens. Diese Verschiebung belehnt Foucault wie Lacan: »Althusser hat nichts anderes getan, als die Begriffe von Foucault und Lacan abzukupfern.«21 Diese dialektische Be­trachtung des Raumes des Sichtbaren und des Unsichtbaren ver­fährt nach dem Vorbild von Foucaults Arbeit in Wahnsinn und

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Gesellschaft, nicht nur hinsichtlich der Binnenbeziehung von Schatten, Finsternis und Licht, sondern auch hinsichtlich der Aufmerksamkeit, die den — scheinbar heterogenen — Bedingun­gen gewidmet wird, welche die Positivitäten des Wissens in Ein­heiten konstituieren: »in einer Terminologie [...], die an einige sehr bemerkenswerte Passagen aus der Einleitung zu Michel Foucaults Histoire de la folie anklingt«23.

Der epistemologische Einschnitt

Althusser verwendet auch den Begriff des epistemologischen Bruchs, den er von Bachelard übernimmt und zur Betonung der Trennschärfe mit dem Terminus »Einschnitt« radikalisiert. Er entlehnt also sein Analysemodell der wissenschaftlichen Episte-mologie, um es in seiner Lektüre von Marxens Werk einzusetzen. Bachelard hat den Begriff des Bruchs vornehmlich auf den Be­reich der Physik angewandt, namentlich auf die Quantenmecha­nik, und zwar zur Kennzeichnung des Unterschieds zwischen wissenschaftlicher und sinnlicher Erkenntnis.

Althusser steigert diese Vorstellung von einem Bruch zum Wert eines allgemeinen Konzepts, das auf jede Geschichte der Wissenschaften übertragbar ist und die Notwendigkeit anzeigt, die Diskontinuitäten zu erkennen, auf denen dieses oder jenes Wissenschaftsgebäude steht. Im Bemühen, Marx als Vertreter ei­ner neuen Wissenschaft vorzustellen, sieht Althusser einen radi­kalen Einschnitt zwischen einem jungen, noch im Hegeischen Idealismus verhafteten Marx und einem wissenschaftlichen Marx der Reife. Doch »niemals hätte Bachelard von einem Einschnitt zwischen einer Wissenschaft und einem ihr vorgängigen philo­sophischen Gebäude gesprochen«24. Althusser zufolge erreicht Marx das Niveau der Wissenschaft, als es ihm gelingt, gegenüber dem philosophischen und ideologischen Erbe, von dem er ge­prägt worden ist, einen Einschnitt zu vollziehen. Althusser legt

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sogar die Keimphasen dieses Prozesses fest und datiert präzise die Zäsur, die Marx das Feld der Wissenschaft betreten läßt: 1845. Alles, was vor diesem Datum liege, gehöre zu den Jugend­werken, zu einem Marx vor Marx.

Den jungen Marx kennzeichnet die Feuerbachsche Thematik der Entfremdung, des Gattungsmenschen. Es ist dies die Zeit eines humanistischen, rationalistischen, liberalen Marx, der Kant und Fichte nähersteht als Hegel: »Die Werke des ersten Moments [setzen] die Problematik kantisch-fichteschen Typs voraus.«25 Ihn bestimmt damals die Problematik eines zur Frei­heit verurteilten Menschen, der sein in der Verwebung der Geschichte, die ihn entfremdet hat, verlorenes Wesen wiederher­stellen muß. Der zu überwindende Widerspruch liegt also in der Entfremdung der Vernunft, verkörpert durch einen Staat, der taub bleibt gegen die Forderung der Freiheit. Trotz seiner ver­wirklicht der Mensch sein Wesen durch die entfremdeten Pro­dukte seiner Arbeit und muß seine Vollendung dadurch vollzie­hen, daß er dieses entfremdete Wesen wieder an sich bringt, um sich selbst durchschaubar zu werden als der ganze, schließlich am Ende der Geschichte verwirklichte Mensch. Diese Umkehrung geht direkt aus dem Werk Feuerbachs hervor : »Der Kern der phi­losophischen Problematik ist feuerbachianisch.«26

Nach Althusser bricht Marx 1845 mit diesem Entwurf, der die Geschichte und die Politik auf die Essenz des Menschen gründet, und ersetzt ihn durch eine wissenschaftliche Geschichtstheorie, die sich aufgrund völlig neuer Klärungsbegriffe wie Gesell­schaftsformation, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse artikuliert. Er entleert die philosophischen Kategorien Subjekt, Wesen, Entfremdung und unternimmt eine radikale Kritik des Humanismus, den er als Mystifikation der Ideologie der herr­schenden Klasse einstuft. Dieser reifende Marx der Periode von 1845 bis 1857 ermöglicht das große wissenschaftliche Werk Das Kapital als eine wahre Wissenschaft von den Produktionsweisen und damit von der menschlichen Geschichte.

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Die Wahrnehmung dieser fundamentalen Zäsur in Marxens Werk wird durch die Verschiebung des Marxismus vom Terrain der Praxis auf das der Epistemologie möglich. Mit dem Kapital, das als Newtons Principia ebenbürtig angesehen wird, habe Marx endgültig mit der Ideologie gebrochen : »Wir wissen, daß es eine >reine< Wissenschaft nur unter der Bedingung gibt, daß man sie ständig reinigt [...]. Diese Reinigung, diese Befreiung werden nur um den Preis eines unaufhörlichen Kampfes gegen die Ideo­logie selbst erreicht.«27 Wurde Marxens Werk bis dahin aufgefaßt als Wiederaufnahme der Hegeischen Dialektik von einem mate­rialistischen Gesichtspunkt, so setzt Althusser die Dialektik bei Hegel und bei Marx einander Term um Term entgegen. Marx habe sich nicht damit begnügt, den Hegeischen Idealismus wie­der auf die Füße zu stellen, sondern eine Theorie errichtet, deren Struktur in allen Punkten davon unterschieden sei, auch wenn die Terminologie der Negation, der Identität der Gegensätze, der Überwindung des Widerspruchs an eine weitgehende Ähnlich­keit des Vorgehens denken lasse: »Es ist dann ganz entschieden unmöglich, die Fiktion der >Umstülpung< in ihrer scheinbaren Strenge aufrechtzuerhalten. Denn in Wahrheit hat Marx nicht die Termini des Hegeischen Modells der Gesellschaft bewahrt, indem er sie umkehrte.«28

Die Diskontinuität, die Althusser zwischen Hegel und Marx bewahrt, erlaubt ihm, mit der stalinistischen ökonomistischen Vul-gata zu brechen, die sich damit zufriedengab, das politisch-ideolo­gische Wesen Hegels durch die Sphäre des Ökonomischen als We­sen zu ersetzen. Doch diese Kritik am gängigen Mechanismus im marxistischen Denken geschieht im Namen der Errichtung einer reinen, dekontextualisierten Theorie. Und mit diesem Recht er­hebt sie sich in den Stand einer Wissenschaft. Für Althusser ist der dialektische Materialismus die Theorie, welche die Wissenschaft­lichkeit des historischen Materialismus begründet; sie muß sich daher vor jeder ideologischen Kontaminierung, der sie ständig ausgesetzt ist, hüten: Man sieht, »daß letztlich nicht mehr die

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Rede sein kann von >Umkehrung< und >Umstülpung<. Denn man erhält keine Wissenschaft, indem man eine Ideologie umkehrt.«29

Damit ist der historische Materialismus die Wissenschaft von der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften. Ein offenkundiger Szientismus durchzieht demnach Althussers Vorgehensweise, der einen Historiker befremden muß, sei er auch so nachhaltig in der Errichtung einer marxistischen Geschichte engagiert wie Pierre Vilar: »Es gibt in Marxens Denken ein Fortschreiten, das sich absolut nicht um einen Einschnitt anordnet. Ich bin über­haupt nicht einverstanden mit einer solchen Konzeption, die in Wirklichkeit an das Werk Foucaults anknüpft.«30 Soviel ist indes gewiß : Althusser hat, indem er ein bereinigtes wissenschaftliches Feld zur Autonomie erhob, der stalinistischen Vulgata entkom­men wollen, die dazu tendierte, alles als Widerspiegelung des Ökonomischen zu begreifen, und diesbezüglich eine echte Er­neuerung des marxistischen Denkens geleistet.

Doch indem er dem Marxismus ein in sich geschlossenes Sy­stem offerierte, hat er seine Krise beschleunigt: »Das hat einer bestimmten Marxismus-Auffassung die Totenglocke geläutet, denn nach dieser systematischen Rückkopplung tritt man auf der Stelle. Wenn der Marxismus lebendig ist, kann er es nicht damit bewenden lassen, wissenschaftliche Begriffe auszugraben. Diese Ansicht hat zum Niedergang des Marxismus beigetragen, den sie doch retten wollte. Wie läßt sich ein Marxismus, der von Grund auf ein historisches Denken ist, mit einer Methode errichten, die durch und durch ahistorisch ist?«31 Hat Althusser auch längerfri­stig den Ast abgesägt, auf dem er saß, so hat er nichtsdestoweni­ger ein zeitweiliges Wiederaufleben des marxistischen Denkens bewirkt und jene modernistische intellektuelle Strömung be­stärkt, die theoretisch, institutionell und politisch einen radikalen Bruch anstrebte.

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Eine strukturierte Totalität

Die mechanistische Vulgata der Widerspiegelungstheorie ersetzt Althusser durch eine strukturierte Totalität, worin der Sinn aus der Funktion der Position der jeweils den Produktionsweisen zu­gehörigen Instanzen zuwächst. Somit erkennt Althusser ein der Superstruktur eigenes Wirken an, weshalb sie in bestimmten Fäl­len dominieren kann, auf alle Fälle aber steht sie in einer Bezie­hung relativer Autonomie zur Infrastruktur. Die Abkoppelung der ideologischen Sphäre erlaubt Althusser die Wahrung der so­zialistischen Basis der Sowjetunion, da diese relative Autonomie »ganz einfach, theoretisch, erklärt, daß die sozialistische Basis im wesentlichen sich ohne Schaden entwickeln konnte während die­ser Periode von Irrtümern, die den Überbau angingen.«32 Wie man seinerzeit sagte: Man soll das Kind nicht mit dem Bade aus­schütten, und mag man zu Recht von den stalinistischen Verbre­chen sprechen, von der grausamen Repression der Massen durch die Macht, so kann man nicht von Ausbeutung reden und vom Bankrott eines Systems, das im Kern und wundersamerweise auf der Ebene der Basis bewahrt geblieben ist, unbeschadet der Ex­zesse der Bürokratie. Der Hegeischen politisch-ideologischen Totalität setzt Althusser die strukturierte Totalität des Marxis­mus entgegen, eine komplexe Struktur, deren Hierarchie sich un­terschiedlich gestaltet je nach den historischen Momenten und gemäß dem jeweiligen Platz, den die verschiedenen Instanzen (die ideologische, die politische usw.) in der Produktionsweise einnehmen, wobei ausgemacht ist, daß das Ökonomische »in letzter Instanz« bestimmend bleibt.

Mit Althusser pluralisiert sich die Struktur, und die einheitli­che Zeitlichkeit zerfällt in multiple Zeitlichkeiten: »Es gibt keine Historie im allgemeinen, sondern spezifische Strukturen der Hi­storizität.« 33 Es werden also nur différentielle Zeitlichkeiten an­genommen, die gegenüber dem Ganzen in einem Autonomiever­hältnis stehen: »Die Spezifizität jeder dieser Zeiten, jeder dieser

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Historien, mit anderen Worten ihre relative Autonomie und Un­abhängigkeit, gründen auf einem bestimmten Artikulationstyp in dem Ganzen.«34

Althusser wirkt demnach an einer Dekonstruktion der Ge­schichte mit, die dem strukturalistischen Paradigma eigen ist, nicht durch Verleugnung der Historizität allerdings, vielmehr durch deren Zerlegung in heterogene Einheiten. Bei Althusser wird die strukturierte Totalität enthistorisiert und des Kontexts enthoben, zumal es sich von der Ideologie abzulösen gilt, um zur Wissenschaft zu gelangen. Die Erkenntnis (Allgemeinheit III) wird erst durch die Vermittlung eines Begriffscorpus (Allgemein­heit II) möglich, der am empirischen Rohstoff arbeitet (Allge­meinheit I). Ein solcher Ansatz gleicht das Analyseobjekt des Marxismus den Objekten der physikalischen und chemischen Wissenschaften an, was eine totale Dezentrierung des Subjekts impliziert : »Das heißt, experimentelle Wissenschaften und soge­nannte Humanwissenschaften zu vertauschen.«35

Die strukturale Kausalität

Der Strukturalismus versuchte insgesamt, vereinfachenden Kau­salitätssystemen zu entkommen; an dieser Ausrichtung ist Althusser beteiligt, indem er mit der Widerspiegelungstheorie bricht und ihr die der Struktur der Produktionsweise innewoh­nende Kombinatorik entgegensetzt. Deshalb verzichtet er aber nicht auf das Forschen nach einem Kausalitätssystem überhaupt, das für die Grundlegung des wissenschaftlichen Charakters sei­ner Theorie unabdingbar ist. Er definiert eine neue Determinie­rung, die er als strukturale Kausalität oder metonymische Kausa­lität bezeichnet: »Verstanden als Begriff des Wirkens einer abwesenden Ursache, eignet sich dieser Begriff, wie ich meine, wunderbar dazu, die Abwesenheit der Struktur selbst in den be­trachteten Wirkungen zu bezeichnen.«36

442 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque

Dieser Begriff des Wirkens einer Absenz, diese als von ihren Wirkungen abwesende Ursache definierte Struktur ist, insofern sie ihre Einzelelemente übergreift, so wie der Signifikant das Si­gnifikat übergreift, verwandt mit jener asphärischen Struktur, die bei Lacan das Subjekt definiert, jenes Subjekt, das vom Man­gel, vom Verlust des ersten Signifikanten her errichtet ist. Diese die Leere umspielende Dialektik findet sich gleichermaßen bei Althusser und Lacan, und ihr Erklärungsprinzip, das selbstver­ständlich nicht falsifizierbar ist, gleicht einem alltauglichen »Se­sam, öffne dich«. Die Reinigung des Marxismus erreicht hier den höchsten Grad einer Metaphysik, die »einem verborgenen Gott huldigt, und das im Namen des Kampfes gegen die Theo­logie« 37. Diese strukturalistische Philosophie, die sich mit allen Federn der Wissenschaftlichkeit schmückt, um den Marxismus oder den Freudianismus zu erneuern, unterfüttert sich also dank des Begriffs der strukturalen Kausalität mit einer Ontolo-gisierung der Strukturen. Man erklärt zur Tatsache, daß »die Strukturen Tiefenursachen und die beobachtbaren Phänomene bloße Oberflächenwirkungen sind; [...] so daß diese Strukturen mehrdeutig seien«38. Es sind in der Tat okkulte Entitäten, nicht fest genug, um zu wirken, da sie ja als Strukturen reine Relatio­nen sind, andererseits jedoch zu fest, um Strukturen im Sinne von Lévi-Strauss zu sein. So kann mit ihrer Hilfe den beobacht­baren Phänomenen in Termini der Kausalität Rechnung getra­gen werden.

Entlehnungen von Lacan sind bei Althusser allgegenwärtig; die Existenz einer starken althusserianisch-lacanianischen Strö­mung in der Rue d'Ulm ist also auf eine theoretische Matrix ge­gründet, die beide Vorgehensweisen verschmelzen läßt : von der symptomalen Lektüre über die von ihren Wirkungen abwesende strukturale Kausalität bis hin zu einem weiteren fundamentalen Begriffsinstrument des Althusserianismus, das aus der Psycho­analyse importiert wurde: die Überdeterminierung. »Ich habe diesen Begriff nicht geprägt. Wie schon bemerkt, habe ich ihn

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zwei bereits existierenden Disziplinen entliehen: der Linguistik und der Psychoanalyse.«39

Dieser Begriff ist zentral, denn er gibt dem marxistischen Widerspruch die Spezifizität; durch ihn kann Rechenschaft abge­legt werden von der strukturierten Totalität, vom Übergang von einer Struktur zu einer anderen Struktur in einer konkreten Ge­sellschaftsformation. Mit der Überdeterminierung importiert Althusser weitere Freudsche Begriffe wie Verdichtung und Ver­schiebung, die nun auf dem Feld des Marxismus Einzug halten. Diese Implantate erlauben es, den Widerspruch zu pluralisieren, wenn nicht aufzulösen. Sie »unterhöhlen die bequemen Verstän­digungen über den Logos des Widerspruchs«40.

Theoretischer Antihumanismus und Antihistorizismus

Die Begeisterung für Althussers Thesen entspricht auch einem Zeitpunkt des Denkens, an dem das Subjekt aus dem theoreti­schen Horizont entschwindet. Das Strukturalistische Programm hat es bereits geschafft, das Subjekt zu reduzieren, es vom Thron zu stürzen, es zu spalten, es für insignifikant zu erklären, und Althusser ortet Marx auf Seiten derer, die diese Dezentrierung des Menschen in allen seinen Formen von den Sozialwissenschaf­ten her bewerkstelligen und verstärken: »Unter der straffen Be­ziehung der Theorie kann man und muß man dann offen von ei­nem theoretischen Anti-Humanismus von Marx sprechen [...].«41

Der Begriff »Mensch« büßt jede Bedeutung ein, er wird zum phi­losophischen Mythos herabgestuft, zu einer ideologischen Kate­gorie, die mit dem Aufstieg der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse einhergeht. Die unter der Perspektive des theoretischen Antihumanismus angelegte Lektüre des Kapitals wird strukturale Kategorien ins Werk setzen, die bei Althusser im wesentlichen auf Lacan, bei Etienne Balibar auf Lévi-Strauss zurückgehen: »In Lire Le Capital hatte ich bestimmte Modelle der Begriffskon-

444 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque

struktion nachempfunden, die, ohne von Lévi-Strauss zu sein, in Marxens Texten erstaunlicherweise eine vergleichbare Methode zutage förderten. Es gibt bei Marx Aspekte, die aus einem Struk­turalismus avant la lettre rühren.«42

Etienne Balibar verfaßt einen wesentlichen Beitrag zum Ge­meinschaftswerk Das Kapital lesen, in dem er die Grundbegriffe des historischen Materialismus untersucht. Diese Erklärung von Marxens Thesen geht von einem Theorieapparat aus, in dem man unschwer die methodologischen Voraussetzungen von Lévi-Strauss' Strukturalismus wiedererkennt. Die marxistischen Be­griffe werden anhand formaler Bestimmungen rekonstituiert, sie entwickeln sich gemäß einem System pertinenter Differenzen rein räumlicher Art, die nach phonologischem Vorbild die mate­rielle Natur, die konkrete Substanz der betrachteten Objekte ausschließen. Wie bei der Erforschung der elementaren Struktu­ren der Verwandtschaft geht es nicht um eine empirische Be­schreibung des beobachtbaren Realen, sondern um eine Defini­tion der Produktionsweise als »eine differenzierende Bestimmung der Formen [...], und wir können eine >Weise< als ein System von Formen bestimmen, das ein Variationsstadium in der Gesamtheit der Elemente darstellt«43. Die Beseitigung des Referentiellen gibt dem Verfahren also einen im wesentlichen formalen Charakter, mit dem man Anspruch auf die größte Anwendungsbandbreite für alle vorkommenden Fälle der Figur erheben kann: »Diese Kombination — beinahe eine Kombinatorik — [...] veranlaßt uns, hier von einem völlig außergewöhnlichen Strukturalismus zu sprechen.«44 In diesem rein kombinatorischen Spiel der Formen, der pertinenten Differenzen weist Etienne Balibar dennoch einer Instanz, der Ökonomie, den bestimmenden Platz an — den der Relation der Relationen, der strukturalen Kausalität.

Diese theoretische Ausarbeitung ermöglicht eine Wissenschaft von den Produktionsweisen, denn sie erreicht ein hohes Abstrak­tions- und Verallgemeinerungsniveau und verfügt zugleich über ein pertinentes Kausalitätssystem. In einer solchen Wissenschaft

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glänzt der Mensch durch seine Im-Pertinenz, er ist ganz einfach unauffindbar. »Die Menschen erscheinen in der Theorie nur un­ter der Form von Trägern der in der Struktur implizierten Rela­tionen und die Formen ihrer Individualität als determinierte Strukturwirkungen.«45 Diese Dezentrierung findet also im strukturalistischen Paradigma reichlich Material zur Untermaue­rung. Sie beruft sich auch auf Spinoza und seine Definition der Attribute, die nach Art der bei Marx innerhalb der Produktions­weise festgestellten Pertinenzen funktionieren. Nach Auffassung der Althusserianer ist es ein subjektloser Prozeß, der den Gang der Geschichte antreibt.

So wird mit dem Subjekt zugleich jegliche historizistische Konzeption verworfen, denn auch sie würde den angestrebten theoretischen, wissenschaftlichen Horizont pervertieren: »Der Sturz der Wissenschaft in die Geschichte ist hier nur Indiz für ei­nen theoretischen Sturz.«46 Dieser Antihistorizismus nimmt den Weg über die Zersetzung der Zeitlichkeiten und die Errichtung einer um die pertinenten Beziehungen artikulierten Totalität in einer allgemeinen Theorie. Allerdings wird diese Totalität festge­setzt in einem Strukturzustand nach Art der kalten Gesellschaf­ten, ohne daß man sich auf das einließe, was an ihren inneren Widersprüchen und an deren möglicher Überwindung arbeitet. Gemäß einem metonymischen Verfahren rückt an die Stelle des entschwundenen Subjekts und seiner Geschichtlichkeit nun der Strukturzustand. Da man freilich diese verkümmerte, erstarrte Struktur an irgendeine Nahtstelle anbinden muß, verankert Althusser sie vermittels des Status, den er dem Ideologiebegriff zumißt und der ähnlich bedeutsam wird wie das Symbolische bei Lacan oder bei Lévi-Strauss. Althusser macht ihn zu einer inva­rianten, überzeitlichen Kategorie nach Art des Freudschen Un­bewußten. So kann er den rein instrumentalen Beziehungstypus komplexifizieren, den die marxistische Vulgata einsetzt, wenn sie die herrschende Ideologie als bloßes Werkzeug der herrschenden Klasse betrachtet.

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Die Ideologie als Ersatzsubjekt

Althusser erhebt die Instanz des Ideologischen in den Stand einer relativ autonomen Funktion, so daß sie nicht mehr mechanisch dem zugeschlagen werden kann, was ihr unterlegt ist. Doch dieses In-Distanz-Rücken der Ideologie verdoppelt sich mit ihrer Hypertrophie, so daß sie die Gestalt einer transhistorischen Struktur annimmt, deren Theorie zu errichten Althusser auffor­dert. Aufgrund der damit eingeführten Praktiken läuft das Wir­ken des Ideologischen auf die Schaffung von Subjekten hinaus, die dem ihnen angewiesenen Platz absolut ausgeliefert gegen­überstehen; es verwandelt sie in irregeleitete Objekte okkulter Kräfte, die durch ein neues Subjekt der Geschichte repräsentiert werden : die Ideologie.

In jener Epoche ist alles Ideologie: die Gefühle, die Verhal­tensweisen usw. Nichts entgeht dem Sieb der Ideologiekritik, der allumfassenden Kategorie, in der sich machtlos das Individuum bewegt. Das einzige Schlupfloch aus diesem Circulus vitiosus, der einzige Ausweg aus diesem Labyrinth liegt infolgedessen für Althusser im epistemologischen Einschnitt : Er ist der Ariadnefa­den, der den Weg zur Wissenschaft möglich macht.

Der Marxismus als Theorie der theoretischen Praxen, als anti­ideologisches Reinigungsmittel im Namen der Wissenschaft er­laubt es einer Generation, politisches Engagement mit wissen­schaftlichem Anspruch zu vereinbaren, der sich durch seine Reinheit mit der Sehnsucht nach metaphysischer Absolutheit trifft. Es leuchtet ein, daß eine auf das Rüstzeug der Kritik verses­sene Jugend von einer solchen Denkmaschine begeistert war.

Die Erneuerung des Marxismus

Althussers Neulektüre bringt eine Verjüngungskur des Marxis­mus zuwege, der daraus erneuert und geläutert hervorgeht. All­seits bemächtigt man sich dieses Marx der Reife, heftet ihn ans Banner der Wissenschaftlichkeit der eigenen Disziplin, wie der beachtliche Erfolg von Für Marx — ein immerhin sehr theoreti­sches Werk — bezeugt. Infolge der globalisierenden Konzeption des Althusserianismus darf sich überdies jeder Kontinent des Wissens angesprochen fühlen. Marx steht im Schnittpunkt aller Forschungen, als wahrer gemeinsamer Nenner aller Sozialwis­senschaften.

Auf dem Feld der Philosophie gewinnt Althusser den brillan­ten Philosophen Alain Badiou aus dem Sartre-Umkreis, der in der Zeitschrift Critique einen enthusiastischen Artikel über den (Neu-)Beginn des dialektischen Materialismus verfaßt1: »Dieser Artikel war sehr positiv, und alle zeigten sich über diese Kehrt­wende erstaunt.«2 Mitgerissen von der strukturalen Welle, geht Sartre einer seiner Schüler verloren. Alain Badiou ist angetan von der Harmonie zwischen Althussers neuen Thesen und der politi­schen Konjunktur. Er unterscheidet drei Typen des Marxismus : einen fundamentalen Marxismus, der sich ausschließlich auf den jungen Marx der Manuskripte von 1844 stützt, einen totalitären Marxismus, der auf den dialektischen Gesetzen gründet, und ei­nen analogischen Marxismus, den er im Althusserianismus ver­wirklicht sieht, dessen Hauptgegenstand Das Kapital ist und der »die marxistischen Begriffe so anwendet, daß er ihre Organisa­tion auflöst. Denn in der Tat faßt er die Beziehung zwischen den Basisstrukturen und den Superstrukturen [...] als reine Isomor-

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phie auf.«3 Nach der Publikation dieses Artikels wird Badiou von Althussers Arbeitsgruppe gebeten, an der Philosophievorlesung für Wissenschaftler mitzuwirken, die 1967 an der ENS abgehal­ten wird. Vor zahllosen Zuhörern hält Badiou alsdann einen Kurs über die Idee des Modells.

Diese Symbiose aus politischem Engagement, epistemologi-scher Reflexion und Neubetrachtung des Marxismus bleibt übri­gens nicht auf das Quartier latin beschränkt, sondern pflanzt sich an den meisten Universitäten Frankreichs fort. In Aix-en-Pro-vence liest Joëlle Proust, damals um die zwanzig und, betreut von Gilles-Gaston Granger, an einem epistemologischen Thema sit­zend, begeistert Für Marx und diskutiert die neuen Thesen in der Arbeitsgruppe : »Wir waren total überzeugt. Für uns bedeutete es die Entdeckung eines theoretischen Horizonts, der mit politi­schen Positionen verbunden und untrennbar war vom Struktura­lismus, der sich als Interpretationsschlüssel vieler verschiedener Gebiete darstellte. Faszinierend war, daß das in der Linguistik ging, also trieben wir alle ein wenig Linguistik.«4

Diese Rückkehr zu Marxens Texten, zu ihrem inneren Aufbau, die an die Prinzipien der Methode Martial Gueroults erinnert, ließ eine ganze Generation von Philosophen mit einem Unter­richt brechen, in dem tendenziell das Spezifische der philosophi­schen Problemstellung zugunsten einer rein doxographischen Analyse der Einflüsse aufgelöst wurde. Mochte sich Althussers strukturaler Marxismus zunächst als Fundament einer neuen Ära der Philosophie darstellen, so macht sich das Erdbeben von 1965 auf sämtlichen Kontinenten des Wissens bemerkbar, und von Althussers Modell, das sich auf die strukturalistische Welle stützte, nahmen ihrerseits Unternehmungen ihren Ausgang, die darauf abzielten, die Sozialwissenschaften zu transformieren.

Die Erneuerung des Marxismus 449

Der Althusserianismus in der Linguistik

Einer von Althussers Vertrauten und Schülern, Michel Pêcheux, dachte, daß in den sechziger Jahren die Philosophie am besten auf dem Feld der Sozialwissenschaften zu betreiben sei. In diesem Sinne bildet er unter den Zöglingen der ENS eine Ausnahme. Er wird am CNRS in eine von Pages geleitete Forschungsstelle der Sorbonne für Sozialpsychologie berufen, eine Disziplin also, die damals in den Augen der Althusserianer als Abgrund des Grau­ens gilt. Als Schüler Althussers und Canguilhems nimmt er die Aufgabe selbstverständlich in kritischer Absicht an, gleichsam als Trojanisches Pferd, das sich in die Stätten des Psychologismus einschleust. 1966 begegnet er Michel Simon und Paul Henry aus einer anderen Forschungsstelle für Sozialpsychologie, die der Sechsten Sektion der EPHE angehört und von Serge Moscovici geleitet wird. Zu dritt arbeiten sie an einer Kritik der klassischen Humanwissenschaften von innen heraus: »Wir hatten eine Art informellen Stab gebildet und arbeiteten praktisch die ganze Wo­che lang zusammen.«5

Michel Simon ist vom Techniker des Laboratoriums zum For­scher aufgestiegen; der Mathematiker Paul Henry hat, da er an Ethnologie interessiert war, nach seiner licence in Mathematik 1962 Lévi-Strauss aufgesucht und ihm erzählt, er wolle Ethnolo­gie betreiben. Auf Lévi-Strauss war er wegen dessen Anwendung mathematischer Modelle und seiner Absicht, eine globale Theo­rie der Kommunikation zu errichten, aufmerksam geworden. Paul Henry bekommt die Empfehlung, sich der Linguistik zu widmen und ein Zertifikat in Ethnologie zu erwerben. Als er in jene Forschungsstelle für Sozialpsychologie eintritt, bewegt er sich, wie Pêcheux, in einer kritischen Perspektive. Er wundert sich über die Verwendungsweise der Mathematik, über den aus­ufernden Gebrauch von Gleichungen ohne konzeptuelle Kon­struktion, so daß seine Forschungsprojekte sich immer mehr zur Linguistik, zu den Sprachstrukturen, zu den Begriffen des Impli-

450 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque

ziten, der Voraussetzung hin ausrichten — die ihn in den Brenn­punkt der strukturalistischen Problemstellung rücken: »Wir in­teressierten uns für den Strukturalismus, weil er ein Mittel zur Kritik der Sozialpsychologie war, besonders der Subjektidee.«6

Die von Pêcheux geleitete kleine Arbeitsgruppe versucht Althussers Thesen auf die Linguistik anzuwenden. Diese Arbeit wird vielfache Fortsetzungen erfahren, namentlich in Nanterre mit den Forschungen von Régine Robin, Denise Maldidier, Fran­çoise Gadet und Claudine Normand. Noch unter einem Pseudo­nym, Thomas Herbert, zeichnet Michel Pêcheux seine beiden Artikel von 1966 und 1968 in den Cahiers pour l'analyse.7 Diese theoretische Arbeit schreibt sich ein in die doppelte Filiation der von Althusser unternommenen Rückkehr zu Marx wie der von Lacan vollzogenen Rückkehr zu Freud. Sie bildet auch den Rah­men eines Werkes, das als methodologisches Manifest auftritt: L'analyse automatique du discours, erschienen 19698, etabliert den Althusserianismus auf dem Feld der linguistischen For­schungen. Michel Pêcheux vertritt gleichfalls die These vom Einschnitt im Aufbauprozeß einer Wissenschaft und verdeut­licht sie am Beispiel technischer Praktiken, die erst auf einer zweiten Stufe in wissenschaftliche Praktiken umgewandelt worden sind, wie beispielsweise die Destillierkolben oder die Waagen. Bevor sie mit Galilei Gegenstand der physikalischen Theorie wurden, waren Waagen schon längst bei Handelstrans­aktionen in Gebrauch: »Dieser Prozeß ist ganz genau das, was Pêcheux die >methodische Reproduktion< des Objekts einer Wissenschaft nennt.«9

Michel Pêcheux, der in diesem zweiten Stadium die wahre Ver­wirklichung der Wissenschaft sieht, ist überzeugt, daß die Sozial­wissenschaften lediglich Ideologien seien und daß deshalb die Kritik, die man vom philosophischen Standpunkt an ihnen üben mag, müßig sei. Allerdings hofft er, sie von innen heraus transfor­mieren zu können, indem er sie mit wissenschaftlichen Instru­menten im strengen Sinne versieht, die auf ihrem spezifischen

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Feld anwendbar sind. Nun impliziert jedoch die Nähe dieser den Sozialwissenschaften eigenen Ideologie zur politischen Praxis in ihrer Reproduktionsfunktion der sozialen Verhältnisse, daß vor­rangig das Instrument der politischen Macht selbst, also der Dis­kurs analysiert werden muß. Der verborgene Zusammenhang zwischen politischer Praxis und Sozialwissenschaften ist zu klä­ren : »Pêcheux widerspricht von Grund auf der Konzeption der Sprache, die diese auf ein Instrument zur Mitteilung von Bedeu­tungen reduziert, welche unabhängig von der Sprache existierten und definiert werden könnten.«10

Die Ausrichtung, die Pêcheux der Diskursanalyse gibt, schreibt sich ein in die Althussersche Konzeption der Ideologie, die zum wahren Subjekt des Diskurses erhoben wird und univer­sales Element der historischen Existenz ist. Um den Zusammen­hang zwischen Sprache und Ideologie deutlich zu machen, er­richtet Pêcheux seinen Diskursbegriff. Er »hat sich plaziert zwischen dem, was man das Subjekt der Sprache nennen kann, und dem Subjekt der Ideologie« n und steht damit im Kern der Problematik eines strukturalisierten Marxismus.

Der Althusserianismus in der Anthropologie

Alain Badious Konversion zum Althusserianismus zieht die des Anthropologen Emmanuel Terray nach sich, anfänglich eher Sar-trianer und ein großer Bewunderer der Kritik der dialektischen Vernunft. Mit Emmanuel Terray vollzieht sich eine strukturali-stisch-marxistische Umgestaltung der Anthropologie. Terray hatte Althusser an der ENS als Professor gehabt, verließ aber die Rue d'Ulm 1961, bevor Althusser seine Lehre über Marx auf­nahm. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Althusserschen Thesen befindet sich Terray an der Elfenbeinküste, sein Freund Alain Badiou informiert ihn: »Ich las dann mit sehr viel Auf­merksamkeit und Spannung Für Marx und Das Kapital lesen.« n

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Am wichtigsten erscheint ihm der in Für Marx erschienene Auf­satz Althussers über »Widerspruch und Überdeterminierung«, insofern dieser den Marxismus den Problemen des Ursprungs, der Metaphysik entreißt, um ihn zu einem Instrument wissen­schaftlicher Analyse zu machen. Seine Anthropologenperspek­tive beeinflussen wird jedoch insbesondere Etienne Balibars Bei­trag, »Die Grundbegriffe des historischen Materialismus«, in Das Kapital lesen.

Terray wird die Geltung der Begriffe Produktionsweise, Pro­duktionsverhältnis, Produktivkräfte sowie deren Verknüpfung mit anthropologischen Feldforschungen erproben: »Ich habe, während ich diesen Text las, den zweiten Teil meines Buches Le Marxisme devant les sociétés primitives geschrieben13, das heißt, eine Neulektüre der Arbeit von Claude Meillassoux durch das von Etienne Balibar vorgeschlagene Begriffsraster vorgenommen.«14

Vor der Veröffentlichung schickt er seinen Text an Althusser, der ihn nicht nur für triftig befindet, sondern auch sofort das Interesse erfaßt, das in der Reichweite seiner Thesen für das Gebiet der An­thropologie liegt. Terray ist in den Kreis der Althusserianer aufge­nommen.

An der Elfenbeinküste arbeitete damals auch der Ethnologe Marc Auge, ein Freund von Terray, der sich ebenfalls der Althus-serschen Problemstellung anschließen sollte. »Althusser hat ei­nen ungeheuren Einfluß gehabt, weil er als ein Neuerer erschien, als ein Muster der Nuanciertheit gegenüber der marxistischen Vulgata.«15 In seiner Monographie über die Alladian hat auch Auge, obzwar nur in Anmerkungen, die Pertinenz des Althusser-schen Modells überprüft16, wenngleich er heute einräumt, daß ihm unwohl war bei dieser Akrobatik der theoretischen Projek­tion auf eine Realität, die sich seinem damaligen Lektüreraster nur schlecht fügte: »Es stimmte nicht überein mit dem, was ich empirisch vor Augen hatte, nämlich Menschen, die sich über den Tod, über die Krankheit und das Jenseits befragten.«17 Diese Fra­gestellungen lagen also weit entfernt von den Instrumenten, die

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im Althusserschen Strukturalismus-Marxismus gebräuchlich wa­ren, der aber trotzdem in der Anthropologie eine Grundlagenre-flexion über das Soziale und das Ökonomische eingeleitet hat.

Der Althusserianismus in der Ökonomie

Auch im Studienfeld der Ökonomen ist der Althusserianismus gediehen. Zeitgleich zu Das Kapital lesen bringt Suzanne de Bru-noff unter Althussers direktem Einfluß La Monnaie chez Marx heraus. Vor allem aber strahlt zu jener Zeit die spektakuläre Kraft der Arbeit von Charles Bettelheim aus, der sich an die Althusser­schen Kategorien von den Widersprüchen zwischen Produk­tionsverhältnissen und Produktivkräften anlehnt, um — und darin unterscheidet er sich von Althusser — die Reetablierung der kapitalistischen Produktionsweise in der Sowjetunion zu bewei­sen. Sich auf eine Invariante stützend, nämlich die der Trennung zwischen den Produzierenden und den Besitzern von Produk­tionsmitteln, wie sie der Betriebsorganisation in der sowjetischen Ökonomie zugrunde liegt, schließt er auf die kapitalistische Do-miniertheit der Gesellschaftsformation. Bedeutung ist in einer strukturalistisch-marxistischen Perspektive eine Bedeutung der Position, definiert durch eine Zweipoligkeit, die den Proletarier dem Bürokraten gegenüberstellt, welcher sich, dem Kapitalisten gleich, auf der anderen Seite der Struktur befindet. Das Interes­sante an Bettelheims Arbeit bestand auch in einer Herabsetzung der beherrschenden Rolle, die in der marxistischen Vulgata den Produktivkräften zugesprochen wird, wogegen er die entschei­dendere Rolle der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse hervorhebt, die diese in der Organisation der Produktion selbst spielen.18 In diesem Punkt ist er sich mit Balibar einig in der Auf­fassung, daß das Niveau der Produktivkräfte ebenfalls ein Pro-duktionsverhältnis darstellt. Er zieht die Neutralität der Produk­tivkräfte in Zweifel, eine These, die später Robert Linhart in

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seiner Untersuchung über die der Entwicklung des sowjetischen Sozialismus immanenten Widersprüche, Lénine, les paysans, Taylor19, wieder aufgreifen wird.

Robert Linhart zeigt darin den Gegensatz zwischen dem Auf­bau einer sozialistischen Realität und der von Lenin seit 1918 an­gestrebten Anwendung des tayloristischen Modells, das deutlich zwischen einer leitenden Technokratie und den Ausführenden unterscheidet. Diese Anwendung des Taylorismus bringt die technische Arbeitsteilung ins Wanken und entreißt gleichzeitig den Arbeitern deren eigenes Wissen, um es einer patronalen Bü­rokratie zu übertragen.

Doch der sehr theoretische Charakter der Althusserschen The­sen erlaubt keinen entscheidenden und unmittelbaren Durchbruch bei den Ökonomen, die vom Althusserianismus erst nach der Schockwelle von 1968 wirklich erschüttert werden.

Über Althusser zu Lacan

Althusser kommt das Verdienst zu, durch die Publikation von »Freud und Lacan« 1964 die Psychoanalyse im Kern des französi­schen intellektuellen Lebens anzusiedeln, gerade als Lacan sein Seminar an die ENS verlegte.20 Seine Positionsbestimmung öff­net den Marxismus für die Psychoanalyse und reißt somit die Trennwände ein, die der dem psychoanalytischen Diskurs ver­schlossene Stalinismus errichtet hatte. Der Kampf, den Althusser wie Lacan im Namen der Wissenschaft gegen den Humanismus beziehungsweise den Psychologismus führen, ist sich in der Tat ähnlich und stellt sich in analoger Weise als Erneuerung der Les­art von Grundlagentexten Marxens und Freuds dar.

Das Althussersche und das Lacansche Unterfangen berühren sich in der gleichen Arbeit der epistemologischen Klärung und Ideologiekritik: »Die Rückkehr zu Freud ist nicht eine Rückkehr zu Freuds Geburt: sondern eine Rückkehr zu seiner Reife.«21

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Was Althusser an Lacans Ansatz begrüßt, ist demnach genau der Vollzug eines Einschnitts in Freuds Werk gleich dem, den er im Werk von Marx wahrnimmt: »Lacans erstes Wort lautet: Im Prinzip hat Freud eine Wissenschaft begründet.«22 Nun muß aber eine Wissenschaft ihren eigenen Gegenstand haben; sie kann sich nicht als bloße Kunst der Resteverwertung konstituieren. Nachdem Freud diesen spezifischen Gegenstand, das Unbe­wußte, entdeckt hat, bringt Lacan laut Althusser die Konstituie­rung der Psychoanalyse als Wissenschaft einen Schritt weiter, in­dem er den Übergang von der biologischen Existenz zur menschlichen Existenz unter dem Gesetz der Ordnung, welches das der Sprache ist, ansiedelt. Nach Althusser liegt Lacans Lei­stung in dem Vorrang, den er dem Symbolischen vor dem Imagi­nären einräumt: »Das Entscheidende, was Lacan klargestellt hat, ist, daß diese beiden Momente von einem einzigen Gesetz, von dem Gesetz des Symbolischen, beherrscht, bestimmt und ge­kennzeichnet werden.«23

Diese Dezentrierung des Ego, seine Unterordnung unter eine Ordnung, die ihm entgeht, berührt sich mit Althussers Marx-Lektüre, der zufolge die Geschichte ein Prozeß ohne Subjekt ist. So konnte der Althusserismus-Lacanismus seinen Aufschwung nehmen und das Paar Marx/Freud zur großen Denkmaschine der sechziger Jahre machen, womit er einen erneuerten Marxismus schuf, der diesem vor allem nach '68 zugute kommen sollte.

Das Lichtjahr 1966: I. Das strukturale Jahr

»Ab 1966 ging alles den Bach runter. Ein Freund hatte mir Die Ordnung der Dinge geliehen, und ich war so unbesonnen gewe­sen, das Buch aufzuschlagen [...]. Schlagartig gab ich Stendhal, Mandelstam und Rimbaud auf, wie man eines schönen Tages auf­hört, Gitanes zu rauchen, um mir die Leute anzulesen, mit denen uns Foucault in Atem hielt, Freud, Saussure und Ricardo. Ich hatte die Pest. Das Fieber wich nicht von mir, und ich liebte diese Pest. Ich hütete mich davor, mich zu heilen. Auf meine Wissen­schaft war ich stolz wie eine Laus auf dem Kopf des Papstes. Ich diskutierte Philosophie. Ich nannte mich Strukturalist, aber ich hängte es nicht an die große Glocke, denn ich wußte, daß mein Wissen noch zart und bröselig war, ein leiser Wind hätte es ver­weht. Ich verschliß meine Nächte damit, ganz alleine und heim­lich die Anfangsgründe der Linguistik zu lernen, und ich war hochzufrieden. [...] Ich stopfte mich mit Syntagmen und Mor­phemen voll. [...] Wenn ich mit einem Humanisten debattierte, machte ich ihn mit einem epistemischen Hieb platt. [...] Mit be­wegter, fast bebender Stimme und vorzugsweise an Herbstaben­den spreche ich die Namen Derrida oder Propp aus, wie ein ehe­maliger Frontsoldat im Ersten Weltkrieg die Fahnen streichelt, die er dem Feind abgenommen hat. [...] Jakobson ist mein Tro­penland oder mein Äquator, É. Benveniste mein Guadeloupe, und der proäretische Code mein Club Méditerranée. Ich sehe Hjelmslev als eine Steppe. [...] Es kommt mir so vor, als sei ich nicht der einzige, der sich auf diese Abwege verirrt hat.«*

Launig beschreibt Gilles Lapouge zwanzig Jahre danach das saturday night fever des Jahres 1966, in dem der Strukturalismus

Das Lichtjahr 1966:1. Das strukturale Jahr 457

kulminierte. Die gesamten Anstrengungen der Humanwissen­schaften bündeln sich in diesem Moment, um den Horizont der Forschungen und Publikationen rings um das strukturalistische Paradigma auszuleuchten. 1966 ist das »zentrale Merkzeichen. [...] Man kann sagen, daß es, zumindest was Paris anbelangt, in diesem Jahr ein großes und wahrscheinlich entscheidendes Zu­sammentreffen der akutesten Forschungsthemen gegeben hat.«2

Man kann das Jahr 1966 getrost dem Strukturalismus weihen. Und wenn man von der Generation von 1848 oder der von 1968 hat sprechen können, so ist dem die ebenso quirlige Generation von 1966 hinzuzufügen: »Ich bin ein Kind von 1966.«3

Die Verlagstätigkeit im Strukturenland

Die Neuerscheinungen des Jahres lassen auf allen Gebieten die Kraft der Strukturalistischen Erschütterung erkennen, die 1966 das Ausmaß eines wahren Erdbebens annimmt. Man urteile nur nach der Fülle der allein in diesem Jahr veröffentlichten Haupt­werke. Roland Barthes publiziert seine berühmte Erwiderung auf Picards Pamphlet, Kritik und Wahrheit (Le Seuil). Renaud Matignon schreibt darüber im Express: »Das ist die Dreyfus-Af-färe in der literarischen Welt — auch jene hatte, abgesehen von der Schreibweise, einen Picard —, sie hat soeben ihr >J'accuse< ausge­geben«4, und setzt den Platz von Barthes' Werk in der Ge­schichte des kritischen Denkens dem der Erklärung der Men­schenrechte in der Geschichte der Gesellschaft gleich. Auch wenn die Franzosen nicht in einen regelrechten Bürgerkrieg eingetreten sind, um zu erweisen, wer recht hat, Barthes oder Picard, so hat sich doch in diesem Jahr die intellektuelle Welt an dieser Scheide­linie geteilt.

Greimas publiziert seinerseits bei Larousse die Strukturale Semantik: »Struktural geworden, in roten Lettern, ist meine Semantik dank Dubois. Er sagte mir: >Tausend Exemplare

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Mehrverkauf, wenn Sie struktural hinzufügend«5 Die Kennung »strukturalistisch« ist Mitte der sechziger Jahre ein gutes Ver­kaufsargument. Sämtliche gesellschaftlichen Milieus sind von diesem Phänomen berührt, bis hin »zum Trainer der französi­schen Fußballnationalmannschaft, der erklärte, er werde die Mannschaft nach strukturalistischen Prinzipien umorganisie­ren« 6.

François Wahl, ein guter Freund von Roland Barthes und sein Herausgeber bei Le Seuil, kann Lacan dafür gewinnen, seine Schriften zu einem Sammelband zu vereinen : »Daß die Schriften veröffentlicht wurden, liegt, um der Wahrheit die Ehre zu geben, an mir: Ich stand de facto an zentraler Stelle, ganz einfach im topographischen Sinn.«7 Dieser wuchtige Neunhundert-Seiten-Band in seinem barocken und denkbar hermetischen Stil macht Lacan zum »französischen Freud«. Als die Besprechungen er­scheinen, sind bereits fünftausend Exemplare verkauft, und Le Seuil muß das Werk eilends nachdrucken: Bis 1984 werden mehr als sechsunddreißigtausend Bücher ihren Abnehmer finden. Die in zwei Bände aufgeteilte Taschenbuchausgabe von 1970 schlägt alle Rekorde für ein solches Werk: Vierundneunzigtausend Exemplare erreicht der erste Band und vierundsechzigtausend der zweite.

Wiederum bei Le Seuil, in der Reihe »Tel Quel«, macht Todo-rov in seiner Theorie de la littérature, versehen mit einem Vorwort von R. Jakobson, das französische Publikum mit dem Werk der russischen Formalisten bekannt. In derselben Reihe bringt Gé­rard Genette Figures heraus.

Das Ereignis des Jahres, das mit seinem Erfolg alle anderen Werke auf den zweiten Rang verweist, ist allerdings die Veröf­fentlichung von Michel Foucaults Buch Die Ordnung der Dinge bei Gallimard. Ein beispielloser Vorgang — die Auflage ist binnen weniger Tage vergriffen: »Foucault geht weg wie warme Sem­meln : In der letzten Juliwoche achthundert Exemplare von der Ordnung der Dinge in fünf Tagen verkauft (neuntausend Exem-

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plare insgesamt).«8 Obwohl das Buch erst im April erscheint, werden allein im Erscheinungsjahr zwanzigtausend Exemplare verkauft, und 1987 wird sich der Verkauf auf einhundertdreitau­send Exemplare belaufen9, eine angesichts der Schwierigkeit des Werks ausnehmend hohe Zahl.

Das Werk von Michel Foucault ermöglicht Pierre Nora, der gerade erst, Ende 1965, zu Gallimard gekommen war, die »Bi­bliothèque des sciences humaines« herauszugeben: »Ich hatte gemerkt, daß es eine Bewegung gab, deren allgemeine Einheit das war, was man Humanwissenschaften nannte. Zwischen getrenn­ten Disziplinen zeichneten sich Forschungen ab, die in einer ge­meinsamen Problematik zusammenliefen, und diese beruhte dar­auf, daß die Menschen reden, um Dinge zu sagen, für die sie nicht unbedingt verantwortlich sind, daß sie zu Handlungen kommen, die sie nicht unbedingt gewollt haben, daß sie von Determinie­rungen durchzogen sind, deren sie sich nicht bewußt sind und die über sie gebieten. [...] Im übrigen zog sich eine weitere Bewegung durch diese Forschungen: der soziopolitische Inhalt dieses Wis­sens, dem man einen womöglich subversiven Wert zuschrieb.«10

Neben dem Buch von Foucault gibt Pierre Nora in derselben Reihe gleichzeitig Masse und Macht von Elias Canetti heraus, Ethnologie et langage von Geneviève Calame-Griaule sowie die Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, die zum großen Bezugspunkt wurden und den Autor Emile Benveniste aus seiner Isolation am Collège de France herausholten.

Pierre Nora will sich jedoch keineswegs auf die Rolle eines Sprechers und schieren Nachbeters des Strukturalismus be­schränken: So bittet er Raymond Aron, dessen Seminar er ver­folgt, um eine Arbeit, die 1967 erscheint, Hauptströmungen des soziologischen Denkens. Dennoch macht ihn seine Stellung als Verantwortlicher des Bereichs Humanwissenschaften bei Gallimard 1966 ungewollt zum Katalysator des Strukturalismus. Übrigens unternimmt er einen — allerdings vergeblichen — Vor­stoß bei Lévi-Strauss : »Als ich bei Gallimard anfing, habe ich ihn

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aufgesucht, um ihn anzuwerben. Aus nebensächlichen Gründen hat er das nicht gewünscht.«11 1966 beschließt Payot, ein ur­sprünglich für einen deutschen Verleger vorgesehenes Buch zu veröffentlichen, La Religion romaine archaïque von Georges Du­mézil. Pierre Nora erfaßt sofort den Vorteil, den er als Herausge­ber von Dumézils Werken in diesem strukturalismusfreundlichen Klima hätte; er trifft sich deshalb mit Dumézil: »Pierre Nora hat sich eingeschaltet. Er hat mich aufgebaut. Ich bin eine Gallimard-Schöpfung.«12

Verlagshäuser wie Le Seuil oder Gallimard erscheinen also als Speerspitzen des strukturalistischen Verlagsgeschäfts, aber auch andere Verlage bekommen 1966 durchaus ein Stück vom Kuchen ab. So veröffentlichen die Éditions de Minuit Pierre Bourdieus gemeinsam mit Alain Darbel verfaßtes Werk L'amour de l'art Die Éditions Maspero, die 1965 mit der Doppelveröffentlichung von Das Kapital lesen und Für Marx den Knüller gelandet hatten, publizieren eine Arbeit des Althusserianers Pierre Macherey, Zur Theorie der literarischen Produktion. Eine Neuausgabe von Georges Canguilhems thèse, erstmals erschienen 1943, Das Norma­le und das Pathologische, verlegen die Presses Universitaires de France (PUF). Auch die Historiker bleiben in Anbetracht des Aufschwungs der Struktur nicht stumm, und die Annales-Schule veröffentlicht, ebenfalls 1966, verschiedene wichtige Werke, so etwa die thèse von Emmanuel Le Roy Ladurie, Die Bauern des Languedoc, erschienen bei SEVPEN (École pratique des hautes études), und Pierre Gouberts Arbeit Louis XIV et vingt millions de Français, die bei Fayard herauskommt. Auch das Oberhaupt der Annales-Schule, Fernand Braudel, profitiert von dieser Vor­liebe für die »longue durée« (die langen Zeitabläufe) und die Strukturen, indem er Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps IL, seine thèse, bei Armand Colin neu her­ausgibt.

Für den strukturalistischen Nachwuchsleser erfordert das Jahr 1966 eine geradezu stakhanovistische Lektüreleistung. Jeder Tag

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bringt neuen konzeptuellen Lesestoff, und den Neuerscheinun­gen des Jahrs hinzuzuzählen sind noch die 1966 wieder ausge­grabenen Werke aus früheren Jahren, die für den guten Struk-turalisten als unentbehrlich gelten. Zum Beispiel Gilles Gaston-Grangers Pensée formelle et science de l'homme (Aubier 1960) : »Als ich 1965/66 an die Sorbonne kam, fragte ich die Kommilito­nen, die zwei oder drei Jahre weiter waren als ich, was man lesen sollte. Jeder sagte mir, man müsse dieses Buch lesen, das im übri­gen allenthalben zitiert wurde.«13 Grundlegend für eine ganze Generation ist auch Jean Roussets Forme et signification (Corti 1962), der Autor analysiert darin die Produktion von Bedeutung im Inneren der Texte, von deren interner, in formale Termini ge­faßter Strukturierung her.

Die Zeitschriften im Strukturenland

Das Jahr 1966 ist auch von der intensiven strukturalistischen Tä­tigkeit seitens der Zeitschriften gekennzeichnet, zunächst durch einige Neugründungen. Die Zeitschrift Langage bringt im März 1966 ihre erste Nummer heraus, in der sie die wissenschaftliche Untersuchung der Sprache als wesentliche Dimension der Kultur vorstellt. Sie begreift ihr Projekt als offene Schnittstelle für die verschiedenen Sprachreflexion betreibenden Disziplinen. Her­ausgegeben vom Cercle d'épistémologie der École normale supé­rieure, erscheinen ebenfalls Anfang 1966 die Cahiers pour l'ana­lyse, deren Editorial von Jacques-Alain Miller den Anspruch formuliert, eine Diskurstheorie zu errichten, die von allen analy­tischen Wissenschaften: Logik, Linguistik und Psychoanalyse, ausgehen soll. Die erste Nummer ist dem Thema Wahrheit gewidmet und veröffentlicht Lacans berühmten Text »Die Wis­senschaft und die Wahrheit«, später erneut abgedruckt in den Schriften bei Le Seuil. In der dritten Nummer der Cahiers pour l'analyse, erschienen im Mai 1966, reiht sich Lacan in einer Ant-

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wort an die Studenten deutlich in die strukturalistische Bewe­gung ein: »Die Psychoanalyse als Wissenschaft wird strukturali-stisch bis zu dem Punkt sein, in der Wissenschaft eine Ablehnung des Subjekts anzuerkennen.«14 Der analytische Diskurs soll also der Errichtung einer Wissenschaftstheorie dienen.

Communications Nr. 8 : ein umfangreiches Programm

Das Hauptereignis war jedoch das Erscheinen der achten Num­mer von Communications, die der strukturalen Analyse von Er­zählungen galt und die großen Namen der damaligen Sémiologie versammelt: Roland Barthes, Algirdas Julien Greimas, Claude Brémond, Umberto Eco, Jules Gritti, Violette Morin, Christian Metz, Tzvetan Todorov und Gérard Genette. Mehr als nur eine Ausgabe der Zeitschrift unter anderen, hat sie programmatischen Wert. Nach der Einführung in die strukturale Analyse von Erzäh­lungen aus der Feder von Barthes, der als Gründungsmodell die Linguistik selbst angibt, um die Erzählung in einem strukturalen Raster zu »entchronologisieren« und zu »relogifizieren«, siedelt Greimas das Unternehmen im Schnittpunkt von Semantik und Lévi-Straussscher Mythenanalyse an. Sein Beitrag ist Lévi-Strauss zu Ehren geschrieben, und in einer der Anthropologie komple­mentären Perspektive zielt seine Studie auf die Konstitution von Elementen für eine Theorie der Interpretation der mythischen Er­zählung: »Die Fortschritte, die neuerdings von den mythologi­schen Forschungen, vor allem dank der Arbeiten von Lévi-Strauss, erbracht worden sind, bilden für die semantische Theorie einen bemerkenswerten Beitrag an Materialien und Reflexionsele­menten.«15 Greimas läßt sich also auf Lévi-Strauss' ureigenem Terrain nieder und greift den Bororo-Referenzmythos auf, der dem Rohen und dem Gekochten, dem ersten Band der Mytholo­gien, als Grundlage gedient hatte. Dabei verschiebt er jedoch den analytischen Blickwinkel auf die mythologische Erzählung, die er,

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um ihre Deskriptionsprozeduren zu erläutern, als narrative Ein­heit auffaßt und nicht als Einheit des mythologischen Univer­sums.

Dieses hjelmslevsche Herangehen an das von Lévi-Strauss untersuchte Material zwecks Erfassung seiner immanenten Strukturen stellt allerdings Lévi-Strauss nicht sonderlich zufrie­den, der eine Belehrung in Sachen Stringenz für überflüssig hält, auch von Seiten eines Semantikers vom Range Greimas'. Lévi-Strauss, der ja in seinem Laboratoire d'anthropologie sociale den von Greimas geleiteten Semiotikerstab beherbergte, entläßt die­sen kurz darauf ohne Vorankündigung. Er mag nicht länger eine Gruppe dulden, die beansprucht, es besser zu machen als er, in­dem sie den paradigmatischen, also seinen Ansatz mit Propps syntagmatischer Analyse vereint: »Greimas begriff nicht, daß dies zwei völlig unterschiedliche Sachen waren.«16 Es kam ihm teuer zu stehen. Tatsächlich sind Strukturen bei Lévi-Strauss nicht die Strukturen der Erzählung. Was er untersucht, ist eben nicht die lineare, syntagmatische Verkettung eines Mythos, son­dern er entnimmt diesem hier und da die konstitutiven Elemente einer paradigmatischen Struktur: »Die Struktur des Mythos steht völlig außerhalb der narrativen Form, das ist eine ganz grundle­gende Feststellung.« v

Das zweite große Modell der Erzählanalyse findet sich bei Wladimir Propp und seiner Arbeit über Märchen. Seine 1928 in der Sowjetunion erschienene Morphologie des Märchens wird zur großen Inspirationsquelle der strukturalistischen Methode, be­sonders nachdem sie 1965 auch in Frankreich herausgekommen ist. Lévi-Strauss wird bereits 1960 auf die englische Ausgabe des Buches von 1958 aufmerksam und äußert sich in einem Artikel darüber.18 Lévi-Strauss erläutert Propps Methode, begeistert sich für seine Vorwegnahmen, die er als prophetisch bezeichnet, kriti­siert jedoch die Unterscheidung zwischen Märchen und Mythos, so wie Propp sie definiert. Für Lévi-Strauss ist das Märchen ge­wissermaßen die abgeschwächte Schrumpfform des ursprüngli-

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chen Mythos, und sein für die verschiedensten Permutationen anfälligerer Charakter macht es für die strukturale Analyse weni­ger geeignet als den Mythos. Vor allem jedoch kritisiert Lévi-Strauss Propps Formalismus, dem er das strukturalistische Vorgehen entgegensetzt: »Der Formalismus vernichtet seinen Gegenstand Bei Propp führt er zu der Entdeckung, daß es in Wahrheit nur ein einziges Märchen gibt.«19 Lévi-Strauss wirft dem Formalismus vor, die von Saussure erkannte Komplementa­rität von Signifikant und Signifikat außer acht zu lassen. Ist es Lévi-Strauss also im wesentlichen um eine Methodenkritik zu tun, so hebt er gleichwohl die Bedeutung von Propps Werk her­vor, das innerhalb der literarischen Semiotik ein Denkmuster sein wird.

Propp begegnet dieser Kritik anläßlich der italienischen Aus­gabe seines Buches im Jahre 1966: »Die Morphologie und Die historischen Wurzeln bilden zwei Teile oder zwei Glieder eines großen Werkes.«20 In der Tat berücksichtigen Lévi-Strauss' Ein­wände nicht, daß die Morphologie des Märchens ein Vorspiel zu einer historischen Studie darstellt, die ihre unverzichtbare Ergän­zung bildet; in der Sowjetunion 1946 erschienen, wird diese zweite Arbeit21 in Frankreich geflissentlich ignoriert, erst 1983 wird sie bei Gallimard veröffentlicht — ein Zeichen der vorsätzli­chen Ausschaltung der historischen Herangehensweise während der sechziger Jahre.

Claude Brémond, der bereits 1964 seine in Communications Nr. 4 erschienene Studie über die Erzählbotschaft aus der Propp-schen Methode begründet hatte, greift 1966 dessen Werk aber­mals auf, um die Logik der narrativen Möglichkeiten zu definie­ren: »Ich hatte zunächst die von Frau Jakobson besorgte Übersetzung Wladimir Propps in Händen und fand interessant, daß er die Mechanik der Erzählung von den Personen auf die Funktionen verlagerte. Ich fing dann an, über dieses Verfahren nachzudenken, ohne je in Betracht zu ziehen, daß das, was ich da tat, sich in ein strukturalistisches Projekt einschriebe. Natürlich

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gibt es Strukturen der Erzählung, aber sie stellen nur einfache lo­gische Zwänge oder Übereinkünfte zu dramatischen Zwecken dar. Für mich gibt es da nichts weiter zu suchen.«21 In seinem Beitrag definiert Claude Brémond dann eine Typologie der narra-tiven Elementarformen, die den universellen Kategorien des menschlichen Verhaltens entsprechen. Von dort aus baut er eine mögliche Klassifikation der Erzählungstypen auf, rund um eine Basisreferenzstruktur, die in einem zweiten Schritt einen Prozeß der Komplexifizierung, der Anpassung an diese oder jene räumli­che oder zeitliche Verankerung durchläuft.

Der Beitrag von Umberto Eco läßt einen weiteren Ehrgeiz des strukturalistischen Programms erkennen, nämlich den, alles zu entschlüsseln und folglich den Corpus nicht auf den gängigen Kanon der großen Texte der Literaturgeschichte zu begrenzen. Eco wählt die populären Kriminalromane Flemings, die Buch­reihe 007 mit ihrem Helden James Bond. Bereits im ersten Band der Serie, dem 1953 geschriebenen Casino royale, erkennt er die invariante Matrix aller späteren Bücher, und er fragt nach den Be­weggründen für den populären Erfolg der Heldenfigur James Bond. Anders als die gängige Analyse von Flemings Werken, welche die ideologischen Aspekte aufwertet, zeigt Eco, daß diese vor allem einem rhetorischen Erfordernis gehorchen. Flemings Welt ist eine manichäische Welt, die es sich künstlerisch einfach macht, den Leser zu überzeugen: »Fleming ist nicht Reaktionär, weil er das >böse< Schema mit einem Russen oder einem Juden füllt. Allenfalls ist er reaktionär, weil er mit Schemata arbeitet.«23

Eco verschiebt also die auf Fleming gemünzte Charakterisierung »reaktionär« auf ein bestimmtes Genre, den Spionageroman, der durch seinen inhärenten Dogmatismus in ein unausweichlich re­aktionäres Schemadenken führt.

Auch Todorov nimmt die von den russischen Formalisten vor­genommene Verschiebung zum Ausgangspunkt, um die Katego­rien der literarischen Erzählung nicht anhand einer Untersu­chung der Literatur, sondern der Literarität aufzustellen; es geht

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ihm also nicht um das unmittelbare Erfassen der Werke, sondern um die Virtualitäten des literarischen Diskurses, die jene erst er­möglicht haben : »Auf diese Weise können literarische Studien zu einer Wissenschaft von der Literatur werden.«24

Gérard Genette erkundet die Grenzen der Erzählung von den Definitionen der klassischen Tradition von Aristoteles und Piaton bis zu ihrer Verwendung im zeitgenössischen Romanschreiben bei Philippe Sollers oder Jean Thibaudeau : Diese Autoren machen die Verbrauchtheit der repräsentativen Schreibweise geltend und kündigen vielleicht den endgültigen Auszug aus dem Zeitalter der Repräsentation an. Alle diese Beiträge zusammengenommen bieten ein immenses Forschungsfeld für Literaturwissenschaftler, die sich diese neuen Ausrichtungen zu eigen machen werden, um den herrschenden Diskurs der klassischen Literaturgeschichte anzufechten, und das um so enthusiastischer, als das Projekt zum einen als ein kollektives auftritt und zum anderen die Errichtung einer tatsächlich neuen Wissenschaft zu verheißen scheint.

Les Temps Modernes

Daß auch Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes dem Strukturalis­mus 1966 eine Sondernummer widmet25, ist Zeichen eines Erfolgs sondergleichen. Jean Pouillon, der die Präsentation des Dossiers besorgt, geht von der unbestreitbaren Feststellung aus, daß der Strukturalismus in Mode ist. »Das Schlimme an der Mode ist, daß man ihr auch dann noch nachgibt, wenn man sie kritisiert.«26 Er definiert das strukturalistische Phänomen als Ausdruck zweier großer Ideen : der Totalität und der Interdependenz, das heißt der Erforschung der Beziehungen zwischen verschiedenen Termini, die einander nicht trotz, sondern kraft ihrer Differenzen zugeord­net sind. Der Strukturalismus bestehe also darin, »die Relationen zu suchen, die den Termini, welche sie zusammenspannen, einen Stellenwert in einem organisierten Ganzen geben«27. Marc Barbut

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geht der Bedeutung des Wortes »Struktur« in der Mathematik nach und erinnert an Lévi-Strauss' analogische Anwendung des Vierklassensystems in seiner Analyse des Verwandtschaftssy­stems der Kariera.

Greimas analysiert das Verhältnis von »Struktur und Ge­schichte«, um zu unterstreichen, daß die Saussuresche Dichoto­mie zwischen Diachronie und Synchronie keine Relevanz habe, und ihr die Hjelmslevsche Konzeption der Struktur als eines achronischen Mechanismus entgegenzuhalten. Er begegnet auf diese Weise dem gegen den Strukturalismus erhobenen Vorwurf des Ahistorizismus und erinnert an Fernand Braudels Entkoppe­lung der Zeit in drei Zeitlichkeiten: strukturell, konjunkturell und ereignishaft, in der er einen Reflexionsansatz und den Ver­such der Historiker zur Integration der Struktur begrüßt, ohne indes dessen Umsetzung zuzustimmen: »Eine solche Konzep­tion hält der Überprüfung leider nicht ganz stand. [...] In erster Linie ist nicht einsichtig, wie die Gleichung zu begründen wäre, die postuliert, daß das, was länger anhält, wesentlicher sei als das, was von kurzer Dauer ist.«28 Für einen Strukturalisten siedelt sich Greimas zufolge alles auf der Ebene des metasprachlichen Modells an, und in einer solchen Perspektive ist die historische Dimension auf eine Rolle im »Hintergrund«29 verwiesen.

In derselben Ausgabe der Temps Modernes behauptet Maurice Godelier die Triftigkeit der Filiation zwischen Marx und dem Strukturalismus. Marx »kündigt die moderne strukturalistische Strömung an«30. Ausgehend vom Werk Lévi-Strauss', wird Marx somit aus drei Gründen als der wahre Vordenker des struktura-listischen Paradigmas aufgefaßt : Er hat es ermöglicht, die sichtba­ren gesellschaftlichen Verhältnisse von ihrer verborgenen Logik zu trennen; er hat den Historizismus verworfen, um der Struktur­untersuchung den Vorrang zu geben; und er hat schließlich den Widerspruch ausdifferenziert, indem er ihn nicht innerhalb ein und derselben Struktur ansiedelte, sondern zwischen »zwei nicht aufeinander rückführbaren Strukturen, den Produktivkräften

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und den Produktionsverhältnissen«31. Pierre Bourdieu erörtert die Grundlagen für eine Soziologie des intellektuellen Denkens und des künstlerischen Schaffens, die mit Hilfe einer strengen strukturalen Methode den traditionellen Gegensatz zwischen in­terner und externer Ästhetik überwinden soll: »Das intellektu­elle Feld ist mit einer relativen Autonomie versehen und gestattet deshalb die methodologische Verselbständigung, welche die strukturale Methode vornimmt, wenn sie das intellektuelle Feld als ein von seinen eigenen Gesetzen gesteuertes System behan­delt.« 32

Aléthéia

Auch die Zeitschrift Aléthéia widmet dem Strukturalismus mit ihrer Februarausgabe eine Sondernummer. Darin findet man er­neut einen Artikel von Maurice Godelier zum Widerspruch so­wie einen Artikel von Lévi-Strauss über die wissenschaftlichen Kriterien in den sozialen und humanen Disziplinen. Kostas Axe-los schreibt über Lucien Sebags Versuch der Versöhnung von Marxismus und Strukturalismus, Georges Lapassade über Hegel. In einem Gespräch stellt Roland Barthes den Strukturalismus als Möglichkeit vor, »die alten — oder noch konkurrierenden — Wis­sensweisen zu entfetischisieren«33.

Esprit

Die Zeitschrift Esprit, die 1963 eine Ausgabe der Diskussion der Thesen von Lévi-Strauss gewidmet hat, veranstaltet im Dezem­ber 1966 einen Kongreß, dessen Ertrag wenig später, im Mai 1967, in einer Sondernummer zum Strukturalismus veröffentlicht wird.34 Esprit bietet seinen Lesern einen recht vollständigen Überblick. Jean-Marie Domenach betrachtet das strukturalisti-

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sehe Phänomen als ein Unterfangen der Destabilisierung der Ter­mini, von denen die Philosophie bislang zehrte, insbesondere was den Stellenwert des Bewußtseins betrifft. Wie aber verträgt sich diese Infragestellung von seiten Linker, die gegen die Grund­lagen des etablierten Systems angehen, mit ihrem politischen Kampf; denn wenn die Menschen von einem Zwangssystem be­wegt werden, ohne ein Stück autonomes Bewußtsein erringen zu können, in wessen Namen können sie dann ihre Anfechtung fortführen? Das strukturalistische Phänomen ist komplex und widerspruchsvoll, was die Begeisterung erklärt, die ihm begeg­net: »Der Strukturalismus hat zwei Seiten: Die eine drückt die epistemologische Anmaßung unserer Epoche aus, und die andere spricht von der Angst vor einer Abwesenheit, der erneuten Her-aufkunft der Nacht.«35

Wieder sind es der Tod des Menschen und seine Auflösung in den Strukturen, die in der Zeitschrift Esprit Widerspruch und Kritik herausfordern. Auf der einen Seite stellt Mikel Dufrenne den Neopositivismus, der in Frankreich, das den angelsächsi­schen logischen Positivismus mit Verspätung entdeckt und ihn auf seine eigene Weise interpretiert, fröhliche Urständ feiert, mit dem Antihumanismus auf eine Ebene : »Die zeitgenössische Phi­losophie schreit: Schande über den Menschen!«36 Auf der ande­ren Seite erkennt Paul Ricœur an, daß die Einnahme des struktu-ralen Standpunkts den Zugriff auf Wissenschaftlichkeit gewährt, wobei allerdings für diesen Zugewinn der hohe Preis zweier we­sentlicher Ausschlüsse zu entrichten ist, nämlich des Sprechaktes — jener parole, die Saussure aus der Untersuchung der langue ausgeklammert hat — und der Geschichte. Er setzt sich für eine Überwindung dieser Verstümmelung ein, ohne indes in die Verir-rungen des Mentalismus oder des Psychologismus zurückzufal­len, so daß also »die Sprache denken bedeutet [...], die Einheit ge­nau dessen zu denken, was Saussure getrennt hat : die Einheit der Sprache {langue) und des Sprechens (parole).«37

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Sartre gibt seine Zurückhaltung auf

Die überschwengliche Leidenschaft für den Strukturalismus läßt Jean-Paul Sartre verstummen, obwohl jeder neue Verlagserfolg die Fundamente seiner existentialistischen Philosophie weiter erschüttert. 1966 veranlaßt ihn das Ausufern des Strukturalis­mus, sein Schweigen zu brechen. Soeben hat ihn Foucault, auf dem Gipfel des Ruhms, ins Musée Grévin der Philosophen des 19. Jahrhunderts abgestellt. Das Maß ist voll : Sartre beschließt, sich zu Wort zu melden und anläßlich einer Sondernummer, die ihm die Zeitschrift L'Arc im Herbst 1966 widmet38, den Kampf aufzunehmen. Bernard Pingaud leitet das Dossier mit der Fest­stellung des radikalen Wandels innerhalb der letzten fünfzehn Jahre ein, in denen man das Zurücktreten der Philosophie zu­gunsten der Humanwissenschaften erlebte : »Man spricht nicht mehr vom Bewußtsein oder vom Subjekt, sondern von Regeln, von Codes, von Systemen; man sagt nicht mehr, daß der Mensch Sinn macht, sondern daß der Sinn dem Menschen zufällt; man ist nicht mehr Existentialist, sondern Strukturalist.«39 Jean-Paul Sartre beantwortet Bernard Pingauds Fragen, und der polemi­sche Ton seiner Einlassungen verrät den angestauten Zorn des Philosophen und seine schwierige Lage. Dem großen Erfolg des Jahres 1966, Michel Foucaults Ordnung der Dinge, hält er entge­gen: »der Erfolg seines Buches beweist zur Genüge, daß man es erwartete : Ein wahrhaft originelles Denken wird aber nie erwar­tet. Foucault liefert den Leuten, was sie brauchen : eine eklekti­sche Synthese, in der Robbe-Grillet, der Strukturalismus, die Linguistik, Lacan, Tel Quel reihum dazu benutzt werden, die Unmöglichkeit einer historischen Reflexion nachzuweisen. Hin­ter der Geschichte wird selbstverständlich auf den Marxismus gezielt. Es handelt sich darum, eine neue Ideologie zu schaffen, das letzte Bollwerk, das die Bourgeoisie noch gegen Marx er­richten kann.«40

Nach diesem etwas enggeführten Sturmangriff wägt Sartre

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seine Worte ab und erläutert, daß er die strukturalistische Me­thode nicht in Bausch und Bogen ablehne, vorausgesetzt, sie bleibe sich ihrer Grenzen bewußt. Auch wenn für Sartre das Den­ken sich nicht auf die Sprache verkürzt, bildet diese doch einen Grundbestandteil seiner Philosophie, der einem konstitutiven Element des Praktisch-Trägen entspricht. Findet Lévi-Strauss' Werk in Sartres Augen Gnade, so erwidert er nichtsdestoweniger die im Wilden Denken gegen ihn geführte Polemik, indem er be­merkt, daß »der Strukturalismus, so wie ihn Lévi-Strauss versteht und praktiziert, [...] sehr viel zur heutigen Diskreditierung der Geschichte beigetragen«41 hat. Lacan ist für Sartre insofern voll­auf am Strukturalismus beteiligt, als seine Dezentrierung des Subjekts mit der nämlichen Diskreditierung der Geschichte ver­bunden ist : »Wenn es keine Praxis mehr gibt, kann es auch kein Subjekt mehr geben. Was sagen uns Lacan und die Psychoanalyti­ker, die sich auf ihn berufen? Der Mensch denkt nicht, er wird gedacht, so wie er für gewisse Linguisten gesprochen wird.«42 In­des erkennt er in Lacans Äußerungen die Freudsche Filiation an, denn der dem Subjekt angewiesene Status war bereits bei Freud zweideutig, und die psychoanalytische Therapie setzt grund­sätzlich voraus, daß der Patient sich »handeln läßt«, indem er sich seinen freien Assoziationen hingibt. Die gleiche Kritik des Ahi-storizismus adressiert er an Althusser, der das System {concept) in seiner Unzeitlichkeit privilegiert zu Lasten des Begriffs {notion), ohne den »ständigen Widerspruch zwischen der praktisch-trägen Struktur und dem Menschen, der entdeckt, daß er von ihr be­dingt ist«43, wahrzunehmen.

Schließlich bezieht Sartre diese Explosion der Humanwissen­schaften auf einen amerikanischen Import zurück; sie sei die ideologische Anpassung an eine technokratische Zivilisation, in der es für die Philosophie keinen Platz mehr gibt: »Schauen Sie, was in den USA vor sich geht : die Philosophie ist durch die Hu­manwissenschaften ersetzt worden.«44 Man versteht, in welchem Maße diese Einschätzung im Jahre 1966, als Johnsons Β 52 täglich

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Nordvietnam bombardieren, für die strukturalistischen Muske­tiere eine Schmähung sein mußte.

Die Angelegenheit erregt übrigens großes Aufsehen, denn es wurde erwartet, daß Sartre seinen Standpunkt zu den verschiede­nen Infragestellungen seiner Philosophie seit Beginn der sechziger Jahre darlegt. Le Figaro littéraire bauscht die Sache auf und titelt: »Lacan richtet Sartre«. Lacan stellt sich einem Gespräch, in dem er Sartres Stellungnahme ironisiert und relativiert: »Ich situiere mich überhaupt nicht in bezug auf ihn.«45 Lacans Verteidigungslinie besteht darin, die Bezugnahme auf irgendeine, wie auch immer einheitliche strukturalistische Gruppe abzustreiten: »Wer wird denn glauben, daß wir uns abgesprochen haben?«46 Doch es geht nicht um ein Komplott, sondern um eine Ideendebatte, und Jean-François Revel, der in seinen Kolumnen im Express als bissiger Kritiker der strukturalistischen Thesen auftritt, überschreibt seine Besprechung des ^Ire-Dossiers zu Sartre mit: »Sartre zur Stich­wahl«. Er erinnert auch an den »von seinen Töchtern verleugne­ten, ausgeplünderten König Lear«47 und erweitert die von Sartre wahrgenommene Analogie zwischen dem Aufkommen einer technischen Struktur und dem Erfolg einer antihistorischen und subjektnegierenden Doktrin um eine politische Entsprechung zum Gaullismus, wo der französische Staatsbürger »gesprochen wird«, da sich seine Rolle darauf beschränkt zu lauschen, wie der General bei seinen berüchtigten Pressekonferenzen das Wort Frankreichs verkörpert.

Der Strukturalismus jenseits des Atlantiks

1966 ist auch das Jahr der großen Begegnungen, Symposien und Kolloquien. Das Schloß von Cerisy bleibt eine Hochburg der in­tellektuellen Tätigkeit und beherbergt ein Kolloquium über »Die aktuellen Wege der Kritik«, dessen Beiträge 1968 bei Plön er­scheinen.

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An den Ufern des Lac Léman wird im September 1966 in Genf ein französischsprachiger Philosophiekongreß zum Thema Spra­che abgehalten, bei dem sich die Diskussionen auf die Referate von Emile Benveniste und Mircea Eliade konzentrieren. Die da­maligen französischen Aktivitäten erwecken allmählich auch au­ßerhalb Europas Interesse: In den Vereinigten Staaten wird im Oktober 1966 unter den Auspizien des humanwissenschaftlichen Zentrums der John Hopkins University eine große strukturalisti-sche Zeremonie organisiert. Zum ersten Mal überquert der Struk­turalismus den Atlantik, um die Neue Welt zu gewinnen. Die Amerikaner nehmen das Phänomen des kritischen Denkens in Frankreich zu Recht als ein interdisziplinäres wahr und laden Vertreter der verschiedenen Human Wissenschaften ein48: Lucien Goldmann und Georges Poulet sollen die literarische Kritik sozio­logischen Typs repräsentieren, Roland Barthes, Tzvetan Todorov und Nicolas Ruwet als Vertreter der literarischen Sémiologie auf­treten, Jacques Derrida als Philosoph aufgrund seiner Ende 1965 in der Zeitschrift Critique veröffentlichten Arbeit über Saussure und Lévi-Strauss49, Jean-Pierre Vernant aufgrund seiner histori­schen Anthropologie des alten Griechenland und Jacques Lacan aufgrund seiner Neulektüre Freuds. Die Beiträge des Symposions kommen einige Jahre später in den Vereinigten Staaten in Buch­form heraus.50

Roland Barthes gastiert hier selbstverständlich als einer der Hauptstars der Epopöe, die sich in Frankreich abspielt. Er spricht über die Verdrängung der Rhetorik im 19. Jahrhundert und ihre Ersetzung durch den Positivismus, der die Geschicke der Litera­tur und der Sprachtheorie dauerhaft voneinander getrennt hat. Auf diesem Umweg demonstriert er die historische Verwurze­lung des wiedergewonnenen Interesses an einer Reflexion über die Sprache und verdeutlicht die neue, objektivierte Verbindung zwischen Literatur und Linguistik, die er als Semio-Kritik be­zeichnet und die auf der Schrift als Zeichensystem beruht. Er nennt die neuen Grenzen, zu denen es in der Erforschung der

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Sprache anhand der modernen Symbiose von Linguistik, Psycho­analyse und Literatur vorzustoßen gilt, die der Strukturalismus verwirklicht.

Jean-Pierre Vernant referiert über »Die griechische Tragödie : Interpretationsprobleme« und zeigt, daß man die Tragödie nicht verstehen kann, ohne den Kontext heranzuziehen, »Kontext« in­des nicht im klassischen Sinn des Terminus: »Was ich Kontext nenne, liegt nicht außerhalb des Textes, sondern unter dem Text. In der Lektüre des Textes selbst, in seinem Entziffern wird man aufgrund der semantischen Felder gewahr, daß man gezwungen ist, Elemente zum Zuge kommen zu lassen, die außerhalb der Tragödie stehen und sie speisen.«51 Vernant insistiert auf der Notwendigkeit, vom Text in seiner internen Struktur, in seiner In-sich-Geschlossenheit auszugehen, unter der Bedingung je­doch, daß man zutage fördert, was er an verbalen, semantischen und ideologischen Spielen bedeckt, die der tragischen Rede die spezifischen Wirkungen verleihen.

In Baltimore begegnet Vernant erstmals Lacan persönlich. Eine folgenlose Begegnung, auch wenn Vernant, als er kurz dar­auf die Ferien auf der Belle-Ile verbringt, zu seiner Verblüffung drei Lacanianer auf sich zukommen sieht, die ihm erklären, er müsse dem Seminar des Meisters beiwohnen: »Sie setzten mir auseinander, daß ich in Wirklichkeit, ohne es zu wissen, das glei­che mache wie Lacan. Was ja wohl beweise, daß ich eine gute Psy­choanalyse brauchte. Ich antwortete ihnen, dazu sei es ein wenig zu spät, aber sie sagten mir nochmals, daß Lacan sehr an meiner Arbeit interessiert sei und sie aufmerksam verfolge.«52 Lacan, dessen Diskurs schon in seiner Muttersprache schwer zu verste­hen war, bestand darauf, sich in Baltimore auf englisch zu äußern, obwohl er die Sprache nicht beherrschte, was die Hermetik seiner Einlassung noch verschärfte, die freilich dessen ungeachtet als Rede des großen Gurus des Strukturalismus aufgenommen wurde.

Das Lichtjahr 1966 : IL Faszination Foucault

Wir wir gesehen haben, ist das editorische Ereignis des Jahres, der größte Verkaufsschlager des Sommers unstreitig Die Ord­nung der Dinge von Michel Foucault. Wenn Sartre hat sagen kön­nen, dieses Werk sei erwartet worden, so hat der Erfolg Heraus­geber Pierre Nora und den Autor jedenfalls überrascht, denn die erste Auflage war bescheiden: dreitausendfünfhundert Exem­plare, die rasch vergriffen waren. Nach Erscheinen des Buches im April 1966 mußten bereits im Juni fünftausend Exemplare nach­gedruckt werden, dann dreitausend im Juli und noch einmal drei­tausendfünfhundert im September. Foucault wird von der struk-turalistischen Welle getragen, und sein Buch erscheint als die philosophische Synthese der seit rund fünfzehn Jahren geführten neuen Reflexion. Hat der Autor später das Etikett des Struktura­lismus von sich gewiesen und es als Schmähung gewertet, so sie­delt er sich doch 1966 mit Nachdruck im Kern des Phänomens an: »Der Strukturalismus ist keine neue Methode, er ist das er­wachte und unruhige Bewußtsein des modernen Wissens.«1

Als Pierre Dumayet ihn zur damaligen großen literarischen Fernsehsendung »Lectures pour tous« einlädt, äußert er sich im Namen eines »Wir«, das einen kollektiven Bruch begründet und mit dem er sich auf die Seite von Lévi-Strauss und Dumézil schlägt, während er das Werk Sartres in die Ferne rückt, »der noch ein Mensch des 19. Jahrhunderts ist, da sein ganzes Unter­fangen darauf zielt, den Menschen seiner eigenen Bedeutung ad­äquat zu machen«2. Die Auskünfte, die er Pierre Dumayet gibt, um sein Werk dem breiten Fernsehpublikum zu erklären, sind ganz dem neuen Strukturalistischen Ehrgeiz verpflichtet. Fou-

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cault behauptet hier das Verschwinden der Philosophie und ihre Ausstreuung in andere Tätigkeiten des Denkens : »Wir treten in ein Zeitalter ein, das vielleicht das des reinen Denkens, des Den­kens in actu ist, und eine so abstrakte und allgemeine Disziplin wie die Linguistik, eine so fundamentale wie die Logik oder auch die Literatur seit Joyce sind Aktivitäten des Denkens. Sie vertre­ten die Philosophie ; nicht, daß sie den Platz der Philosophie ein­nähmen, aber sie sind die Entfaltung dessen, was früher die Phi­losophie war.«3

Sein Projekt einer Archäologie der Humanwissenschaften (ur­sprünglich sollte das Buch den Untertitel »Archéologie du struc­turalisme« bekommen) wird von Foucault in dieser Sendung als Ausdruck der Absicht definiert, unsere Kultur in einer Position der Fremdheit erscheinen zu lassen, ähnlich der Art, wie wir die von Lévi-Strauss beschriebenen Nambikwara sehen. Es handelt sich demnach mitnichten darum, die kontinuierlichen Entfal­tungslinien eines Denkens in einer beständigen und evolutionä­ren Logik nachzuziehen, sondern vielmehr die Diskontinuitäten aufzuspüren, die bewirken, daß unsere vergangene Kultur uns in einer wiederhergestellten Distanz als fundamental anders, uns selbst fremd erscheint : »Diese ethnologische Situation habe ich rekonstituieren wollen.«4 Foucault wendet sich gegen jeden Ver­such der Identifikation mit der ephemeren Figur des Menschen, die zugleich neu und dem baldigen Verschwinden geweiht ist. Gott ist tot, und der Mensch folgt ihm auf dem Weg eines unaus­weichlichen Verschwindens, an dem namentlich die Wissenschaf­ten arbeiten, die sich auf seine Existenz berufen: »Paradoxer­weise lädt uns die Entwicklung der Humanwissenschaften weniger zu einer Apotheose als vielmehr zu einem Verschwinden des Menschen ein.«5

Es ist offenkundig gerade dieser Tod des Menschen, der die Epoche fasziniert, und die Zahl derer, die zum Leichenzug drän­gen, ist groß. Die aufeinanderfolgenden Negierungen des Sub­jekts in der Saussureschen Linguistik, in der strukturalen Anthro-

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pologie und in der Lacanschen Psychoanalyse haben nun in Fou­cault denjenigen gefunden, der diese Figur in den Kernbereich der Geschichte der abendländischen Kultur wiedereinsetzt als Abwesenheit, als Mangel, um den herum sich die Episteme ent­falten.

Der Foucault-Effekt

Der Empfang ist entsprechend der Bedeutung des Ereignisses emphatisch. Jean Lacroix begrüßt Foucaults Werk in Le Monde als »eines der wichtigsten unserer Zeit«6; »ein eindrucksvolles Werk«7, echot Robert Kanters im Figaro. François Châtelet rühmt das Ereignis als Philosoph in der Quinzaine littéraire. Aus der Lektüre von Foucaults Arbeit erwachse ein »radikal neuer Blick auf die Vergangenheit der abendländischen Kultur und eine luzidere Auffassung von der Wirrnis ihrer Gegenwart«8. Im Ex­press eröffnet Madeleine Chapsal einen langen, dreiseitigen Arti­kel mit der vielsagenden Überschrift: »Die größte Revolution seit dem Existentialismus«9. Und im Nouvel Observateur be­spricht Gilles Deleuze ebenfalls auf drei Seiten Foucaults Buch: »Foucaults Gedanke: Die Wissenschaften vom Menschen haben sich mitnichten konstituiert, als der Mensch sich zum Objekt der Repräsentation genommen hat, und auch nicht, als er sich eine Geschichte entdeckt hat — im Gegenteil, in diesem Augenblick hat er sich enthistorisiert.«10

Foucault ist selbstredend vielbegehrter Gewährsmann für die­sen Tod des Menschen, für den ihm die gesamte Presse generös die Urheberschaft zuspricht. Auf die Frage, wann er aufgehört habe, an den Sinn zu glauben, die ihm während eines von der Quinzaine littéraire vermittelten Gesprächs gestellt wurde, ant­wortet Foucault : »Der Bruch vollzog sich an dem Tag, als Lévi-Strauss für die Gesellschaft und Lacan für das Unbewußte zeigten, daß der >Sinn< vermutlich nichts als eine Art Oberflä-

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chenwirkung, eine Spiegelung, ein Schaum sei; daß das, was uns im Tiefsten durchdringt, was vor uns da ist, was uns in der Zeit und im Raum hält, eben das System ist.« n Raymond Bellour un­terstützt Foucaults Thesen, wohingegen die Reaktion seiner Par­tei (der KPF) weit zurückhaltender ausfallen wird; doch Bellour genießt eine gewisse Autonomie in den Lettres françaises, wo ein Gespräch mit Foucault erscheint. Er sieht in Foucault den Weg­bereiter einer Revolution im Bereich der Ideengeschichte, wenn dieser die logische Totalität der Begriffe einer Epoche restituiert und in die Rumpelkammer der Geschichte wirft, was auf diesem Gebiet bislang für die Bibel galt — der berühmte »Hazard« und seine Crise de la conscience européenne. Scharfsichtig bemerkt Raymond Bellour hinter dem Philosophen den Schriftsteller und blendenden Stilisten : »Diese Epoche wird noch sehen, daß hinter dem Sinnentschlüßler ein neuer Typ Schriftsteller geboren wor­den ist.« u

Bei seinen zahlreichen Einlassungen im Jahre 1966 hört Fou­cault nicht auf, Sartre ins 19. Jahrhundert zu verbannen und sich entschlossen auf die Seite von Lévi-Strauss, Dumézil, Lacan und Althusser zu stellen, also in die Modernität des 20. Jahrhunderts. Didier Eribons Einschätzung, »es hat den Anschein, daß sich Foucault geradezu spielend in der >strukturalistischen< Galaxie ansiedelt«13, ist völlig berechtigt, auch wenn es sich um einen sehr eigenwilligen Strukturalismus handelt, denn Foucaults Struktu­ralismus ist nicht auf die Existenz von Strukturen gegründet. Es ist »ein Strukturalismus ohne Strukturen«14, was François Ewald zu der Aussage veranlaßt, daß Foucault niemals Strukturalist ge­wesen sei und sein Projekt es sogar darauf abgesehen habe, gegen die Strukturidee und damit gegen den Strukturalismus zu Felde zu ziehen : »Die Struktur ist eine der Formen des großen histori­schen Subjekts, der großen Identität, die sich durch die Ge­schichte hindurchzieht, während Foucault sehr deutlich erklärt, daß es eben das ist, was er zerstören will.«15 Diese inwendige Spannung, die der Foucault des Jahres 1966 noch nicht spürt,

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rührt aus der zwiespältigen Position eines Philosophen, der sich im Kern der Sozialwissenschaften ansiedelt, um sie von innen zu unterwandern. Doch weit entfernt, eine Anfechtung des struktu-ralistischen Phänomens zu sein, hat diese Position vielmehr in ihm selbst ihre Ursache, selbst wenn Foucault den Szientismus der anderen Vertreter der Bewegung, die nach einer Legitimie­rung ihrer Disziplin suchen, nicht teilt.

Der Mensch : eine transitorische und ephemere Figur

Die Ordnung der Dinge ist vor allem der Arbeit von Georges Canguilhem verpflichtet. Foucault faßt darin auf gleiche Weise die Geschichte der Wissenschaft von den Diskontinuitäten und von der nietzscheanischen Dekonstruktion der etablierten Diszi­plinen her ins Auge. Dieser nietzscheanische Ausgangspunkt von Foucaults Vorgehen findet sich in einer radikalen Zurückweisung des Humanismus wieder. Der Mensch als Subjekt seiner Ge­schichte, handelnd und sich seines Handelns bewußt, verschwin­det. Seine Figur erscheint erst zu einem neueren Datum, und seine Entdeckung kündigt sein baldiges Ende an. Seine zentrale Stellung im abendländischen Denken ist bloße Illusion, welche die Untersuchung der vielfältigen Bedingungen, denen er unter­liegt, zerstreut. So wird der Mensch aus dem Zentrum gerückt, zurückgeschlagen an den Rand der Dinge, unter Einflüssen so sehr, daß er sich im Schaum der Tage verliert : »Der Mensch [ist] [...] wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimmter Riß in der Ordnung der Dinge. [...] Der Mensch [ist] lediglich eine junge Er­findung, eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt, eine einfache Falte in unserem Wissen [...].«16 Foucault bemüht sich also, das Aufkommen jener Illusion historisch zu fassen, die der Mensch sei, der in dieser Welt erst im 19. Jahrhundert geboren worden wäre. Was im Zeitalter der Griechen existierte, waren die Götter, die Natur, der Kosmos ; für ein Denken des verantwortli-

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chen Subjekts gab es keinen Platz. In der platonischen Problema­tik ist der Fehler einem Irrtum im Urteil oder dem Unwissen an­zurechnen, nicht aber individueller Verantwortlichkeit.

Ebensowenig hat der Mensch in der klassischen Episteme ei­nen Platz. Weder der Humanismus der Renaissance noch der Ra­tionalismus der Klassiker haben den Menschen denken können. Man mußte auf eine Verwerfung in der Konfiguration des Wis­sens warten, damit der Mensch in den Mittelpunkt des Wissens­feldes gelangte. So hat die abendländische Kultur dem Menschen die schönste Rolle zugeteilt : Er erscheint an zentraler Stelle, der des Königs der Schöpfung, des absoluten Bezugspunktes aller Dinge. Diese Fetischisierung äußert sich vornehmlich in einer philosophischen Form, durch das cartesische Ego, welches das Subjekt als Substanz, als Gefäß von Wahrheiten einführt. Sie kehrt die Problematik von Irrtum und Fehler, wie sie in der An­tike und noch in der mittelalterlichen Scholastik funktionierte, um : »Die Unterordnung verkehrt sich, und es ist das Schema des Irrtums, das in Abhängigkeit zu dem des Fehlers tritt: sich täu­schen [...] heißt, aus freien Stücken mit den Mitteln seines freien und unendlichen Willens Sinninhalte des Verstandes zu behaup­ten, die verworren bleiben.«17 Gleichwohl hat, wie Foucault in Anlehnung an Freud bemerkt, dieser Mensch in der Geschichte des abendländischen Denkens verschiedene narzißtische Krän­kungen erfahren. Wenn Kopernikus entdeckt, daß die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht, revolutioniert er das Den­ken und verlagert die ursprüngliche Souveränität des Menschen. Wenn danach Darwin entdeckt, daß der Mensch vom Affen ab­stammt, scheint der Mensch eine bloße Episode einer biologi­schen Abfolge zu sein, die über ihn hinweggeht. Dann entdeckt Freud, daß der Mensch sich nicht allein erkennen kann, daß er nicht völlig bewußt ist und sich unter der Bestimmung eines Un­bewußten verhält, zu dem er keinen Zugang hat und das gleich­wohl sein Tun und Handeln intelligibel macht.

Der Mensch hat sich also etappenweise seiner Attribute ent-

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eignet gesehen, aber er hat sich diese Brüche im Feld des Wissens wieder angeeignet, um sie zu Instrumenten der Wiedererrichtung seiner Herrschaft zu machen. Auf diese Weise erschien er im 19. Jahrhundert in seiner Nacktheit, im Zusammenfluß von drei Wissensformen: als konkreter, wahrnehmbarer Gegenstand mit dem Auftauchen der Philologie von Propp, als der einer politi­schen Ökonomie mit Smith und Ricardo und der einer Biologie mit Lamarck und Cuvier. So erschien die einzigartige Figur eines lebenden, sprechenden und arbeitenden Subjekts. Der Mensch wäre also aus einer dreifachen Resultante geboren, indem er in den neuen Wissensformen den zentralen Platz einnahm als eine Figur, die diesen Erkenntnisdispositiven verpflichtet und deren gemeinsamens Signifikat ist. Somit gewann er neuerlich eine sou­veräne Stellung gegenüber der Natur. Die Astronomie hat die Physik ermöglicht, die Biologie hat die Medizin ermöglicht, das Unbewußte hat die Psychoanalyse ermöglicht. Doch diese Sou­veränität ist für Foucault gleichermaßen jung, dem Verschwinden geweiht und illusorisch. Auf den Spuren Freuds, der das Unbe­wußte in den Praktiken des Individuums entdeckt hat, und Lévi-Strauss', der sich um das Unbewußte der kollektiven Praktiken der Gesellschaft bemüht, begibt sich Foucault auf die Suche nach dem Unbewußten der Wissenschaften, die von unserem Bewußt­sein bewohnt scheinen.

So sieht die kopernikanische Wende aus, die er vollziehen möchte, um den Humanismus zu entmystifizieren, der für ihn die große Perversion unserer zeitgenössischen Periode darstellt: »Unser Mittelalter der Moderne ist der Humanismus.«18 Die wichtigste Rolle der Philosophie besteht laut Foucault daher darin, das epistemologische Hindernis auszuräumen, das die dem Cogito, dem Subjekt als Bewußtsein und Substanz zugebilligten Privilegien bilden. Foucault errichtet eine vollständige Theorie für die Konstitution eines philosophischen Geflechts, das die ver­schiedenen Semiotiken, alle mit dem Text als Kardinalpunkt, mit­einander verbindet und den Menschen mit einem Netz über-

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zieht, das ihn gegen seinen Willen auflöst: »Schluß machen mit dem alten Philosophem menschlicher Natur, mit diesem abstrak­ten Menschen.«19 So sieht Foucaults Perspektive aus. Sie trifft sich mit der von Lévi-Strauss : »Die Welt hat ohne den Menschen begonnen, und sie wird ohne ihn enden.«20 Foucault erweist im übrigen Lévi-Strauss seine Referenz, wenn dieser mit Hilfe der Ethnologie den Menschen aufzulösen und alle seine Versuche zu Positivität sukzessive auseinanderzunehmen erlaubt. Ethnologie und Psychoanalyse nehmen einen privilegierten Platz im moder­nen Wissen ein, stellt Foucault fest: »Man kann von beiden sa­gen, was Lévi-Strauss von der Ethnologie sagt : daß sie den Men­schen auflösen.«21

Diese Todesanzeige, deren Parabel Foucault ausgearbeitet hat, mag sich zur Stunde der Explosion der Humanwissenschaften paradox ausnehmen, doch Foucault betrachtet die Psychoanalyse und die Ethnologie als »Gegenwissenschaften«22 ; und diese Auf­wertung schließt an das strukturalistische Paradigma an, das sie als maßgebliche Schlüssel moderner Intelligibilität angesehen hat. Die strukturale Revolution ist in dieser Hinsicht »Hüterin der Abwesenheit des Menschen«23.

Von den vielfältigen, diskontinuierlichen Zeitlichkeiten

Diese Dezentrierung, wenn nicht Auflösung des Menschen indu­ziert ein anderes Verhältnis zur Zeitlichkeit, zur Geschichtlich­keit, nämlich deren Pluralisierung und Stillstellung, sowie eine Verschiebung des Blicks auf die äußeren Bedingungen, von denen die menschlichen Praktiken bestimmt werden: »Wird die Ge­schichte des Menschen mehr sein als eine Art gemeinsamer Mo­dulation der Veränderungen in den Lebensbedingungen (Kli-mate, Fruchtbarkeit des Bodens, Anbauweisen, Erschließung der Reichtümer), der Transformationen der Ökonomie (und infolge­dessen der Gesellschaft und der Institutionen) und der Aufein-

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anderfolge der Formen und Gebrauchsweisen der Sprache ? Dann aber ist der Mensch nicht selber historisch : die Zeit kommt ihm von woanders her als von ihm selbst [...].«24 Der Mensch unter­liegt also vielfältigen Zeitlichkeiten, die ihm entgehen; in diesem Rahmen kann er nicht Subjekt sein, sondern nur Objekt ihm äu­ßerlicher Ereignisse. Damit ist das Bewußtsein der blinde Fleck des Denkens. Das Ungedachte ist nicht am Grund des menschli­chen Bewußtseins zu suchen, es ist in Beziehung zum Menschen das Andere, ihm zugleich innerlich und äußerlich, neben ihm, ir-reduzibel und unfaßbar »in einer zufluchtlosen Dualität«25. Der Mensch artikuliert sich am Schon-Begonnenen des Lebens, der Arbeit und der Sprache und findet daher die Zugangswege zu dem verschlossen, was sein Ursprung, seine Heraufkunft wäre.

Für Foucault siedelt genau dort die Modernität, in der Aner­kennung dieser Ohnmacht und der Illusion, die der Theologie vom Menschen im Cartesischen Cogito innewohnt. Nachdem er den Fetisch unserer Kultur vom Sockel gestoßen hat, nimmt sich Foucault den Historizismus, die Geschichte als Totalität, als stän­dige Referenz vor. Die Geschichte ist für Foucault nicht mehr Beschreibung einer Evolution — eine der Biologie entlehnte Vor­stellung — noch Feststellung eines Fortschritts — eine ethisch­moralische Vorstellung —, sondern die Analyse der vielfältigen Transformationen, die vonstatten gehen, die Bestandsaufnahme der Diskontinuitäten als lauter momentaner Blitzlichter. Der Umsturz der historischen Kontinuität ist das notwendige Korol-lar zur Dezentrierung des Subjekts: »Der Mensch hat keine Ge­schichte mehr oder vielmehr : da er spricht, arbeitet und lebt, fin­det er sich in seinem eigentlichen Sein völlig mit Geschichten verflochten, die ihm weder völlig homogen noch untergeordnet sind. [...] Der Mensch, der am Anfang des neunzehnten Jahrhun­derts erscheint, [ist] >enthistorisiert<.«26 Das Selbstbewußtsein löst sich auf im Objekt-Diskurs, in der Vielfältigkeit heterogener Geschichten.

Foucault schreitet zu einer Dekonstruktion der Geschichte

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nach Art des Kubismus, zu ihrer Zersprengung in eine enthu­manisierte Konstellation. Die zeitliche Einheit ist dann nur noch fiktional, sie gehorcht keinerlei Notwendigkeit. Die Geschichte gehört, wie bei Lévi-Strauss, einzig dem Aleatorischen, der Kon-tingenz an, sie ist zugleich unumgänglich und bedeutungslos. Gleichwohl weicht im Unterschied zu Lévi-Strauss' Strukturalis­mus Foucault der Historizität nicht aus, sondern macht sie sogar zum privilegierten Untersuchungsfeld seiner archäologischen Forschung, allerdings um darin, ausgehend von großen Fraktu­ren, die sich als kohärente synchronische Schnitte aneinanderrei­hen, die an ihr arbeitenden Diskontinuitäten zu erkennen.

Von den Epistemen

Foucault stellt zwei große Diskontinuitäten in der Episteme der abendländischen Kultur fest: die des klassischen Zeitalters zur Mitte des 17. Jahrhunderts und die des 19. Jahrhunderts, die un­sere moderne Ära eröffnet. Diese Veränderungen in der Ordnung des Wissens erfaßt Foucault anhand so verschiedener Felder wie der Sprache, der politischen Ökonomie, der Biologie, und er vollzieht jedesmal eine Trennung zwischen dem, was denkbar ist, und dem, was es nicht ist : »Die Geschichte des Wissens kann nur ausgehend von dem gebildet werden, was ihm gleichzeitig war.«27 Die von Foucault erkannten Diskontinuitäten sind, da er jeden Evolutionismus ausschließt, lauter änigmatische Figuren. Es handelt sich um plötzliche Ereignisse, um Risse, deren Moda­litäten und Ort zu vermerken man sich begnügt, ohne die Frage nach dem Prozeß ihres Auftauchens zu stellen. Bei dieser Heran­gehensweise bleibt grundweg unklar, wie es zu einem Ereignis kommt : »Eine solche Aufgabe impliziert, daß alles, was zur Zeit gehört, alles, was sich in ihr gebildet hat [...], in Frage gestellt wird, so daß der Riß ohne Chronologie und Geschichte er­scheint, aus dem die Zeit hervortritt.«28 Die Diskontinuität er-

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scheint in ihrer Einmaligkeit, nicht rückführbar auf ein Kausali­tätssystem, insofern sie abgeschnitten ist von ihren Wurzeln, als eine ätherische Figur, die aus dem Morgendunst der Welten-schöpfung hervorgegangen ist.

Foucaults Vorgehen impliziert also einen radikalen Bruch mit jeglicher Forschung nach den Ursprüngen oder nach einem ir­gend gearteten Kausalitätssystem, an deren Stelle er einen Poly­morphismus setzt, der die Restitution einer historischen Dialektik unmöglich macht. Seine Archäologie der Humanwissenschaften, Die Ordnung der Dinge, versucht, das »Wie« des Auftauchens ei­ner neuen Konfiguration des Wissens zu rekonstruieren, und zwar anhand einer Methode (in Foucaults Werdegang die am stärksten strukturalistische), die von einer Episteme zur anderen, von einem diskursiven Gewebe zum nächsten führt, wobei die Wörter auf andere Wörter verweisen. Dieses typisch strukturali­stische Vorgehen der Aufwertung der diskursiven Sphäre gegen­über dem Referenten erlaubt es durch seine synchronische Di­mension, signifikante Kohärenzen zwischen Diskursen zu finden, die scheinbar in keiner Beziehung zueinander stehen, es sei denn in der ihrer Gleichzeitigkeit: »Was er mir gebracht hat, ist diese Kühnheit, eine intelligente Annäherung zwischen Biolo­gie, Astronomie, Physik vorzunehmen. [...] Heute hat die zeitge­nössische Soziologie nicht diese umspannende Kraft.«29

Aber gerade dieser Begriff der Episteme wirft die meisten Fra­gen auf, nicht allein die ungelöste Frage, wie man von einer Epi­steme zur nächsten gelangt, sondern auch jene, die Foucault selbst gestellt hat: Von welcher Episteme aus spricht er? Gegen diesen in der Ordnung der Dinge allgegenwärtigen Begriff wird sich so viel Widerspruch regen, daß man ihn in Foucaults späte­rem Werk nicht wiederfindet. Seine Archäologie sucht in den Fundamenten der Wissenskontinente nach den Spaltlinien, nach den signifikanten Brüchen: »Was wir an den Tag bringen wollen, ist das epistemologische Feld, die episteme, in der die Erkennt­nisse, außerhalb jedes auf ihren rationalen Wert oder ihre objekti-

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ven Formen bezogenen Kriteriums betrachtet, ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren [...].«30

Die Repräsentation des Repräsentierten31

Die erste Konfiguration des Wissens, die Foucault untersucht, ist die Episteme der Renaissance bis zum 16. Jahrhundert. Das Wis­sen gründete sich damals auf das Gleiche, auf die Wiederholung, auf die Repräsentation des Repräsentierten. Die tragende Rolle des Wissens in der abendländischen Welt spielte die Ähnlichkeit. Es gab eine Verdoppelung der Beziehung der Vorstellung zu ih­rem Objekt: »Die Welt drehte sich in sich selbst [...].«32 Die Ähn­lichkeitsprozeduren sind in dieser Episteme zahlreich : die Nach­barschaft der Orte, die einfache Widerspiegelung, die Analogie und das Spiel der Sympathien, alle haben sie die Macht, die ver­schiedenen Dinge einer fundamentalen Identität zu assimilieren. Das 16. Jahrhundert hat Sémiologie und Hermeneutik in der Form eines Wissens übereinandergelagert, das insofern überbor­det ist, als die Gleichartigkeit, der Verweis auf die Ähnlichkeit unendlich, aber gleichzeitig ärmlich ist, denn dieses Wissen bildet sich in Gestalt der reinen Addition : »Das Wissen des sechzehn­ten Jahrhunderts [hat sich] dazu verurteilt, stets nur die gleiche Sache zu erkennen [...].«33 Die Natur ist in ihm bloß eine verdop­pelte Figur des Kosmos; Gelehrsamkeit und Wahrsagekunst (eruditio und divinatio) gehen aus einer identischen Hermeneu­tik hervor.

Diese Episteme vergeht im 16. Jahrhundert aufgrund eines Risses, der in die alte Verwandtschaft zwischen den Wörtern und den Dingen einzieht: Von da aus wird der Mensch sich selbst ge­boren und singuläres Objekt des Wissens werden können. Dieser Gestaltwandel ist symbolisiert in Don Quichotte, der die Welt zu lesen versucht, um die Wahrhaftigkeit der Bücher zu beweisen. Er stößt auf eine Nicht-Übereinstimmung von Zeichen und Rea-

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lern, ein völliges Mißverhältnis, durch das seine Utopie ins Strau­cheln gerät. Nichtsdestoweniger beharrt er darauf, die Welt durch seinen überholten Raster zu entschlüsseln. Sein Abenteuer ist doppelt signifikant, insofern es uns die Geburt einer neuen Kon­figuration des Wissens und zugleich die Historizität der Sprache offenbart. Die Phasenverschiebung, die Don Quichotte zwischen den Wörtern und den Dingen erlebt, und der inadäquate Charak­ter seiner Wissensform können in dem Maße irre machen, als er keine Unterschiede bemerkt: »Die Wörter irren im Abenteuer umher, inhaltslos, ohne Ähnlichkeit, die sie füllen könnte. Sie be­zeichnen die Dinge nicht mehr [...].«34

Die neue Episteme, die des klassischen Zeitalters, des 17. Jahr­hunderts, des cartesischen Rationalismus, ersetzt die analogische Hierarchie durch die Arbeit der kritischen Analyse. Jegliche Ähnlichkeit wird dann der Probe des Vergleichs unterzogen: »Die abendländische Vernunft tritt in das Zeitalter des Urteils ein.«35 Was in dieser klassischen Episteme das Projekt einer allge­meinen Wissenschaft, einer Theorie der Zeichen ermöglicht, ist der Rückgriff auf eine Mathesis für die einfachen Strukturen, de­ren universelle Methode die Algebra ist, und eine Taxonomie für die zusammengesetzten {complexes} Naturen. Innerhalb dieses Auf baus einer kritischen Ordnung entsteht auch die allgemeine Grammatik: »Die fundamentale Aufgabe des klassischen >Dis-kurses< ist es, den Dingen einen Namen zuzuteilen und ihre Existenz in diesem Namen zu benennen.«^ Aus diesem neuen Abstand zwischen Wörtern und Dingen entsteht also eine Wis­senschaft von der Sprache, und ebenso verhält es sich damals mit der Geburt einer Naturgeschichte, die von der Sprache nicht zu trennen ist. Diese Naturgeschichte unterteilt ihr Feld in drei Klas­sen: die Mineralien, die Pflanzen und die Tiere, doch der Ein­schnitt verläuft noch nicht zwischen Lebewesen und Nicht-Le­bewesen. Die klassische Episteme charakterisiert sich auch durch die Geburt der Analyse der Reichtümer, die der gleichen Konfi­guration gehorcht wie die Naturgeschichte und die allgemeine

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Grammatik. Während das ökonomische Denken der Renaissance die monetären Zeichen auf die Maßgenauigkeit des Gehalts an dem als »Währung« gewählten Metall zurückführte* verwirft das 17. Jahrhundert die Maßanalyse; nunmehr dient die Tauschfunk­tion als Grundlage, und der Merkantilismus wird geboren. Weil das Gold eine Münze ist, ist es wertvoll, und nicht umgekehrt, wie man im 16. Jahrhundert annahm: Die Münze erhält ihren Wert rein aus ihrer Zeichenfunktion.

Die Episteme der Modernität

Diese Episteme wird am Ende des 18. Jahrhunderts und Beginn des 19. Jahrhunderts erneut umgewälzt, um unserer modernen Episteme Platz zu machen. Sie wird geboren aus einer Verlage­rung, die das gesamte europäische Denken verändert hat. Den neuen Wissenschaften im 19. Jahrhundert ist gemeinsam, daß sie ihr Objekt auf einem Feld errichten, dessen Bestandteile sich der Beobachtung entziehen. Im 19. Jahrhundert werden Leben, Ar­beit und Sprache zu ebenso vielen »Transzendentalien«. Die Analyse der Reichtümer wird der politischen Ökonomie Platz machen. Die erste wichtige Veränderung geht auf Adam Smith zurück. Für den Ökonomen wird das, was in Form der Dinge zir­kuliert, nunmehr auf die Arbeit beziehbar: »Seit Adam Smith ist die Zeit der Ökonomie nicht [mehr] die zyklische der Verarmun­gen und des wachsenden Reichtums [...]. Es wird die innere Zeit [...] des Kapitals und der Produktionsweise [sein].«37 Ricardo vollendet dieses Aufkommen der politischen Ökonomie, indem er im Kern des ökonomischen Denkens den Primat der Arbeit si­cherstellt, die den Wert nicht mehr als Zeichen, sondern als Pro­dukt bestimmt.

Eine gleichartige Revolution erschüttert den Bereich der Na­turgeschichte und ermöglicht die Entstehung der Biologie. Mit Jussieu und Lamarck bildet sich der Charakter nicht mehr vom

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Bereich des Sichtbaren her, sondern aus einem inneren Prinzip, nämlich der Organisation, welche die Funktionen bestimmt; dies setzt voraus, innerhalb des Organismus einen Querschnitt vor­zunehmen, um hinter den oberflächigen Organen die vitalen Funktionen zu erfassen. Damit wird die Biologie möglich, und Cuvier macht sich diese Entdeckung zu eigen, um den Primat der Funktion vor dem Organ zu bekräftigen.

Ähnlich verläuft die epistemologische Revolution, die sich im Bereich der Sprache mit dem Auftauchen der Philologie ereignet. Hier vollzieht das Wort einen Absprung aus seinen repräsentati­ven Funktionen und obliegt fortan einer grammatikalischen To­talität, die determinierend wird : »Die Sprache wird dann durch die Zahl ihrer Einheiten und durch alle möglichen Kombinatio­nen definiert, die sie in der Rede untereinander herstellen kön­nen. Es handelt sich also um einen >Haufen Atome< [...].«38

Die Ära des Relativismus

Diese Abfolge von Epistemen bis hin zu unserer zeitgenössischen Periode, diese Historisierung des Wissens und des Menschen, ei­ner Figur, die allein in der letzten epistemologischen Konfigura­tion ermöglicht worden ist, mündet bei Foucault in einen histori­schen Relativismus, der dem von Lévi-Strauss ähnelt. So wie keine Unterlegenheit oder Vorgängigkeit zwischen primitiven Gesellschaften und modernen Gesellschaften existiert, gibt es in den verschiedenen konstitutiven Etappen des Wissens keine Wahrheit zu suchen; es existieren nur historisch feststellbare Dis­kurse: »Da das menschliche Wesen durch und durch historisch geworden ist, kann keiner der von den Humanwissenschaften analysierten Inhalte in sich selbst stabil bleiben und der Bewe­gung der Geschichte entgehen.«39 Der Sockel unseres zeitgenös­sischen Wissens, repräsentiert durch ihrerseits von einer bewähr­ten wissenschaftlichen Praxis strukturierte und an ihr geschulte

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Disziplinen, besteht nur in temporären Figuren, transitorischen Konfigurationen. Dieser absolute Relativismus, der das Feld des Wissens total historisiert, wird paradoxerweise gegen das histori­sche Herangehen gewendet zugunsten einer im wesentlichen räumlichen Konzeption, der des epistemologischen Raumes, ei­ner reinen Synchronie, der es zukommt, das Innen vom Außen abzugrenzen, deren Positivität jedoch der Dauer, der Geschichte den Rücken kehrt.

Foucault lädt zu einem Blick auf eine Zeitlichkeit ein, die ebenso erkaltet ist wie die, die der Ethnologe in den primitiven Gesellschaften ansetzt. Das Mißverständnis zwischen ihm und den Historikern kommt daher, daß Foucault keinem Realen oder historischen Referenten Rechnung trägt, sondern allein der dis­kursiven Sphäre in ihren inneren Modulationen. Er erfaßt ledig­lich die Ebene der Diskurse in einem nominalistischen Vorgehen, bei dem das Wort auf quasi physikalische Weise als ein Ding be­handelt wird und im Grunde an seine Stelle tritt. Der Diskurs, das Dokument, wird nicht mehr als Dokument aufgefaßt, sondern als Monument : »Der Text ist ein historischer Gegenstand wie der Baumstamm.«40 Dieses Verfahren führt Foucault dazu, die innere Kohärenz der aufeinanderfolgenden Episteme aufzuwerten und die Prozesse der Transformation, die Vermittlungen, die diachro­nische Dimension zu vernachlässigen, so daß die Diskontinuitä­ten unerklärlich bleiben.

Die Ordnung der Dinge besiegelt Foucaults strukturalistisch-ste Phase, jene der Wissenschaft von den Zeichensystemen, in der er hinter der Beschreibung der Aufeinanderfolge der ver­schiedenen Episteme seit dem klassischen Zeitalter jeweils nach dem Ungedachten dieser Etappen der abendländischen Kultur forscht, nach ihren Ordnungsmodalitäten, nach ihrem histori­schen Apriori. So wie Lévi-Strauss das Ungedachte der sozialen Praktiken in den primitiven Gesellschaften wahrnimmt, entzif­fert Foucault das Ungedachte des konstitutiven Sockels unseres abendländischen Wissens und setzt so die Kantische Anstren-

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gung fort, »uns aus unserem >anthropologischen Schlaf<«41 auf­zuwecken.

Um diesem anthropologischen Raum, der Analytik der End­lichkeit, der empirisch-transzendentalen Ebene zu entkommen, weist Foucault am Schluß des Werkes drei Disziplinen einen be­sonderen Status zu : der Psychoanalyse, berichtigt von Lacan, der Ethnologie in der Fassung von Lévi-Strauss und der Geschichte in einer nietzscheanischen, dekonstruierten Version. Das Werk schließt also durchaus mit einer besonderen Episteme: der des Strukturalismus, der sich als Realisierung des modernen Bewußt­seins gibt.

In diesem Programm, das sich in die strukturalistische Kon­junktur einreiht, verzeichnet man einen Abwesenden von Rang, Marx, der in die Episteme des 19. Jahrhunderts verwiesen wird : »In der Tiefe des abendländischen Wissens hat der Marxismus keinen wirklichen Einschnitt erbracht: Er hat sich ohne Schwie­rigkeit [...] in eine erkenntnistheoretische Disposition gestellt, die ihn günstig aufgenommen hat [...]. Der Marxismus ruht im Den­ken des neunzehnten Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser. Das heißt: Überall sonst hört er auf zu atmen.«42 Damit herrscht eine erhebliche Kluft zwischen der Position Foucaults, der aus dem marxistischen Modell ebensosehr wie aus dem phänomenologi­schen Modell auszuscheren versucht, und der Position der Althusserschen Strömung, die Marx gerade zum Initiator des größten Bruchs in der Geschichte der Wissenschaften machen will. Foucault wird sich für seine Position rechtfertigen müssen, die von der Althusserschen Gruppe des epistemologischen Zir­kels der ENS als Provokation aufgefaßt wird, und er wird die Sache später mit der Abfassung der Archäologie des Wissens ge­radebiegen : »Als er an der Ordnung der Dinge schreibt, ist ihm Althussers Marx-Lektüre unbekannt, während er in der Archäo­logie des Wissens von einem durch Althusser neu betrachteten Marx spricht.«43 Foucaults Perspektive von 1966 deckt sich mit dem theoretischen Bemühen, das im Strukturalismus wirksam

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ist, und Foucault gibt ihm eine philosophische Antwort, indem er vom Primat der reinen Vernunft ausgeht und die Repräsentation der Strukturen der Erfahrung anhand der Konstitution epistemo-logischer Objekte artikuliert.

Damit will er als potentiell führender Kopf im Kampf aller Strukturalisten gegen die Philosophie des Sinns, gegen den Hu­manismus und die Phänomenologie auftreten, indem er, wie schon Kant, die Frage nach der Aktualität der Philosophie als Gegenwart stellt und sie von ihrem kritischen und entmystifizie­renden Vermögen her begreift.

Das Lichtjahr 1966 : III. Die Ankunft der Kristeva

Am Abend vor Weihnachten 1965 kommt eine junge Bulgarin von vierundzwanzig Jahren in Paris an. Als das Flugzeug im Schneegestöber auf der Landebahn von Orly aufsetzt, hat sie ganze fünf Dollar in der Tasche. In diesem Augenblick ahnt Julia Kristeva nicht, daß sie die Muse des Strukturalismus werden würde. Denn dieser große Moment des Denkens in Frankreich birgt auch die Begegnung eines kühnen kulturellen Abenteuers und einer talentreichen Frau. Der Zeitpunkt ist günstig: Durch ihre Ankunft in Frankreich an der Schwelle des Jahres 1966 gerät Kristeva in einen kulturellen Aufbruch, den sie aufsaugt mit der Leidenschaft einer im heimatlichen Bulgarien ausgehungerten Fremden. Die Umstände werden sie ins Auge des Zyklons führen, zumal die Franzosen auf den russischen Formalismus aufmerk­sam geworden sind, insbesondere auf Todorov, und zum Zeit­punkt des Tauwetters in den Ost-West-Beziehungen sowohl auf literarischem wie auf politischem Gebiet ein offenes Ohr für das Geschehen im Osten haben. In diesem besonders günstigen Kon­text erhält sie ihr Stipendium der französischen Regierung unter General de Gaulle. Als Literaturwissenschaftlerin erkundet Julia Kristeva das, was als Ausdruck der Modernität in Frankreich selbst erscheint, den Nouveau roman. Über dieses Thema be­ginnt sie ihre thèse, betreut von Lucien Goldmann, doch bald veranlaßt sie die Kenntnis der damals in voller Blüte stehenden semiotischen Reflexion, ihren Untersuchungsgegenstand zu dekonstruieren, um sich die Frage nach der Konstitution des Ro­mans als Gattung, die Frage nach der Narration zu stellen und so am intellektuellen Aufbruch teilzunehmen.

494 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque

Die Schwärmerei für den Formalismus

Sie geht in Barthes' Seminar an der École des hautes études und in Lévi-Strauss' Laboratoire d'anthropologie sociale mit seiner Ab­teilung für Semio-Linguistik. Entscheidend ist indes die Begeg­nung mit Philippe Sollers, beiderseitig eine Liebe auf den ersten Blick: »Ich werde sie immer so sehen, wie sie mir in diesem Au­genblick erschienen ist, sehr liebreizend. Das ist etwas bei ihr ganz Verblüffendes, ihre Anmut, ihre Sinnlichkeit, diese Verbin­dung zwischen der Grazie, der körperlichen Schönheit und ihrer Denkkapazität. In dieser Hinsicht ist sie ein Sonderfall in der Ge­schichte.« 1

Die Verbindung der beiden besiegelt Julia Kristevas intellektu­elle Verwurzelung in der umtriebigsten Gruppe des Jahres 1966, Tel Quel. Sie sieht ihren Landsmann Todorov wieder, schließt Freundschaft mit Benveniste, entdeckt über Sollers Lacan und besucht dessen Seminar. Der KPF oder zumindest deren intel­lektuellen Außenstellen (La Nouvelle Critique, Les Lettres fran­çaises} nahestehend, tritt sie für marxistische Positionen ein. Im Laufe der Monate verficht Julia Kristeva die Ambition des Struk­turalismus auf Verallgemeinerung, als explosive Mischung eines Semio-Marxo-Freudianismus, als Inbegriff des intellektuellen Avantgardismus in seinem Willen, die Welt zu revolutionieren — durch die Schreibweise. Philippe Sollers, seit 1967 ihr Ehemann, interessiert sich damals für die literarische Sémiologie. 1966 redi­giert er ein Referat, das er am 25. November 1965 in Barthes' Se­minar über Mallarmé gehalten hat. Der Schriftsteller wird darin als der große Wegbereiter für die sich vollziehende Annäherung zwischen Literatur und literarischer Theorie gefeiert: »Für Mal­larmé stehen die Literatur und die Wissenschaft fortan in enger Kommunikation.«2

Das Unternehmen Tel Quel schreibt sich ins Mallarmésche Projekt ein als Erprobung von Literatur jenseits der Gattungen und Grenzen, als Ausdruck des Selbstbewußtseins im Tode, als

Das Lichtjahr 1966: III. Die Ankunft der Kristeva 495

regelrechter Suizid, aus dem heraus die Sprache ihre Rechte wie­dererlangt, indem sie die Begrenzungen der durch das Bewußt­sein des Autors gegebenen Subjektivität überschreitet. Mallarmé mit seinem Augenmerk auf Rhetorik, auf die Philologie, lädt förmlich zur semiologischen Reflexion ein, zumal das zu schrei­bende Buch auf das Unmögliche als Perspektive verweist. Nur Fragmente noch sind zum Funkeln zu bringen in einer verworfe­nen Zukunft, die nach Mallarmé »immer nur das Leuchten des­sen ist, was sich hätte zuvor oder dem Ursprung nahe ereignen müssen«3. Mallarmé eröffnet also das breitgefächerte Programm des formalen Denkens, das der Revolution im buchstäblichen Sinne, der Wiederkehr der Rhetorik, der Wiederkehr des Ostens, des »Zurück zu ...« — und der Ankunft einer gewissen Julia Kri­steva aus dem Osten. Diese Vorliebe für den Formalismus ist nach Jean Dubois eine französische Besonderheit: »Die Schwärmerei für den Formalismus ist Ausdruck einer tiefliegenden Tendenz, die schon vor dem Strukturalismus vorhanden war. Als junger agrégé waren es die formalen Strukturen, die mich interessierten, und wenn ich ein guter Grammatiker des Griechischen und des Lateinischen war, dann weil es dabei um formale Strukturen geht.«4

Die Literatur steht im Mittelpunkt

Wenn Julia Kristeva rasch ins Klima des Jahres 1966 eingetaucht ist, so verleiht ihr doch ihre Außenposition als Ausländerin einen Scharfblick, der es ihr recht bald erlauben wird, auf die beiden großen Aporien des strukturalistischen Paradigmas hinzuweisen : die Geschichte und das Subjekt, wobei sie von der Arbeit M. Bachtins ausgeht. Das Jahr 1966 ist entschieden ein Jahr der Re­flexion über Literatur. Des literarischen Gegenstands, aufgefaßt als Produktion, nimmt sich in der Arbeit, die Pierre Macherey ihm widmet5, sogar der Althusserianismus an. Macherey fragt

496 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque

nach der neuen Persönlichkeit, die der Literaturkritiker zur Stunde des Strukturalismus darstellt: beinahe ein Schriftsteller, hat er aufgehört, zweite Garnitur zu sein: »Der Kritiker ist [...] ein Analytiker.«6 Seine Aufgabe, die in der Entschlüsselung, in der Rekonstruktion des Sinns besteht, beschränkt sich nicht mehr darauf, einen Sinn wiederzugeben, der im Werk hinterlegt wäre und den man bloß aufzulesen brauchte. Wenn sich Pierre Macherey nicht den Prinzipien des um sich greifenden Formalis­mus anschließt und in ihnen sogar »eine platonische Reminis­zenz« 7 wahrnimmt, die in einer derealisierenden Tätigkeit ende, befürwortet er doch eine symptomale Lektüre der Literatur, wie sie Althusser und seine Gruppe an Marx' Werk vorgenommen haben. Es geht nicht darum, den hinter dem Text verborgenen Stein der Weisen zu suchen, sondern zu sagen, wovon der Text spricht, ohne es zu sagen: »Eine wirkliche Analyse [...] muß [...] tendieren [...] auf das >Noch-niemals-Gesagte<, das >Von-An-fang-an-nicht-Gesagte<.«8

In der Tat, die Literatur steht im Zentrum der maßgeblichen theoretischen Auseinandersetzungen in diesem Jahr, in dem Barthes' Antwort auf Picard, Kritik und Wahrheit, erscheint. In­des vertritt Gérard Genette eine nuanciertere Position und scheint eine auf ergänzende Arbeitsteilung gegründete friedliche Koexistenz zwischen der Hermeneutik und der strukturalisti-schen Strömung zu bevorzugen. So gäbe es eine Aufteilung des li­terarischen Feldes zwischen einer Literatur, die dazu angetan wäre, von einem der Hermeneutik überantworteten kritischen Bewußtsein erlebt zu werden, und einer schwer entzifferbaren Literatur im weiteren Sinn, die zum privilegierten Analysegegen­stand des Strukturalismus würde: »Die Beziehung, die Struk­turalismus und Hermeneutik verbindet, könnte eine nicht der mechanischen Trennung und des Ausschlusses, sondern der Er­gänzung sein.«9 Genette erfaßt den sich vollziehenden Umbruch, wenn er das Umschlagen eines zeitlichen Determinismus in einen räumlichen Determinismus feststellt. Die Verweigerung der Hi-

Das Lichtjahr 1966: III. Die Ankunft der Kristeva 497

storizität und der Rückzug auf eine stillstehende Gegenwart, de­ren Linien man nur noch zu zeichnen braucht, sind in der Tat das Hauptcharakteristikum der neuen strukturalen Sensibilität: »Jede Einheit wird in Termini der Beziehung und nicht mehr der Filiation definiert.«10 Wie Pierre Macherey beanstandet Gérard Genette vor allem den individuellen Aspekt des Psychologismus, der in der klassischen Literaturgeschichte vorherrscht, sowie des­sen ausschließliche Berücksichtigung der Werke und der Autoren auf Kosten der Kreisläufe der literarischen Produktion und der Lektüre. Auf dieser Ebene stimmt er völlig mit Macherey über­ein: »Zur gleichen Zeit wie das Buch werden die Bedingungen seiner Kommunikation hergestellt [...], was das Buch macht, macht auch seine Leser.« n

Das Erscheinen der Schriften 1966 löst manche Übertritte zum Freudianismus Lacanscher Prägung aus. Gennie Lemoine, die seit 1946 der Redaktion von Esprit angehört, verläßt 1966 die Zeitschrift, um der Schule von Lacan beizutreten. Auch Antoi­nette Fouque, die bei Barthes eine thèse zur Avantgarde schreibt, wechselt mit der Lektüre der Schriften zur Psychoanalyse über: »Ich könnte beinahe sagen, daß ich Lacan vor Freud kannte.«12

Am Ende des Buches druckt Lacan noch einmal einen wesentli­chen Aufsatz ab, der bereits im Januar 1966 in der ersten Num­mer der Cahiers pour l'analyse erschienen war: »La science et la vérité«. Darin widerspricht er dem modischen Gerede von den »Humanwissenschaften«, das für ihn auf eine Unterwerfung ver­weist, die bereits Georges Canguilhem in der Psychologie ausge­macht hatte, die, wie er meinte, im Toboggan vom Pantheon zur Polizeipräfektur geschlittert sei.

Doch der Abscheu vor diesen »Humanwissenschaften« schwindet, wenn der Strukturalismus sie wandelt, indem er eine neue Auffassung vom Subjekt impliziert: »Das Subjekt ist, wenn man so sagen kann, in innerem Ausschluß seinem Objekt einge­schlossen.« 13 In diesem strukturalen Jahr bezieht sich Lacan trotz seiner Wende zur Logik von 1964 noch nachdrücklich auf Lévi-

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Strauss : »Wenn wir zur Stützung unserer These die Verbunden­heit des Werkes von Claude Lévi-Strauss mit einem solchen Strukturalismus heranziehen, so beschränken wir uns natürlich zunächst auf ihre Peripherie.« u Kurz darauf erwähnt er den »lévi-straussschen Graphen«, um das Subjekt, das berühmte Ego Descartes' zu sprengen, das keine andere Existenz habe als die ei­ner Bezeichnung. Laut Elisabeth Roudinesco findet Lacan 1966 noch wenig Anerkennung, was seine Absicherungsbemühungen erklären würde, sei es bei Lévi-Strauss oder bei Foucault, dessen Geburt der Klinik er in den Schriften erwähnt, ohne in das zu fal­len, was er später als »baquet structuraliste« [»strukturalistische Kübel« ; Wortspiel mit »banquet structuraliste«, A.d.U.] bezeich­net hat.

Julia Kristeva erlebt also ein vom Strukturalismus aufgerüttel­tes Paris, den Austausch zwischen all denen, die enthusiastisch einer neuen Welt anzugehören meinen — der Welt des Begriffs jenseits der Idee der Substanz und jenseits der disziplinaren Trennlinien, vertieft in das unendliche Spiel der Beziehungen in ihrer Kombinatorik —, an den Grenzen rütteln und auf den Stu­fen des stets aufgeschobenen, niemals zugänglichen Möglichen siedeln.

Maurice Godeliers Alleingang

Die großen Ahnherren, die damals im Spiel sind, sind Marx und Freud. Die Lacansche Lesart und seine Rückkehr zu Freud setzen sich als unerläßliche Erneuerung des Gründerwerks durch, so wie bei Marx die Lektüre, die Althusser ihm angedeihen läßt; aber es gibt auch Mischfälle, Versuche zur Versöhnung von An­sätzen, die zunächst antagonistisch erscheinen mochten. Das gilt zum Beispiel für Maurice Godelier, der zum Zweck eines eben­falls erneuerten, strukturalen Rückgriffs auf das Werk von Marx eine Synthese zwischen Lévi-Strauss und Marx versucht.

Das Lichtjahr 1966: III. Die Ankunft der Kristeva 499

Godelier veröffentlicht 1966 bei Maspero Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie^ dessen zweiter Teil aus Artikeln besteht, die zwischen 1960 und 1965 in Pensée und Economie et politique^ mithin vor Althussers Neulektüre von Marx erschienen sind. Godelier verwirklicht hier bereits eine Rückkehr zu Marx, zur Methode und Struktur des Kapitals. Er unterscheidet bei Marx die hypothetisch-deduktive von der dialektischen Me­thode. Godelier hat also nicht auf Althussers Rückkehr zu Marx gewartet, und seine einzelgängerische Arbeit trifft sich mit Lévi-Strauss' strukturaler Anthropologie: »Ich habe Das Kapital zu ei­nem Zeitpunkt wiedergelesen, als kein Mensch an einer Wieder­lektüre interessiert war.«15 Im Anschluß an die agrégation in Philosophie durchläuft Maurice Godelier eine dreijährige Ausbil­dung in Ökonomie und versucht dann, eine ökonomische An­thropologie zu konstituieren, die eine vergleichende theoretische Untersuchung der verschiedenen ökonomischen Systeme in Zeit und Raum ermöglichen soll, und zwar ausgehend von einer er­weiterten Bedeutung der politischen Ökonomie, die alle Dimen­sionen des sozialen Feldes einschlösse: »Es gibt [...] weder eine ökonomische Rationalität an sich« noch eine »endgültige« Form, ein »Modell« ökonomischer Rationalität.16

Angesichts so verwandter Gesichtspunkte muß natürlich über­raschen, daß es im Kontext der sechziger Jahre zwischen Althusse-rianern und Godelier kein gemeinsames Arbeiten gegeben hat. Al­lerdings fand sich Godelier eines Sonntagmorgens in der Rue d'Ulm zur Gründungssitzung für ein großes kollektives For­schungsprogramm unter Leitung Althussers ein: »Da sah man sich dann einem ungeheuerlichen Vorgang gegenüber. Althusser, der geheiligte Ausdeuter des geheiligten Werks, war da und verteilte die Arbeit: Badiou sollte sich darum kümmern, die marxistische Theorie der Mathematik zu erstellen, und Macherey die der Litera­tur anfertigen.«17 Laut Emmanuel Terray fühlte sich Godelier in der Gruppe nicht wohl, weil man dort argwöhnte, er strebe einen unmöglichen Kompromiß zwischen Marx und Lévi-Strauss an.

500 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque

Wenn 1966 die Begriffe rasch zirkulieren, wenn alle Wege in die Struktur führen, so ist die Besetzung der zentralen, potentiell he­gemonischen Position auf diesem strukturalistischen Nährboden gar nicht leicht zu halten. Das Spiel muß mit Fingerspitzengefühl geführt werden, denn das strukturalistische Paris hat manche Tücken.

Teil III : Ein französisches Fieber

Zur Stunde der Postmodernität

Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich im Westen unmerklich ein neues Verhältnis zur Zeitlichkeit instituiert. Gleichzeitig hat Eu­ropa seine Vormachtstellung und seine Vorbildrolle für den Rest der Menschheit verloren. Seit Beginn des Jahrhunderts entstand in Wien, im Herzen des niedergehenden Habsburgerreichs, eine ahistorische Kultur.1

Der Einschnitt des Ersten Weltkriegs war entscheidend so­wohl hinsichtlich der Umverteilung der ökonomischen Trümpfe zugunsten der außereuropäischen Mächte als auch hinsichtlich der Bewußtseinskrise eines Europa, das die Stafette der Moder­nität an die junge amerikanische Macht weiterreichen und sich die Frage nach jenem Knick stellen mußte, der den linearen Evolutio­nismus seiner eigenen Historizität gebrochen hatte. Spenglers Untergang des Abendlandes stellt 1920 ein Europa zurück an sei­nen — provinziellen — Platz, das zu begreifen beginnt, daß die Grundfesten des Evolutionismus des 19. Jahrhunderts ins Wan­ken geraten.

Als Erben der Aufklärung erlebten die Sozialwissenschaften damals die Belle Époque der Vorstöße ins Zeitalter der Vollkom­menheit und der siegreichen Vernunft. Ob Saint-Simon, Spencer, Comte oder Marx, Bewahrer wie Verfechter der Veränderung ha­ben sich im Grundsatz auf ein globales Entwicklungsschema be­ständigen Fortschritts verständigt. Man sieht, wie sich am Hori­zont der gesamten Menschheit bei Comte die Abfolge des theologischen, dann des metaphysischen und schließlich des po­sitiven Zustands abzeichnet und bei Marx der Übergang vom Sklavenhaltertum zur Knechtschaft, dann zum Kapitalismus und

504 Ein französisches Fieber

schließlich zum Sozialismus. Diese Fortschrittsgewißheiten wer­den mit der tragischen Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts kolli­dieren, das dem Eurozentrismus auch nach 1920 noch manche Überraschungen bereithält. .

Der Zweite Weltkrieg und die Entdeckung des Holocausts werden das Abendland von neuem traumatisieren ; von seinen Wunden kaum genesen, sieht es seine Vormachtstellung in der Welt angefochten von zahllosen Ländern, die das koloniale Joch abschütteln. Ein nacktes Europa problematisiert seine dramati­sche Vergangenheit vor dem Hintergrund eines eskalierenden Pessimismus. Und bei jeder dieser Erschütterungen verabschie­det sich Europa trauernd von der Idee einer radikal anderen Zu­kunft überhaupt.

Eine Gegenwart ohne Werden

Daraus ist eine Ausdehnung der Gegenwart erwachsen, eine Ver­gegenwärtigung der Vergangenheit und eine neue Beziehung zur Geschichtlichkeit, in der die Gegenwart nicht mehr als Antizipa­tion der Zukunft gedacht wird, sondern als Feld eines möglichen Recyclings der Vergangenheit gemäß einem genealogischen Mo­dus. Die Zukunft löst sich auf, und die stillstehende Gegenwart gestattet es, der Vergangenheit verhaftet zu bleiben : »Da die Dif­ferenz der Zukunft nicht mehr in der Gegenwart zu ergründen ist, fließt diese rückwärts, gegen den Strich.«2 Zwischen Vergan­genheit und Gegenwart stellt sich ein entspanntes Verhältnis ein, da es nicht mehr darum geht, in der Gegenwart nach Möglichkei­ten zur Errichtung einer anderen Zukunft zu forschen, da die Zu­kunft verriegelt und einem gegenwärtigen, zu endloser Wieder­holung berufenen Gleichgewicht verhaftet ist. Die modische Wertschätzung des Neuen, die Werbeszene unseres Alltags, ver­hindert zusätzlich jede Möglichkeit eines künftigen Anders­seins.3 Die Absage an jede historische Teleologie, an jeden Sinn,

Zur Stunde der Postmodernität 505

der der Geschichte der Menschheit zuzuordnen wäre, ist die Grundlage, auf der man dann zurückfindet zu den verlorenen Schönheiten »der entschwundenen Welt« des Mittelalters, das auf der Suche nach identitätsstiftenden Wurzeln zum Ort der Andersheit verklärt wird.

In diesem Kontext der Dezentrierung, der Dislozierung der europäischen Kultur und der Dekonstruktion der Metaphysik setzt sich ein neues, ethnologisches Bewußtsein durch und sub­stituiert ein historisches Bewußtsein. Der Okzident befragt sich über seine Kehrseite, über die Existenzweisen des anderen, un­sichtbaren Schauplatzes als Ort einer durch ihre Absenz selbst offenbarten Präsenz. Hinter dem Bewußtsein entdeckt Freud die Gesetze des Unbewußten ; hinter der sublunarischen Unordnung unserer Gesellschaft entschlüsselt Durkheim das Unbewußte un­serer kollektiven Praktiken. In der Suche nach den unterschwelli­gen Mechanismen konstruiert sich nun die Postmodernität, die sich als Dekonstruktorin des Humanismus versteht. Diesen Hu­manismus hat Michel Foucault, der sich auf die in den sechziger Jahren triumphierende epistemologische Revolution stützt, um sie zu verherrlichen, als »Mittelalter« bezeichnet: »Der Struktu­ralismus ist keine neue Methode, er ist das erwachte und unruhige Bewußtsein des modernen Wissens.«4

Die Entzauberung der Vernunft

Die Provinzialisierung der abendländischen Vernunft, die Ent­deckung der Irreduzibilität des Widerstands anderer Logiken und der kulturellen Pluralität haben einem tiefgreifenden Pessi­mismus, einer Art negativer Theologie Nahrung gegeben. Die »vom abendländischen Rationalismus Enttäuschten«5 schlagen nun die Gegenrichtung zum optimistischen Rationalismus ein, um in eine Art Nihilismus, ein Schwellendenken an den Grenzen von Sinn und Unsinn zu verfallen. Diese Situation ist deshalb

506 Ein französisches Fieber

komplex, weil sich in ihr eine persönliche, aus Desillusionierung und Ablehnung erwachsene Idiosynkrasie mit ihren ursprünglich kontestatorischen Grundlagen vermengt. Aber die Theoretisie-rung des Unvermögens des Menschen, seine kollektive oder per­sönliche Geschichte zu handhaben, die Betonung seiner Unvoll-ständigkeit, die erstorbene Pavane der abendländischen Vernunft kündigen gleichzeitig eine rigorose, luzidere Arbeit derselben abendländischen Vernunft an. Sie ist bei Lévi-Strauss am Werk, wenn er die primitiven Gesellschaften in Erinnerung ruft, sie er­laubt Lacan, seine Patienten zu behandeln, und sie ermöglicht Foucault, sich auf die Seite der Vergessenen, der Verdrängten, der Gefangenen zu stellen. Es ist die List einer Vernunft, die selbst an ihrer eigenen Dezentrierung arbeitet.

Die Beziehungen zwischen dem strukturalistischen Paradigma und der entzauberten Zeitatmosphäre sind vielfältig. Es gibt zwi­schen den beiden Phänomenschichten keinen mechanischen Re­flex, keine Spiegelbeziehung, vielmehr entwickelt das wissen­schaftliche Denken sich gegenüber dem Kontext autonom. Eine Gleichheitsrelation zwischen den beiden zu behaupten, wäre ge­rade so, »als sagte man, die Einsteinsche Relativität sei eine Desil­lusion aus der Idee heraus, daß alles relativ ist«6. Im Zusammen­hang der in der Entfaltung des Strukturalismus herrschenden Entzauberung muß indes noch ein weiterer Baustein hinzugefügt werden : die Erschöpfung des evolutionistischen, phänomenolo­gischen, funktionalistischen Paradigmas und das Streben nach ei­ner epistemologischen Erneuerung. Hier offenbart sich das Ent­wicklungsgesetz des wissenschaftlichen Vorgehens selbst — eine Abfolge von Brüchen infolge der Erschöpfung seiner Modelle und Programme, eine Geschichte theoretischer Pleiten. So wie sich das Abendland eine nichtlineare Geschichte entdeckt, den­ken die Humanwissenschaften sich nicht länger als aufeinander­folgende Kumulierungen von Sedimentschichten.

Zur Stunde der Postmodernität 507

Die Ideologie des Argwohns

Das von Brüchen gekennzeichnete 20. Jahrhundert hat einen tief­greifenden Geschichtspessimismus und die Heraufkunft der postmodernen Ära eingeleitet. Man kann, mit Jean-François Lyotard, die Bruchspalte des abendländischen Evolutionismus auf 1943 datieren7, den Moment der »Endlösung«, das radikale Umschlagen ins Grauen. Fortan wird man nach Dachau, nach Auschwitz denken müssen, wie Adorno gesagt hat. Da die tech­nologische Modernität sich in eine weltweite Todesmaschine ver­wandelt, findet sie sich mit Negativität belegt und verfängt sich im Netz der Ideologie des Argwohns. Hinzu kommt die Entdek-kung dessen, was sich hinter dem Eisernen Vorhang abspielt, der Realität des Totalitarismus. Unterhalb der Vernunft liegen ihre unerbittlichen Verstrickungen, die den Hoffnungen auf Schaffung einer besseren Welt ein Ende bereiten, liegt die Fest­stellung einer notwendigen Diskontinuität: »Wir müssen ganz von vorne anfangen.«8 Der naive Blick, was die Überhöhung des ständigen Fortschreitens der menschlichen Freiheit und Erkennt­nis anbelangt, ist nicht mehr möglich. Der Humanismus, der den Menschen als Herrn seines Geschicks versteht, vervollkomm­nungsfähig und seiner Vervollkommnung entgegengehend, ist nicht länger angebracht. Die Vision einer frohlockenden Zukunft wird abgelöst von einem topischen Ansatz partieller Veränderun­gen, deren Möglichkeitsgrenzen bestimmt werden müssen.

Die Aufeinanderfolge der Desillusionierungen des Jahres 1956, von Budapest über Algier bis Alexandria, tat in Frankreich den Freiheitsgesängen und der kollektiven Hoffnung Abbruch. Es tönt und dröhnt zur Jahrhundertmitte vielmehr die Stimme eines Meisters, der einstweilen jeder Hoffnung ein Ende berei­tet, bis 1958 mit General de Gaulle ein neuer Meister der Nation herbeigerufen wird, der sich als Inkarnation des »incarnement« begriff. Die fünfziger Jahre werden in der intellektuellen Land­schaft Frankreichs eine neue Kluft aufwerfen: »1956 [...] hat

508 Ein französisches Fieber

dazu geführt, daß wir nicht mehr verpflichtet waren, etwas zu hoffen.«9

Auch die sechziger Jahre werden dem Aufkommen positiver Brüche nicht förderlicher sein. Wenn die internationale Bewegung von 1968 die französische Gesellschaft für die Dauer eines Früh­lings entflammt, so hinterläßt dasselbe Jahr die grausame Erinne­rung an das Zertreten des anderen, des Prager Frühlings durch die Stiefel der Sowjets. Den Intellektuellen der neuen Generation wird diese Erschütterung einen schweren Schlag versetzen: »1968 war ich in Neuguinea, und ich weinte, als ich hörte, daß die Russen in die Tschechoslowakei eingefallen waren. [...] Wir sahen, wie das Recht mit Panzern geschaffen wurde und nicht durch die Demo­kratie: Es war aus.«10 Einer Generation kommt die revolutionäre Hoffnung abhanden und verkümmert zum Phantasma, abgetan als Mythos aus dem 19. Jahrhundert. Die von den Intellektuellen be­schworenen großen Grenzüberschreitungen scheitern an einer abendländischen Gesellschaft, die sich nicht mehr als Hervorbrin­gung einer heißen Geschichte denkt, sondern die primitiven Ge­sellschaften zu beleihen scheint, um die kalte Beziehung zur einge­ebneten, reglosen Zeitlichkeit zu privilegieren.

Der Tod des Evolutionismus

Die revolutionäre Eschatologie bricht sich an den unserer Gesell­schaft eigenen Widerständen, Sperrungen und Trägheiten. Der Diskreditierung, die das Engagement und den politischen Volun­tarismus trifft, entspricht eine Diskreditierung von allem, was aus der Geschichte rührt. Bei dieser Negierung von Historizität, Herkunftsforschung und Genese der Reflexion zeitlicher Rhyth­men setzt die Errichtung und Entfaltung des strukturalistischen Paradigmas an. Es wird die Bewegung erstarren, die Geschichte erkalten lassen und sie anthropologisieren, als »die Eingeborenen (indigènes) zu Bedürftigen (indigents) werden« n.

Zur Stunde der Postmodernität 509

Die Faszination eines Abendlandes, das mit seiner Historizität bricht zugunsten der von Lévi-Strauss restituierten unveränderli­chen Lebensweise der Nambikwara, enthüllt uns Mitte der fünf­ziger Jahre, daß der Okzident in die Ära der Postmodernität ein­tritt. Es ist die Idee des Fortschritts selbst, die, jedenfalls als einigendes Phänomen, der Entwesung unterzogen wird. Fort­schritt wird plural, und er bildet nicht mehr die Antriebskraft der sozialen Entwicklung. Bestimmte Fortschritte werden nicht in Abrede gestellt, aber sie wirken nicht mehr im Zuge einer globa­len Problematisierung der Gesellschaft. Diese Dekonstruktion bildet den Ausgangspunkt einer intellektuellen Revolution, die vom Strukturalismus eingeleitet wird, namentlich durch die An­thropologie und die Idee der Äquivalenz der menschlichen Spe­zies. Dies ist der entscheidende Übergang von Lévy-Bruhl zu Lévi-Strauss. Er zeigt, daß jenseits der Pluralität der Seins- und Denkweisen alle menschlichen Gesellschaften volle Äußerungen der Menschheit sind, denen kein hierarchischer Wert zukommt. Dieser Aspekt der strukturalistischen Revolution bleibt unhin-tergehbar und schafft eine neue Wahrnehmung der Welt, die zwi­schen alle Formen sozialer Organisation ein Äquivalenzzeichen setzt.

Es gibt mit dieser neuen Sichtweise weder Trennungen zwi­schen Überlegenen und Unterlegenen, noch Stadien des Vorher und Nachher. Der Strukturalismus hat stark dazu beigetragen, die Idee des Fortschritts in die Krise zu bringen: »Damit es die Fortschrittsidee gibt, muß es anfänglich Primaten geben. [...] Das ist eine Errungenschaft des Strukturalismus, die einem nicht mehr auffällt, denn der Übergang ist schwer zu sehen. Er ist zu einem Besitzstand, zu einer Art Evidenz geworden.«12 Gewiß, die Schwelle von der Relativität zum Relativismus wird rasch überschritten sein, aber welche Position auch immer im einzelnen vertreten wird, die Auffassung vom Anderen als Teilmanifesta­tion des menschlichen Universalen provoziert den Ausgang aus dem evolutionistischen Geschichtsschema des 19. Jahrhunderts.

510 Ein französisches Fieber

Das Bewußtsein eines im Gang der Menschheit die Vorhut bil­denden Modells Europa haben die Humanwissenschaften dann gegen ein kritisches, das Subjekt und die Geschichte verabschie­dendes Bewußtsein ausgetauscht, gegen die Rückkehr des Be­wußtseins zu sich selbst oder vielmehr zu seiner verdrängten Kehrseite. Diese Vorstellung einer Gleichheit der Völker, die nach dem Krieg auftaucht, um sich im Zuge der Entkolonisierung durchzusetzen, ist eine völlig neue Idee, die alle Anhaltspunkte für das Denken des geopolitischen Raums modifiziert. Mit ihr exzentriert sich für den westlichen Intellektuellen die Wahrneh­mung der Menschheit. Identität wird nicht mehr von innen gele­sen, sondern auf einen Außenraum projiziert. Diese Änderung der Blickrichtung nötigt zur Dialektisierung der Räume und be­darf des Fernrohrs des Anthropologen, der die Welt des Anderen untersucht.

Zeitlichkeit schlägt in Räumlichkeit um

Ein radikaler Bruch gegenüber der Aufklärung und dem Glauben an einen beständigen Fortschritt, so wie Condorcet13 ihn gedacht hat, tritt somit zutage. Der abendländische Mensch hat im Mit­telpunkt des Erkenntnis- und Urteilsdispositivs gestanden, be­vor er der Dezentrierung seines anthropozentrischen Stand­punkts unterlag. Vorbereitet worden ist diese Revolution seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch eine neue, die Diskon­tinuität, die Dekonstruktion betonende Struktur des wissen­schaftlichen Denkens, des Sehens und Schreibens. Von der Arbitrarität des Saussureschen Zeichens bis zu den neuen mathe­matischen und physikalischen Modellen, zur Quantentheorie, zur Dislozierung der klassischen Perspektive bei den Impressio­nisten und dann bei den Kubisten macht eine neue Weltsicht Dis­kontinuität und Abkehr vom Referenten geltend.

Die abendländische Vernunft ist also seit dem Ende des

Zur Stunde der Postmodernität 511

19. Jahrhunderts von innen auf ihre Pluralisierung hin durch­wirkt. Sie denkt sich nicht mehr als Widerspiegelung, sondern als aufeinanderfolgende, diskontinuierliche Figuren verschiedener Strukturen. Die Psychoanalyse akzentuiert dieses Phänomen, in­dem sie zeigt, daß es keine Kontinuität zwischen Unbewußtem und Bewußtem gibt, sondern einen Bruch, der die Anwesenheit eines Dritten in der analytischen Therapie erforderlich macht. So erlebt man die unendliche Entfaltung der Episteme, die sich an die Stelle des einheitlichen Schemas des Evolutionismus setzen.

Das Wechselspiel, das sich zwischen dem 19. und dem 20. Jahr­hundert vollzieht, betont diesen Gestaltwandel noch. Dem histo-rizistischen europäischen 19. Jahrhundert, das die menschliche Geschichte als eine Befreiung von den Naturgesetzen denkt, tritt ein 20. Jahrhundert entgegen, das von der Geschichte Abstand nimmt, um wieder an eine Natur anzuknüpfen, die als »regulato­risches Ideal für das wiederzufindende Paradies«14 wahrgenom­men wird. Die Kämpfe, die der Mensch um die großen Werte Freiheit und Gleichheit geführt hat, werden nun als fragwürdig, partiell und meist zum Scheitern verurteilt angesehen.

Ein planetarisches, topographisches Bewußtsein verdrängt das historische Bewußtsein, Zeitlichkeit schlägt in Räumlichkeit um. Das Programm des Auszugs aus der natürlichen Ordnung weicht einer Forschung nach den invarianten Logiken, wie sie aus der Gelenkstelle von Natur und Kultur erwachsen. In Anbetracht ei­ner verschlossenen Zukunft richtet sich der Blick auf die Suche nach der unveränderlichen menschlichen Natur, wahrgenommen in ihren Konstanten: mentale Bereiche, Ökosystem, longue du­rée, Strukturen, Ausdehnung des Begriffs der Geographizität — das Paradigma der Natur holt zur Vergeltung aus: »Heute sieht man, wie durch kommunizierende Röhren die Entweihung der Geschichte eine erneute Weihung der Natur nach sich zieht.«15

Angesichts tragischer Umbrüche wendet man sich, um sich dagegen zu wappnen, den kulturellen und ethnischen wie auch natürlichen Konstanten und Gewichten zu. Diese Vorgehens-

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weise ist eher darauf angelegt, sich vor der Geschichte zu schüt­zen, sich vor ihr zu bewahren durch einen festen Kernbestand von Identität, als etwa darauf, sie auf einer signifikanten diachro­nischen Logik aufzubauen. Das Aussetzen der Geschichte, der Vergangenheitskult, die von den Brüchen an der Oberfläche ver­schleierten Restaurationen lassen den Menschen vom Subjekt seiner Geschichte zum Objekt einer Geschichte werden, die ihn übersteigt. Die Beziehung des Menschen zum Menschen wird somit »gleichsam zoologisch gesehen«16.

Zur Dislozierung der Beziehung von Vergangenheit, Gegen­wart und Zukunft haben auch die aus den Wirtschaftswunder-jahren hervorgegangenen Transformationen der westlichen Gesellschaft beigetragen. Wo Entwicklung sich durch Compu­terprogrammierung auf eine Re-Produktion gegenwärtiger, in die Zukunft projizierter Modelle verkürzt, kann überhaupt keine andere Zukunft erst problematisiert werden. Das Ende der Ge-bietsständigkeit und die Heraufkunft einer boden-losen (hors-sol) Gesellschaft haben zu einem Zustand zeitlicher Schwerelo­sigkeit, einem erkalteten Verhältnis zur Zeitlichkeit beigetragen : »Was man vor einem halben Jahrhundert Beschleunigung der Ge­schichte nannte [...], ist zur Zerschmetterung der Geschichte ge­worden.« 17 Auf die gleiche Weise fragmentiert sich dieses azeitli­che Verhältnis in eine Unzahl unverbundener Objekte, eine Segmentierung in Teilwissen, eine Desartikulation des Wissens­feldes und Entleerung der realen Inhalte. Dieser ökonomisch-so­ziale Humus wird die Entfaltung und den Erfolg einer struktura-len Logik, einer symptomalen Lektüre, eines Logizismus oder Formalismus, der seine Kohärenzen außerhalb der Welt der plat­ten realia findet, besonders begünstigen.

Manche, wie Henri Lefebvre, haben in dieser Hinsicht einen direkten Zusammenhang zwischen dem Erfolg des Strukturalis­mus und der Errichtung einer technokratischen Gesellschaft her­gestellt. Der Strukturalismus spiele auf dieser Ebene die Rolle ei­ner Legitimationsideologie für eine soziale Kaste : Sie rechtfertige

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die technische Struktur der neuen Industriegesellschaft und ihren Platz auf den höchsten Verantwortungsebenen der Macht und theoretisiere die Liquidation des Historischen. Von einer solchen Warte aus wäre der Strukturalismus für eine in die dominierende Position gelangte mittelständische Klasse die Verkündung vom Ende der Geschichte. Es wäre eine Ideologie des Regelzwangs, der Last des Strukturalen auf eine auf den Erwerb reduzierte menschliche Freiheit, die den Konsumismus widerspiegelte, in dem der Staatsbürger dem Verbraucher Platz gemacht hat. Das soziale Gefüge und die Repräsentation der Welt, die es hervor­bringt, fanden sich mithin wundersam verknüpft mit der mißhel-ligen Lage der europäischen Linken, die sich in den sechziger Jah­ren von der Geschichte und den Förtschrittsideen abwandte. So entsprach der Strukturalismus einer gesellschaftlichen Nach­frage, der Kristallisation einer besonderen geschichtlichen Situa­tion, in der die Blick Verlagerung auf die Figur des »Wilden« kei­nen Exotikbedarf mehr anzeigte, sondern die verzweifelte Suche nach der Wahrheit des Menschen in einem Universum, in dem sich die Zukunft verworfen fand.

François Furet macht bereits 1967 das intellektuelle Milieu der marxisierenden Linken als dasjenige aus, das für die strukturali-stische Welle am empfänglichsten gewesen sei.18 Dieses Milieu habe eine Umkehrung vollzogen: Das Trauern um einen im Rhythmus der Gulag-Enthüllungen schrittweise verödeten Mar­xismus fand dank dem Strukturalismus in einer ebenso universa­listischen, totalisierenden, deterministischen, jedoch der Ge­schichte entledigten Ambition einen Ausgleich. Nach dieser Hypothese wäre der Strukturalismus der Ausdruck einer beson­deren historischen Situation, einer vom politischen Immobilis­mus und von der Verfestigung der Systeme gekennzeichneten Konjunktur.

Daß die heranrollende strukturalistische Woge für den Fort­schritt »Land unter« bedeutet, zeigt sich in der Infragestellung des dialektischen Denkens. Die Philosophen tragen eine neue Le-

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seweise an, mit der die hegelianischen Grundfesten ihrer Analy­sen hinterfragt werden sollen : Eine symptomale Lektüre tritt an deren Stelle, die einen epistemologischen Einschnitt zwischen dem noch hegelianischen »jungen Marx« und dem zu wissen­schaftlicher Reife gelangten »späten Marx« als einem Strukturali-sten avant la lettre festzustellen erlaubt : »Eine nichtdialektische Kultur bildet sich heraus.«19 Zum selben Zeitpunkt bezeichnet François Châtelet die Dialektik als Rhetorik und kündigt Gilles Deleuze »ein Abebben des dialektischen Denkens zugunsten des Strukturalismus«20 an. Heute ist geläufig, daß das Abebben der Ideologien das Florieren des Strukturalismus ermöglicht hat. So wie die Grenzen der Praxis zur Dezentrierung des Menschen ge­führt haben, findet eine immanentistische Lektüre der Human­wissenschaften in der Exzentrierung der menschlichen Praktiken wissenschaftliche Strenge.

Der Wiederholungszwang

Die Posthistorie läßt uns in eine neue Beziehung zur ausgedehn­ten Gegenwart eintreten, die sich als ahistorisch gibt, als ewiges Recycling der verschiedenen Konfigurationen der Vergangenheit. Diese Gegenwart als in sich abgeschlossener Horizont kann sich nur selbst reproduzieren in der dominierenden Gegenwartsver­haftung (présentisme). Dieses neue Verhältnis zur Historizität wird in der Welle der Gedenkfeiern deutlich. Das Gedächtnis ver­drängt die Geschichte: Es findet keine Erforschung der Ur­sprünge mehr statt, um die Möglichkeiten des Werdens zu entfal­ten, sondern ein bloßes Abrufen des Zeichenuniversums der Vergangenheit, das in der unverrückbaren Gegenwart überdau­ert. Zeichen, die aufeinander verweisen und keine anderen Refe­renten haben als die Orte des Gedächtnisses, lauter Spuren, hin­terlassen im Raum einer Vergangenheit, den man jenseits der Linien eines unüberbrückbaren Bruchs erblickt. Wir erkennen

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»das Ende von etwas als selbstverständlich Erlebtem: das Ende der Gleichsetzung von Geschichte und Gedächtnis«21. Diese Ge­dächtnisorte werden nicht aus rekonstruktiver Perspektive neu besichtigt, sondern nur als Reste einer verdrängten, verschwun­denen Vergangenheit bedacht. Sie behalten symbolischen Wert und eröffnen ein archivarisches Verhältnis zur vergangenen Zeit.

Eine radikale Diskontinuität setzt dem Gedächtnis einer auf immer unbestimmbaren Vergangenheit, die als Reales unsichtbar bleibt — es sei denn in der Materialität ihrer vielfältigen Zei­chen —, eine stillstehende Gegenwart entgegen, die gedenkt und vergegenwärtigt. Damit wird das Verhältnis zur Zeitlichkeit ge­spalten, und das Gedächtnis pluralisiert und atomisiert sich in Er­mangelung einer Verankerung, aus der heraus ein volles kollek­tives Gedächtnis sich bilden könnte. Begünstigt durch die Vereinheitlichung der Lebensweisen und der Mentalitäten, ver­ebbt die Geschichte zum Augenblick, da es keine wirklichen Er­eignisse mehr gibt, sondern nur noch eine Fülle von »Nachrich­ten«. Wenn die Gegenwart ihre Fühler nach der Vergangenheit ausstreckt, geschieht dies in einer rein museographischen Bezie­hung, ohne Bemühen um die Umrisse einer Zukunftsdefinition. Die Funktion des historischen Diskurses als Wechselbeziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist ins Wanken geraten.

Der Postmodernismus instauriert ein Verhältnis zur Ge­schichte, das dem des Senilen vergleichbar ist, der — für immer von jeder Möglichkeit eines Zukunftsentwurfs abgeschnitten — nur noch seine Erinnerungen sammeln kann. Der Erfolg des Strukturalismus entspricht also durchaus einem globalen Zivilisa­tionsphänomen; er steht in Zusammenhang mit der Einrichtung einer technokratischen Gesellschaft, mit dem eindimensionalen Menschen, den Herbert Marcuse entstehen sah, mit einer Ver-dinglichung des auf seine Konsumentendimension verkürzten Menschen. In dieser Hinsicht ist der Strukturalismus, ohne dar­auf reduzierbar zu sein, die Ideologie von den Nichtideologien, die Ideologie vom Ende der revolutionären Ideologien, der kolo-

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nialen Ideologien, der christlichen Ideologien. In den sechziger Jahren bildet dieser Aspekt freilich noch das Ungesagte, das Nichtbewußte tiefgreifender Transformationen, die erst in den achtziger Jahren zum Vorschein kommen und in ihrer Positivität eingefordert werden. Dieser Befriedungsprozeß, dieses Ende der signifikanten Brüche schließt die Gegenwart in sich selber ein und führt zur dominierenden Empfindung des Wiederkauens, des Auf-der-Stelle-Tretens in einer Gesellschaft, in der »das Neue ebenso Aufnahme findet wie das Alte, die Innovation ba­nalisiert« 22 wird.

Die Krise der Legitimationsdiskurse

Der Rückzug aus der Geschichte und die Krise der Legitima­tionsdiskurse, wie sie der Postmodernität eigen sind, speisen sich aus einer pessimistischen, die Illusionen der Vernunft kritisieren­den Haltung und zugleich aus einem Willen zur Dekonstruktion all dessen, was sich als globale Kohärenz, kategorischer Impera­tiv, natürliche Ordnung gibt und nun einer radikalen Kritik un­terzogen wird. Die Vorstellung von Realität selbst findet sich in Frage gestellt. Da alles, was auf ihre Kategorien verweist, nur Desillusionierungen bewirkt, wird sie in die Ordnung der Bedeu­tungslosigkeit verdrängt. Der Strukturalismus ist in diesem Punkt durch sein De-Realisierungsvermögen eine Etappe im De-konstruktionsvorgang gewesen. Unmerklich wandelt sich in der Ära des Scheins der öffentliche Raum zum Werberaum in dem Augenblick, in dem alle Referenzpunkte schwinden — raumzeit­liche Werte, die man für immer und überall gültig gehalten hatte.

In der Philosophie der Suche nach dem verborgenen Gesicht klingt eine Ästhetik des Verschwindens nach, wie Paul Virilio sie am Werk sieht und in der die Realität vom Realeffekt abgelöst wird. Ein verallgemeinerter Skeptizismus versetzt in der postin­dustriellen oder postmodernen Gesellschaft jede Metaerzählung

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in die Krise. Nach Jean-François Lyotard23 tritt dieser Übergang zu einer neuen Diskursökonomie gegen Ende der fünfziger Jahre in Europa zu dem Zeitpunkt auf, als der »Wiederaufbau« beendet ist.

Mit den modernen Kommunikationstechnologien, mit der Informationsgesellschaft vollzieht sich ein Umschlagen des Wissens: Es wird zum untrennbaren Bestandteil der Macht der Entscheidungsträger, der Programmierer, welche die alte, tradi­tionelle politische Klasse nach und nach in eine untergeordnete Rolle verweisen. Angesichts dessen nimmt die Frage der Legiti­mation einen neuen Verlauf, um eine Krise der großen Erzählun­gen auszulösen, eine »innere Erosion des Prinzips der Legitimität des Wissens«24. Die Dekonstruktion des einen, des Metadiskur-ses schafft Platz für ein Ausufern multipler, keinem Subjekt zu­geordneter Diskurse, bloßer Sprachspiele, Fasern ohne Maschen. Der humanistische Horizont tritt zurück und wird durch einen performativen Spieleinsatz, eine »Legitimierung durch das Fak­tum« 25 ersetzt.

Menschheitsdämmerung

Die Antwort des Strukturalismus auf diese Krise der Legitima­tionsdiskurse bestand darin, die Ambitionen des Menschen auf provinzielle Dimensionen zurückzustutzen; als einfaches Mit­lebewesen des Planeten ohne besondere Vorrechte unterliegt er einer Geschichte, die ihm nicht mehr gehört und die sich im geologischen Maßstab vollzieht. Lévi-Strauss ist wohl der bedeu­tendste Vertreter dieses grundlegenden Pessimismus, dieser Ver­setzung des Menschen in den Ruhestand. Er wirft einen überaus kritischen Blick auf die Entwicklung der westlichen Modernität, der er mit tiefer Skepsis begegnet, womit er sich in einer langen Tradition konservativen Denkens von Edmund Burke bis Phi­lippe Ariès bewegt: »Ich nehme den Vorwurf des Pessimismus

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gerne an, wenn man bereit ist, das Eigenschaftswort >heiter< bei­zufügen.«26

Diesen abgeklärten Blick akzentuiert die Position des An­thropologen, der zusehen muß, wie sein Studienterrain ihm unter dem Zugriff einer zumeist erzwungenen Akkulturation unter den Füßen weggezogen wird. In Australien hat sich die Zahl von zweihundertfünfzigtausend Ureinwohnern zu Beginn des 19. Jahrhunderts Mitte des 20. Jahrhunderts auf vierzigtausend ver­ringert, und selbst dabei handelt es sich hauptsächlich um Über­lebende, die mit Hunger und Krankheit geschlagen sind. Binnen fünfzig Jahren, zwischen 1900 und 1950, sind in Brasilien neun­zig Stämme ausgestorben. Diese Verluste auf dem spezifischen Terrain des Ethnologen nötigen ihn zum Rückzug auf seine Herkunftsgesellschaft, auf die er seine Analysemethoden zwar anwenden kann, jedoch ausgehend von der Uniformisierung der Modernität, die ihre Gesetze aufzwingt. Lévi-Strauss lotet also eine Dämmeratmosphäre aus. Nach der Götterdämmerung kommt die Menschheitsdämmerung: »Es naht der Tag, da die letzte der Kulturen, die wir primitive nennen, vom Erdboden verschwunden sein wird [...].«27 Am Ende seiner Tetralogie über die Mythen schließt Lévi-Strauss abgeklärt auf eine Zurückbil-dung des Zusammenhangs von Universum, Natur und Mensch, die schließlich »in der Evidenz ihrer Hinfälligkeit ins Nichts zu­rücksinken« 28.

Seit 1955 warnte Lévi-Strauss den Westen vor den Desastern, vor der Kehrseite des Aufschwungs der Wirtschaftswunderzeit. Mit den Traurigen Tropen nahm er sich vor, die primitiven Ge­sellschaften wiederzubeleben, verschüttet in »unserem Unrat«, den wir der Menschheit ins Gesicht schleudern, dem Beton, der sich wie Unkraut ausbreitet, der Verelendung der Slums, der Ausplünderung der Wälder. Als fürwahr traurige Bilanz einer sich als Lehrmeister gebärdenden Erobererzivilisation bleibt der Tod, den sie hinter dem heuchlerischen Antlitz des Abenteuers und der Begegnung des Anderen bringt. Lévi-Strauss' strukturale

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Anthropologie geht mit der Aufklärung ins Gericht, mit ihrer Anmaßung einer universal gemeinten Botschaft.

Auch Foucault äußert, wenngleich auf spekulativer Ebene und nicht vom ethnographischen Terrain her, den Wunsch, den Uni­versalismus zu stürzen: »Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien.«29 Dem optimi­stischen Freiheitskampf Sartres setzt Foucault eine Mikrophysik des topischen Widerstands gegen die Mächte entgegen, eine spe­zifische, präzis auf ein besonderes Wissensfeld eingegrenzte Auf­gabe. Zur Stunde der Struktur ahnt er das Ende des universellen Intellektuellen und stellt ihm denjenigen entgegen, der durch eine permanente Schwellenüberschreitung das Ungedachte der offi­ziellen Erkenntniskategorien beschreibt.

Gewinn und Verlust

Diese neue Problemstellung, sei es die von Lévi-Strauss oder die von Foucault oder — jenseits seiner extremen Vielgestaltigkeit — die des strukturalistischen Denkens überhaupt, wurzelt im post­modernen Rückzug aus der Geschichte in einen Pessimismus, der nicht nur heiter, sondern auch fruchtbar gewesen ist. Mangels hi­storischer Perspektive bevorteilt der Strukturalismus, nachdem er den Status des Menschen ins Wanken gebracht und von der Realität des Realen Abstand genommen hat, die geschlossenen Systeme, als Zufluchtstätte zu wissenschaftlich ausgerichteten Methoden und als zugleich unzugänglicher Ort, verdrängt auf den anderen Schauplatz abseits des Bewußtseins. Die Komplexi-fizierung des Sozialen und das Unvermögen, seine einheitsstif-tende Logik zu erfassen, haben diesem Rückzug auf das Forschen nach einer Einheitlichkeit der verborgenen Seite des Realen, der Verlagerung des Positivismus auf die Rückseite des Spiegels Vor­schub geleistet. Der enthüllte Sinn fällt der Bedeutungslosigkeit anheim, denn er gehört nicht mehr zum geschlossenen Feld die-

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ses Universums abseits des Referenten stehender Zeichen, die in Abwesenheit jeglicher materiellen Kausalität aufeinander verwei­sen. Die Wahrheit des geschlossenen Systems wird nicht mehr von einer Hermeneutik erforscht, die von der offenbarten Be­deutung ausgeht, sondern sie wird die Beziehungen und Wech­selbeziehungen zwischen Zeichen innerhalb der abgesteckten Struktur und des von dieser definierten Spiels erfassen müssen.

Aus dieser Verflechtung der Beziehungen ist die historische Kontingenz wie das freie Spiel der Initiative entleert. Bildet dabei die strukturale Linguistik das bevorzugte Vorgehensmodell, so lassen sich gleichwohl Ähnlichkeiten zum kybernetischen Ver­fahren feststellen, das die finalistische und anthropozentrische Perspektive dezentriert und den Selbstregulierungsprozessen den Vorzug gibt. Die Kombinatorik einer Physik der Relationen, die Spiele und Rückspiele des Selben und des Anderen rücken den Menschen aus dem Zentrum, der nur noch einen illusorischen Platz einnimmt : »Wir müssen mit allen Kräften dieses Netz von Scheinbarkeiten zerreißen, das wir den Menschen nennen.«30

Zur Stunde, da die Humanwissenschaften im Bann des kyberne­tischen Modells zu stehen scheinen, wird die menschliche Varia­ble in ihren psychologischen oder historischen Bestandteilen haltlos und muß einer strengen Methode weichen, die den glei­chen Effizienzgrad für sich beansprucht, wie er in den exakten Wissenschaften üblich ist. Das sich durchsetzende geschlossene System wird für die Entfernung der realen Welt einen hohen Preis fordern. Allerdings wird es bemerkenswerte Leistungen erbrin­gen durch den Aufschluß des Wissensfeldes, das es ankündigt.

Auf seiner Suche nach dem Unbewußten der sozialen Prakti­ken wird sich der Strukturalismus das Zeichenuniversum des Symbolischen, der kollektiven Repräsentationen, der Riten und Gebräuche in ihrer internen Logik, der Schicht des Nicht-Expli­ziten in den Spuren menschlicher Tätigkeit erschließen. Der Zu­gang zu diesen neuen Gegenständen und deren Pluralisierung werden zur Sprengung der Kausalitätssysteme beitragen: »Die

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strukturale Methode hat es gestattet, über die stark vereinfachen­den Kausalismen oder Determinismen zu triumphieren.«31 Die vereinheitlichende Kohärenz der Sozialgeschichte ist im Treib­sand der strukturalen Kombinatorik verschwunden, die den dop­pelten Aspekt der Einheit und ihrer Pluralisierung annimmt in ei­nem dialektisch gewendeten Spiel des Selben und der Andersheit, das die neue Ära der Posthistorie eröffnet.

Der Einfluß Nietzsches und Heideggers

Inmitten des Jahrhunderts der triumphierenden abendländischen Geschichte, des 19. Jahrhunderts, macht ein Philosoph eindring­lich auf ihre Sackgassen aufmerksam : Friedrich Nietzsche. Die zu Werke gehende Vernunft gebärt merkwürdigerweise einen des­potischen Staat. Die deutsche Einheit verwirklicht sich, jedoch um den Preis der Errichtung eines militarisierten und aggressiven Preußenstaats. Nietzsche schreibt damals Unzeitgemäße Betrach­tungen (1873/74) über die Gefahren der Historie in ihren beiden Bedeutungen als Historizität (Geschichte) und Erkenntnis des historischen Werdens. Nietzsche theoretisiert den Suizid der abendländischen Historie und den Tod des Homo historicus. Der Theodizee, die zur Erschaffung des »kältesten aller kalten Unge­heuer« (des Staats) führt, hält er die Apologie der pluralischen, lokalen und gegenwärtigen Werte entgegen. Er predigt die Rück­kehr zu den Quellen eines durch seine sukzessiven Rassenvermi­schungen und durch seine verzerrte universalisierende Botschaft erschlafften Europa mittels eines radikalen Auszugs aus der Ge­schichte. Es ist der Zeitpunkt, an dem Darwin die Abstammung des Menschen vom Affen enthüllt. Die anthropozentrische Per­spektive und das metaphysische Denken werden von den wissen­schaftlichen Entdeckungen auf die Probe gestellt.

Der nihilistische Diskurs Nietzsches kann sich dann entfalten und sich der optimistischen Perspektive der siegreichen Aufklä­rung entgegenstellen. Diese narzißtische Kränkung tut zusätzlich zur kopernikanisch-galileischen Offenbarung, der zufolge die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht, das Ihre zum Sturz der abendländischen Metaphysik hinzu. Die Entwicklung

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der Vernunft mündet somit in ihrer Kehrseite, in der Bewußtwer-dung eines Un-Sinns, der Relativität und Relativierung der Figur des Menschen selbst. Nietzsche verabschiedet die Historie wie die Dialektik der Vernunft.

Später greift Heidegger in seiner radikalen Kritik der Moderni­tät das Nietzschesche Erbe wieder auf. Sein Denken verwurzelt sich im Kontext des von Oswald Spengler ausgemalten Untergangs des Abendlandes, ein Bild, das Heidegger unter dem Eindruck des Traumas des Ersten Weltkriegs und des in den zwanziger Jahren daraus erwachsenen Debakels der Weimarer Republik noch ver­schärfen wird. Er zeichnet den Verlauf der »Seinsvergessenheit« nach, eines ständigen Verdrängens des Seins hinter die Vorrang­stellung des Seienden. Die Offenbarung der Wahrheit ist dem Menschen in dem Maße nicht mehr zugänglich, als jede ihrer Ma­nifestationen »in sich zugleich die Verbergung des Seienden im Ganzen«1 ist. Die Geschichte wird nur mehr traurige Entrollung einer seit dem Ur-Sprung mystifizierten Vernunft. Die Thematik der ewigen Wiederkehr findet ihren Widerhall in Heideggers Kon­zeption der Philosophie a perennis, einem wahren Wiederkäuen desselben aufgrund der Frage, warum es das Sein gibt statt nichts, deren Antwort lautet, daß es keine Antwort gibt. Als Philosophie der Ohnmacht bezeichnet sie unser Unvermögen zu antworten, es sei denn, wir machten uns wieder die »Heiligen Schriften und die apostolische und romanische Kirche [zu eigen], was übrigens nicht heißt, daß Heidegger gläubig gewesen ist«2.

Ein grundlegender Pessimismus beseelt diese beiden Philoso­phien, die das Ende der Philosophie fundieren wollen : »Es sieht aus, als ob alles chaotisch würde, das Alte verloren ginge, das Neue nichts tauge und immer schwächlicher werde.«3 Diese Ver­nunft, die es erlaubt, den Menschen zu dezentrieren, hegt für Nietzsche noch die Illusion ihrer Allmacht; sie bestärkt sich je­desmal mehr an den Verletzungen, die sie verursacht. Desglei­chen vertieft sich die Seinsvergessenheit mit der Entwicklung der Modernität, mit der Verallgemeinerung der Technizität.

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Die Gegenaufklärung

Diese beiden Denkweisen bieten sich als Gegenaufklärung dar, und Nietzsche prangert den brutalen und gewalttätigen Charak­ter an, den die Philosophie der Aufklärung mit ihrem Ausgang in der Französischen Revolution offenbart habe. Jedes Umschla­gen, jeder revolutionäre Umbruch kann nur ein Bild der Barbarei zeichnen: »Nicht Voltaires [...] maßvolle Natur, sondern Rous-seaus leidenschaftliche Torheiten und Halblügen haben den opti­mistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: >Écrasez l'infâme!<«4 Hier macht sich Nietzsche zum An­walt der gemäßigten, progressiven Aufklärung gegen die radikale Aufklärung, die für den Vollzug der Revolution arbeitet. Doch in der Hauptsache errichtet sich das Werk Nietzsches wie dasjenige Heideggers in einer radikalen Kritik der Aufklärung. Beide fech­ten sie in erster Linie gegen eine bestimmte Auffassung von der Historizität als Trägerin des Fortschritts. Wenn es einen Sinn der Geschichte gibt, dann den, der unerbittlich in den Untergang führt. Für Nietzsche ist das Bewußtsein mit Geschichte ver­stopft, von der es sich zu befreien gilt, um über die Gegenwart zu urteilen: »Nietzsche [...] verabschiedet die Dialektik der Auf­klärung.«5 Hinter deren Ansprüchen auf Universalität nimmt Nietzsche die immanenten, verhohlenen Logiken des Willens zur Macht wahr. Das Werden ist ein Un-Sinn oder vielmehr die Er­kenntnis der Tragik der Dinge, welche das Wesen der Dinge selbst ist: »Historie [ist] immer noch eine verkappte Theologie.«6

Freilich führt der Un-Sinn den Menschen in die Ohnmacht, in den Nihilismus, den eine aristokratische Elite, die der Starken, auf sich nimmt, die jeder Illusion über das menschliche Handeln ein Ende bereitet. Der Rationalisierungsgeist des Menschen wird in Kontinuität zum religiösen Geist gestellt. Die Vernunft habe Gott in einer ähnlichen Illusion substituiert. Die Bemühung um menschliche Herrschaft ist somit lächerlich.

Nietzsche läßt den Untergang der Menschheit auf die Ur-

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sprünge des griechischen Denkens zurückgehen, auf Sokrates, der in Ecce Homo als das Symptom der Dekadenz selbst er­scheint. Der Instinkt und die Dionysische Hybris finden sich darin der Sokratischen Ethik entgegengestellt, an deren Stelle später zur Verdrängung und Erstickung der Lebenstriebe die reli­giöse Moral getreten ist. Die gesamte Geschichte der Zivilisation entfaltet sich demnach gemäß der höllischen Logik einer kastrie­renden Vernunft und einer mystifizierenden Moral. Was die Phi­losophie betrifft, muß sie den unter der Larve der Zivilisation verschütteten Schöpfungstrieb wiederfinden. Nietzsche predigt das Vergessen, um sich vom Illusorischen und von der Mystifika­tion loszumachen: »Es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu le­ben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben.«7 Als grundlegend pessimistischer, der Geschichtlichkeit feindlich ge­sonnener Denker hat Nietzsche einen eingefleischten Haß auf die Massen, auf die Revolution.

In seiner Korrespondenz mit einem deutschen Offizier wäh­rend der Besetzung von Paris im Jahre 1870 teilt er diesem seine Gedanken mit. Er betrachtet den Krieg als nützliche Erprobung der Männlichkeit; hingegen erschreckt ihn die Pariser Com­mune, der Aufstand der »Sklaven«, die in einem bestürzenden Schauspiel die Regeln übertreten. Was das allgemeine Unter­richtswesen betrifft, so führt es geradewegs in die »Barbarei«, wie er zwischen 1871 und 1873 in vorbereitenden Merkzetteln für seinen Essay über die Zukunft der Bildungseinrichtungen schreibt. Die Spender irdischen Glücks — Ende des 19. Jahr­hunderts die sozialistische Bewegung — können lediglich den metaphysischen Geist vollenden, der in der gesamten abendlän­dischen Geschichte am Werke ist, und diese damit in den Nieder­gang, in die Katastrophe führen. Die Entschleierung der meta­physischen Ära hingegen bringt ein noch immer hilfloses, krückenlos dem Ephemeren anheimgestelltes Individuum zum Vorschein, das sich scharf vom falschen Glück der metaphysi-

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sehen Zeitalter abhebt. Daher rührt die Versuchung, sich dem Aufbau einer besseren Zukunft zuzuwenden, doch auch diese hat immer Elemente einer tröstlichen Illusion: »Jede bessere Zu­kunft, welche man der Menschheit anwünscht, ist notwendiger­weise auch in manchem Betracht eine schlechtere Zukunft [...].«8

Der wahre Feind ist damit der Sozialismus : »Der Sozialismus ist der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despo­tismus [...]«9 — »[...] die giftträgerischen Verbreiter jener Volks­krankheit, welche als sozialistische Herzenskrätze sich jetzt im­mer schneller der Masse mitteilt [...].«10 Da die Geschichte Ende des 19. Jahrhunderts den unwiderstehlichen Erfolg der sozialisti­schen Bewegung zu gewährleisten scheint, muß man sich ihrer entledigen, um die Gefahr, die dem Abendland droht, besser bannen zu können : Geschichte ist bei Nietzsche Mystifikation, Niedergang, Modergeruch, lähmende Zwangsjacke. Damit er­scheint er inmitten des historizistischen Jahrhunderts als radika­ler Verfechter einer Auflösung der Kategorie des Neuen, als der Denker vom Ende der Geschichte.

Er ist in dieser Hinsicht der Vorläufer der in der Mitte des 20. Jahrhunderts triumphierenden Postmodernität. Er hat bereits die Dekonstruktion des einheitlichen, totalen Rahmens der Be­wegung der Geschichte vorgezeichnet, um einer Unbewegtheit Platz zu machen, einer stillstehenden Gegenwart, in der die Ge­schichten, da sie sich nur mehr in einem individuellen Maßstab errichten, einen Prozeß der Atomisierung, der Pluralisierung er­fahren: »Nietzsche und Heidegger [...] [haben] die Grundlagen zu einem Bild der Existenz innerhalb dieser neuen Bedingungen der Ungeschichtlichkeit — oder besser der Postgeschichtlichkeit — gelegt.« n

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Die Seinsvergessenheit

Heidegger greift in seinen Vorlesungen der dreißiger Jahre Nietz­sches Kritik an der Modernität auf, um sie noch zu radikalisieren. Er stellt die Überlegenheit der Philosophie wieder her. Auch für ihn ist die Geschichte nur die Entfaltung eines allmählichen Ver­falls, der vom griechischen Zeitalter an12 in der beständigen Seinsvergessenheit wurzelt. Im Satz vom Grund (1957) kritisiert er zwei Formen des Geschichtsdenkens. Zum einen das, was er als Metaphysik der Geschichte bezeichnet, aus der heraus in der historischen Entwicklung die Freiheit am Werk sein soll. Diese Auffassung untersteht insofern der Metaphysik, als sie voraus­setzt, daß der Mensch im Kern des historischen Prozesses stünde. Ein solcher Glauben fällt daher für Heidegger unter eine Illusion, unter eine Metaphysik der Subjektivität. Zum anderen kritisiert er den Hegelianismus als eine Teleologie, in der die Vernunft im Zuge ihrer schrittweisen Selbstentwicklung im Verlaufe der Ge­schichte sich selbst offenbart, als eine andere Form von Metaphy­sik somit, welche die Historie dem Vernunftprinzip unterwirft, eine Spielart, die das Subjekt wieder an einer zentralen Stelle ein­führt, nicht weil dieses einen Prozeß beherrschte, dessen Schli­chen es meist zum Opfer fällt, sondern weil es Zugang zum Ver­ständnis des Sinnes des Prozesses finden kann. Diesen Sinn aber formt es nach der Struktur seiner eigenen Vernunft, der des Men­schen und nicht der des Seins, das in der Vergessenheit einge­sperrt bleibt.

An die Stelle dieser Herangehensweisen, die er als metaphysi­sche bezeichnet, setzt Heidegger die Geschichte des Seins, eine Geschichte ohne Geschichte, eine einfache Entfaltung dessen, was sich durch ihre aufeinanderfolgenden Bilder hindurch gibt, ohne Sinn, ohne Filiation, ohne Periodisierung. Die Metapher, mit der er die Geschichte denkt, ist die von der Blüte eines Rosenstrauchs im Frühjahr, die vielfältigen Knospen sind ohne Stamm, ohne Verwurzelung ; sie veranschaulicht deutlich die zer-

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sprengte, zerbröselte Geschichte, ohne Subjekt, das dem histori­schen Ablauf Sinn gäbe, und auch ohne unterschwelliges, verbor­genes Subjekt, nach dessen Spur zu forschen wäre.

Seit Sein und Zeit (1927) setzt Heidegger die Zeitlichkeit des Seins als die eines fortschreitenden Verfalls an, der in die Apoka­lypse führt, an der er, wie man nunmehr weiß, teilgehabt hat. Der Niedergang ist der menschlichen Geschichte strukturell imma­nent: »Da er dem Sein selbst des Daseins angehört, ist er ein Exi-stenzial.«13 Von der Rektoratsrede bis zum Spiegel-Gespräch wiederholt er unablässig seine Kassandrarufe gegen den Verfall, dem das Abendland unausweichlich anheimfalle : »Wenn die gei­stige Kraft des Abendlandes versagt und dieses in seinen Fugen kracht, wenn die abgelebte Scheinkultur in sich zusammenstürzt [...].«14 Gegen diese Zurückbildung setzt Heidegger die Kraft der Verwurzelung, der Tradition und des Vaterlands: Sie sollen Boll­werke gegen die Technizität der modernen Welt sein, welche die Totalität des Seienden mit sich bringt, mit dem sich das Dasein des Seins auflöst. Ist die Geschichte der abendländischen Zivilisa­tion die Geschichte einer fortschreitenden Seinsvergessenheit, so bildet das 20. Jahrhundert den Kulminationspunkt dieser Amne­sie.

Die Kritik, die Heidegger an der Modernität, an der Technik, an der Massenzivilisation entfaltet, enthält für Jürgen Habermas keinerlei Originalität, denn sie begnügt sich damit, das überkom­mene Gedankengut der konservativen Mandarine seiner Genera­tion zu sammeln. Die Drift, die in der Heideggerschen Theorie zur Affinität mit dem Nationalsozialismus führt, ortet Jürgen Habermas in der Umbesetzung der Kategorien der Fundamental-ontologie im Jahre 1933. Das Dasein bezeichnete bis zu diesem Datum das Sein-zum-Tode in seiner Singularität. Seit 1933 aber bekleidet es eine kollektive Bedeutung: Es ist das des wieder ge­sammelten Volkes. Indem auch er die Bahn der überlegenen Vernunft verläßt, schlägt Heidegger einen gewundenen Weg ein, wandernd in einem Dazwischen, in einer dunklen Welt, die »nir-

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gendwohin führen wird«. Es geht um ein Denken des Umherir­rens zu den Wegen, die ins Land der Ursprünge, des Logos zu­rückführen. Die Thematik des Wanderns, das keinen irdischen Endpunkt findet, die Pilgerfahrten des »Hirten des Seins«, wel­cher der Mensch ist, erinnern an die Theologie : »Daher kommt es, daß die Theologen die ersten waren, die Sein und Zeit aufnah­men.« 15 Heidegger hat das Sein radikal von der empirischen Rea­lität gelöst und die Beendigung der Geschichte vollzogen.

Der Antihumanismus

Nährt der Strukturalismus sich von diesem Antihistorizismus, so findet er bei Nietzsche und Heidegger auch eine radikale Kritik des Humanismus vor, die es erlaubt, die Figur des Menschen ver­schwinden zu lassen wie ein Gesicht aus Sand am Meeresufer. Zu Anfang erkennt man den Bruch wieder, den Nietzsche mit dem Tode Gottes einleitet, der die Idee von der Herrschaft eines iden­tifizierbaren, definierbaren, im Brennpunkt der Geschichte ste­henden Menschen ins Wanken bringt. Nietzsche denunziert die Vergöttlichung des Menschen, die in der Epoche der Aufklärung an die Stelle der Religion getreten ist und sich im 19. Jahrhundert fortsetzt.

Wenn Gott nicht mehr ist, kann man sich nicht auf eine unver­rückbare menschliche Natur als aeterno, veritas, als Maß aller Dinge beziehen. Nietzsche leitet aus diesem Relativismus einen radikalen Nihilismus ab. Ein moralisches Urteil ist nicht mehr möglich, denn im Namen von was könnte es beanspruchen, sich zur Norm zu erheben ? »Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen.« 16 Das ethische Urteil setzt eine Freiheit des Handelns, eine Ebene der Verantwortlichkeit voraus, die der Mensch nicht besitzt. Es gibt kein anderes Kriterium als das, was dem einzelnen unter bestimmten gegebenen Umständen zu tun gut dünkt, alles andere ist nur die Schule der Unterwerfung des

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Subjekts: »Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muß [...].«17 Nietzsche geht gegen den Humanismus als Doktrin an, die dem Menschen die zentrale Subjektrolle als volles Sein, als Sitz der Evidenz des Selbstbe­wußtseins zuordnet. Nietzsche drückt hier die Unmöglichkeit aus, mit dem Tode Gottes sich auf irgendein transzendentales Fundament zu stützen.

Auch diese Kritik des Humanismus wird von Heidegger auf­gegriffen und radikalisiert. Der Mensch ist hier grundlegend aller Herrschaft enteignet, da seine Realität ihm auf immer nur als Schleier erscheinen wird : »Die Frage, wer der Mensch sei, muß immer im Wesenszusammenhang mit der Frage gestellt werden, wie es mit dem Sein steht.«18 Diese Befragung verweist uns zu­rück auf die Undeterminiertheit und auf die Unzugänglichkeit, nur daß der Mensch davon die Spur, die Einkehr, der Zeuge ist. Die Leistung von Heideggers Kritik liegt in der Hervorhebung der Tatsache, daß es die Eigenheit des Menschen ist, keine Eigen­heit zu haben, woraus seine Fähigkeit rührt, sich den Codes zu entreißen, die ihn in kontingenten Definitionen, in besonderen Determinierungen einschließen. Die Ek-sistenz geht der Essenz voraus: Das ist das, was den Menschen in seinem erstlichen Nichts und seiner Berufung zur Universalität spezifiziert.

Heidegger repräsentiert einen maßgeblichen Bruch gegenüber der Idee vom Menschen als Beherrscher und Besitzer der Natur. Sartre wird sich später davon inspirieren lassen: »Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist.«19 Von diesem Postulat her stellt sich das Pro­blem, das zu zwei gegensätzlichen Interpretationen Anlaß gibt : ob der Existentialismus ein Humanismus sein kann, wofür Sartre eintritt, oder ob er eine antihumanistische Position induziert, wie Heidegger denkt.

Dieser erläutert seine These in der Darlegung an Jean Beaufret von 1946, dem Brief über den Humanismus, in dem er die huma-

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nistische Interpretation seines Denkens zerschlägt. Für Heideg­ger gibt sich die Ek-sistenz dem Menschen nicht nach Art des Cartesischen Cogito, welches lediglich eine rationalistische Hy­perbel ist, umzustülpen in die Formel: »Ich bin, also denke ich.« Aber der Mensch ist in einer Situation unüberwindlicher Ent­fremdung: »Überall kreist der Mensch, ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins, um sich selbst als animal rationale.«20

Das In-der-Welt-sein hat sich, anstatt seine Stellung als Hirt des Seins wahrzunehmen, im Seienden verloren, ein Verlust, der sich im 20. Jahrhundert übersetzt durch die Technisierung der Welt, die Verallgemeinerung der Modernität, das Ge-stell, das technische Stellen. Das Los des Menschen hängt in der Heideg-gerschen Konzeption nicht von ihm ab; er hat keinen Autono­miespielraum in seinen subjektiven Fähigkeiten, er kann nur der Stimme des Seins lauschen, und mit dieser Begründung werden der Philosoph und der Dichter als diejenigen vorgestellt, denen es gelungen ist, jenem Dasein des Seins am nächsten zu sein, das im übrigen zumeist als ein »Ab-grund« dargestellt wird.

Das Sein verweist auf die Bedingtheit des Menschen als Sein-zum-Tode, den Ursprung, der die Welt des Denkens hat erstehen sehen. Heidegger verschiebt mithin den Blickpunkt des Cartesi­schen Cogito oder des Psychologismus. Er stellt sich nicht mehr auf den Plan, wo das Bewußtsein sich selbst beherrscht, sondern auf die Ebene der Existenzbedingungen des Cogito. Daher der an Sartre adressierte Vorwurf, vom Cogito auszugehen, wohinge­gen er versucht, dessen Bedingungen wiederzufinden. In dieser Archäologie des Cogito findet der Mensch sich unweigerlich de­zentriert, einer Geschichte unterworfen, von der er nicht mehr das Subjekt, sondern das Objekt oder Spielzeug ist.

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Die Erstlichkeit der Sprache

In dieser Suche nach den Ursprüngen des Denkbaren messen Nietzsche wie Heidegger der Sprache und der Untersuchung der Gesetze ihres Funktionierens herausragenden Wert bei. Durch die Funktionalität des Seienden fehlgeleitet, habe die Sprache an ursprünglicher Reinheit verloren. Die philosophische oder poeti­sche Suche sei darauf angelegt, diesen Mangel zu beheben, um den Sinn des verlorenen Logos wiederzufinden. Das Seiende ver­schleiere die Bedingungen, die seiner Realität obwalten. Heideg­ger tritt deshalb dafür ein, den Weg über die Auslegung der Spra­che zu nehmen, die das privilegierte Medium der Geschichte des Seins bildet: »Heidegger [verleiht] der phänomenologischen Me­thode den Sinn einer ontologischen Hermeneutik.«21

Hauptsächlicher Untersuchungsgegenstand wird in der Hei-deggerschen Perspektive also das Feld der Sprache sein. Unüber­sehbar liegt hierin eine wesentliche Wurzel des Strukturalismus, der ja seinen Aufschwung erleben wird, indem er das linguisti­sche Modell auf das gesamte Feld des Wissens der Humanwis­senschaften hin verallgemeinert. Diese fruchtbare Anregung läßt freilich alles außer acht, was dem Seienden unterliegt. Überdies ist dieser Einfluß durch die Unkenntnis der Pragmatik Charles Sanders Peirces und der Sprachphilosophie Ludwig Wittgen­steins oder John L. Austins gekennzeichnet.

Für Heidegger, dem die Errungenschaften der Pragmatik un­bekannt sind, spricht nicht der Mensch, sondern die Sprache ; der Mensch hat daran genug, gesprochen zu werden. Daraus er­wächst ein nominalistisches Vorgehen und eine Fetischisierung der Rede : Da der Mensch sich von der Pflanzen- und Tierwelt durch die Sprache unterscheidet, stellt diese Auszeichnung und Bürde zugleich dar.

Auf die gleiche Weise verwirklicht die Nietzschesche Kritik der Metaphysik diese Dezentrierung des Cogito hin zur Sprache, vorgestellt in ihrem rhetorischen »Naturell«. Die metaphorischen

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oder metonymischen Prozeduren der Sprache begründen eine Kritik der — unerreichbaren — Wahrheit, um an ihre Stelle das un­endliche Labyrinth der Interpretationen zu setzen, die nur in der Relativität ihres Aussageortes gelten: »Die Welt ist uns vielmehr noch einmal >unendlich< geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt.«22 Dieses neue Feld der Interpretation muß der Me­taphysik entkommen, die der Suche nach den Ursprüngen, der Genese Vorschub leistet, um anhand der Einheit des Subjekts Kontinuitäten und Kausalitäten zu errichten. Nietzsche macht sich im Gegenteil für eine Genealogie stark, die das Subjekt de­konstruiert, um die Bedingungen der Glaubenssysteme anhand dessen zu entziffern, was sie verbergen oder verdrängen. Diese Dekonstruktion nimmt das Modell der ursprünglichen Ein­schreibung einer ihrer Formulierung vorgängigen ersten Wahr­heit aufs Korn; sie zielt auf alles Absolute, von dem das menschli­che Sein vorgeblich getragen sei.

Das genealogische Programm

Wie später Heidegger, privilegiert auch Nietzsche die Sprache, die von der Unterwerfung unter den Imperativ der Wahrheit be­freit werden soll : »Nietzsche bewirkt, daß in seinem Text, in die­ser beharrlichen und wirksamen Schrift, deren höchster Aus­druck der Aphorismus ist, jene zensurierten und verdrängten Elemente wieder an die Macht kommen, zeigt ihre Perspektive auf.«23 Die Nietzschesche Genealogie soll ein anderes Herange­hen an die Zeitlichkeit und an die Beziehung zur Wahrheit entfal­ten. Sie gibt sich in allen Punkten als Gegensatz zum Platoni­schen Vorgehen; der Erinnerung/Anerkennung stellt sie die Zerstörung der Realität gegenüber, der Tradition die Irrealisie-rung und Spaltung der Identitäten, und die Erkenntnisgeschichte ersetzt sie durch die Destruktion der Wahrheit: »Die Genealogie,

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das ist die Geschichte als konzertierter Karneval.«24 Die Suche nach Wahrheiten ist doppelt ungangbar: Zum ersten sind die Wahrheiten nur Gewölk von Metaphern, Metonymien und An-thropomorphismen in einem.Maße, daß man sie haltbar glaubt, einfache Tauschwerte, deren Gebrauchswert man vergessen hat. Zum zweiten liegt die Täuschung in der Fiktion des Cogito: »Niemand [...] ist heute mehr so unschuldig, noch in der Art des Descartes das Subjekt >ich< als Bedingung von >denke< zu set­zen.« 25 Das Cogito erscheint für Nietzsche als das Modell meta­physischer Aussagen, als Hypostase des fiktiven Subjekts, dessen Mehrdeutigkeit er analysiert.

Die Genealogie wertet den Raum des Zeichens auf, der in einer Entschleierung des metaphysischen Einheitsdiskurses nachge­zeichnet werden muß. Der Sinn findet sich darin hinter der Opa­zität des stets geleugneten Textes. Es gilt also, nachdem man die karnevalesken Masken dekonstruiert hat, die fortlaufenden Si­gnifikantenketten der aufeinanderfolgenden Interpretationen zu rekonstruieren; und diese Ketten geben sich nicht in ihrer Konti­nuität, sondern vielmehr anhand der Diskontinuitäten, der Sym­ptome, der Mängel zu erkennen. Das genealogische Vorgehen privilegiert die andere Seite des Sagens, das verborgene Gesicht der Signifikate, um die übereinandergelagerten Schichten der Zeichen ihres metaphysischen Gehalts zu entbinden und zu ent­heben. Es will weniger den Inhalt des Diskurses als vielmehr seine Bedingungen restituieren. Diese Verschiebung auf das Dis­kursive ist Heidegger und Nietzsche gemeinsam.

Die Wiederaufnahme des Programms von Nietzsche und Heidegger

Die Heideggersche Suche nach dem Logos trifft sich hier mit Nietzsches Genealogie, und beide erfahren im Strukturalismus große Beachtung. Denn die Kritik des Ethnozentrismus, des Eu-

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rozentrismus wird sich in den fünfziger und sechziger Jahren im Zuge der strukturalistischen Welle akzentuieren, die sich das kri­tische Paradigma des Nietzscheanismus-Heideggerianismus zu eigen macht. Hinter der kontinuierlichen Entfaltung der siegrei­chen Vernunft spürt man nun das Bild des Wahnsinnigen, des Pri­mitiven, des Kindes auf, lauter Figuren, die verdrängt wurden, um die Herrschaft der Vernunft zu errichten. Lévi-Strauss reha­bilitiert das wilde Denken; Jean Piaget faßt die Kindheit nicht mehr als Negativ des Erwachsenenalters auf, sondern als spezifi­sches Alter; Foucault findet die lange Abtrift des Wahnsinns wie­der, die dessen Einsperrung vorausgegangen war; und Lacan löst das Subjekt auf, indem er Descartes' Cogito entgegenhält: »Ich denke da, wo ich nicht bin, also bin ich da, wo ich nicht denke.«

Luc Ferry und Alain Renaut26 haben die intellektuelle Struktur der sixties zutreffend systematisiert, auch wenn sie sich hinsicht­lich der Wechselbeziehung zwischen diesem Denken und dem Mai '68 täuschen. Man findet zum ersten die Hauptorientierun­gen des Nietzscheanismus-Heideggerianismus wieder im Thema vom Ende der Philosophie, wie es insbesondere Jacques Derrida vertritt, der daran arbeitet, das Denken von seinen Fesseln zu be­freien. Er befürwortet die Schrift einer reinen Spur, ein Denken, »das nichts sagen will«, eine pure Signifikanz, die vom Signifikat befreit ist. Zum zweiten trifft man erneut auf das Paradigma der Genealogie, das heißt die Problematisierung der äußeren Bedin­gungen der Produktion von Diskursen und nicht mehr die Un­tersuchung von deren Inhalt. Zum dritten verliert die Idee der Wahrheit, die allein es gestatten würde, die Adäquatheit des Dis­kurses mit seinem Inhalt zu verifizieren, jegliches Fundament und löst sich zur gleichen Zeit auf wie der radikal entfernte Refe­rent. Schließlich erlebt man die Historisierung der Kategorien und das Ende jeder Bezugnahme auf das Universale. Diesen von Ferry und Renaut zutage geförderten Parallelen muß noch das Verschwinden des Autorennamens und der Bedeutung seiner Existenz hinzugefügt werden: Der Autor tritt zurück hinter die

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Gesetze der Sprache, er ist lediglich ausführender Pol einer Kom­position, die ihm nicht gehört. Diese Konzeption, die es auch hier wieder auf Subjekt und Aussage des Diskurses abgesehen hat, mündet in ein neues Herangehen an den literarischen Text und an die Arbeit des Kritikers, der seinen Blick vom Autor auf den Text als geschlossenes System verlagern muß.

Sicherlich sind zwischen dem Nietzscheanismus-Heidegge-rianismus und dem Strukturalismus Verschiebungen am Werk ge­wesen. So sind der Antihumanismus Heideggers und der des Strukturalismus, auch wenn der eine sich dem anderen verdankt, nicht wirklich gleicher Art. Der strukturalistische Standpunkt verweist den Humanismus in eine Episteme der Vergangenheit zurück und bezieht daraus eine hohe epistemologische Rechtfer­tigung, während Heideggers Antihumanismus metaphysischer Natur bleibt: »Er hypostasiert das Sein auf alle Dimensionen der Geschichte.«27 Heidegger stellt eine Philosophie her, die weniger ein Denken des Endes der Geschichte ist als vielmehr ein Den­ken der auf das Sein zentrierten Metahistorie, eine Perspektive, die der Strukturalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen keinesfalls einnehmen wird.

Foucault : »Ich bin einfach Nietzscheaner«

Foucaults Anknüpfung an Nietzsche ist offensichtlich und wird als solche von ihm eingefordert: »Ich bin einfach Nietzschea­ner.« 28 Foucault schreibt im Geiste Nietzsches, bis hin zur Meta­pher vom Menschen, der am Ende der Ordnung der Dinge ver­schwindet. Er bewerkstelligt die gleiche Dekonstruktion des Subjekts und setzt an seine Stelle das Projekt einer Genealogie: »Alles ist bereits Interpretation.«29 Tief schürfend wie Nietzsche, wird Foucault die Vergessenen der Geschichte ausgraben und hinter dem Fortschritt der Aufklärung das Vorrücken einer durch die Dominanz eines juridisch-politischen Befreiungsdiskur-

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ses verkappten Disziplinargesellschaft entschlüsseln. So ist der Wahnsinn verdrängt worden durch die Entfaltung der Vernunft, von einer abendländischen Kultur, die in der Mitte des 20. Jahr­hunderts ins Taumeln geraten ist. Vollends an die Nietzschesche Lehre angeschlossen hat Foucault mit der Auflösung der Figur des Menschen, die er als bloßen flüchtigen Übergang zwischen zwei Seinsweisen der Sprache begreift : »Mehr als den Tod Gottes [...] kündigt das Denken Nietzsches das Ende seines Mörders, das Aufbrechen des Gesichtes des Menschen [...] an.«30 Daraus bezieht er auch den Primat einer Philologie, einer Diskursana­lyse : ein Unternehmen, das Nietzsche angekündigt hatte und das schon von Mallarmé aufgenommen worden war.

Die Hermeneutik wandelt sich zu einer Sémiologie, als sie, nachdem das Zeichen sich vom ursprünglichen Signifikat abgena­belt hat, Interpretation von Interpretationen ad infinitum wird. Der Humanismus hatte sich errichtet auf dem falschen Sockel des Mangels, der Inexistenz, als eine Art Tröstung. Zur zentralen Frage wird nun, warum und unter welchen Bedingungen der Mensch das denkt, was auf immer in einer Position der Äußer­lichkeit zu ihm stehen wird.

In Foucaults Blick hat Nietzsche die erste Entwurzelung der Anthropologie repräsentiert, deren Zusammenbruch »das Be­vorstehen des Todes des Menschen«31 ankündigt. Die Nietzsche­sche Genealogie inspiriert auch eine Arbeit, die nicht in der un­möglichen Suche nach den Ursprüngen Fuß faßt, sondern in der Aktualität, im historischen Präsens. Sie versucht nicht, die Konti­nuitäten zu erfassen, die unsere Welt im Aussagen vorhersagen, sondern peilt im Gegenteil die Diskontinuitäten, die Umschlag­stellen der Episteme an. Dem historischen Wissen kommt die Leistung zu, die Beständigkeiten, das tröstliche Spiel der Wieder­erkennungen zu problematisieren und zu zerbrechen.

Seine Archäologiearbeit veranlaßt Foucault zu besonderer Aufmerksamkeit für das Archiv, das als Monument aufgefaßte Dokument, um so die Verwerfungslinien nachzuzeichnen und

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die Singularität der jeder teleologischen Finalität entbundenen Ereignisse zu erkennen. Daß Foucault einen — zuallermeist von wechselseitigem Unverständnis befrachteten — Dialog mit den Historikern geführt hat, daß er die Geschichte als Forschungsfeld privilegiert und sogar mit Historikern (Michelle Perrot, Ariette Farge) zusammengearbeitet hat, daß er schließlich in den letzten Jahren seines Lebens von Paul Veyne beraten wurde, alles dies ist kein Zufall, sondern entspricht seinem genealogischen Vorge­hen : »Der Genealogiker bedarf der Geschichte, um die Schimäre des Ursprungs zu bannen.«32 Die Heterogenität ans Licht brin­gen, die Geschichte dekonstruieren, auf ein Zum-Ereignis-Brin-gen (événementialisation) der Myriade von verschwundenen Er­eignissen hinarbeiten: das sind die Orientierungen Foucaults, der den Nietzscheanismus auf das Terrain der Historie überträgt.

In minderem Grade ist der Einfluß Nietzsches auch im Werk von Lévi-Strauss greifbar. Jean Duvignaud erkennt ihn namentlich in den Traurigen Tropen und im »Finale« des Nackten Menseben. Lévi-Strauss' Anschauung sei darin insgesamt von einem tiefen äs­thetischen Willen geprägt, dessen Ursprung sich bei Nietzsche finde : »Die Ästhetik taucht immer dann auf, wenn man die Ge­schichte eliminiert.«33 Die Zirkularität von Lévi-Strauss' Struktu­ralismus, aus der heraus die Mythen in einer großartigen logischen Konstruktion wechselseitig aufeinander verweisen, wiese also zu­rück auf Nietzsches »ewige Wiederkehr«.

Die Überprüfung der Vernunft

Stärker und ausgedehnter noch scheint in allen Ausprägungen des Strukturalismus die Spur Heideggers durch. Foucault hat er­klärt: »Heidegger ist für mich immer der wichtigste Philosoph gewesen.«34 Allerdings bezieht Foucault sich in seinem Werk nur selten ausdrücklich auf Heidegger, der im Unterschied zu Nietz­sche, dem ständigen Bezugspunkt, eher implizit in seine Orientie-

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rangen einfließt. Gleichwohl war Foucault sehr früh mit dem Werk des deutschen Philosophen vertraut. Sein Freund Maurice Pin-guet35 erzählt von der ersten Begegnung mit dem jungen Fou­cault in der Rue d'Ulm, wo er ihn mit seiner metallischen Stimme sachkundig und sehr leidenschaftlich mit ein paar Kommilitonen über die Begriffe »Dasein« und »Sein-zum-Tode« diskutieren hörte. Durchaus nichts Belangloses für einen jungen Studenten der ENS im Jahre 1950, dem Zeitpunkt, da der Heideggerianis-mus die Koine jedes Philosophen darstellte. Doch man findet die Spur Heideggers im Werk von Michel Foucault selbst.

In der Ordnung der Dinge übernimmt Foucault mit Blick auf Kant den typisch Heideggerschen Ausdruck von der »Analytik der Endlichkeit«, gemäß der der Mensch entdeckt, daß er »im­mer schon« in der Welt ist, und es folglich vergeblich ist, nach Ur­sprüngen zu suchen: »Er [ist], von jedem Ursprung getrennt, be­reits da.«36 Die Zerschneidung in diskontinuierliche Episteme stammt gleichfalls aus dem Erbe Heideggers, ebenso wie aus Nietzsches Genealogie. Desgleichen ist Heidegger in Wahnsinn und Ge5e//sc/?tf/i wiederzufinden, worin »die ganze Thematik der Vernunft, die sich als Vernunft nur durch die Ausschließung kon­stituiert, typisch heideggerisch ist«37. Die Archäologie des Wissens stellt eine implizite Auseinandersetzung mit Heideggers Brief über den Humanismus dar. Auf die gleiche Weise entspricht die Art, wie Foucault in Überwachen und Strafen hinter der Gesell­schaft der Aufklärung eine Disziplinargeseilschaft sich entfalten sieht, Heideggers Überprüfung der Vernunft und verweist daher auf eine grundlegend pessimistische Vision vom Schicksal des Abendlands, freilich ohne jede Gleichsetzung betreffs der aus dieser Diagnose zu ziehenden Lehren, gibt es doch in der Praxis kaum Beziehungen zwischen dem Engagement Foucaults im Sinne des Widerstands gegen die Mächte und dem »Engage­ment« Heideggers !

Bei Lévi-Strauss ist, im Unterschied zu Foucault, Heideggers Einfluß weder erkennbar noch beabsichtigt. Dennoch ist er in

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Lévi-Strauss' große Skepsis gegenüber der Modernität eingegan­gen, in seine Kritik an der Technisierung der Welt, in die Anpran­gerung ihres zerstörerischen, den Völkermord in sich tragenden Charakters. Die Infragestellung der planetarischen Vereinheitli­chung und Aufhebung der Unterschiede ist einer gleichen Emp­findungsweise verpflichtet.

Lacan und Heidegger

Ebenso ausschlaggebend ist Heideggers Einfluß auf Lacan. Wie Elisabeth Roudinesco bemerkt, ist er, wie die französische Intel-ligenzija der Nachkriegszeit überhaupt, fasziniert von Heideg­gers Stil. Die erste Begegnung datiert von 1950. Doch vor allem tritt der französische Schüler des Heideggerschen Denkens, Jean Beaufret, bereits um 1946 bei Lacan in die Analyse ein. Lacan er­hält also Zugang zur Quelle der Verbreitung des Heideggerianis-mus in Frankreich und knüpft bald freundschaftliche Bande, die die Einprägung der Heideggerschen Sprechweise bei dem Analy­tiker begünstigen.

Die erste Bezugnahme auf Heidegger fällt in diese Zeitspanne: »September 1946, beim Kolloquium in Bonneval, wo er sein Re­ferat >Vortrag über die psychische Kausalität hält. Die Anspie­lung macht deutlich, daß Lacan den Text Piatons Lehre von der Wahrheit gelesen hat, den Heidegger 1941-1942 publiziert hatte.«38 Alsdann wird Lacan Heidegger in Freiburg besuchen.39

Wenig später übersetzt er dessen Aufsatz Logos, legt ihn Heideg­ger vor und veröffentlicht ihn 1953 in der ersten Nummer seiner Zeitschrift La Psychanalyse. Lacan erweist dem Philosophen bei dieser Gelegenheit eine begeisterte Hommage : »Was die Gegen­wart hier von Herrn Heidegger betrifft, so ist schon sie allein für alle, die wissen, wo die höchste Meditation der Welt statthat, die Gewähr dafür, daß es zumindest etwas Freud Vergleichbares zu lesen gibt, was nicht von einem derart billigen Denken zeugt, wie

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es ein gewisser patentierter Stellvertreter der Phänomenologie wiederholt.«40

Bei allem Enthusiasmus ist es doch bezeichnend, daß er den Text nur zu vier Fünfteln übersetzt und das Schlußstück wegläßt, in dem Heidegger im poetischen Schreiben einen Ausweg aus dem Drama der menschlichen Existenz erkennt. Für Lacan ist kein Aus­weg, kein Heil möglich, er sieht keinerlei Lichtung des Seins. Rou-dinesco schildert Heideggers erste Frankreichreise, die im August 1955 einigermaßen pittoreske Züge trägt. Er kommt, um an den von Jean Beaufret und Kostas Axelos organisierten Gesprächen von Cerisy-la-Salle teilzunehmen. Aus diesem Anlaß veranstaltet Lacan in Guitrancourt eine kleine Zusammenkunft zu Ehren des illustren Gasts: »Heidegger ist in der Probstei untergebracht und macht sich auf, die Kathedrale von Chartres zu besichtigen. Lacan fährt seinen Wagen so schnell, wie er seine Sitzungen abhält. Hei­degger, der vorne sitzt, tut keinen Mucks, aber seine Gattin prote­stiert unentwegt. Sylvia macht Lacan auf ihre Beunruhigung auf­merksam. Nichts zu machen : Der Meister fährt immer schneller. Auf der Rückfahrt bleibt Heidegger schweigsam, und die Proteste seiner Gattin steigern sich, während Lacan aufs Gaspedal drückt. Die Reise geht zu Ende, und jeder kehrt zu sich zurück.«41 Die Be­ziehungen hätten also warmherziger sein können, entscheidend waren jedoch die begrifflichen Entlehnungen jenseits der direkten Kommunikation, die durch Heideggers Auffassung erschwert wurde, daß es nur eine wahrhafte Sprache gebe, das Deutsche, das Lacan zwar übersetzen konnte, aber nicht sprach.

Lacan übernimmt den Begriff der Ek-sistenz, die Idee, daß der Mensch von jeder Form von Essenz getrennt ist. Er läßt sich von der Absetzung des Seins vom Seienden inspirieren. Wenn er Hei­degger zitiert, dann stets, um die Begriffe der Ek-sistenz und des Seins-zum-Tode zu gebrauchen. Die Lacansche Idee, daß das reale Leben kein reales, sondern ein symbolisches Leben sei, »ist eine Idee, die man bei Heidegger wiederfindet. Sie ist sogar das Wesentliche seiner Philosophie.«42

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Dieser Einfluß schlüsselt sich in Lacans Paradigmen unschwer auf. Darin findet man nicht nur den fundamentalen Pessimismus Heideggers wieder, die Dezentrierung des Menschen, die De-konstruktion des gespaltenen, sich selbst auf immer unzugängli­chen Subjekts, den langen Weg des Verlusts, der Seinsvergessen­heit vom strukturierenden Spiegelstadium an, sondern erkennt auch die Anleihen beim Heideggerschen Vokabular. Alles, was das Verhältnis zur Wahrheit, zur Authentizität, zum Sprechen des Vollen und des Leeren betrifft, entstammt einem auf das Feld der Psychoanalyse versetzten Heideggerschen Vorgehen. Der ge­samte Kommentar zur griechischen Philosophie, zur aléthéia ist den beiden gemeinsam. Im »Seminar über Ε. Α. Poes >Der ent­wendete Brief<« wird die Zirkularität des Briefs/der Letter, die auf das strukturalistische Modell verweist, gleichzeitig mitgetra­gen von der Heideggerschen Thematik des Ortes der Entschleie­rung der Wahrheit, welcher der Ort des Briefes/der Letter ist, der Ort, wo er/sie ihren Platz verfehlt. Es besteht Anfang der fünfzi­ger Jahre seitens Lacan eine wirkliche Faszination für Heidegger, sie bleibt übrigens unerwidert, denn Heidegger hat sich für La­cans Arbeiten nie interessiert. Man kann also nicht sagen, »Lacan sei niemals Heideggerianer gewesen«43, und seine Anleihen auf eine Frage des Vokabulars verkürzen, auch wenn beider Positio­nen zum Problem der Wissenschaft in der Tat antinomisch sind. Im Wesentlichen, das heißt in der Tatsache, daß Heidegger eine Philosophie als gemeinsame Sprache für alle Humanwissenschaf­ten vorgeschlagen hat, gibt es eine Filiation, die weit über Lacan und den Lacanismus hinausreicht.

Heideggers Einfluß auf Jacques Derrida

Dieser Einfluß ist noch offenkundiger bei Jacques Derrida gege­ben, was immer er seit der »Farias-Affäre« darüber sagen mag. Er hält das Beiwort »heideggerianisch« für eine Albernheit, gegen

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die er sich verwahrt44, und behauptet gleichzeitig, Lévi-Strauss, Althusser und Foucault seien nie von Heidegger beeinflußt ge­wesen. Um seine These zu untermauern, erzählt Jacques Derrida eine Anekdote, die auf die Jahre 1967/68 zurückgeht. Während er mit Foucault im Auto saß, fragte er ihn, warum er nie von Hei­degger spreche. Foucault antwortete ihm, das sei zugleich zu wichtig und zu schwierig, läge außerhalb seiner Reichweite.

Schlägt man jedoch in Derridas Texten nach, erweist sich die Heideggersche Prägung als offensichtlich und gewollt: »Keine meiner Untersuchungen wäre ohne den Ansatz der Heidegger-schen Fragestellung möglich gewesen; [...] ohne die Beachtung dessen, was Heidegger die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden, die ontisch-ontologische Differenz nennt, die von der Philosophie in gewisser Weise immer noch unberücksichtigt bleibt.«45 Freilich bucht Derrida Heideggers Denken nicht skla­visch auf sein Konto um; seine Dekonstruktion nimmt sich auch die Knotenpunkte dieses Denkens selbst vor und zielt wie bei La­can darauf ab, dessen Thesen zu radikalisieren.

Für Derrida sind das Ereignis wie der Mensch als Hirt des Seins Überbleibsel eines zu dekonstruierenden Humanismus. Ausgangspunkt Derridas bleiben nichtsdestoweniger das Privi­leg, das Heidegger der Sprache als Medium des Seins gewährt, und der Übergang von der Bewußtseins- zur Sprachphilosophie. Man stößt auf die gleiche Faszination für den Kommentar, aus dem heraus Derrida, auch wenn er der allgemeinen Ausrichtung des Strukturalismus verpflichtet ist, sich von ihm differenziert, indem er reihum in der Grammatologie Claude Lévi-Strauss, in Die Schrift und die Differenz Michel Foucault und in Le Facteur de la vérité Jacques Lacan kritisiert. Diese Kritiken, auf die wir noch zurückkommen werden, führen uns in die Vielfältigkeit der Nachklänge des französischen Nietzscheanismus-Heideggeria-nismus ein, die sich des Strukturalismus bedient haben, um Po-tentialitäten besonders verschiedenartiger Forschungen auf dem gesamten Feld der Humanwissenschaften zu entfalten.

Die Wachstumskrise der Sozialwissenschaften

Um den Erfolg des Strukturalismus zu verstehen, genügt es we­der, den historischen Kontext des Phänomens nachzuzeichnen, noch, ein paar philosophische Filiationen zu benennen: Man muß auch den Zustand des Feldes der Sozialwissenschaften selbst, seine Morphologie und seine Spezifität in Betracht ziehen. Denn anders als es alle Reduktionismen annehmen, verhält sich die Geschichte der einzelnen Disziplinen und Wissenschaften weitgehend autonom gegenüber der Geschichte, von der sie her­vorgebracht wurden. Man kann auf dieser Ebene, wie Gilles Gaston-Granger sagt, von einem Eigenleben der Begriffe spre­chen. Die sozialen Erscheinens- und Transformationsbedingun­gen einer Theorie wie des Strukturalismus sind zum Teil zu erhel­len durch Berücksichtigung der interdisziplinären Reibungen innerhalb des Feldes von Forschung und Lehre und in der intel­lektuellen Landschaft überhaupt.

Die rege Vergesellschaftung der Sozialwissenschaften

Die Blüte der strukturalistischen Tätigkeit fällt in die Periode ei­ner spektakulären Entwicklung der Sozialwissenschaften, und da insbesondere ganz neuer Sprößlinge, die sich auf einem schon ziemlich vollen Beet einen Platz an der Sonne verschaffen wollen. Nun sind diese neuen Sozialwissenschaften auf der Suche nach einer Legitimation. Um sie zu erlangen, werden sie sich eine Iden­tität geben, die auf dem Bruch gründet, und danach trachten, eine in den fünfziger und sechziger Jahren wachsende intellektuelle

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Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, um auf diesem Weg die tra­ditionellen, etablierten Positionen zu umgehen. Der strukturali-stische Bruch, der sich als wissenschaftliche Revolution geben und zahlreiche Fachbereiche weitgehend unter sein Banner zie­hen wird, ist auf eine rege Vergesellschaftung aus, um die Partie zu gewinnen. Daher auch die Untrennbarkeit von szientifischen und ideologischen Aspekten in dieser Periode, denn die ange­strebte Vergesellschaftung führt zur Ideologisierung des wissen­schaftlichen Diskurses. Die ideologischen Anteile in den Schatten zurückdrängen zu wollen, um lediglich die strukturale Methode festzuhalten, ist demnach ein vergebliches Unterfangen, denn man kann sich fragen, ob »wissenschaftliche Revolutionen nicht gerade in dieser regen Vergesellschaftung bestehen« \

Keine Wissenschaft ist in dieser Hinsicht vor der Ideologisie­rung, vor der Vergesellschaftung gefeit. So war zu Zeiten von Ko­pernikus und Galilei die Beobachtung der Gestirne ein durchaus ideologischer Spieleinsatz in den theologischen Konflikten, die sie durch ihren Übergang von einem geozentrischen zu einem he­liozentrischen Modell provozierte. Paul Rivet sah die Notwen­digkeit dieser Vergesellschaftung, um die Institutionalisierung der jungen französischen Ethnologie durchzusetzen. Unter der Bedingung des Kolonialismus geboren, ging die Ethnologie nahtlos ins Ideologische über, und Rivet erkannte, daß er sich dieser Verhältnisse bedienen konnte, um sie umzustülpen und ei­nen radikalen Wandel in der Wahrnehmung sozialer und kulturel­ler Andersheit zu ermöglichen. Die Ethnologie trat aus ihrer Be­dingtheit heraus, stellte ihrerseits die Bedingungen und wurde zur Trägerin einer antirassistischen Ethik und Politik. Paul Rivet hat also aus der Ethnologie ganz bewußt eine ideologische Waffe gemacht, ein maßgebliches Element in der intellektuellen De­batte der dreißiger Jahre, und so ihre Institutionalisierung ermög­licht. Vergesellschaftung und Ideologisierung entsprächen damit der Seinsweise von Wissenschaften, die auf konzeptueller Ebene neu gerüstet, auf der Ebene institutioneller Legitimität aber waf-

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fenlos dastehen. Unbestreitbar trifft das auf die Wissenschaften vom Zeichen in den fünfziger und sechziger Jahren zu, und zwar auf sehr viel spektakulärere Weise als bei der Ethnologie in den dreißiger Jahren, verfügen sie doch bereits über die Unterstüt­zung der Medien, die auf dem intellektuellen Feld eine immer größere Rolle spielen, weil sie eine Vervielfachung der Vergesell­schaftungskapazitäten erlauben.

Tatsächlich haben sich im Lauf der sechziger Jahre die Medien der Debatte bemächtigt, um deren Spieleinsätze öffentlich vor­zuführen. Anläßlich des berühmten Duells zwischen Picard und Barthes war gar von einer »Affäre Dreyfus« die Rede. Einige se­hen diese überzogene Mediatisierung für die einzige greifbare Realität des Strukturalismus an. Wenn man das Getöne der Me­dien wegnehme, »existiere kein Strukturalismus mehr«2. Wie zwischen Descartes, Spinoza, Pascal oder Hobbes eher die Ab­weichungen und Gegensätze den Ausschlag geben, dürften auch bei den Strukturalisten, trotz der aus der Zeitgenossenschaft des Denkens rührenden Gemeinsamkeiten, die Gegensätze relevan­ter sein, und die Konflikte und Polemiken, von denen alle diese Forscher hinter der trügerischen Fassade ihrer Einheitlichkeit be­wegt wurden, waren besonders lebhaft. Aber der Ausstrahlung, der Anerkennung, des Strebens nach wissenschaftlicher Legiti­mität halber waren die Medien eine gesuchte Schaltstelle.

Einen weiteren Versuch, zwischen Denken und Wissenschaft auf der einen Seite und Ideologie auf der anderen zu trennen, hat Maurice Godelier3 unternommen. Er unterscheidet streng zwischen der strukturalen Methode als pertinenter, stringenter, wissenschaftlicher Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen, Mythenstrukturen usw. und dem Strukturalismus, der in den Be­reich der Ideologie, der allgemeinen spekulativen Deklarationen über Menschheit, Gesellschaft und Fortschritt des Denkens fällt. Diese Scheidung ist total, auch wenn Methode und Ideologie sich bei denselben Forschern miteinander kombiniert finden: »Ich behaupte, daß in der strukturalen Analyse der Mythen die Me-

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thode von Lévi-Strauss seinen Strukturalismus in keiner Weise impliziert; er ist es, der seine Methode festsetzt, nicht, weil seine Methode begrenzt ist, sondern weil er sie aus anderen Gründen festsetzen will.«4 Wissenschaft, Ideologie, Vergesellschaftung, Mediatisierung — der Strukturalismus ist alles dies zugleich : ein schwer entwirrbares Knäuel, wenn man nicht seine Momente, Strömungen und Spieleinsätze ermittelt.

Die Philosophen stellen sich der Herausforderung der Sozialwissenschaften

Die Strukturalismusbegeisterung entspricht also einer starken Vergesellschaftung der Sozialwissenschaften, einem Phänomen, das so explosionsartig vonstatten ging, daß es seit Ende der fünfzi­ger Jahre fast einer Entwicklungspolitik der Sozialwissenschaften gleicht. 1958 faßt auf Betreiben Raymond Arons die Soziologie mit der Einführung des soziologischen Staatsexamens institutionell weiter Fuß. Allgemeiner gesprochen, suchen die Akteure der im Aufbruch begriffenen Sozialwissenschaften »nicht die Anerken­nung der Philosophen, von denen sie sich im Gegenteil ostentativ abzusetzen bemühen«5. Man kann in dieser Hinsicht den Erfolg des Strukturalismus als Antwort der Philosophen auf die Heraus­forderung durch die Sozialwissenschaften auffassen, die im we­sentlichen aus demselben philosophischen »Stall« hervorgegan­gen sind. Verunsichert durch die Konkurrenz von Disziplinen, die stärker wissenschaftlich-pragmatisch ausgerichtet waren und Begriff und Terrain miteinander verknüpften, reagierten die Phi­losophen, indem sie sich deren Programm zu eigen machten, um ihre eigene Position auf dem intellektuellen Feld zu erneuern.

Die Philosophie bot zu dieser Zeit zwei Programme, deren Le­benskraft zur Neige ging. Das erste, der Sartresche Existentialis­mus, hatte ein konstituierendes Subjekt gedacht, von dem jede Art von Sinn ausging, ein transzendentales, allmächtiges, voll-

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kommen abstraktes Subjekt. Diese Philosophie steht in den sech­ziger Jahren vor dem Untergang, da sie es, wie wir gesehen ha­ben, mit den Klippen der Historie zu tun bekommt, an denen sie schließlich scheitert : »Eines der letzten Modelle des Idealismus in der französischen Universität.« 6

Philosophen, die sich von diesem Idealismus des Subjekts ab­heben wollen, finden im Strukturalismus durch die Vorrangstel­lung der Unbewegtheit der Strukturen, durch die Dezentrierung, wenn nicht Tilgung des Subjekts eine radikale Reaktionsmöglich­keit. Sartre hatte einen neuen Stil der Philosophie als Spieleinsatz öffentlicher Debatten eingeleitet, der stark zu seiner Popularität nach dem Krieg und in den fünfziger Jahren beigetragen hat. Jedoch wird er der erste Leidtragende dieser neuen Beziehung zur Öffentlichkeit sein, entgleitet diese ihm doch zum Vorteil der Strukturalisten, die eben die Waffen, deren er sich zu seiner Durchsetzung bedient hatte, nun gegen ihn richten. Die Kon­junktur, das Ende des Algerienkriegs, das Desengagement, die Desillusionierungen werden einen Intellektuellen neuen Stils her­vorbringen, den Sartre, gleichsam Sühneopfer der Entspannung, nicht mehr verkörpert.

Der zweite philosophische Reflexionspol, von dem die struk-turalistischen Philosophen sich absetzen werden, ist die Phäno­menologie. Zwar kann der Strukturalismus der Phänomenologie Orientierungen abgewinnen und diese — etwa das den Strukturen eingeräumte Privileg oder das Forschen nach dem Sinn — so sehr für sich verbuchen, daß etwa Jean Viet, der Autor der ersten thèse zum Strukturalismus, die Phänomenologie gar als eine spe­zifische Tendenz des Strukturalismus wahrnahm.7 Indes, die Phänomenologie bleibt eine Bewußtseinsphilosophie und be­müht sich im wesentlichen um die Beschreibung der Phänomene. Die Phänomenologie bleibt für Jacques Derrida in der »Schlie­ßung der Repräsentation« verhaftet, indem sie das Subjektprin­zip aufrechterhält : »Die Dekonstruktionen [haben] die Deskrip-tionen ersetzt.«8 Der Begriff der Dekonstruktion, der das ganze

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strukturalistische Denken leiten wird, ist zunächst von Jacques Derrida als Übersetzung von Heideggers »Destruktion« einge­führt worden, ein Terminus, der weder in einem negativen Sinn noch als Positivität konnotiert werden darf: »Ziel der Dekon-struktion ist eine >Theorie des philosophischen Diskurses< [...]. Ein solches Programm ist offenkundig kritisch.«9

Dieser philosophische Strukturalismus, der aus der Anfech­tung der Phänomenologie entsteht, wird also das kritische Paradigma auf die höchste Ebene heben und als Mittel zur Er­schließung und Vereinnahmung des Forschungsfeldes der auf­strebenden Sozialwissenschaften nutzen können. Die meisten Strukturalisten kommen von der philosophischen Disziplin her: Claude Lévi-Strauss, Pierre Bourdieu, Jacques Lacan, Louis Althusser, Jacques Derrida, Jean-Pierre Vernant haben allesamt eine philosophische Ausbildung genossen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, daß sie mit der traditionellen universitären Philosophie brechen, nach etwas ganz anderem suchen. Sie gehören einer Phi­losophengeneration an, die sich der Herausforderung durch die Sozialwissenschaften bewußt ist und mit der Rhetorik der uni­versitären Rituale bricht. Dazu müssen die alten, eingefahrenen Apparate institutioneller Legitimität umgangen beziehungsweise muß über sie hinausgegriffen werden, um sich direkt an die Intel-ligenzija zu wenden, indem man neue Gegenstände der Philoso­phie unter spezifisch aktueller Beleuchtung wählt, indem man das Denken an die gesellschaftlichen Felder, an die Institutionen anknüpft und so einen praxeologischen Wert gewinnt.

Überdies hat der Strukturalismus diesen Philosophen dazu ge­dient, einen Diskurs auf vermehrte Wissenschaftlichkeit hin zu erneuern, mit dem sie dann den Humanwissenschaften Paroli bieten konnten. Pierre Bourdieu sprach von einem »-logie-Ef-fekt«10, den er angesichts des Erfolgs der Archäologie, der Gram-matologie, der Sémiologie usw. feststellte. Diese Wortendung beschwört den wissenschaftlichen Ehrgeiz eines spekulativen Strukturalismus, der die mathematische Logik ebensosehr be-

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lehnt wie die Linguistik, um einen Wissenspol zu konstituieren, der in der Geschichte der Wissenschaften einen vollberechtigten Platz einnimmt. Foucault beschreibt und akzentuiert jene Spal­tungslinie, die jede andere Form von Gegensatz transzendiert : »Es ist diejenige, die eine Philosophie der Erfahrung, des Sinns, des Subjekts von einer Philosophie des Wissens, der Rationalität und des Begriffs trennt. Dort eine Filiation von Sartre und Mer­leau-Ponty her, hier eine andere von Cavaillès, Bachelard, Koyré und Canguilhem her.« n

Als die Sozialwissenschaften sich eine ganze Reihe von Fragen anzueignen beginnen, die bis dahin das Privileg philosophischer Reflexion gewesen sind, führt die philosophische Avantgarde unter dem Banner des Strukturalismus eine erfolgreiche Gegen­offensive. Geöffnet, erneuert und von einem wachsenden Publi­kum getragen, geht die philosophische Disziplin mit frischen Le­bensgeistern aus dem Wettstreit hervor und kommt in den Genuß eines erheblich gestiegenen Lehrpersonals12 : Die Zahl der Gym­nasiallehrer in Philosophie stieg von neunhundertfünf im Jahre 1960 auf tausenddreihundertelf im Jahr 1965 und tausendsechs-hundertdreiundsiebzig im Jahr 1970. Während 1963 die Zahl der Hochschulstellen hundertvierundzwanzig betrug, war sie 1967 auf zweihundertsiebenundsechzig angewachsen.

Auch wenn die Gurus des Strukturalismus die Sozialwissen­schaften haben absorbieren wollen, sind sie doch gegen sie ins Gefecht gezogen und haben deren Modell der Positivität kriti­siert. Die strukturalistischen Philosophen haben vielfache heftige Attacken gegen die szientistischen Ansprüche der Sozialwissen­schaften geritten : Lacan gegen die Psychologie, Althusser gegen die Geschichte, Foucault gegen die Klassifikationsmethoden der Humanwissenschaften. Man erlebt ein wahres Sperrfeuer gegen die als »Hochstapelei« angeprangerte Praxis der in ihren szientifi-schen Gewißheiten befangenen Humanwissenschaften, denen die Strukturalisten eine von Gaston Bachelard und Georges Can­guilhem gespeiste epistemologische Kritik entgegenhalten.

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Treffend beschreibt Etienne Balibar jene gelungene Umstül­pung, mit der die durch die strukturalistische Kritik geläuterten Humanwissenschaften dazu bewogen werden, ihre Positivität von den Modellen und Begriffen aus zu suchen, die von den Phi­losophen ausgearbeitet worden sind : »So hat der Text, den ich in Das Kapital lesen (1965) geschrieben habe, die Anthropologen und einige Historiker angelockt, denn ich errichtete einen Begriff von Produktionsweise, den sie für Operationabel hielten.« D In­dem er einen im wesentlichen konzeptuellen, theoretischen Dis­kurs privilegierte und die Aufteilung, die Grenzen, die Abstek-kungen der verschiedenen aufstrebenden Sozialwissenschaften in Verwirrung brachte, konnte der Strukturalismus den Primat ei­ner erneuerten Philosophie wahren. Diese fußte auf einer »Kom­promißformel« u zwischen einer dynamisierenden humanismus­kritischen Neudefinition, die einen radikalen wissenschaftlichen Bruch begründete, und der Wahrung der — wenn auch durch die vielfache Rede vom Ende der Philosophie verschleierten — sta­tuarischen Hoheit der philosophischen Disziplin. In diesem Be­mühen kann, wie Louis Pinto vermerkt15, die Formel von der Ar­chäologie bei Foucault der doppelten Anforderung genügen, einen historischen Diskurs über die Humanwissenschaften zu unterbreiten, der aber zugleich das Mittel darstellt, sie philoso­phisch, anders und besser zu denken, als sie dies aus sich selbst heraus tun können.

In dieser Hinsicht hat sich die philosophische Avantgarde der Herausforderung durch die Sozialwissenschaften gestellt, womit sie übrigens auch deren Aufschwung in den sechziger Jahren be­günstigte und gleichzeitig der Philosophie den angesehensten Platz im Wissenschaftsdispositiv bewahrte. Sie bleibt »die Kö­nigsdisziplin« durch ihre beherrschende Position im Sekundar-unterricht und die besonders repräsentative Rolle, die sie in den Bastionen der Elitenreproduktion spielt, den khâgnes und den Écoles normales supérieures. Diesbezüglich hat also die Philoso­phie der Offensive gut standgehalten, wie das Selbstbewußtsein

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belegt, mit dem Louis Althusser den »sogenannten Sozialwissen­schaften« eine Absage erteilt, ein Anathema, »das sich nicht er­klären läßt ohne Berücksichtigung des institutionellen (und oft­mals auch intellektuellen) Schwächezustands, in dem sie sich in den fünfziger Jahren befanden«16. So bildet auch das Gefecht der Humaniora gegen die Sozialwissenschaften den Wettstreit ab, der in der Elitenreproduktion zwischen ENS und ENA, zwi­schen der klassischen Elite und der neuen technischen Elite ent­brannt ist.

Die Emanzipation von der Geschichte

Der Strukturalismus hat sich nicht nur gegen die akademische Philosophie gestellt, sondern hat auch eine weitere alteingeses­sene, kanonisierte, sich und ihrer Methoden gewisse Disziplin attackiert : die Geschichte. Denn einen weiteren hervorstechen­den Zug des Strukturalismus bildet die Destabilisierung der Geschichte nicht allein als universitärer Disziplin, sondern als Historizität ganz allgemein. Man zieht zu Felde gegen den Hi-storizismus, den historischen Kontext, die Herkunftsfor­schung, die Diachronie und die Teleologie, um die Beständigkei­ten, die Invarianten, die Synchronie, den in sich geschlossenen Text in den Vordergrund zu rücken. Die A nnales- Schule hat in zwei Schüben auf diese Herausforderung reagiert : Zunächst trat Fernand Braudel 1958 für die longue durée und die zeitliche Dreiteilung als gemeinsame Sprache aller Sozialwissenschaften unter der Federführung des Historikers ein; später, Ende der sechziger Jahre, dekonstruierte die dritte A nnales- Generation die Historie zu einer zersplitterten, anthropologisierten Ge­schichte. 17 Die strukturalistische Literaturkritik, die Sémiologie, leitet ihre Selbstdefinition mit einer Absage an die Geschichte ein. Gewiß galt es, sich von einer überkommenen akademischen Literaturgeschichte zu trennen, die nach dem Muster »Mensch

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und Werk« vorging, doch hat die neue Kritik im Bemühen um Formalisierung das Negieren der historischen Ebene bis zur Kap­pung von jeglichem psychologischen oder historischen Referen­ten getrieben.

Die Historiker, auch die für einen Dialog mit den anderen So­zialwissenschaften noch so aufgeschlossenen, kamen nicht um­hin, sich von der strukturalistischen Herausforderung angegrif­fen zu fühlen. Sie reagierten, indem sie sich bevorzugt der schon seit langem zu ihrem Programm gehörenden Untersuchung öko­nomisch-sozialer Strukturen, Zyklen und Wiederholungsphäno­mene zuwandten, ohne sich allerdings zu Strukturalisten erklären zu können, denn dazu war der Gegensatz zu groß. Es herrschte also ein radikaler Emanzipationswille gegenüber der Geschichte, der bis zur absurden Negierung jeglicher historischen Grundlage getrieben wurde. So veranstaltete damals Michelle Perrot in Pa-ris-VII, dem Hort der Modernität der Geschichtswissenschaft, ein Seminar mit Literaturwissenschaftlern, das in bare Verständnislo-sigkeit umkippte. Michelle Perrot wollte einen interdisziplinären Vorstoß unternehmen und hatte doch unter dem Hagel der At­tacken gegen jede Bezugnahme auf einen historischen Kontext »das Gefühl, völlig hinterherzuhinken«. Die Vertreter der neuen Literaturkritik »waren schon aufgebracht, wenn nur das geäch­tete Wort >Kontext< fiel. Man mußte beim geschlossenen Text bleiben, was den Dialog sehr schwierig machte.«18

Der Antiakademismus

Dieser Wille, sich mit den kanonisierten Disziplinen anzulegen, sei es die traditionelle Philosophie, die Geschichte oder die Psy­chologie, schreibt sich in den breiteren Kontext einer antiakade­mischen Revolte ein, die für die philosophische Avantgarde oder für die jungen Wissenschaften vom Zeichen das einzige Mittel war, sich einen Platz in der Institution zu verschaffen. Tatsächlich

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haben die meisten Vertreter des Strukturalismus einen prekären Stand.

Die Erneuerung kommt im wesentlichen aus Institutionen, die seinerzeit für marginal angesehen werden, etwa der Sechsten Sek­tion der EPHE oder dem Collège de France, das zwar als ein Gipfel der Gelehrsamkeit galt, aber außerhalb des zentralen Ap­parats von Lehre und Forschung stand, den die Universität bil­dete.

Die Laufbahnen der Strukturalisten sind in dieser Hinsicht be­zeichnend, haben sie sich doch im wesentlichen abseits der Univer­sitäten vollzogen. Neben vielen anderen gilt dies namentlich für Lévi-Strauss, der unumwunden einräumt: »Es war also eine be­wegte universitäre Karriere, deren verblüffendste Eigenschaft es wahrscheinlich war, daß sie sich stets außerhalb der eigentlichen Universität abgespielt hat.«19 Gleiches gilt für Barthes, Greimas, Althusser, Dumézil, Todorov, Lacan. Sieht man den Lehrplan der Sorbonne von 1967 durch, so stellt man verwundert fest, daß, mit Ausnahme von André Martinet, keiner der Forscher die Veranstal­tungen in Sprachwissenschaft gehalten hat, die man heute kennt: »1967 gab es an der Sorbonne noch nicht einmal einen linguisti­schen Fachbereich, sondern lediglich ein linguistisches Institut. [...] Als ich eine thèse in Linguistik schrieb, war ich damit als Gymnasi­allehrer so gut wie arbeitslos, sie war zu gar nichts nütze.«20

Das Gewicht der Traditionen, der Konservatismus der alten Sorbonne, die sich neuen Einflüssen verschloß, ließen die franzö­sische Universität in Erstarrung fallen, was der Revolte, dem not­wendigen Bruch Nahrung gegeben hat. Um sich einen Platz zu verschaffen, mußten die Wissenschaften vom Zeichen über die Institution hinausgreifen und tragfähige und wirksame Stütz­punkte finden. Der Strukturalismus, der es gestattet hatte, die Avantgarden der verschiedenen Disziplinen zu vereinigen, mochte es auch schaffen, die schwelende Revolte in eine Revolu­tion zu verwandeln.

In diesem Kontext werden die Bezugnahmen auf Nietzsche,

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Marx und Saussaure Operationabel, werden zu regelrechten Waf­fen der antiakademischen Kritik gegen die Vertreter der Manda­rine, der universitären Orthodoxie. Die Strukturalisten nehmen dabei im Grunde ein älteres Programm wieder auf, um es zu ak­tualisieren und zu erneuern. Das Bestreben, auf dem Feld der Wissenschaften vom Menschen Bereiche erscheinen zu lassen, die spezifischen Rationalitäten gehorchen, ist ein Gedanke, den man schon bei Auguste Comte am Werk sieht.

Und was das zweite zentrale Paradigma des Strukturalismus betrifft, nach dem nicht die einzelnen Elemente für sich, sondern ihre objektiven Beziehungen bestimmend sind, ohne daß in diese Netze das Bewußtsein eingriffe, also die Idee einer Verschiebung zwischen Verhalten und Bewußtsein, so folgt dieser Sicht der Dinge bereits die ganze durkheimianische oder hegelianische Strömung.

Das Neue liegt mehr in der Aktualisierung der Virtualitäten ei­nes Programms als in dessen Inhalten sowie in der Beschleuni­gung der Umsetzung dieser Programme, die nun greifbare wis­senschaftliche Ergebnisse erzielen.

Ein gemeinsames Programm : die Linguistik

Die Hoffnung auf szientifische Erneuerung der Sozialwissen­schaften hat in der strukturalen Linguistik die Methode, die ge­meinsame Sprache gefunden, durch die der Wandel durchsetzbar wurde. Die Linguistik erschien damals einer ganzen Reihe forma­lismusbedürftiger Wissenschaften als das Modell überhaupt. Sie ist immer weiter in die Anthropologie, in die Literaturkritik, in die Psychoanalyse vorgedrungen und hat die philosophische Fra­geweise von Grund auf erneuert. Einige Sozialwissenschaften sind allerdings bei dieser Umwälzung im Abseits geblieben oder doch nur an ihren Rändern davon berührt worden; von ihrem grundlegenden Positivismus untermauert, haben sie die Ausein-

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andersetzung überhaupt verpaßt. Das gilt etwa für die Psycholo­gie und im wesentlichen auch für die Ökonomie.

Vom linguistischen Aspekt sind die Disziplinen am stärksten betroffen gewesen, die institutionell noch in einer prekären Situa­tion steckten oder die, wie die Soziologie, aus der inneren Wider­sprüchlichkeit zwischen ihrem Anspruch auf wissenschaftliche Positivität und ihrer Beziehung zum Politischen auf der Suche nach einer Identität waren, und schließlich solche, die, wie Litera­turwissenschaft oder Philosophie, völlig vom Streit zwischen Tra­ditionalisten und Modernen bestimmt waren. Diese Verbindung hat dazu beigetragen, die Grenzen zwischen den Disziplinen zu verwischen. Hier hat der Strukturalismus vereinheitlichend ge­wirkt: »Es erschien Ende der sechziger Jahre nötig, die verschie­denen Erneuerungsversuche der Humanwissenschaften zu verei­nigen in einer einzigen Strömung, wenn nicht sogar in einer einzigen Disziplin, die allgemeiner ist als die Linguistik.«21 Am deutlichsten tritt diese Versuchung bei Roland Barthes oder Um­berto Eco zutage, die übereinstimmend eine allgemeine Sémiolo­gie vorschlagen, mit der alle Humanwissenschaften um die Unter­suchung des Zeichens herum zusammengefaßt werden sollen.

Die Modernisierung verbindet sich dann mit der Interdiszipli-narität, denn damit das linguistische Modell auf dem gesamten Feld der Humanwissenschaften Einzug halten kann, müssen die sakrosankten Grenzen gesprengt werden. Von dem Augenblick an, wo alles sprachlich ist, wo wir sprachlich sind, wo die Welt Sprache ist, »wird alles, aber auch wirklich alles austauschbar, permutabel, transformierbar, konvertierbar«22. Diese Interdiszi-plinarität, die dem Humboldtschen Modell der Universität zuwi­derläuft, in dem jede Disziplin innerhalb strikter Grenzen ihren Platz einnimmt, führt zur Schwärmerei für alle Spielarten des Formalismus, für ein sich selbst immanentes Wissen. Das Zau­berwort der Epoche ist das der »Kommunikation«, das nicht nur an die gleichnamige Zeitschrift erinnert, sondern auch von der multidisziplinären Euphorie kündet.

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Der Ehrgeiz einer einheitlichen Wissenschaft

Lévi-Strauss war der erste, der in der unmittelbaren Nachkriegs­zeit dieses vereinheitlichende Programm der Humanwissen­schaften formuliert hat. Selbstverständlich kreiste die von ihm ersonnene Konstellation um eine Sozialanthropologie, deren Re­präsentant er war und die allein imstande war, dieses totalisie-rende Unternehmen zum Erfolg zu führen. Nach Lévi-Strauss' Ansicht begründet sich die besondere Bestimmung der Anthro­pologie daraus, daß sie fähig ist, den Schnittpunkt zwischen Na­tur- und Humanwissenschaften einzunehmen, wobei »sie die Hoffnung nicht aufgibt, in der Stunde des letzten Gerichts unter den Naturwissenschaften zu erwachen«23.

Lévi-Strauss läßt sich also von den Naturwissenschaften und exakten Wissenschaften inspirieren, um aus ihnen bestimmte lo­gisch-mathematische Modelle oder Verfahrenstechniken zur Er­richtung seiner Anthropologie zu schöpfen. Sein Ehrgeiz ist es, mittels wissenschaftlicher Strenge die Grenze zwischen Natur-und Humanwissenschaften zu tilgen.

Aufbauend auf die fruchtbare Begegnung mit Jakobson, die er während des Krieges in den Vereinigten Staaten erlebt hatte, weist Lévi-Strauss in seinem anthropologischen Verfahren dem linguisti­schen Modell einen privilegierten Platz zu. Bei seiner Forschung nach Invarianten, bei seinen paradigmatischen und syntagmati-schen Dekonstruktionen übernimmt er die Lehren von Jakobsons Phonologie : die binären Oppositionen, die differentiellen Abwei­chungen usw. Die Linguistik befruchtete damit ein besonders er­tragreiches Wissensfeld. Wenn also Lévi-Strauss mit dem der Spra­che gewährten Privileg, mit der Entschlüsselung der Zeichen die Anthropologie in eine kulturelle Richtung lenkt, so stellt er seinen Ehrgeiz der Vereinheitlichung keineswegs hintan. Seine Suche nach den mentalen Bereichen zielt auf das Feld des Biologischen. Der Status, den er in seiner strukturalen Anthropologie dem Bio­logischen einräumt, ist durchaus erstrangig, auch wenn dieser Be-

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reich nicht wirklich erschlossen wird. Die strukturale Analyse findet »ihr Modell bereits im Körper [...]. Ich habe schon auf sehr fortgeschrittene Untersuchungen über den Mechanismus der visuellen Wahrnehmung bei verschiedenen Tieren hingewie­sen [...].«24 »Die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins [...] stehen auf halbem Wege dazwischen, von den Sinnesorganen und vom Gehirn bereits nach Art eines Textes codiert [...].«25

Die Totalität, die Lévi-Strauss anstrebt, womit er sich Marcel Mauss' Ehrgeiz der Errichtung der »totalen sozialen Tatsache« zu eigen macht, zielt also darauf, das ganze Feld der Wissenschaf­ten zu umgreifen und letztlich die strukturale Anthropologie zu der Wissenschaft vom Menschen, zur bündelnden Kraft auxiliar gewordener Wissenschaften zu befördern, kraft logisch-mathe­matischer Modelle, kraft des Beitrags der Phonologie, kraft eines unbegrenzten Forschungsfeldes, das in einen planetarisch dimen­sionierten Blick auch die geschichts- und schriftlosen Gesell­schaften einbegreift.

Dem Anthropologen eröffnet sich damit der Zugang zum Un­bewußten der sozialen Praktiken, und er kann die komplexen Kombinatoriken der in allen menschlichen Gesellschaften gelten­den Regeln restituieren. Es leuchtet ein, daß dieser Ehrgeiz für alle Wissenschaften, die den Menschen zum Gegenstand haben, eine erhebliche Herausforderung darstellte und daß er Reaktionen zur Folge hatte, sei es, daß man es von anderen Orten des Wissens her mit diesem Programm aufzunehmen gedachte oder, im Gegenteil, sich auf diese eroberungstüchtige Dynamik stützte, um an Legiti­mität zu gewinnen. Der so formulierte Anspruch bemißt sich nach der Schwierigkeit, auf die die Anthropologie bei ihrer institutio­nellen Positionierung zunächst stieß: »Es ist das Schicksal der jun­gen Wissenschaften, daß sie sich schwer in den bestehenden Rah­men einfügen. [...]. [Die Anthropologie] steht, wenn man so sagen darf, auf den Naturwissenschaften; sie lehnt sich an die Kulturwis­senschaften; und sie schaut auf die Sozialwissenschaften.«26 Auch wenn es der Anthropologie im Alleingang nicht gelungen ist, die

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Humanwissenschaften aus ihrer Enklave zu holen, so ist der Strukturalismus, der die Ablösung übernommen hat, wenn schon keine gemeinsame Schule, so doch immerhin das gemein­same Paradigma einer ganzen Reihe von Disziplinen gewesen, die im selben Sinne auf eine vereinheitlichte Gesamtwissenschaft hingearbeitet haben.

Ein innerfranzösisches Phänomen

Das Auflodern des Strukturalismus war ein im wesentlichen fran­zösisches Phänomen, das dann internationale Strahlkraft bekam. Dessen vielfältige Werke sind in der angelsächsischen Welt unter dem Begriff French Criticism zusammengefaßt worden.

Wieso bot Frankreich einen besser als anderswo zur Keimung und Entfaltung der strukturalistischen Tätigkeit geeigneten Nährboden ? Dazu lassen sich ein paar Hypothesen äußern. Zu­nächst hat sich in Frankreich das Gewicht der Humaniora blok-kierend auf das Fußfassen der social sciences ausgewirkt, während diese umgekehrt an den amerikanischen Universitäten trium­phierten. In Frankreich war es die philosophische Avantgarde, die auf den Aufschwung der Sozialwissenschaften reagierte, und es gelang ihr, indem sie das strukturalistische Programm verein­nahmte, in einem Streit der Traditionalisten gegen die Modernen die erneuerten Humanwissenschaften durchzusetzen.

Überhaupt ist der Wettstreit zwischen den Vertretern der Tradition und denen der Modernität ein recht französisches Cha­rakteristikum und spielt eigentlich nur die zu Anfang des Jahr­hunderts erfolgten Auseinandersetzungen zwischen der »neuen« und der »alten« Sorbonne noch einmal durch. Das Gewicht der Humaniora gestattet es dem französischen Intellektuellen zu­dem, im Namen der Menschheit zu sprechen, sich über seine spe­zifische Zuständigkeit hinaus zu engagieren.

Dem liegt auch eine Tradition zugrunde, die auf das 18. Jahr-

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hundert zurückreicht, sich aber im 19. Jahrhundert im Zuge der Dreyfus-Affäre ausgeweitet hat und im 20. Jahrhundert von Jean-Paul Sartre verkörpert wird. Auch wenn der Strukturalis­mus von dieser Figur des engagierten Intellektuellen Abstand nimmt, so bedient sich diese Strömung doch weiterhin weidlich der Strategie, über die Apparate hinauszugreifen, um sich direkt an die Leserschaft, an die Öffentlichkeit zu wenden und ihre Mit­bewerber auszuspielen. In den Vereinigten Staaten hingegen wird der Universitätsprofessor in Dollars veranschlagt und hat »kei­nerlei besonderes Recht, im Namen der Menschheit zu spre­chen«27. In Deutschland wie in den Vereinigten Staaten lassen sich nur wenige Wissenschaftler auf die Medien ein, wo mögli­cherweise ein Durchbruch zu schaffen wäre. Der Kanadier McLuhan hat dies getan, aber die universitäre Institution hat ihn teuer dafür bezahlen lassen.

In Frankreich hingegen stellt man eine Schwächung der Auto­nomie des universitären Feldes fest, dem andere Konsekrations­instanzen Konkurrenz machen. Die Spieleinsätze der Macht, die der Theoriedebatte des Strukturalismus unterliegen, machen sich im neuen Ehrgeiz der jungen Sozialwissenschaften gegenüber der Monopolsituation der traditionellen Humaniora geltend. Abermals treffen wir auf die französische Eigenheit einer beson­ders eingefahrenen, zentralisierten Universität, ein altes Na­poleonisches Erbe, das in den fünfziger und sechziger Jahren un­verändert fortbesteht. Das Gewicht der Humaniora tritt auch zutage in der zentralen Position, die bei der Ausarbeitung des strukturalistischen Paradigmas eine Institution wie die École normale supérieure in der Rue d'Ulm einnimmt, wo die seiner­zeit wichtigsten Zeitschriften, die Cahiers pour l'analyse und die Cahiers marxistes-léninistes, gegründet und erarbeitet werden. In der Rue d'Ulm nämlich trifft man Althusser, Derrida und Lacan.

Eine weitere Gegebenheit dieser Periode, die über das univer­sitäre Feld hinauswirkt, ist das Verhältnis der französischen Intel­lektuellen zur Geschichte ihres Landes. In einem entkolonisierten

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und befriedeten Frankreich kommt ihnen plötzlich zu Bewußt­sein, daß sie nicht mehr das Land bewohnen, das sich seit 1789 als Leuchtturm der Menschheit gab. Frankreich ist keine Großmacht mehr, sondern ein bescheidener Bestandteil eines pluralen Europa. Daher hat, wie François Furet richtig beobachtet, der französische Intellektuelle »aller gaullistischen Rhetorik zum Trotz nicht mehr den Eindruck, Menschheitsgeschichte zu machen: Aus der Ge­schichte verbannt, akzeptiert dieses Frankreich es um so leichter, die Geschichte zu verbannen.«28 Der Rückzug auf Frankreich, die Zwiesprache der Franzosen mit sich selbst hat bei den Intellektuel­len das Bedürfnis ausgelöst, eine Ideologie zu erstellen, die einen beruhigenden Zusammenhalt, einen neuen Ehrgeiz zu stiften ver­mag : »Dahinter steckt die Suche nach einer Ordnung, fast im rit­terlichen, initiatorischen Sinne eines Ordens.«29

Diesem neuen Aspekt, der zur radikalen DeStabilisierung der Historie und damit zum Erfolg des Strukturalismus auf französi­schem Boden beitragen wird, ist ein Element hinzuzufügen, das gerade aus der Übermacht einer antimodernen spiritualistischen Tradition unter den französischen Intellektuellen herrührt. Diese Tradition findet sich bestärkt durch die Vorherrschaft einer, wenn nicht gegen die Wissenschaft, so doch abseits von ihr und sie sich unterordnend errichteten Philosophie, »was zu der Unglaublich­keit führt, daß man Althusser Wissenschaftler in Sachen Wissen­schaftlichkeit unterweisen sieht«30. Marcel Gauchet erkennt in der Äußerung dieses Antimodernismus der Intellektuellenge­meinschaft den bejahrten Gegensatz zwischen Geist und Indu­strie, zwischen Kunst und »Schrecken« der Massenzivilisation wieder, ein altes und in der französischen Geistesgeschichte re­kurrentes Thema.

Die zweite Hypothese, die begreiflich macht, wieso Frank­reich die Wahlheimat des Strukturalismus war, liefert Thomas Pa­vel, der zur Erklärung eher die innere Logik der dortigen Ent­wicklung der Epistemologie heranzieht. Die Begeisterung für den Strukturalismus rühre aus dem angestauten Rückstand

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Frankreichs gegenüber den europäischen Nachbarn. Frankreich war bei den Debatten um die Sprachproblematik Anfang des Jahrhunderts außen vor geblieben. Damit war den Franzosen in den dreißiger Jahren die Wiener Schule (Rudolf Carnap, Otto Neurath, Herbert Feigl, Karl Popper) unbekannt. Als diese durch den aufkommenden Nazismus ins Exil gehen mußte, fand sie als Diaspora in den angelsächsischen Ländern, besonders in den Ver­einigten Staaten Zuflucht, womit sie das epistemologische Ab­seits Frankreichs anzeigte und es zudem noch akzentuierte, da sie Frankreich als mögliches Asylland nicht zur Kenntnis nahm: »Die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss, des frühen Barthes und zum Teil von Lacan haben in Frankreich den aufgeschobenen — und deshalb um so ersichtlicheren — Ausbruch der unterschwelli­gen Debatte über die Sprache und die Epistemologie des Wissens dargestellt.«31 Nachdem Lévi-Strauss sich als Modell zur Errich­tung einer Sozialanthropologie der Linguistik angenommen hatte, beeilten sich wenig später auch die von der analytischen Strömung abgeschnittenen Avantgarde-Philosophen, sich des linguistischen Modells zu bemächtigen, dies jedoch ohne episte­mologische Vorkehrungen, indem sie sich eine von den Fort­schritten der Sprachphilosophie bereits überholte Saussuresche Linguistik zu eigen machten.

Die Intensität des Pariser Lebens, die es ermöglichte, die Bah­nen der traditionellen universitären Anerkennung links liegen zu lassen, tat ein übriges für die prompte Verbreitung des struktura-listischen Paradigmas auf dem französischen Kulturmarkt. Damit wurden seine Vertreter zu Medienstars, zu den neuen Gurus ei­nes Publikums, das sich in den sechziger Jahren durch den spek­takulären Anstieg der Studentenzahlen an den geistes- und hu­manwissenschaftlichen Fakultäten stark erweitert hatte. Unter der Trikolore Frankreichs also, und Frankreichs allein, sollte sich der Strukturalismus herausbilden, bis er auch andere Länder fas­zinierte, freilich als ein typisch französisches Landesprodukt, das man sich der Exotik halber zu Gemüte führt.

Dank

Ich danke allen, die so freundlich waren, in Gesprächen Auskunft zu geben, die alle schriftlich erfaßt worden sind. Ihr Beitrag war maßgeblich und hat eine der Grundlagen für die Erstellung dieses Kapitels der französischen Geistesgeschichte geliefert :

Marc Abélès, Alfred Adler, Michel Aglietta, Jean Allouch, Pierre Ansart, Michel Arrivé, Marc Auge, Sylvain Auroux, Ko-stas Axelos, Georges Balandier, Etienne Balibar, Henri Bartoli, Michel Beaud, Daniel Becquemont, Jean-Marie Benoist, Alain Boissinot, Raymond Boudon, Jacques Bouveresse, Claude Bré-mond, Hubert Brochier, Louis-Jean Calvet, Jean-Claude Cheva­lier, Jean Clavreul, Claude Conté, Jean-Claude Coquet, Maria Daraki, Jean-Toussaint Desanti, Philippe Descola, Vincent Des-combes, Jean-Marie Domenach, Joël Dor, Daniel Dory, Roger-Pol Droit, Jean Duvignaud, Roger Establet, François Ewald, Ar­iette Farge, Jean-Pierre Faye, Pierre Fougeyrollas, Françoise Gadet, Marcel Gauchet, Gérard Genette, Jean-Christophe God-dard, Maurice Godelier, Gilles Gaston-Granger, Wladimir Gra­noff, André Green, Algirdas Julien Greimas, Marc Guillaume, Claude Hagège, Philippe Hamon, André-Georges Haudricourt, Louis Hay, Paul Henry, Françoise Héritier-Auge, Jacques Hoa-rau, Michel Izard, Jean-Luc Jamard, Jean Jamin, Julia Kristeva, Bernard Laks, Jérôme Lallement, Jean Laplanche, Francine Le Bret, Serge Leclaire, Dominique Lecourt, Henri Lefebvre, Pierre Legendre, Gennie Lemoine, Claude Lévi-Strauss, Jacques Lévy, Alain Lipietz, René Lourau, Pierre Macherey, René Major, Serge Martin, André Martinet, Claude Meillassoux, Charles Melman, Gérard Mendel, Henri Mitterand, Juan-David Nasio, André Ni-

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colaï, Pierre Nora, Claudine Normand, Bertrand Ogilvie, Michelle Perrot, Marcelin Pleynet, Jean Pouillon, Joëlle Proust, Jacques Rancière, Alain Renaut, Olivier Revault d'AUonnes, Eli­sabeth Roudinesco, Nicolas Ruwet, Moustafa Safouan, Georges-Elia Sarfati, Bernard Sichere, Dan Sperber, Joseph Sumpf, Em­manuel Terray, Tzvetan Todorov, Alain Touraine, Paul Valadier, Jean-Pierre Vernant, Marc Vernet, Serge Viderman, Pierre Vilar, François Wahl, Marina Yaguello.

Andere Persönlichkeiten habe ich angesprochen, konnte ihnen jedoch nicht begegnen: Didier Anzieu, Alain Badiou, Christian Baudelot, Jean Baudrillard, Pierre Bourdieu, Georges Canguil-hem, Cornelius Castoriadis, Helene Cixous, Serge Cottet, An­toine Culioli, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Louis Dumont, Julien Freund, Luce Irigaray, Francis Jacques, Christian Jambet, Catherine Kaenbrat-Orecchioni, Victor Karady, Serge-Chri­stophe Kolm, Claude Lefort, Philippe Lejeune, Emmanuel Lévi-nas, Jean-François Lyotard, Gérard Miller, Jacques-Alain Miller, Jean-Claude Milner, Edgar Morin, Thérèse Parisot, Jean-Claude Passeron, Jean-Bertrand Pontalis, Paul Ricœur, Jacqueline de Ro-milly, François Roustang, Michel Serres, Louis-Vincent Thomas.

Ich danke außerdem all jenen, die sich der anstrengenden Auf­gabe unterzogen haben, dieses Manuskript durchzusehen, und mir mit ihren Anregungen und Berichtigungen sehr nützliche Hilfen gegeben haben, so daß ich dieses Unternehmen zu einem glücklichen Ende führen konnte: Daniel und Trudi Becquemont, Alain Boissinot, René Gelly, François Gèze und Thierry Paquot.

Schließlich danke ich für ihre Auskünfte über die Auflagen ei­niger Bücher: Monique Lulin bei den Éditions du Seuil, Pierre Nora bei den Éditions Gallimard und Christine Silva bei den Édi­tions La Découverte.

Anhang

Teil I : Die fünfziger Jahre : die epische Epoche

Einführung

1 Sie ist auf zwei Bände angelegt, die den beiden großen Phasen des struk-turalistischen Abenteuers entsprechen: dem Aufstieg (Bd. I: 1945-1966) und dem Niedergang (Bd. II : 1967 bis heute).

Die Verfinsterung eines Sterns : Jean-Paul Sartre

1 P. Ory/J.-F. Sirinelli, Les Intellecturels en France, de l'affaire Dreyfus à nos jours, Paris 1986, S. 166.

2 C. Lefort, »Le marxisme de Sartre«, in: Les Temps Modernes, Nr. 89, April 1953 ; J.-P. Sartre, »Réponse à Claude Lefort«.

3 A. Cohen-Solal, Sartre. 1905-1980, Reinbek 1988, S. 530. 4 R. Debray, in: Le Nouvel Observateur, 21. April 1980. 5 Jean Pouillon, Gespräch mit dem Verfasser. 6 J. Pouillon, »L'œuvre de Claude Lévi-Strauss«, in: Les Temps Mo­

dernes, Nr. 126, Juli 1956, wiederabgedruckt in: ders., Fétiches sans féti­chisme, Paris 1975.

7 J. Pouillon, Fétiches sans fétichisme, a. a. O., S. 301. 8 Ebenda, S. 307. 9 Ebenda, S. 312.

10 J. Pouillon, Séminaire de Michel Izard, in: Laboratoire d'anthropologie sociale, 24. November 1988.

11 J. Pouillon, Gespräch mit dem Verfasser. 12 J. Pouillon, zitiert nach A. Cohen-Solal, Sartre, a. a. O., S. 594. 13 J. Pouillon, Séminaire de Michel Izard, in: Laboratoire d'anthropologie

sociale, 9. Februar 1989. 14 Ebenda. 15 Georges Balandier, Gespräch mit dem Verfasser. 16 G. Dumézil, Entretiens avec D. Eribon, Paris 1987, S. 204. 17 Ebenda, S. 208. 18 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Ge­

sprächen, Frankfurt/M. 1989, S.229.

568 Anmerkungen zu S. 33-44

Die Geburt eines Helden : Claude Lévi-Strauss

1 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O., S. 18. 2 Ebenda, S.21. 3 C. Lévi-Strauss, Gespräch mitJ.-M. Benoist, in: Le Monde, 21. Januar

1979. 4 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt/M. 1978, S.9. 5 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O., S. 49. 6 Ebenda, S. 67. 7 Ebenda, S. 85. 8 Francine Le Bret, Gespräch mit dem Verfasser. 9 Raymond Boudon, Gespräch mit dem Verfasser.

10 Ebenda. 11 C. Lévi-Strauss, Der Blick aus der Ferne, München 1985, S.161 f. 12 É. Durkheim, »La prohibition de l'inceste«, in: L'Année sociologique,

Heft 1,1898. 13 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a.a.O., S.51. 14 Ebenda. 15 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1968, S.139. 16 Philippe Descola, Gespräch mit dem Verfasser. 17 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1967, S. 27. 18 A. R. Radcliffe-Brown, »The Study of Kinship Systems«, in: Journal of

the Royal Anthropology Institute, 1941, S. 17. 19 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a. a. O., S. 53. 20 R. H. Lowie, »Exogamy and the Classificatory Systems of Relation-

ship«, in: American Anthropologist, Heft 17. 21 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O., S. 60. 22 Jean Jamin, Gespräch mit dem Verfasser. 23 C. Lévi-Strauss, »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in

der Anthropologie«, in: ders., Strukturale Anthropologie I, a.a.O.; ders., »Linguistique et anthropologie«, in: Supplement to International Journal of American Linguistics, Heft 19, Nr. 2, April 1953, a. a. O., dt. : »Sprachwissenschaft und Anthropologie«, in: ders., Strukturale An­thropologie I, a. a. O., S. 80-94.

An der Nahtstelle von Natur und Kultur: der Inzest

1 C. Lévi-Strauss, La vie familiale et sociale des Indiens Nambikwara, So­ciété des américanistes, Paris 1948, dt. : Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1981.

2 Marc Auge, Gespräch mit dem Verfasser. 3 Olivier Revault d'Allonnes, Gespräch mit dem Verfasser. 4 Emmanuel Terray, Gespräch mit dem Verfasser.

Anmerkungen zu S. 45-56 569

5 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Vor­wort zur ersten Ausgabe, a. a. O., S. 15.

6 D. Sperber, »Der Strukturalismus in der Anthropologie«, in: F. Wahl (Hg.), Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt/M. 1981, S.188.

7 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, a.a.O., S.36.

8 Ebenda, S. 57. 9 J.-M. Benoist, La Révolution structurale, Paris 1980, S. 112.

10 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. Ο., S. 45. H C . Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O.j S. 65. 12 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 46. 13 R. Jakobson, Six leçons sur le sens, Paris 1976, Vorwort von C. Lévi-

Strauss, wiederabgedruckt in: Der Blick aus der Ferne, a. a. O. 14 Ν. Trubetzkoy, »La phonologie actuelle«, Psychologie du langage, Paris

1933, S.243, zitiert von C. Lévi-Strauss in: Strukturale Anthropologie I, a.a.O., S.45.

15 Y. Simonis, Lévi-Strauss ou la »passion de l'inceste«, Paris 1968, S. 21. 16 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 82. 17 Ebenda, S. 97. 18 Ebenda, S. 63. 19 Ebenda, S. 76. 20 Jean Pouillon, Gespräch mit dem Verfasser. 21 Raymond Boudon, Gespräch mit dem Verfasser. 22 Jean Pouillon, Gespräch mit dem Verfasser. 23 S. de Beauvoir, in: Les Temps Modernes, November 1949, S.943. 24 Ebenda, S. 949. 25 C. Lefort, »L'échange et la lutte des hommes«, in: Les Temps Modernes,

Februar 1951. 26 J. Pouillon, »L'œuvre de Claude Lévi-Strauss, in: Les Temps Modernes,

Nr. 226, Juli 1956; wiederabgedruckt in: ders., Fétiches sans fétichisme, a.a.O., S.310.

Fragen Sie nach dem Programm : Mauss

1 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O., S. 107. 2 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 3 Jean Jamin, Gespräch mit dem Verfasser. 4 Ebenda. 5 R. Hertz, Mélanges de sociologie religieuse et folklore, 1928. 6 Jean Jamin, Gespräch mit dem Verfasser. 7 C. Lévi-Strauss, »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, in: M.

Mauss, Soziologie und Anthropologie, Frankfurt/M. 1989, S. 8. 8 Ebenda, S. 12.

570 Anmerkungen zu S. 56-68

9 C. Lévi-Strauss, »Der Zauberer und seine Magie«, in: ders., Strukturale Anthropologie I, a.a.O., S. 183-203.

10 C. Lévi-Strauss, »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, a.a.O., S.20.

11 Ebenda, S.U. 12 Ebenda, S.24. 13 Ebenda, S.25. 14 Ebenda, S.26. 15 V. Descombes, Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philo­

sophie in Frankreich 1933-1978, Frankfurt/M. 1981, S.121. 16 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft,

a.a.O., S. 106. 17 Ebenda, S. 648. 18 Ebenda, S. 643. 19 Vincent Descombes, Gespräch mit dem Verfasser. 20 C. Lévi-Strauss, »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, a.a.O.,

S.40. 21 C. Lefort, »L'échange et la lutte des hommes«, in: Les Temps Modernes,

1951 ; wiederabgedruckt in: Les Formes de l'histoire, Paris 1978, S. 17. 22 C. Lévi-Strauss, »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, a.a.O.,

S.24.

Ein Freischärler : Georges Dumézil

1 G. Dumézil, Mythos und Epos : die Ideologie der 3 Funktionen in den Epen der indoeuropäischen Völker, Frankfurt/M. 1990.

2 C. Lévi-Strauss, »Dumézil et les sciences humaines«, France-Culture, 2. Oktober 1978.

3 G. Dumézil, Entretiens avec D. Eribon, a. a. O., S. 64. 4 F. Bopp, Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Verglei-

chung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germani­schen Sprache, Frankfurt/M. 1816.

5 C. Lévi-Strauss, »Réponse à Dumézil reçu à l'Académie française«, in: Le Monde, 15. Juli 1979.

6 G. Dumézil, »La préhistoire des flamines majeurs«, in: Revue des reli­gions, CVIII, 1938, S. 188-220.

7 G. Dumézil, Entretiens avec D. Eribon, a. a. O., S. 174. 8 C. Hagège, »La clé des civilisations«, in: Le Monde, 14. Oktober 1986.

Anmerkungen zu S. 70-82 571

Die phänomenologische Brücke

1 M. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, Berlin 1976; ders., Phä­nomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966.

2 Vincent Descombes, Gespräch mit dem Verfasser. 3 M. Merleau-Ponty, »Sur la phénoménologie du langage«, Beitrag zum

ersten internationalen Kolloquium der Phänomenologie, Brüssel 1951 ; wiederabgedruckt in: ders., Signes, Paris 1960.

4 Ebenda, S. 49. 5 M. Merleau-Ponty, Cahiers internationaux de sociologie, X, 1951, S. 55-

69; wiederabgedruckt in: ders., Signes, a.a.O., S. 127. 6 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O., S. 93. 7 M. Merleau-Ponty, Signes, a. a. O., S. 146 f. 8 Vincent Descombes, Gespräch mit dem Verfasser. 9 M. Merleau-Ponty, Signes, a. a. O., S. 154.

10 Vincent Descombes, Gespräch mit dem Verfasser. 11 G. W. Stocking, Histoires de l'anthropologie: XVIe-XIXe siècles, Paris

1984, S. 421-431. 12 J. Jamin, Les Enjeux philosophiques des années cinquante, Paris 1989,

S. 103. 13 A. Adler, Séminaire de Michel Izard, in: Laboratoire d'anthropologie

sociale, 17. November 1988. 14 Michel Arrivé, Gespräch mit dem Verfasser. 15 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 16 Jean-Marie Benoist, Gespräch mit dem Verfasser. 17 M. Foucault, »Structuralism and Post-Structuralism«, in: Telos, Heft 16,

1983, S. 195-211, Gespräch mit Georges Raulet. 18 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1974, S. 306.

Der Saussuresche Schnitt

1 V Descombes, Das Selbe und das Andere, a. a. O., S. 99 ff. 2 F. Gadet, »Le signe et le sens«, in: DRLAV, Revue de linguistique, Nr.

40, 1989. 3 Ebenda, S.4. 4 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 5 F. Gadet, »Le signe et le sens«, a.a.O., S. 18. 6 R. Barthes, »Saussure, das Zeichen und die Demokratie«, in: ders., Das

semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, S.159. 7 Siehe T. Todorov, Symboltheorien, Tübingen 1995. 8 Claudine Normand, Gespräch mit dem Verfasser. 9 Ebenda.

10 Ebenda.

572 Anmerkungen zu S. 82-94

11 Jean-Claude Coquet, Gespräch mit dem Verfasser. 12 Sylvain Auroux, Gespräch mit dem Verfasser. 13 André Martinet, Gespräch mit dem Verfasser. 14 Ebenda. 15 Ebenda. 16 F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin

1967, S. 106. 17 Ebenda, S.27, S.134, S.146. 18 O. Ducrot/T. Todorov, Enzyklopädisches Wörterbuch der Sprachwis­

senschaften, Frankfurt/M. 1975, S.118. 19 L.-J. Calvet, Pour et contre Saussure, Paris 1975, S. 82 f. 20 F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a. a. O.,

S.19. 21 Sylvain Auroux, Gespräch mit dem Verfasser. 22 L.-J. Calvet, Pour et contre Saussure, a. a. O. 23 Louis-Jean Calvet, Gespräch mit dem Verfasser. 24 J. Starobinski, Wörter unter Wörtern. Die Anagramme des Ferdinand de

Saussure, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980. 25 F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft,

a.a.O., S. 16 f. 26 C. Hagège, Der dialoge Mensch : Sprache-Weltbild-Gesellschaft, Rein-

bek 1987. 27 Oswald Ducrot, Gespräch mit dem Verfasser.

Inspirator und Wegbereiter: Roman Jakobson

1 R. Jakobson, Schlußtext der Konferenz der Anthropologen und Lin­guisten 1952 an der Universität von Indiana, Essais de linguistique gene­rale, Paris 1970.

2 Ebenda, S.42. 3 Ebenda, S.72. 4 Ebenda, S. 74. 5 R. Jakobson im Gespräch mit T. Todorov, in: Poétique, Nr. 57, Februar

1984, S. 4. 6 Ebenda, S. 12. 7 R. Jakobson, in : Archives du XXe siècle, von J.-J. Marchand, Gespräche

vom 10. Februar 1972,2. Januar 1973,14. September 1974, Wiederholung auf La Sept, Oktober 1990.

8 R. Jakobson im Gespräch mit T. Todorov, a. a. O., S. 16. 9 R. Jakobson, Vorwort zu T. Todorov, Théorie de la littérature, Paris,

1965, S. 9. 10 Marina Yaguello, Gespräch mit dem Verfasser. 11 Jean-Pierre Faye, Gespräch mit dem Verfasser.

Anmerkungen zu S. 94-109 573

12 Ebenda. 13 J. Mukarovsky, abgedruckt in: Change, Nr. 3, 1971. 14 »Les thèses de 1929«, publiziert von Change, Nr. 1, 1969, S.31. 15 R. Jakobson, in: Archives du XXe siècle, J.-J. Marchand, a.a.O. 16 Word, Editorial, Nr. 1, 1945. 17 F. Gadet, »Le signe et le sens«, a.a.O., S.8. 18 R. Jakobson, Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, München 1974,

S. 10. 19 R.Jakobson, »Linguistische Aspekte der Übersetzung«, in: ders., Form

und Sinn, a.a.O., S.154. 20 R. Jakobson, »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Stö­

rung, in: ders./M. Halle, Grundlagen der Sprache, Berlin 1960, S.49-70, hier S. 55 f.

21 Jean-Claude Chevalier, Gespräch mit dem Verfasser.

Eine heimatlose Disziplin : die Linguistik

1 A. Martinet, Gespräch mit J.-C. Chevalier und P. Encrevé, in : Langue française, Nr. 63, September 1984, S.61.

2 R. L. Wagner, Vorwort zu : Introduction à la linguistique française, Paris 1947, zitiert von J.-C. Chevalier/P. Encrevé, a. a. O.

3 B. Quémada, Gespräch mit J.-C. Chevalier und P. Encrevé, a. a. O. 4 Michel Arrivé, Gespräch mit dem Verfasser. 5 Β. Pottier, Gespräch mit J.-C. Chevalier und P. Encrevé, a.a.O. 6 J.-C. Chevalier/P. Encrevé, in: Langue française, Nr. 63, September

1984. 7 Β. Quémada, Gespräch mit J.-C. Chevalier und P. Encrevé, a.a.O. 8 Jean-Claude Chevalier, Gespräch mit dem Verfasser. 9 P. Hamon, »Littérature«, in: B. Pottier (Hg.), Les Sciences du langage en

France au XXe siècle, Paris 1980, S. 285. 10 Ebenda, S. 284. 11 Gérard Genette, Gespräch mit dem Verfasser. 12 Jean-Claude Chevalier, Gespräch mit dem Verfasser. 13 André Martinet, Gespräch mit dem Verfasser. 14 A. Martinet, Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, Stuttgart

1963. 15 André-Georges Haudricourt, Gespräch mit dem Verfasser. 16 Ebenda. 17 Ebenda. 18 Ebenda. 19 Ebenda.

574 Anmerkungen zu S. 112-125

Die Tore von Alexandria

1 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Ebenda. 3 A.-J. Greimas und R. Barthes, zitiert von L.-J. Calvet, Roland Barthes.

Eine Biographie, Frankfurt/M. 1993, S. 141. 4 C. Singevin, zitiert von L.-J. Calvet, Roland Barthes, a. a. O., S. 141. 5 A. J. Greimas, Vorwort zu: L. Hjelmslev, Le Langage, Paris 1966 (1963). 6 L. Hjelmslev, Die Sprache, Darmstadt 1968, S.113. 7 T. Pavel, Le Mirage linguistique, Paris 1988, S. 92. 8 L. Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München 1974, S. 28. 9 Jean-Claude Coquet, Gespräch mit dem Verfasser.

10 Ebenda. 11 André Martinet, Gespräch mit dem Verfasser. 12 Ebenda. 13 A. Martinet, Besprechung der Prolegomena von L. Hjelmslev, in: Bulle­

tin de la société de linguistique, Bd. 42, 1946, S. 17-42. 14 Serge Martin, Gespräch mit dem Verfasser. 15 S. Martin, Langage musical, sémiotique des systèmes, Paris 1978.

Die »Mutter« des Strukturalismus : Roland Barthes

1 R. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt/M. 1982, S.12. 2 M. Nadeau, in: Les Lettres nouvelles, Juli 1953, S.599. 3 J.-B. Pontalis, in: Les Temps Modernes, November 1954, S.934-938. 4 R. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, a. a. O., S. 36. 5 Ebenda, S. 72. 6 Ebenda, S. 88. 7 Ebenda, S. 101. 8 R. Barthes, Gespräche mit J.-M. Benoist und B.-H. Lévy, France-Cul­

ture, Februar 1977, Wiederholung am 1. Dezember 1988. 9 R. Barthes, Océaniques, FR3, November 1970-Mai 1971.

10 Louis-Jean Calvet, Gespräch mit dem Verfasser. 11 R. Barthes, Océaniques, a.a.O. 12 R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1982, S.27. 13 Ebenda, S. 85. 14 L.-J. Calvet, Roland Barthes. Un regard politique sur le signe, Paris 1973,

S. 177. 15 R. Barthes, Mythen des Alltags, a. a. O., S. 102. 16 Ebenda, S. 130 f. 17 André Green, Gespräch mit dem Verfasser. 18 R. Barthes, »Mère courage aveugle« (1955) und »Théâtre populaire«, in:

ders., Essais critiques, Paris 1971 (1964).

Anmerkungen zu S. 126-140 575

19 Georges-Elia Sarfati, Gespräch mit dem Verfasser. 20 G. Mounin, Introduction à la sémiologie, Paris 1970, S. 193.

Die epistemische Herausforderung

1 A. Koyré, De la mystique à la science; cours, conférences et documents 1922-1962, hrsg. von P. Redondi, Paris 1986, S. 129.

2 J.-L. Fabiani, Les enjeux philosophiques des années cinquante, Paris 1989, S. 125.

3 M. Gueroult, Leçon inaugurale au Collège de France, 4. Dezember 1951, S. 16 f.

4 Ebenda, S. 34. 5 Gilles Gaston-Granger, Gespräch mit dem Verfasser. 6 Marc Abélès, Gespräch mit dem Verfasser. 7 Ebenda. 8 Jean-Christophe Goddard, Gespräch mit dem Verfasser. 9 M. Gueroult, Leçon inaugurale au Collège de France, a. a. O., S. 18.

10 J. Proust, in: Bulletin de la société française de philosophie, Juli-Septem-berl988, S. 81.

11 M. Gueroult, Descartes selon l'ordre des raisons, Paris 1953. 12 Ebenda, S. 10. 13 Jean-Christophe Goddard, Gespräch mit dem Verfasser. 14 M. Gueroult, Philosophie de l'historié de la philosophie, Paris 1979,

S. 243 15 Jean-Christophe Goddard, Gespräch mit dem Verfasser. 16 J. Piaget, Psychologie et épistémologie, Paris 1970 (Amsterdam 1947),

S. 110. 17 J. Piaget, Abriß der genetischen Epistémologie, Stuttgart 1980. 18 Vincent Descombes, Gespräch mit dem Verfasser. 19 J. Cavaillès, Sur la logique et la théorie des sciences, Paris 1947. 20 Pierre Fougeyrollas, Gespräch mit dem Verfasser. 21 Ebenda. 22 G. Canguilhem, Gespräch mit J.-F. Sirinelli, in: Génération intellectu­

elle, Paris 1988, S. 597. 23 Ebenda, S. 598. 24 B. Saint-Sernin, in: Revue de métaphysique et de morale, Januar 1985,

S. 86. 25 G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, München 1974, S.

16. 26 Pierre Fougeyrollas, Gespräch mit dem Verfasser. 27 G. Canguilhem, »La décadence de l'idée de progrès«, in: Revue de méta­

physique et de morale, Nr. 4, 1987, S. 450. 28 M. Foucault, in: Revue de métaphysique et de morale, Januar 1985, S.3.

576 Anmerkungen zu S. 140-153

29 Ebenda, S. 14. 30 P. Macherey, »La philosophie de la science de Canguilhem«, in: La Pen­

sée, Nr. 113, Januar 1964. 31 Ebenda, S. 74. 32 G. Canguilhem, »Qu'est-ce que la psychologie?«, Vortrag vom 18. De­

zember 1956 im Collège philosophique von François Wahl, abgedruckt in : Revue de métaphysique et de morale, 1958, S. 12-25, dann in : Cahiers pour l'analyse, Nr. 2, März 1966, und in: Études d'histoire et de philoso­phie des sciences, Paris 1968.

33 V. Descombes, Les Enjeux philosophiques des années cinquante, a. a. O., S. 159.

34 M. Serres, Hermes, Bd. III: Übersetzung, Berlin 1992, S. 364. 35 M. Serres, »Struktur und Übernahme: Von der Mathematik zu den My­

then« (November 1961); wiederabgedruckt in: ders., Hermes, Bd. I: Kommunikation, Berlin 1961.

36 Ebenda, S. 32. 37 Ebenda, S. 39. 38 Ebenda, S. 43.

Der Rebell Jacques Lacan

1 Ε. Roudinesco, Histoire de la psychanalyse en France, Paris 1986, S. 155. 2 Ebenda, S. 154. 3 Ebenda, S. 124. 4 Ebenda, S. 129. 5 Siehe Anne Roche (Hg.), Boris Souvarine et »La Critique sociale«, Paris

1990. 6 B. Ogilvie, Lacan, le sujet, Paris 1987, S. 20 f. 7 Jean Allouch, Gespräch mit dem Verfasser. 8 J. Dor, Introduction à la lecture de Lacan, Paris 1985, S. 100. 9 Ebenda, S. 101.

10 B. Ogilvie, Lacan, le sujet, a.a.O., S. 107. 11 A. Lemaire, Jacques Lacan, Brüssel 1977, S. 273. 12 Ebenda, S. 277. 13 Moustafa Safouan, Gespräch mit dem Verfasser. 14 J. Hyppolite, La Psychanalyse I, Paris 1956, S. 29-39, mit der Antwort

von Lacan, abgedruckt in: J. Lacan, »Zur >Verneinung< bei Freud«, in: ders., Schriften III, Ölten, Freiburg 1980, S. 173-219.

15 V. Descombes, Les Enjeux philosophiques des années cinquante, a. a. O., S. 155.

16 Wladimir Granoff, Gespräch mit dem Verfasser. 17 Gennie Lemoine, Gespräch mit dem Verfasser. 18 Jean Laplanche, Gespräch mit dem Verfasser.

Anmerkungen zu S. 153-166 577

19 Joël Dor, Gespräch mit dem Verfasser. 20 Wladimir Granoff, Gespräch mit dem Verfasser. 21 Ebenda. 22 Jean Clavreul, Gespräch mit dem Verfasser. 23 E. Roudinesco, Histoire de la psychanalyse en France, a. a. O., S. 294. 24 Jean Clavreul, Gespräch mit dem Verfasser.

Der Appell von Rom (1953): zurück zu Freud

1 André Green, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Ebenda. 3 Claude Dumézil, Gespräch mit dem Verfasser. 4 Ebenda. 5 Ebenda. 6 Ebenda. 7 Elisabeth Roudinesco, Gespräch mit dem Verfasser. 8 Wladimir Granoff, Gespräch mit dem Verfasser. 9 Ebenda.

10 Ebenda. 11 G. Mendel, Enquête par un psychanalyse sur lui-même, Paris 1981, S. 165. 12 E. Roudinesco, Histoire de la psychanalyse en France, a.a.O., S.272. 13 J. Lacan, »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psy­

choanalyse (Bericht auf dem Kongreß in Rom am 26. und 27. September 1953 im Instituto di Pscicologia délia Università di Roma)«, in: ders., Schriften I, Weinheim, Berlin 1986 (Ölten 1973), S.107.

14 Ebenda, S. 84. 15 Ebenda, S. 117. 16 Ebenda, S. 118. 17 Ebenda, S. 126. 18 Ebenda, S. 130. 19 René Major, Gespräch mit dem Verfasser. 20 J. Lacan, »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psy­

choanalyse«, in: ders., Schriften I, a.a.O., S. 143. 21 B. Sichere, Le Moment lacanien, Paris 1983, S.59. 22 Charles Melman, Gespräch mit dem Verfasser. 23 J. Lacan, »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Ver­

nunft seit Freud«, in: ders., Schriften II, Weinheim, Berlin 1986 (Ölten 1975), S. 19.

24 Ebenda, S. 21. 25 Ebenda. 26 Ebenda, S. 27. 27 Ebenda, S. 42 f. 28 Michel Arrivé, Gespräch mit dem Verfasser.

578 Anmerkungen zu S. 167-180

29 J. Dor, Introduction à la lecture de Lacan, a. a. O., S. 55 f. 30 J. Lacan, »Das Seminar über Ε. Α. Poes >Der entwendete Brief<«, in:

ders., Schriften I, a. a. O., S. 24 und 29. 31 J. Dor, Introduction à la lecture de Lacan, a. a. O., S. 59 f. 32 Ebenda, S. 63. 33 J. Lacan, »La chose freudienne«, 1956, in: ders., Écrits, a.a.O., S. 144. 34 A. Lemaire, Lacan, a. a. O., S. 340. 35 Ebenda, S. 347. 36 G. Mounin, Introduction à la sémiologie, a. a. O., S. 184 f. 37 Ebenda, S. 188. 38 A. Lemaire, Lacan, a.a.O., S. 30.

Das Unbewußte : ein symbolisches Universum

1 C. Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, a.a.O., S.15.

2 J. Lacan, »Remarques sur le rapport de Daniel Lagache«, 1958, in: ders., Écrits, a.a.O., S.648.

3 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a.a.O., S.112. 4 Claude Lévi-Strauss, Gespräch mit dem Verfasser. 5 Ebenda. 6 C. Lévi-Strauss, »Der Zauberer und seine Magie« und »Die Wirksam­

keit der Symbole«, in: ders., Strukturale Anthropologie I, a.a.O., S. 183-203 bzw. S. 204-225.

7 C. Lévi-Strauss, »Der Zauberer und seine Magie«, in: ders., Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 201.

8 C. Lévi-Strauss, »Die Wirksamkeit der Symbole», in: ders., Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 223.

9 Ebenda, S. 224. 10 R. Georgin, De Lévi-Strauss à Lacan, Paris 1983, S. 125. H C . Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, a. a. O., S. 26. 12 E. R. de Ipola, Le Structuralisme ou l'histoire en exil, 1969, Thèse, S. 122. 13 Ebenda, S. 126. 14 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S. 155. 15 Ε. R. de Ipola, Le Structuralisme ou l'histoire en exil, a. a. O., S. 244. 16 Claude Lévi-Strauss, Gespräch mit R. Bellour (1972), Paris 1979. 17 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O., S. 156 f. 18 C. Lévi-Strauss, Die eifersüchtige Töpferin, Nördlingen 1987, S. 295. 19 Ebenda, S. 306. 20 Der junge Bräutigam Fadinard muß einer Dame den Florentinerhut wie­

derbeschaffen, den sein Pferd gefressen hat, da jene, in Begleitung eines galanten Offiziers, sonst bei ihrem Gatten kompromittiert wäre. Nach etlichen Verwicklungen findet sich unter den Hochzeitsgeschenken ein

Anmerkungen zu S. 180-192 579

genau gleicher Hut, die Ehre der Dame bleibt gewahrt, und Fadinard kann sich seiner Braut widmen. A.d.Ü.

21 André Green, Séminaire de M. Izard, in: Laboratoire d'anthropologie sociale, 8. Dezember 1988.

22 G. Mendel, La Chasse structurale, Paris 1977, S. 262. 23 Gérard Mendel, Gespräch mit dem Verfasser. 24 F. Roustang, Lacan de l'équivoque a l'impasse, Paris 1986; siehe auch: V.

Descombes, »L'équivoque du symbolique«, in: Confrontations, Nr. 3, 1980, S. 77-95.

25 J. Lacan, »Situation de la psychanalyse en 1956«, in: ders., Écrits II, Paris 1971, S. 19.

26 Ebenda, S. 19. 27 F. Roustang, Lacan, a. a. O., S. 36 f. 28 J. Lacan, Le Séminaire, Livre III: Les Psychoses (1955-1956), Paris 1981,

S. 208. 29 Joël Dor, Gespräch mit dem Verfasser. 30 Claude Conté, Gespräch mit dem Verfasser. 31 J. Lacan, Encore. Das Seminar Buch XX, Weinheim, Berlin 1986, S. 50. 32 Charles Melman, Gespräch mit dem Verfasser.

RSI : die Häresie

1 Jean Allouch, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Ebenda. 3 Moustafa Safouan, Gespräch mit dem Verfasser. 4 J.-A. Miller, in: Ornicar, Nr. 24, 1981. 5 Ebenda. 6 Claude Conté, Gespräch mit dem Verfasser. 7 P. Fougeyrollas, Contre Claude Lévi-Strauss, Lacan, Althusser, Paris

1976, S. 99. 8 F. George, L'effet yau de poêle, Paris 1979, S. 65. 9 J. Lacan, »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psy­

choanalyse«. Bericht auf dem Kongreß in Rom (1953), a.a.O., S.129. 10 Diese Informationen verdanken wir E. Roudinesco, Histoire de la

psychanalyse, a. a. O., S. 318. 11 M. Merleau-Ponty, VIe Colloque de Bonneval, L'Inconscient, Paris 1966. 12 S. Leclaire, »L'inconscient, une étude psychanalytique«, in: L'incon­

scient, a.a.O., S.95-130, S. 170-177; wiederabgedruckt in: Psychanaly­ser, Paris 1968, S. 99.

13 Ebenda, S. 116 14 Serge Leclaire, Gespräch mit dem Verfasser. 15 Jean Laplanche, Gespräch mit dem Verfasser. 16 J. Laplanche, VIe Colloque de Bonneval, a.a.O., S. 115.

580 Anmerkungen zu S. 192-204

17 Ebenda, S. 121. 18 Jean Laplanche, Gespräch mit dem Verfasser. 19 J. Laplanche, Psychanalyse à l'Université, Bd. 4, Nr. 15, Juni 1979, S. 523-

528. 20 Ebenda, S. 527. 21 Ebenda. 22 E. Roudinesco, Histoire de la psychanalyse, a. a. O., S. 323. 23 A. Lemaire, Jacques Lacan, a. a. O. 24 J. Lacan, »Die Stellung des Unbewußten« (1960/1964), in: ders., Schrif­

ten II, Weinheim, Berlin 1986 (Olten 1975), S. 209. 25 Ebenda, S. 225. 26 J. Lacan, Interview, RTB, 14. Dezember 1966.

Der Ruf der Tropen

1 Serge Martin, Gespräch mit dem Verfasser. 2 C. Lévi-Strauss, »Rasse und Geschichte« (1952), wiederabgedruckt in:

ders., Strukturale Anthropologie II, Frankfurt/M. 1975, S. 384. 3 Ebenda, S.385. 4 Ebenda, S. 400. 5 Bertrand Ogilvie, Gespräch mit dem Verfasser. 6 R. Caillois, »Illusions à rebours«, in: Nouvelle Revue française, 1. De­

zember 1954, S. 1010-1021, und 1. Januar 1955, S. 58-70. 7 R. Caillois, »La réponse de R. Caillois«, in: Le Monde, 28. Juni 1974. 8 C. Lévi-Strauss, »Diogène couché«, in: Les Temps Modernes, Nr. 195,

1955, S. 1187-1221. 9 R. Caillois, »Illusions à rebours«, a.a.O., S. 1021.

10 Ebenda, S. 1024. 11 C. Lévi-Strauss, »Diogène couché«, a.a.O., S. 1187. 12 Ebenda, S. 1202. 13 Ebenda, S. 1214. 14 C. Lévi-Strauss, Gespräch mit Jean-José Marchand, in: Arts, 28. De­

zember 1955. 15 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O., S. 79. 16 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a. a. O., S. 405. 17 Ebenda, S. 389. 18 Ebenda, S. 411. 19 C. Lévi-Strauss, »Le droit au voyage«, in: L'Express, 21. September 1956. 20 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a. a. O., S. 381. 21 Ebenda, S. 408. 22 Ebenda, S. 386. 23 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie II, a. a. O., S. 52. 24 Ebenda, S. 46.

Anmerkungen zu S. 205-215 581

25 C. Lévi-Strauss, »Des Indiens et leur ethnographie«, Auszüge aus »Tristes Tropiques à paraître«, in: Les Temps Modernes, Nr. 116, August 1955.

26 R. Aron, in: Le Figaro, 24. Dezember 1955. 27 F. Régis-Bastide, in: Demain, 29. Januar 1956. 28 M. Chapsal, in: L'Express, 24. Februar 1956. 29 J. Lacroix, in: Le Monde, 13.-14. Oktober 1957. 30 P. A. Renaud, in: France-Observateur, 29. Dezember 1955. 31 J. Meyriat, in: Revue française de science politique, Bd. 6, Nr. 2. 32 C. Roy, in: Libération, 16. November 1955. 33 G. Bataille, in: Critique, Nr. 115, Februar 1956. 34 A. Métraux, Die Osterinsel, hrsg. u. mit einer Einleitung versehen von

Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt/M. 1989. 35 G. Bataille, in: Critique, Nr. 115, Februar 1956, S.101. 36 R. Etiemble, in: Évidences, April 1956, S.32. 37 Ebenda, S. 36. 38 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a.a.O., S.9 und 31. 39 Le Figaro, 1. Dezember 1956. 40 M. Rodinson, in: Nouvelle Critique, Nr. 66, November 1955; ders., in:

La Pensée, Mai-Juni 1957. 41 M. Rodinson, »Racisme et civilisation«, in: Nouvelle Critique, Nr. 66,

1955, S. 130. 42 R. Etiemble, in: Évidences, April 1956, S.33 f. 43 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 361 f. 44 Michel Izard, Gespräch mit dem Verfasser. 45 M. Izard, Séminaire, in: Laboratoire d'anthropologie sociale, 1. Juni

1989. 46 Michel Izard, Gespräch mit dem Verfasser. 47 Ebenda. 48 Ebenda. 49 M. Izard, Séminaire, in: Laboratoire d'anthropologie sociale, 1. Juni

1989. 50 Françoise Héritier-Auge, Gespräch mit dem Verfasser. 51 Ebenda. 52 O. Herrenschmidt, Séminaire de Michel Izard, in: Laboratoire d'anthro­

pologie sociale, 19. Januar 1989. 53 Louis Dumont, zitiert von O. Herrenschmidt, ebenda. 54 C. Lévi-Strauss, in: Leroi-Gourhan ou les voies de l'homme, Paris 1988,

S. 205 f. 55 H. Balfet, Séminaire de Michel Izard, in: Laboratoire d'anthropologie

sociale, 19. Januar 1989.

582 Anmerkungen zu S. 217-230

Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel Foucault

1 P. Nora, Les Français d'Algérie, Paris 1961. 2 Jacques Rancière, Gespräch mit dem Verfasser. 3 Ε. Morin, Der Geist der Zeit. Versuch über die Massenkultur, Köln, Ber­

lin 1965, S. 143. 4 D. Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1991, S. 23. 5 Bernard Sichere, Gespräch mit dem Verfasser. 6 D. Defert, France-Culture, 7. Juli 1988. 7 Ebenda. 8 Libération, Umfrage, 30. Juni 1984. 9 M. Foucault, in: Ethos, Herbst 1983, S.5.

10 M. Foucault, Gespräch mit André Berten, Katholische Universität Lö­wen, 1981; Ausstrahlung: FR3, D.Januar 1988.

11 M. Foucault, »Jean Hyppolite, 1907-1968«, in: Revue de métaphysique et de morale, Bd. 14, Nr. 2, April-Juni 1969, S.131.

12 M. Foucault, zitiert von D. Eribon, Michel Foucault, a. a. O., S. 44. 13 Hommage à Hyppolite, Paris 1969. 14 J. Proust, in: Libération, Umfrage, 30. Juni 1984. 15 D. Eribon, Michel Foucault, a. a. O., S. 62. 16 Olivier Revault dAUonnes, Gespräch mit dem Verfasser. 17 M. Pinguet, in: Le Débat, Nr. 41, September-November 1986, S. 125 f. 18 Ebenda, S. 129 f. 19 Zitiert von D. Eribon, Michel Foucault, a.a.O., S. 101. 20 M. Foucault, zitiert von M. Pinguet, in: Le Débat, a.a.O., S. 126. 21 Zitiert von D. Eribon, Michel Foucault, a. a. O., S. 124. 22 Georges Dumézil, Entretiens avec Didier Eribon, a. a. O., S. 215. 23 M. Foucault, Folie et déraison, Paris 1961, »Préface«, S. X [fehlt in der dt.

Ausgabe, A.d.Ü.]. 24 M. Foucault, Le Monde, 22. Juli 1961. 25 Pierre Macherey, Gespräch mit dem Verfasser. 26 Ebenda. 27 Zitiert von D. Eribon, Michel Foucault, a.a.O., S. 133. 28 M. Foucault, »Wahrheit und Macht«, in: ders., Dispositive der Macht.

Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 21-54, hier S.22. 29 M. Foucault, Die gesellschaftliche Ausweitung der Norm, in: ders., Mi­

krophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 83-88, hier S. 86.

30 Ebenda, S. 87. 31 M. Foucault, Folie et déraison, a. a. O., S. I-V [fehlt in der dt. Ausgabe,

A.d.Ü.]. 32 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im

Zeitalter der Vernunft, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1981, S. 8. 33 V. Descombes, Das Selbe und das Andere, a.a.O., S.139.

Anmerkungen zu S. 231-243 583

34 Biaise Pascal, zitiert von M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O., S.58.

35 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a. a. O., S. 94. 36 Ebenda, S.126. 37 Ebenda, S. 407. 38 Ebenda, S. 527 f. 39 D. Eribon, Michel Foucault, a.a.O., S. 170. 40 P. Ariès, Ein Sonntagshistoriker, Frankfurt/M. 1990, S. 132. 41 R. Barthes, »De part et d'autre«, in: Critique, Nr. 17, 1961, S.915-922;

wiederabgedruckt in: ders., Essais critiques, Paris 1971, S. 171. 42 Ebenda, S. 168. 43 M. Blanchot, »L'oubli, la déraison«, in: Nouvelle Revue française, Ok­

tober 1961, S.676-686; wiederabgedruckt in: L'Entretien infini, Paris, 1969, S. 292.

44 R. Mandrou, »Trois clés pour comprendre l'histoire de la folie à l'époque classique«, in: Annales, Nr. 4, Juli-August 1962, S. 761-771.

45 M. Serres, »Géométrie de la folie«, in: Mecure de France, Nr. 1188, Au­gust 1962, S.683-696, und Nr. 1189, September 1962, S.63-81; dt.: »Geometrie des Nichtkommunizierbaren: der Wahnsinn«, in: ders., Hermes, Bd. I: Kommunikation, a.a.O.

46 D. Eribon, Michel Foucault, a.a.O., S. 193. 47 R. Castel, »Les aventures de la pratique«, in: Le Débat, Nr. 41, Septem­

ber-November 1986, S. 43. 48 M. Gauchet/G. Swain, La Pratique de l'esprit humain. L'institution asi­

laire et la révolution démocratique, Paris 1980. 49 L. Ferry/A. Renaut, Antihumanistisches Denken. Gegen die französi­

schen Meisterphilosophen, München, Wien 1987, S. 103. 50 Ebenda, S. 104.

Die Krise des Marxismus: Tauwetter oder Frost?

1 Marcel Gauchet, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Alain Renaut, Gespräch mit dem Verfasser. 3 Georges Balandier, Gespräch mit dem Verfasser. 4 René Lourau, Gespräch mit dem Verfasser. 5 Zitiert von P. Ory/J.-F. Sirinelli, Les intellectuels en France, de l'affaire

Dreyfus à nos jours, a.a.O., S. 188. 6 M. Foucault, Océaniques, FR3, 13. Januar 1988 (1977 in Vézelay bei

Maurice Clavel). 7 Pierre Fougeyrollas, Gespräch mit dem Verfasser. 8 Gérard Genette, Gespräch mit dem Verfasser. 9 Olivier Revault d'Allonnes, Gespräch mit dem Verfasser.

10 Jean-Pierre Faye, Gespräch mit dem Verfasser.

584 Anmerkungen zu S. 244-255

11 Alfred Adler, Gespräch mit dem Verfasser. 12 Alfred Adler, Séminaire de Michel Izard, in: Laboratoire d'anthropolo­

gie sociale, 17. November 1988. 13 Ebenda. 14 Ebenda. 15 Ebenda. 16 Ebenda. 17 Ebenda. 18 C. Castoriadis, »Les divertisseurs«, in: Le Nouvel Observateur, 20. Juni

1977; wiederabgedruckt in: La Société française, 10/18, 1979, S.226. 19 Ε. Morin, Le vif du sujet, Paris 1969. 20 E. Morin, »Arguments, trente ans après«, Gespräch, in: La Revue des

revues, Nr. 4, Herbst 1987, S. 12. 21 K. Axelos, ebenda, S. 18. 22 K. Axelos, »Le jeu de l'autocritique«, in: Arguments, Nr. 27-28, 1962. 23 E. Morin, »Arguments, trente ans après«, a.a.O., S. 19. 24 Daniel Becquemont, Gespräch mit dem Verfasser. 25 Ebenda.

Der strukturale Weg der französischen Ökonomieschule

1 André Nicolai, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Michel Aglietta, Gespräch mit dem Verfasser. 3 Ebenda. 4 André Nicolai, Gespräch mit dem Verfasser. 5 M. Dehove, in: L'État des sciences sociales en France, Paris 1986, S.252. 6 R. Boyer, »La croissance française de l'après-guerre et les modèles ma­

cro-économiques«, in: La Revue économique, Nr. 5, Bd. XXVII, 1976. 7 F. Perroux, in: R. Bastide (Hg.), Sens et usages du terme de structure, Pa­

ris 1972 (1962), S. 61. 8 H. Bartoli, Économie et création collective, Paris 1977, S. 315. 9 R. Clemens, »Prolégomènes d'une théorie de la structure«, in: Revue

d'économie politique, Nr. 6, 1952, S. 997. 10 E. Wagemann, Einführung in die Konjunkturlehre, Leipzig 1929; ders.,

Wirtschaftspolitische Strategie. Von den obersten Grundsätzen wirt­schaftlicher Staatskunst, Hamburg 1937, S. 62.

11 F. Perroux, Comptes de la nation, Paris 1949, S. 126. 12 Α. Marchai, in : R. Bastide (Hg.), Sens et usages du terme de structure,

a.a.O., S.65f. 13 A. Marchai, Méthode scientifique et science économique, Paris 1955. 14 A. Marchai, Systèmes et structures, Paris 1959. 15 A. Nicolai, Comportement économique et structures sociales, Paris

1960.

Anmerkungen zu S. 255-266 585

16 André Nicolai, Gespräch mit dem Verfasser. 17 H. Bartoli, Économie et création collective, a. a. O., S. 344. 18 Henri Bartoli, Gespräch mit dem Verfasser. 19 H. Bartoli, Économie et création collective, a. a. O., S. 345. 20 G. Gaston-Granger, Pensée formelle et science de l'homme, Paris 1960,

S. 53.

Wie schön ist die Struktur !

1 R. Bastide (Hg.), Sens et usages du terme de structure, colloque du 10 au 12 janvier 1959, Paris 1972 (1962).

2 Entretiens sur les notions de genèse et de structure, colloque de Cerisy, juillet-août 1959, Paris 1965. Festzuhalten ist auch ein Kolloquium, das 1957 vom Centre international de synthèse organisiert wurde: Notion de structure et structure de la connaissance, Paris 1957.

3 É. Wolff in: R. Bastide (Hg.), Sens et usages du terme de structure, a.a.O., S.23.

4 Ν. Trubetzkoy, »La phonologie actuelle«, in: ders., Psychologie du lan­gage, Paris 1933, S. 245.

5 C. Lévi-Strauss, in: R. Bastide (Hg.), Sens et usages du terme de struc­ture, a. a. O., S. 44.

6 D. Lagache, ebenda, S. 81. 7 R. Aron, ebenda, S. 113. 8 L. Goldmann, in : Entretiens sur la notion de genèse et de structure, col­

loque de Cerisy, a. a. O., S. 10. 9 L. Goldmann, Der verborgene Gott, Frankfurt/M. 1985 (Neuwied,

Darmstadt 1973). 10 J. Piaget, in: Entretiens sur la notion de genèse et de structure, a.a.O.,

S. 42. 11 M. de Gandillac, ebenda, S. 120. 12 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a.a.O., S. 11-40. 13 Ebenda, S. 25. 14 Ebenda, S. 32. 15 Ebenda, S. 38. 16 Ebenda, S. 97. 17 Ebenda, S. 111. 18 Ebenda, S. 310. 19 Ebenda. 20 Maurice Godelier, Gespräch mit dem Verfasser. 21 Philippe Descola, Gespräch mit dem Verfasser. 22 C. Roy, »Claude Lévi-Strauss ou l'homme en question«, in: La Nef, Nr.

28, 1959, S. 70. 23 J. Duvignaud, in: Les Lettres nouvelles, Nr. 62, 1958.

586 Anmerkungen zu S. 267-278

24 Brief von C. Lévi-Strauss, zitiert von J. Duvignaud, Le langage perdu, Paris 1972, S. 234.

25 Ebenda, S. 251. 26 G. Mounin, Introduction à la sémiologie, a. a. O., S. 202. 27 Ebenda, S. 204. 28 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a.a.O., S.63. 29 Ebenda, S. 49. 30 Ebenda, S. 96. 31 F. Dosse, L'Histoire en miettes, Paris 1987. 32 E. Labrousse, La Crise de l'économie française à la fin de l'Ancien Ré­

gime et au début de la crise révolutionnaire, Paris 1944, S. 170. 33 E. Labrousse, Actes du congrès historique du centenaire de la révolution

de 1848, Paris 1948, S. 20. 34 P. Vilar, La Catalogne dans l'Espagne moderne. Recherches sur les fon­

dements économiques des structures nationales, Paris 1962. 35 Pierre Vilar, Gespräch mit dem Verfasser. 36 M. Perrot, Essais d'ego-histoire, Paris 1987, S. 277. 37 Michelle Perrot, Gespräch mit dem Verfasser. 38 Ebenda. 39 J.-P. Vernant, Gespräch mit dem Verfasser. 40 J.-P. Vernant, »Le mythe hésiodique des races. Essai d'analyse structu­

rale«, in: Revue de l'histoire des religions, 1960, S.21-54. 41 J.-P. Vernant, in: Genèse et structure, Paris 1965 (1959). 42 J.-P. Vernant, »Le mythe hésiodique des races« (1960), in: ders., Mythe

et pensée chez les Grecs, Bd. 1, Paris 1971, S. 21. 43 Jean-Pierre Vernant, Gespräch mit dem Verfasser. 44 Ebenda. 45 Ebenda. 46 C. Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie«, Inauguralvorlesung am

Lehrstuhl für Sozialanthropologie, 5. Januar 1960; wiederabgedruckt in: ders., Strukturale Anthropologie II, a. a. O., S. 20.

47 Ebenda, S. 24. 48 Pierre Nora, Gespräch mit dem Verfasser. 49 C. Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie«, a.a.O., S.44. 50 C. Lévi-Strauss, Das Nahe und das Ferne, a. a. O., S. 100. 51 C. Lévi-Strauss, »Primitive« und »Zivilisierte«. Nach Gesprächen aufge­

zeichnet von Georges Charbonnier, Zürich 1972, S. 148.

Teil II: Die sechziger Jahre 1963-1966: die Belle Epoque

Die Anfechtung der Sorbonne : Alt und Neu im Widerstreit

1 Alain Boissinot, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Ebenda. 3 André Martinet, Gespräch mit dem Verfasser. 4 Jean-Claude Chevalier, Gespräch mit dem Verfasser. 5 Ebenda. 6 J.-C. Chevalier, La Notion de complément chez les grammairiens, Paris

1968. 7 Jean-Claude Chevalier, Gespräch mit dem Verfasser. 8 Ebenda. 9 Tzvetan Todorov, Gespräch mit dem Verfasser.

10 Ebenda. 11 Ebenda. 12 Marina Yaguello, Gespräch mit dem Verfasser. 13 Françoise Gadet, Gespräch mit dem Verfasser. 14 Ebenda. 15 Philippe Hamon, Gespräch mit dem Verfasser. 16 Ebenda. 17 Elisabeth Roudinesco, Gespräch mit dem Verfasser. 18 François Ewald, Gespräch mit dem Verfasser. 19 Ebenda. 20 Roger-Pol Droit, Gespräch mit dem Verfasser. 21 Ebenda. 22 Sylvain Auroux, Gespräch mit dem Verfasser. 23 Gérard Genette, Gespräch mit dem Verfasser. 24 P. Hamon, »Littérature«, in: B. Pottier (Hg.), Les Sciences du langage en

France au XXe siècle, Paris 1980, S.289. 25 Louis Hay, Gespräch mit dem Verfasser. 26 Ebenda. 27 Henri Mitterand, Gespräch mit dem Verfasser. 28 M. Gross, »La création des revues dans les années soixante«, in: Langue

française, Nr. 63, September 1984, S. 91. 29 Jean Dubois, ebenda. 30 André-Georges Haudricourt, Gespräch mit dem Verfasser.

588 Anmerkungen zu S. 293-303

31 Henri Mitterand, Gespräch mit dem Verfasser. 32 Ebenda. 33 J.-C. Chevalier/P. Encrevé, a.a.O., S.97. 34 P. Hamon, »Littérature«, a.a.O., S.289. 35 C. Lévi-Strauss, »Die Struktur und die Form. Reflexionen über ein Werk

von Wladimir Propp«, in: ders., Strukturale Anthropologie II, a.a.O., S. 135-168.

36 C. Lévi-Strauss/R. Jakobson, »Die Katzen« von Charles Baudelaire, in: R. Jakobson, Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982, hrsg. von E. Ho­lenstein, Frankfurt/M. 1988, S. 206-232.

37 J. Rousset, Forme et signification. Essais sur les structures littéraires de Corneille à Claudel, Paris 1962.

38 Ebenda, Ausgabe von 1986, S. VIL 39 Ebenda, S. XX.

1964 : der Durchbruch für das semiologische Abenteuer

1 Joseph Sumpf, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Ebenda. 3 Ebenda. 4 M. Foucault, »Le structuralisme et l'analyse littéraire«, in: Mission cul­

turelle française Information, Französische Botschaft in Tunesien, 10, April-10. Mai 1987 (1965), unveröffentlichte Aufzeichnungen zweier Vorträge von M. Foucault im Club Tahar Haddad, S.ll, Centre Michel-Foucault, Bibliothèque du Saulchoir.

5 Ebenda. 6 T. Todorov, »La description de la signification en littérature«, in: Com­

munications, Nr. 4, 1964, S. 36. 7 C. Brémond, »Le message narratif«, in: Communications, Nr. 4, 1964,

S. 5. 8 Ebenda, S. 31. 9 R. Barthes, Océaniques, FR 3, 27. Januar 1988 (Gespräch von 1970).

10 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 11 R. Barthes, Die Sprache der Mode, Frankfurt/M. 1985, S. 9. 12 R. Barthes, Elemente der Sémiologie, Frankfurt/M. 1979, S. 21. 13 Ebenda, S. 22. 14 Ebenda, S. 46 (Fußnote). 15 Ebenda, S. 81. 16 L.-J. Calvet, Roland Barthes. Un regard politique sur le signe, a.a.O.,

S. 83. 17 R. Barthes, »Die strukturalistische Tätigkeit«, in: Kursbuch 5, S. 190-

196, erneut in und zitiert nach: G. Schiwy, Der französische Struktura­lismus, Reinbek 1978 (1969), S.154.

Anmerkungen zu S. 303-318 589

18 Ebenda. 19 R. Barthes, »L'imagination du signe«, in: Arguments, 1962, wiederabge­

druckt in: ders., Essais critiques, a.a.O., S.207. 20 Ebenda, S. 209. 21 R. Barthes, Gespräche mit Georges Charbonnier, France-Culture, De­

zember 1967, Wiederholung 21. und 22. November 1988. 22 Ebenda. 23 Ebenda. 24 Ebenda.

Das Goldene Zeitalter des formalen Denkens

1 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Ebenda. 3 André Martinet, Gespräch mit dem Verfasser. 4 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 5 J.-C. Coquet, »La sémiotique«, in: Les Sciences du langage en France au

XXe siècle, a.a.O., S. 175. 6 Α. J. Greimas, Strukturale Semantik, Braunschweig 1971, S. 2. 7 Ebenda, S. 3. 8 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 9 A. J. Greimas, Strukturale Semantik, a.a.O., S.25.

10 Ebenda, S. 51. 11 Ebenda, S. 217. 12 T. Pavel, Le Mirage linguistique, Paris 1988, S. 151. 13 C. Brémond, Logique du récit, Paris 1972. 14 Claude Brémond, Gespräch mit dem Verfasser. 15 Ebenda. 16 Ebenda. 17 Jacques Hoarau, Gespräch mit dem Verfasser. 18 Marc Vernet, Gespräch mit dem Verfasser. 19 Louis Hay, Gespräch mit dem Verfasser. 20 Jean-Claude Coquet, Gespräch mit dem Verfasser. 21 Ebenda. 22 Ebenda. 23 Claude Brémond, Gespräch mit dem Verfasser. 24 Ebenda. 25 André Martinet, Gespräch mit dem Verfasser. 26 Algirdas Julien Greimas, Gespräch mit dem Verfasser. 27 Ebenda. 28 R. Barthes, Die Sprache der Mode, a.a.O., S.16. 29 Ebenda, S. 17. 30 Ebenda, S. 18.

590 Anmerkungen zu S. 318-331

31 Ebenda, S. 37. 32 Ebenda, S. 288. 33 J.-F. Revel, »Le rat et le monde«, in: L'Express, 22. Mai 1967. 34 R. Bellour, »Entretien avec R. Barthes«, in: Les Lettres françaises, Nr.

1172, 2. März 1967. 35 J. Kristeva, »Le sens et la mode«, in: Critique, Nr. 247, Dezember 1967,

S. 1008. 36 R. Barthes, »De la science à la littérature«, in: Times Literary Supple­

ment, 1967, wiederabgedruckt in: Le Bruissement de la langue, Paris 1984, S. 17.

37 R. Barthes, Gespräche mit G. Charbonnier, France-Culture, Dezember 1967.

38 Ebenda. 39 Jacques Hoarau, Gespräch mit dem Verfasser. 40 Ebenda. 41 Sylvain Auroux, Gespräch mit dem Verfasser. [San Antonio : Populärer

Autor meist erotischer Krimis, dessen Produktion in Bahnhofsbuch­handlungen usw. ganze Regale füllt; A.d.Ü.]

42 J. Piaget, Psychologie et épistémologie, a. a. O., S. 145. 43 Oswald Ducrot, Gespräch mit dem Verfasser. 44 Ebenda. 45 G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische

Untersuchung über den Begriff der Zahl, Hamburg 1988, S. 55. 46 E. Roudinesco, Histoire de la psychanalyse, a. a. O., S. 410. 47 Ebenda, S. 413. 48 Joël Dor, Gespräch mit dem Verfasser. 49 Gennie Lemoine, Gespräch mit dem Verfasser.

Die großen Zweikämpfe

1 R. Barthes, »Histoire et littérature: à propos de Racine«, in: Annales, Mai-Juni 1960, S.534-537; dt.: »Literatur oder Geschichte«, in: ders., Literatur oder Geschichte, Frankfurt/M. 1969, S. 11-35.

2 Ebenda, S.35. 3 Ebenda, S.22. 4 R. Barthes, Sur Racine, Paris 1979 (1963), S.13. 5 Ebenda, S. 14. 6 Ebenda, S.21. 7 Ebenda, S. 60. 8 R. Picard, Nouvelle Critique ou nouvelle imposture, Paris 1965, S. 30-34. 9 Ebenda, S. 52.

10 Ebenda, S. 66. 11 R. Barthes, Océaniques, FR 3,8. Februar 1988 (November 1970-Mai 1971).

Anmerkungen zu S. 332-343 591

12 Jean Dubois, Gespräch mit dem Verfasser. 13 Olivier Revault d'Allonnes, Gespräch mit dem Verfasser. 14 J. Piatier, in: Le Monde, 23. Oktober 1965, zitiert von L.-J. Calvet, Ro­

land Barthes, a.a.O., S. 214. 15 Ebenda, S. 215. 16 Zitiert ebenda. 17 R. Barthes, Kritik und Wahrheit, Frankfurt/M. 1967, S.23. 18 Ebenda, S. 46. 19 Ebenda, S. 67. 20 Ebenda, S. 69. 21 Ebenda, S. 84. 22 R. Pommier, Assez décodé, Paris 1978; ders., R. Barthes, Ras le bol!, Pa­

ris 1987, worin Pommier gegen Barthes und die »jobarthiens« wettert. U. a. steht dort : »Die Eselein eines R. Barthes sind für mich eine Beleidi­gung des menschlichen Verstandes« (S. 40) ; »Wenn ich ihn lese, sage ich mir nie, daß R. Barthes intelligent ist; ich sage mir fortwährend, mit im­mer neuem Staunen: Wie kann man so blöd sein?« (S.21). Man beachte das Niveau! [»Jobarthiens« : Wortspiel mit »barthiens« und »jobards« = Trottel, A.d.Ü.]

23 G. Gurvitch, »Le concept de structure sociale«, in: Cahiers internatio­naux de sociologie, XIX, 1955.

24 Ebenda, S. 31. 25 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a. a. O., S. 349 f. 26 G.-G. Granger, »Événement et structure dans les sciences de l'homme«,

in : Cahiers de l'ISE A, Dezember 1959. 27 Ebenda, S. 168. 28 Ebenda, S. 174. 29 Ebenda, S. 175. 30 Gilles Gaston-Granger, Gespräch mit dem Verfasser. 31 Ebenda. 32 Roger Establet, Gespräch mit dem Verfasser. 33 Ebenda. 34 Pierre Ansart, Gespräch mit dem Verfasser. 35 Ebenda. 36 Jean Duvignaud, Gespräch mit dem Verfasser. 37 J. Duvignaud, Le Langage perdu, Paris 1973, S. 215. 38 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S.308. 39 Ebenda, S.U. 40 C. Lévi-Strauss, Das Ende des Totemismus, Frankfurt/M. 1965, S. 28. 41 Ebenda, S. 116. 42 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., S. 124. 43 C. Roy, »Un grand livre civilisé: La Pensée sauvage«, in: Libération, 19.

Juni 1962. 44 Ε. Ortigues, in: Critique, Nr. 189, Februar 1963, S. 143.

592 Anmerkungen zu S. 343-355

45 J. Lacroix, in: Le Monde, 27. November 1962. 46 R. Kanters, in: Le Figaro littéraire, 3.-23. Juni 1962. 47 R. Barthes, »Soziologie und Sozio-Logik«, in: ders., Das semiologische

Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, S.178. 48 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.aO., S.292. 49 Ebenda, S. 296. 50 Ebenda, S. 297. 51 Ebenda, S. 300. 52 Ebenda, S. 302. 53 P. Verstraeten, in: Les Temps Modernes, Nr. 206, Juli 1963, S.83. 54 Mündliche Äußerung von C. Lévi-Strauss, zitiert von Jean-Marie

Domenach, Gespräch mit dem Verfasser. 55 Jean-Marie Domenach, Gespräch mit dem Verfasser. 56 P. Ricoeur, »Struktur und Hermeneutik«, in: ders., Hermeneutik und

Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, S. 37-79, hier S. 51.

57 Ebenda, S. 64. 58 Ebenda, S. 68. 59 C. Lévi-Strauss, in: Esprit, November 1963, S.637. 60 A. Green, »La psychanalyse devant l'opposition de l'histoire et de la

structure«, in: Critique, Nr. 194, Juli 1963. 61 Ebenda, S. 661.

Die signifikanten Ketten

1 J. Laplanche, »Une révolution sans cesse occultée«, Communication aux journées scientifiques de l'Association internationale d'histoire de la psychanalyse, 23.-24. April 1988.

2 J. Lacan, »L'excommunication«, in: Ornicar?, 1977. 3 Siehe Ε. Roudinesco, Histoire de la psychanalyse, a. a. O., S. 399-403. 4 Ebenda, S. 383. 5 J. Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im

Freudschen Unbewußten«, in: ders., Schriften II, a.a.O., S. 180. 6 M. Arrivé, Linguistique et psychanalyse, Paris 1987, S. 12. 7 J. Allouch, in: Littoral, Nr. 23/24, Oktober 1987, S.5. 8 J.-D. Nasio, Les Sept Concepts cruciaux de la psychanalyse, Paris 1988. 9 M. Heidegger, »Was heißt Denken?«, in: ders., Vorträge und Aufsätze,

Pfullingen 1954, S. 129-204, hier S.179. 10 A. Juranville, Lacan und die Philosophie, München 1990, S.125. 11 Serge Leclaire, Gespräch mit dem Verfasser. 12 J.-A. Miller, in: Ornicar?, Nr. 24, 1981, S.43. 13 J. Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit« (1965), in: ders., Schrif­

ten II, a. a. O., S. 242.

Anmerkungen zu S. 355-368 593

14 A. Juranville, Lacan und die Philosophie, a. a. O., S. 223. 15 Ebenda, S. 248. 16 Ebenda, S. 365 f. 17 Gennie Lemoine, Gespräch mit dem Verfasser. 18 S. Leclaire, »L'objet a dans la cure«, in: Rompre les charmes, Paris 1981

(1971), S. 174. 19 Jean Clavreul, Gespräch mit dem Verfasser. 20 Joël Dor, Gespräch mit dem Verfasser. 21 Jean Laplanche, Gespräch mit dem Verfasser. 22 A. Green, »Le bon plaisir«, France-Culture, 25. Februar 1989. 23 Ebenda. 24 André Green, Gespräch mit dem Verfasser. 25 Α. Green, »Le langage dans la psychanalyse«, in: Langages, Les Rencon­

tres psychanalytiques dAix-en-Provence 1983, Paris 1984. 26 J. Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, in: ders., Schriften II,

a.a.O., S.252. 27 A. Green, »Le langage dans la psychanalyse«, a.a.O., S.231. 28 Jean-Marie Benoist, Gespräch mit dem Verfasser. 29 Gérard Mendel, Gespräch mit dem Verfasser. 30 Bernard Sichere, Gespräch mit dem Verfasser. 31 Ebenda. 32 J. Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im

Freudschen Unbewußten« (Kongreß von Royaumont, 19.-23. Septem­ber 1960), in: ders., Schriften II, a.a.O., S.172.

33 A. Green, LAffect, Paris 1970. 34 André Green, Gespräch mit dem Verfasser. 35 Ebenda. 36 C. Bally, Le langage et la vie, Paris 1965 (1913). 37 Serge Viderman, Gespräch mit dem Verfasser. 38 Wladimir Granoff, Gespräch mit dem Verfasser. 39 F. Roustang, Lacan, a. a. O., S. 58. 40 Jean Clavreul, Gespräch mit dem Verfasser. 41 Serge Leclaire, Gespräch mit dem Verfasser. 42 Jean Laplanche, Gespräch mit dem Verfasser. 43 Claude Dumézil, Gespräch mit dem Verfasser.

Das mythologische Universum

1 C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt/M. 1971, S.14.

2 C. Lévi-Strauss, Der nackte Mensch, Frankfurt/M. 1975, S.749. 3 C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, a. a. O., S. 316. 4 C. Lévi-Strauss, Vom Honig zur Asche, Frankfurt/M. 1972, S. 521.

594 Anmerkungen zu S. 368-383

5 C. Lévi-Strauss, Eingelöste Versprechen. Wortmeldungen aus dreißig Jahren, München 1985, S.U.

6 C. Lévi-Strauss, »Die Struktur der Mythen« (1955), wiederabgedruckt in: ders., Strukturale Anthropologie I, a.a.O., S.226-254.

7 Ebenda, S.232. 8 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., S. 154 [Auseinandersetzung

mitJung:S.82,A.d.Ü.]. 9 C. Lévi-Strauss, »Die Struktur der Mythen«, in: ders., Strukturale An­

thropologie I, a. a. O., S. 246. 10 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., S. 29. 11 J.-M. Benoist, La Révolution structurale, a.a.O., S.260. 12 C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, a. a. O., S. 34. 13 C. Lévi-Strauss, »Die Zukunft der Ethnologie (1959-1960)«, in: ders.,

Eingelöste Versprechen, a.a.O., S.38. 14 C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, a. a. O., S. 437. 15 C. Lévi-Strauss, Vom Honig zur Asche, a. a. O., S. 331. 16 Ebenda, S.255. 17 C. Lévi-Strauss, Gespräch mit R. Bellour, in: Lettres françaises, Nr.

1165, 12. Januar 1967, wiederabgedruckt in: R. Bellour, Le Livre des autres 10/18,1978, S. 38, dt.: C. Lévi-Strauss, Wie arbeitet der menschli­che Geist?, in: A. Reif (Hg.), Antworten der Strukturalisten, Hamburg 1973, S. 75-89, hier S. 79.

18 Ebenda. 19 C. Lévi-Strauss, Vom Honig zur Asche, a. a. O., S. 390. 20 J. Pouillon, in: La Quinzaine littéraire, 1.-31. August 1968, S.21. 21 C. Lévi-Strauss, Gespräch mit R. Bellour, in: Le Monde, 5. November

1971. 22 C. Lévi-Strauss, Der nackte Mensch, a. a. O., S. 699. 23 Ebenda, S. 728. 24 Ebenda, S. 737. 25 C. Backès-Clément, in: Le Magazine littéraire, November 1971. 26 C. Lévi-Strauss, Der nackte Mensch, a. a. O., S. 761. 27 Ebenda, S. 766. 28 Ebenda, S. 808 29 Ebenda. 30 C. Lévi-Strauss, in: Le Magazine littéraire, November 1971. 31 J. Duvignaud, Le Langage perdu, a.a.O., S. 243. 32 C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, a.a.O., S.436 f. 33 Ebenda, S. 310. 34 T. Pavel, Le Mirage linguistique, a. a. O., S. 48. 35 C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, a.a.O., S. 181 f. 36 M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt/M. 1984, S.73. 37 C. Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, a. a. O., S. 31. 38 C. Lévi-Strauss, Vom Honig zur Asche, a. a. O., S. 524.

Anmerkungen zu S. 383-398 595

39 C. Lévi-Strauss, Der nackte Mensch, a. a. O., S. 709. 40 Ebenda, S. 710. 41 Ebenda, S. 656 (Motto). 42 J.-M. Benoist, La Révolution structurale, a. a. O., S. 275. 43 C. Lévi-Strauss, Der nackte Mensch, a. a. Ο., S. 816. 44 J.-M. Domenach, »Le requiem structuraliste«, in: Le Sauvage et l'ordina­

teur, Paris 1976, S. 81. 45 Ebenda, S. 85. 46 Jean-Marie Domenach, Gespräch mit dem Verfasser.

Afrika : ein Prüfstein des Strukturalismus

1 Georges Balandier, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Ebenda. 3 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a. a. O., S. 271. 4 Georges Balandier, Gespräch mit dem Verfasser. 5 Ebenda. 6 Ebenda. 7 G. Balandier, Histoire d'autres, Paris 1977, S. 187. 8 Ebenda. 9 G. Balandier, Politische Anthropologie, München 1972, S.33.

10 E. Pritchard/M. Fortes (Hg.), African Political Systems, Oxford 1940. 11 G. Balandier, Politische Anthropologie, a.a.O., S.36 12 »Lundis de l'histoire«, France-Culture, 11. März 1968. 13 Ebenda. 14 Marc Auge, Gespräch mit dem Verfasser. 15 Ebenda. 16 Ebenda. 17 Dan Sperber, Gespräch mit dem Verfasser. 18 Ebenda. 19 Ebenda. 20 Ebenda. 21 Claude Meillassoux, Gespräch mit dem Verfasser. 22 Ebenda. 23 Ebenda. 24 Jean Duvignaud, Gespräch mit dem Verfasser. 25 J. Duvignaud, Chebika, Paris (1968) 1991. 26 J. Duvignaud, »Après le fonctionnalisme et le structuralisme, quoi?«, in:

Une anthropologie des turbulences. Hommage à G. Balandier, Paris 1989, S. 151.

27 Ebenda, S. 152. 28 Michel Izard, Gespräch mit dem Verfasser. 29 Jean Pouillon, Gespräch mit dem Verfasser.

596 Anmerkungen zu S. 400-409

Die Zeitschriften

1 La Psychanalyse, Nr. 1, 1956, S. IV. 2 La Linguistique, Nr. 1, 1966; Herausgeber: André Martinet; General­

sekretär: Georges Mounin. 3 Langages, Nr. 1, März 1966, Larousse. Redaktionsrat: R. Barthes, J.

Dubois, Α. J. Greimas, Β. Pottier, Β. Quémada, N. Ruwet. 4 Ebenda, Ankündigung. 5 J.-C. Chevalier/P. Encrevé, Langue française, a. a. O., S. 95. 6 A. J. Greimas, in: Langages, Nr. 1, März 1966, S.96. 7 Jean Dubois, Gespräch mit dem Verfasser. 8 Communications, Nr. 1, Le Seuil, 1961, Präsentation, S. 1 f. 9 Communications, Redaktionskomitee: Roland Barthes, Claude Bré-

mond, Georges Friedmann, Edgar Morin, Violette Morin. 10 Communications, Nr. 8. An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet: R.

Barthes, A. J. Greimas, C. Brémond, U. Eco, J. Gritti, V. Morin, C. Metz, T. Todorov, G. Genette.

11 Tel Quel, Generalsekretär und Herausgeber: Jean-Edern Hallier; Re­daktionskomitee : Boisrouvray, J. Coudol, J.-E. Hallier, J.-R. Huguenin, R. Matignon, P. Sollers.

12 Jean-Pierre Faye, Gespräch mit dem Verfasser. 13 Tel Quel, Nr. 1, 1960, Le Seuil. 14 Tel Quel, Nr. 1, 1960, Le Seuil, S. 3. 15 Marcelin Pleynet, Gespräch mit dem Verfasser. 16 Ebenda. 17 Ebenda. 18 Ebenda. 19 Ebenda. 20 Tel Quel, Nr. 47, Herbst 1971, S.142. 21 Ebenda. 22 Claude Brémond, Gespräch mit dem Verfasser. 23 R. Barthes, Océaniques, FR 3 (1970-1971), Ausstrahlung: 27. Januar 1988. 24 J. Kristeva, »Le bon plaisir«, France-Culture, 10. Dezember 1988. 25 Jean-Pierre Faye, Gespräch mit dem Verfasser. 26 F. Matonti, »Entre Argenteuil et les barricades : La Nouvelle Critique et

les sciences sociales«, in: Cahiers de l'Institut d'histoire du temps présent, Nr. 11, April 1989, S. 102.

27 L. Althusser, Freud und Lacan, Berlin 1970. 28 J. Milhau, »Les débats philosophiques des années soixante«, in: La

Nouvelle Critique, Nr. 130, 1980, S.50f. 29 »Tel Quel répond; Präsentation«, in: La Nouvelle Critique, November-

Dezember 1967, S. 50. 30 Recherchiert von F. Matonti: »Entre Argenteuil et les barricades«,

a.a.O., S. 108.

Anmerkungen zu S. 409-421 597

31 J. Colombel, »Les mots de Foucault et les choses«, in: La Nouvelle Cri­tique, Nr. 4,1967; J. Vilar, »Les mots et les choses dans la pensée écono­mique«, in: La Nouvelle Critique, Nr. 5, 1967; G. Mounin, »Lingui­stique, structuralisme et marxisme«, in: La Nouvelle Critique, Nr. 7, 1967; L. Sève, »Marxisme et sciences de l'homme«, in: La Nouvelle Cri­tique, Nr. 2, 1967.

32 R. Linhart, zitiert von H. Hamon/P. Rotman, Génération I, Paris 1987, S. 313.

33 Dominique Lecourt, Gespräch mit dem Verfasser. 34 Ebenda. 35 Ebenda. 36 Ebenda. 37 Les Cahiers pour l'analyse, Nachdruck Société du Graphe, 1-2, Paris

1969.

Ulm oder Saint-Cloud: Althu oder Touki?

1 J.-T. Desanti, Un destin philosophique, Paris 1982, S. 129. 2 Sylvain Auroux, Gespräch mit dem Verfasser. 3 Jean-Toussaint Desanti, Gespräch mit dem Verfasser. 4 Die »Komplexität«, durch die er die ökonomischen Phänomene be­

stimmt sieht, veranlaßt Althusser, den Begriff der linearen Kausalität zu verwerfen und einen neuen Begriff zu fordern, der der »Determination durch eine Struktur« Rechnung trägt. A.d.Ü.

5 Jean-Toussaint Desanti, Gespräch mit dem Verfasser. 6 J.-T. Desanti, in: Autrement, Nr. 102, November 1988, S.116. 7 Jean-Toussaint Desanti, Gespräch mit dem Verfasser. 8 Ebenda. 9 Sylvain Auroux, Gespräch mit dem Verfasser.

10 Ebenda. 11 Ebenda. 12 Jacques Bouveresse, Gespräch mit dem Verfasser. 13 Ebenda. 14 Ebenda. 15 L. Althusser, Manifestes philosophiques de Feuerbach, Paris 1960. 16 Pierre Macherey, Gespräch mit dem Verfasser. 17 Ebenda. 18 Roger Establet, Gespräch mit dem Verfasser. 19 Ebenda. 20 Diese Auskünfte beziehen wir von E. Roudinesco, Histoire de la psychana­

lyse en France, a. a. O., S. 386. 21 Pierre Macherey, Gespräch mit dem Verfasser. 22 Ebenda.

598 Anmerkungen zu S. 421-437

23 Jacques Rancière, Gespräch mit dem Verfasser. 24 Ebenda. 25 Ebenda. 26 Ebenda. 27 Ebenda. 28 Ebenda.

Althussers Sprengsatz

1 V. Descombes, Das Selbe und das Andere, a. a. O., S. 148. 2 Brief von L. Althusser an J. Guitton, Juli 1972, in: Lire, Nr. 148, Januar

1988, S. 85. 3 J. Guitton, ebenda, S. 89. 4 Vincent Descombes, Gespräch mit dem Verfasser. 5 Ebenda. 6 Etienne Balibar, Gespräch mit dem Verfasser. 7 La Nouvelle Critique, Nr. 164, März 1965, S.l : »Ouverture d'un débat:

marxisme et humanisme«. 8 M. Simon, in: La Nouvelle Critique, Nr. 165, April 1965, S. 127. 9 P. Macherey, in: La Nouvelle Critique, Nr. 166, Mai 1965, »Marxisme et

humanisme«, S. 132. 10 M. Verret, in: La Nouvelle Critique, Nr. 168, Juli-August 1965, S.96. 11 R. Garaudy, Gesamtbericht der Philosophenversammlung von Choisy

im Januar 1966, S.125, 128 und 148, zitiert von J. Verdès-Leroux, Le Réveil des somnambules, Paris 1987, S. 296.

12 D. Lindenberg, Le Marxisme introuvable, Paris 1979, S. 38. 13 Entretien 64, in: J. Verdès-Leroux, Le Réveil des somnambules, a.a.O.,

S. 297. 14 Zentralkomitee der KPF, 11.-13. März 1966, in: Cahiers du commu­

nisme, Mai-Juni 1966, zitiert von J. Verdès-Leroux, Le Réveil des somnambules, a.a.O., S. 119f.

15 Roger-Pol Droit, Gespräch mit dem Verfasser. 16 Jacques Bouveresse, Gespräch mit dem Verfasser. 17 Dominique Lecourt, Gespräch mit dem Verfasser. 18 Pierre Macherey, Gespräch mit dem Verfasser. 19 J. Verdès-Leroux, Le Réveil des somnambules, a. a. O., S. 295. 20 L. Althusser/É. Balibar, Das Kapital lesen, Bd. 1, Reinbek 1972, S. 19. 21 Ebenda, S. 23. 22 Daniel Becquemont, Gespräch mit dem Verfasser. 23 L. Althusser/É. Balibar, Das Kapital lesen, Bd. 1, a.a.O., S.29 f. 24 Dominique Lecourt, Gespräch mit dem Verfasser. 25 L. Althusser, Für Marx, Frankfurt/M. 1968, S.35. 26 Ebenda, S. 45.

Anmerkungen zu S. 438-450 599

27 Ebenda, S. 109. 28 Ebenda, S. 76. 29 Ebenda, S. 136. 30 Pierre Vilar, Gespräch mit dem Verfasser. 31 Paul Valadier, Gespräch mit dem Verfasser. 32 L. Althusser, Für Marx, a. a. O., S. 193. 33 L. Althusser/É. Balibar, Lire Le Capital, Bd. II, Paris 1971, S.59 [dieses

Zitat fehlt in der dt. Ausgabe, A.d.Ü.]. 34 Ebenda, S. 47. 35 K. Naï, »Marxisme ou structuralisme?«, in: Contre Althusser, 10/18,

1974, S. 192. 36 L. Althusser/É. Balibar, Lire Le Capital, Bd. II, a. a. O., S. 171 [dieses Zi­

tat fehlt in der dt. Ausgabe, A.d.Ü.]. 37 J.-M. Vincent, »Le théoricisme et sa rectification«, in: Contre Althusser,

a.a.O., S.266. 38 Vincent Descombes, Gespräch mit dem Verfasser. 39 L. Althusser, Für Marx, a.a.O., S.152, Anm. 45. 40 J.-M. Benoist, La Révolution structurale, a.a.O., S.85. 41 L. Althusser, Für Marx, a.a.O., S. 179. 42 Etienne Balibar, Gespräch mit dem Verfasser. 43 L. Althusser/É. Balibar, Das Kapital lesen, Bd. II, a.a.O., S.283. 44 L. Althusser/É. Balibar, Lire Le Capital, Bd. II, S. 205 [dieses Zitat fehlt

in der dt. Ausgabe, A.d.Ü.]. 45 Ebenda, S. 249. 46 L. Althusser/É. Balibar, Das Kapital lesen, Bd. I, a.a.O., S.178.

Die Erneuerung des Marxismus

1 A. Badiou, »Le (re)commencement du matérialisme dialectique«, in: Critique, Mai 1967.

2 Pierre Macherey, Gespräch mit dem Verfasser. 3 A. Badiou, in: Critique, a.a.O., S.441. 4 Joëlle Proust, Gespräch mit dem Verfasser. 5 Paul Henry, Gespräch mit dem Verfasser. 6 Ebenda. 7 T. Herbert, »Réflexions sur la situation théorique des sciences sociales,

spécialement de la psychologie sociale«, in: Cahiers pour l'analyse, Nr. 2, März-April 1966, S. 141-167; ders., »Remarques pour une théorie gé­nérale des idéologies«, in: Cahiers pour l'analyse, Nr. 9, Sommer 1968, S. 74-92.

8 M. Pêcheux, L'analyse automatique du discours, Paris 1969. 9 P. Henry, »Épistémologie de >L'analyse automatique du discours< de

Michel Pêcheux«, in: Introduction to the Translation of M. Pêcheux'

600 Anmerkungen zu S. 451-462

Analyse automatique du discours (der Text wurde von Paul Henry mitgeteilt).

10 Ebenda. 11 Ebenda. 12 Emmanuel Terray, Gespräch mit dem Verfasser. 13 E. Terray, Zur politischen Ökonomie der primitiven Gesellschaften,

Frankfurt/M. 1974. 14 Emmanuel Terray, Gespräch mit dem Verfasser. 15 Marc Auge, Gespräch mit dem Verfasser. 16 M. Auge, Le Rivage Alladian, Paris 1969. 17 Marc Auge, Gespräch mit dem Verfasser. 18 C. Bettelheim, Ökonomischer Kalkül und Eigentumsformen, Berlin

1970. 19 R. Linhart, Lénine, les paysans, Taylor, Paris 1976. 20 L. Althusser, Freud und Lacan, a. a. O. 21 Ebenda, S. 15. 22 Ebenda, S. 13. 23 Ebenda, S. 27.

Das Lichtjahr 1966:1. Das strukturale Jahr

1 G. Lapouge, »Encore un effort, et j'aurai épousé mon temps«, in: La Quinzaine littéraire, Nr. 459, 16.-30. März 1986, S. 30.

2 R. Barthes, Essais critiques, Paris 1981, »Avant-propos: 1971«, S.7. 3 Philippe Hamon, Gespräch mit dem Verfasser. 4 R. Matignon, in: L'Express, 2. Mai 1966. 5 A. J. Greimas, zitiert von J.-C. Chevalier/P. Encrevé, Langue française,

a.a.O., S.97. 6 Jean Pouillon, Gespräch mit dem Verfasser. 7 François Wahl, Gespräch mit dem Verfasser. 8 Le Nouvel Observateur, Nr. 91,10. August 1966, S. 29, zitiert von Anne-

Sophie Perriaux, »Le Structuralisme en France«, Abschlußarbeit für das Diplome d'Études Avancées unter der Anleitung von J. Julliard, Septem­ber 1987, S. 34.

9 Mitgeteilt von Pierre Nora. 10 Pierre Nora, Gespräch mit dem Verfasser. 11 Ebenda. 12 G. Dumézil, Gespräch mit Jean-Pierre Saïgas, in: La Quinzaine litté­

raire, 16. März 1986. 13 Philippe Hamon, Gespräch mit dem Verfasser. 14 J. Lacan, in: Cahiers pour l'analyse, Nr. 3, Mai 1966, S. 5-13. 15 A. J. Greimas, »L'analyse structurale du récit«, in: Communications, Nr.

8, 1966, Neuausgabe 1981, S. 34.

Anmerkungen zu S. 463-471 601

16 Claude Brémond, Gespräch mit dem Verfasser. 17 Ebenda. 18 C. Lévi-Strauss, »La structure et la forme«, in: Cahiers de l'Institut de

science économique appliquée, Nr. 9, März 1960, Serie M, Nr. 7, S. 3-36. 19 C. Lévi-Strauss, ebenda, wiederabgedruckt in: ders., Strukturale An­

thropologie II, a. a. O., S. 154. 20 W. Propp im Anhang zu: Morfologia della fiaba, Turin 1966; dt. Aus­

gabe: Morphologie des Märchens, München 1972. 21 W. Propp, Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München,

Wien 1987. 22 Claude Brémond, Gespräch mit dem Verfasser. 23 U. Eco, in: Communications, Nr. 8, 1966, Neuausgabe 1981, S.98; dt.:

Die Erzählstrukturen bei Ian Fleming, in: J. Vogt (Hg.), Der Kriminal­roman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S.277.

24 T. Todorov, in: Communications, Nr. 8, 1966, S. 131. 25 Les Temps Modernes, »Problèmes du structuralisme«, Nr. 246, Novem­

ber 1966, Beiträge von J. Pouillon, M. Barbut, A. J. Greimas, M. Gode-lier, P. Bourdieu, P. Macherey, J. Ehrmann.

26 J. Pouillon, ebenda, S. 769. 27 Ebenda, S. 772. 28 A. J. Greimas, ebenda, wiederabgedruckt in: Du sens, Paris 1970, S.106. 29 Ebenda, S. 107. 30 M. Godelier, »Système, structure et contradiction dans Le Capital«, in:

Les Temps Modernes, Nr. 246, November 1966, S. 832. 31 Ebenda, S. 829. 32 P. Bourdieu, »Champ intellectuel et projet créateur«, ebenda, S. 866. 33 R. Barthes, in: Aléthéia, Februar 1966, S.218. 34 Esprit, Nr. 360, Mai 1967, »Structuralisme, idéologies et méthodes«,

Beiträge von J.-M. Domenach, M. Dufrenne, P. Ricceur, J. Ladrière, J. Cuisenier, P. Burgelin, Y. Bertherat, J. Cornilh.

35 J.-M. Domenach, »Le système et la personne«, in: Esprit, Nr. 360, Mai 1967, S. 771-780.

36 M. Dufrenne, »La philosophie du néo-positivisme«, ebenda, S. 781-800. 37 P. Ricceur, »La structure, le mot, l'événement«, ebenda, S. 801-821, dt.:

»Die Struktur, das Wort und das Ereignis«, in: ders., Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, S.109.

38 L'Arc, Nr. 30, 4. Quartal 1966, Sondernummer J.-P. Sartre. 39 B. Pingaud, ebenda, S. 1. 40 J.-P. Sartre, ebenda, S. 87f.; dt. gekürzt in: alternative, Nr. 54, S.129-133,

erneut in und modifizierend zitiert nach : G. Schiwy, Der französische Strukturalismus, a. a. O., S. 208.

41 J.-P. Sartre, ebenda, S.209.

602 Anmerkungen zu S. 471-478

42 Ebenda, S. 210. 43 Ebenda, S. 211. 44 Ebenda, S. 212. 45 J. Lacan, in: Le Figaro littéraire, 29. Dezember 1966, S.4. 46 Ebenda. 47 J.-F. Revel, »Sartre en ballottage«, in: L'Express, Nr. 802, 7.-13. Novem­

ber 1966, S. 97. 48 Diese Informationen wurden entnommen aus : E. Roudinesco, Histoire

de la psychanalyse en France, a. a. O., S. 414. 49 J. Derrida, »De la grammatologie«, in: Critique, Nr. 223-224, Dezem­

ber 1965 [eine erweiterte Fassung des Aufsatzes stellt den ersten Teil des gleichnamigen Buches dar; dt.: Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, A.d.Ü.].

50 The Structuralist's Controversy. The Languages of Criticism and the Sciences of Man, hrsg. von R. Marksey/D. Donato, Baltimore, London 1970 und 1972.

51 Jean-Pierre Vernant, Gespräch mit dem Verfasser. 52 Ebenda.

Das Lichtjahr 1966: II. Faszination Foucault

1 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 260. 2 M. Foucault, »Lectures pour tous«, 1966, Dokument des INA [Institut

National de 1 Audiovisuel, A.d.Ü.], Ausstrahlung Océaniques, FR3, 13. Januar 1988.

3 Ebenda. 4 Ebenda. 5 Ebenda. 6 J. Lacroix, »La fin de l'humanisme«, in: Le Monde, 9. Juni 1966. 7 R. Kanters, »Tu causes, tu causes, c'est tout ce que tu sais faire«, in: Le

Figaro, 23. Juni 1966. 8 F. Châtelet, »L'homme, ce Narcisse incertain«, in: La Quinzaine litté­

raire, 1. April 1966. 9 M. Chapsal, »La plus grande révolution depuis l'existentialisme«, in:

L'Express, Nr. 779, 23.-29. Mai 1966, S. 119-121. 10 G. Deleuze, »L'homme, une existence douteuse«, in: Le Nouvel Obser­

vateur, 1. Juni 1966. 11 M. Foucault, Gespräch mit M. Chapsal, in: La Quinzaine littéraire, Nr.

5, 15. Mai 1966, dt. in: alternative, Nr. 54, S.91-94, erneut in und zitiert nach: G. Schiwy, Der französische Strukturalismus, a.a.O., S.204.

12 R. Bellour, in: Les Lettres françaises, Nr. 1125, 31. März 1966, wiederab­gedruckt in: ders., Le Livre des autres, a.a.O., S. 14.

13 D. Eribon, Michel Foucault, a.a.O., S.251.

Anmerkungen zu S. 478-495 603

14 J. Piaget, Der Strukturalismus, Ölten 1973, S.123. 15 François Ewald, Gespräch mit dem Verfasser. 16 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 26 f. 17 J.-M. Benoist, La Révolution structurale, a. a. O., S. 202. 18 M. Foucault, France-Culture, Wiederholung, Juni 1984. 19 J.-M. Benoist, La Révolution structurale, a. a. O., S. 27. 20 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a.a.O., S.411. 21 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 453. 22 Ebenda, S. 454. 23 J.-M. Benoist, La Révolution structurale, a. a. O., S. 38. 24 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 442. 25 Ebenda, S. 394. 26 Ebenda, S. 441 f. 27 Ebenda, S. 261. 28 Ebenda, S. 400. 29 Pierre Ansart, Gespräch mit dem Verfasser. 30 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 24. 31 Siehe dazu die Anmerkung des Übersetzers, ebenda, S.26: »Da im

Deutschen die Polyvalenz von représentation, représenter, etc. nicht ein­heitlich wiedergegeben werden kann (Vorstellung, Darstellung, Verge­genwärtigung, Zeichen, Vertretung, Aufführung), wird durchgängig Re­präsentation, repräsentieren, etc. benutzt.« A.d.Ü.

32 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 46. 33 Ebenda, S. 61. 34 Ebenda, S. 80. 35 Ebenda, S. 95. 36 Ebenda, S. 164. 37 Ebenda, S. 279. 38 Ebenda, S.346. 39 Ebenda, S. 444. 40 M. Foucault, France-Culture, 10. Juli 1969. 41 H.-L. Dreyfus/P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalis­

mus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987, S. 69. 42 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., S. 320. 43 Etienne Balibar, Gespräch mit dem Verfasser.

Das Lichtjahr 1966 : III. Die Ankunft der Kristeva

1 P. Sollers, »Le bon plaisir de J. Kristéva«, France-Culture, 10. Dezember 1988.

2 P. Sollers, »Littérature et totalité« (1966), in: L'Écriture et l'expérience des limites, Paris 1968, S. 3.

3 S. Mallarmé, zitiert von P. Sollers, ebenda, S. 87.

604 Anmerkungen zu S. 495-499

4 Jean Dubois, Gespräch mit dem Verfasser. 5 P. Macherey, Zur Theorie der literarischen Produktion. Studien zu Tol­

stoi), Verne, Defoe, Balzac, Darmstadt, Neuwied 1974. 6 Ebenda, S.55. 7 Ebenda, S. 58. 8 Ebenda, S. 64. 9 G. Genette, »Structuralisme et critique littéraire«, in: L'Arc, Nr. 26, wie­

derabgedruckt in: Figures I, Paris 1966 und 1976, S.161. 10 Ebenda, S. 156. 11 P. Macherey, Pour une théorie de la production littéraire, Paris 1966,

S. 88. 12 A. Fouque, »Le bon plaisir«, France-Culture, Juni 1989. 13 J. Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, in: ders., Schriften II,

a.a.O., S.239. 14 Ebenda. 15 Maurice Godelier, Gespräch mit dem Verfasser. 16 M. Godelier, Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, Frank­

furt/M. 1972, S. 123. 17 Maurice Godelier, Gespräch mit dem Verfasser.

Teil III : Ein französisches Fieber

Zur Stunde der Postmodernität

1 C. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1994.

2 F. Torrès, Déjà vu, Paris 1986, S. 142. 3 Siehe J.-L. Marion, »Une modernité sans avenir«, in: Le Débat, Nr. 4,

September 1980, S. 54-60. 4 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. Ο., S. 260. 5 Paul Valadier, Gespräch mit dem Verfasser. 6 Jean Jamin, Gespräch mit dem Verfasser. 7 J.-F. Lyotard, in: Le Magazine littéraire, Nr. 225, Dezember 1985, S.43. 8 M. Foucault, Gespräch mit K. Boesers, »Die Folter, das ist die Ver­

nunft«, in: Literaturmagazin 8, Reinbek 1977, S.68. 9 M. Foucault, Océaniques, FR3, D.Januar 1988 (1977 bei Maurice Clavel

in Vézelay). 10 Maurice Godelier, Gespräch mit dem Verfasser. 11 Daniel Dory, Gespräch mit dem Verfasser. 12 Marcel Gauchet, Gespräch mit dem Verfasser. 13 J.A. de Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fort­

schritte des menschlichen Geistes, Frankfurt/M. 1976. 14 R. Debray, Critique de la raison politique, Paris 1981, S.290. 15 Ebenda, S. 299. 16 Ebenda, S.52. 17 J. Chesneaux, De la modernité, Paris 1973, S. 50. 18 F. Furet, »Les intellectuels français et le structuralisme«, in: Preuves, Nr.

92, Februar 1967, wiederabgedruckt in: L'Atelier de l'histoire, Paris 1982.

19 M. Foucault, in: Arts, 15. Juni 1966. 20 G. Deleuze, in: Le Nouvel Observateur, 5. April 1967, zitiert nach: L.

Sève, Structuralisme et dialectique, Paris 1984. 21 P. Nora, Les Lieux de mémoire, Paris 1984, Bd. 1, S. XVIII; dt.: Zwi­

schen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 12 [es handelt sich um eine Auswahl von drei Essays aus dem mehrbändigen Werk, A.d.Ü.].

22 G. Lipovetsky, Narziß oder Die Leere. Sechs Kapitel über die unaufhör­liche Gegenwart, Hamburg 1995, S.13.

606 Anmerkungen zu S. 517-530

23 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz, Wien 1986, S. 19 f. 24 Ebenda, S. 116. 25 Ebenda, S. 137. 26 C. Lévi-Strauss, Gespräch mit J.-M. Benoist, in: Le Monde, 21. Januar

1979. 27 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie II, a.a.O., S.65. 28 C. Lévi-Strauss, Der nackte Mensch, a. a. O., S. 817. 29 M. Foucault, Nein zum König Sex. Gespräch mit B.-H. Lévy, in: ders.,

Dispositive der Macht, a.a.O., S. 176-198, hier S.198. 30 P. Daix, Structuralisme et révolution culturelle, Paris 1971, S. 29. 31 Paul Valadier, Gespräch mit dem Verfasser.

Der Einfluß Nietzsches und Heideggers

1 M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M. 1976, S. 177-202, hier S.198.

2 Pierre Fougeyrollas, Gespräch mit dem Verfasser. 3 F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, in: ders., Werke in

drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, Bd. 1, S. 599 (Aph. 248). 4 Ebenda, S.677 (Aph. 463). 5 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M.

1985, S. 106 f. 6 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

(Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück), in: ders., Werke in drei Bänden, a.a.O., Bd. 1, S.260 (Abschnitt 8).

7 Ebenda, S.213 (Abschnitt 1). 8 F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, a.a.O., S.594 (Aph.

239). 9 Ebenda, S.683 (Aph. 473).

10 Ebenda, S.845 (Aph. 304). 11 G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S.10. 12 Zur Frage des Ansetzens der Seinsvergessenheit vgl. G. Granel, Einige

Bemerkungen über den Zugang zum Denken Martin Heideggers : »Sein und Zeit«, in: F. Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie, Bd. VIII: Das XX. Jahrhundert, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975, S.161, Fußnote 1. A.d.Ü.

13 L. Ferry/A. Renaut, Heidegger et les modernes, Paris 1988, S. 82. 14 M. Heidegger, »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität« (Rek­

toratsrede vom 27. Mai 1933), Frankfurt/M. 1983, S.19. 15 G. Steiner, Martin Heidegger. Eine Einführung, München, Wien 1989,

S.115. 16 F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, a. a. O., S. 499 (Aph. 93). 17 Ebenda, S. 513 (Aph. 107).

Anmerkungen zu S. 530-543 607

18 M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik (Freiburger Vorlesung Sommersemester 1935), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 40, Frankfurt/M. 1983, S.149 (§ 51).

19 J.-P. Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: ders., Philo­sophische Schriften I, Bd. 4, Reinbek 1994, S.120.

20 M. Heidegger, Piatons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den Humanismus, Bern 1947, S. 89

21 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 172. 22 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke in drei Bän­

den, Bd. 2, a.a.O., S.250 (Abschnitt 374). 23 J.-M. Rey, Die Genealogie Nietzsches, in: F. Châtelet (Hg.), Geschichte

der Philosophie, Bd. VI, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975, S. 139-175, hier S. 145.

24 M. Foucault, Hommage à Hyppolite, a.a.O., S.168. 25 F. Nietzsche, Fragment 40, in: ders., Kritische Studienausgabe, hrsg. von

G. Colli/M. Montinari, Berlin, New York 1967 ff., Bd. 11, S.637. 26 L. Ferry/A. Renaut, Antihumanistisches Denken, a.a.O., S.21-28. 27 Georges-Elia Sarfati, Gespräch mit dem Verfasser. 28 M. Foucault, in: Les Nouvelles littéraires, 28. Juni 1984. 29 M. Foucault, Actes du colloque de Royaumont: Nietzsche, Freud,

Marx, Paris 1967 (1964), S. 189. 30 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. Ο., S. 460. 31 Ebenda, S. 412. 32 M. Foucault, Hommage à Hyppolite, a. a. O., S. 150. 33 J. Duvignaud, Le Langage perdu, a.a.O., S.225. 34 M. Foucault, in: Les Nouvelles littéraires, 28. Juni 1984. 35 M. Pinguet, in: Le Débat, Nr. 41, September 1986. 36 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. Ο., S. 400. 37 Marcel Gauchet, Gespräch mit dem Verfasser. 38 Ε. Roudinesco, Les Enjeux philosophiques des années cinquante,

a. a. O., S. 93. [Lacans Text auf dt. : »Vortrag über die psychische Kausali­tät«, in: ders., Schriften III, Ölten 1980, S. 123-171, A.d.Ü.]

39 E. Roudinesco, Histoire de la psychanalyse en France, a. a. O., S. 309. 40 J. Lacan, La Psychanalyse I, Paris 1956, S. 6. 41 E. Roudinesco, Histoire de la psychanalyse en France, a.a.O., S.309 f.;

Gespräch mit Sylvia Lacan. 42 Bertrand Ogilvie, Gespräch mit dem Verfasser. 43 Elisabeth Roudinesco, Gespräch mit dem Verfasser. 44 J. Derrida, France-Culture, 21. März 1988. 45 J. Derrida, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-

Louis Houdebine, Guy Scarpetta, hrsg. von P. Engelmann, Wien 1986, S. 43.

608 Anmerkungen zu S. 545-562

Die Wachstumskrise der Sozialwissenschaften

1 Jean Jamin, Gespräch mit dem Verfasser. 2 Bertrand Ogilvie, Gespräch mit dem Verfasser. 3 Maurice Godelier, Gespräch mit dem Verfasser. 4 Ebenda. 5 J.-L. Fabiani, Les Enjeux philosophiques des années cinquante, a. a. O.,

S. 125. 6 Paul Valadier, Gespräch mit dem Verfasser. 7 J. Viet, Les Méthodes structuralistes, Paris 1965, S.U. 8 V Descombes, Das Selbe und das Andere, a. a. O., S. 94. 9 Ebenda, S. 96.

10 P. Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992, S. 21. 11 M. Foucault, in: Revue de métaphysique et de morale, Nr. 1, Januar-

März 1985 (1977), S. 4. 12 L. Pinto, Les Philosophes entre le lycée et Favant-garde, Paris 1987, S. 68. 13 Etienne Balibar, Gespräch mit dem Verfasser. 14 L. Pinto, Les Philosophes entre le lycée et l'avant-garde, a.a.O., S.78. 15 Ebenda, S. 96. 16 J.-L. Fabiani, Les Enjeux philosophiques des années cinquante, a. a. O.,

S.116. 17 F. Dosse, L'Histoire en miettes, a. a. O. 18 Michelle Perrot, Gespräch mit dem Verfasser. 19 C. Lévi-Strauss, Gespräch, in: Libération, 2. Juni 1983. 20 Louis-Jean Calvet, Gespräch mit dem Verfasser. 21 T. Pavel, Le Mirage linguistique, a. a. O., S. 61. 22 Georges Balandier, Gespräch mit dem Verfasser. 23 C. Lévi-Strauss, »Das Feld der Anthropologie« (Inauguralvorlesung am

Lehrstuhl für Sozialanthropologie im Collège de France am 5. Januar 1960), in: ders., Strukturale Anthropologie II, a.a.O., S.29.

24 C. Lévi-Strauss, Der nackte Mensch, a. a. O., S. 814. 25 C. Lévi-Strauss, Der Blick aus der Ferne, a. a. O., S. 183. 26 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, a.a.O., S.386. 27 Maurice Godelier, Gespräch mit dem Verfasser. 28 F. Furet, »Les intellectuels français et le structuralisme«, in: Preuves, Fe­

bruar 1987, S.6, wiederabgedruckt in: L'Atelier de l'histoire, a.a.O., S. 42.

29 Jean Duvignaud, Gespräch mit dem Verfasser. 30 Marcel Gauchet, Gespräch mit dem Verfasser. 31 T. Pavel, Le Mirage linguistique, a.a.O., S. 188.

Personenregister

Abélès, Marc 129 Adler, Alfred 74, 343 ff. Adorno, Theodor 332, 507 Agulhon, Maurice 225, 271 Aimée (Fall) 146 Aischylos 121 Alain 137 Alembert, Jean Le Rond d' 141 Allouch, Jean Alquié, Ferdinand 191 Althusser, Hélène 11, 427 Althusser, Louis 11 f., 15, 24, 137,

141, 224 f., 284, 324, 351, 408 ff., 414 f., 417 ff., 445 ff., 471, 478, 491, 496, 498 f., 543, 549 f., 552, 554, 560 f.

Ansart, Pierre 338 Antonov 94 Anzieu, Didier 187 Apter, D. 390 Aragon, Louis 407, 410 Ariès, Philippe 234 f., 517 Aristoteles 420, 466 Aron, Jean-Paul 220 Aron, Raymond 12, 205, 260, 287,

338, 459, 547 Arrivé, Michel 74, 102 Artaud, Antonin 306 Aubry, Pierre 187 Audry, Colette 246 Auge, Marc 392 f., 452 Auroux, Sylvain 416 f. Austin, John L. 532 Âvila, Teresa de 427 Axelos, Kostas 246, 468, 541

Bachelard, Gaston 136 f., 143, 211, 287, 295,425,436,550

Bachtin, Michail 495 Backès-Clément, Catherine 376,

436,550 Badiou, Alain 44, 447, 451, 499 Balandier, Georges 338, 386 ff. Balfet, Hélène 215 Balibar, Etienne 420, 424, 433, 443

f., 452 f., 551 Bally, Charles 78 f., 362 Barbut, Marc 466 Barthes, Roland 11 f., 15 f., 25, 81,

104 ff., 112 f., 117 ff., 145, 235 f., 246, 285, 287, 290 f., 294, 297, 300 ff., 309, 315 ff., 327 ff., 343, 401 ff., 406, 457 f., 462, 468, 473, 494, 496, 546, 554, 556, 562

Bartoli, Henri 253 Bastide, Roger 212, 214, 254, 258 f.,

387 Bataille, Georges 56, 73, 147, 206,

221, 226, 306 Bataille, Sylvia 146 Baudelaire, Charles 294 Baudelot, Christian 420 Bayet, Albert 43 Beattie, J. 390 Beaufret, Jean 224, 423, 530, 540 f. Beauvoir, Simone de 52 f. Beckett, Samuel 226 Bédarida, François 22 Bellefroid, Jacques 234 Bellour, Raymond 319, 376, 478 Benoist, Jean-Marie 74

610 Personenregister

Benveniste, Emile 43, 64 f., 115, 259, 272, 277, 293, 315, 399 f., 456, 459, 473, 494

Berger, Gaston 103 ff. Berque, Jacques 11, 408 Berryer, Jean-Claude 207 Bertucelli, Jean-Louis 396 Besançon, Alain 271 Besse, Guy 431, 434 Bettelheim, Charles 453 Biardeau, Madeleine 213 Blanchot, Maurice 221, 226, 236 Bloch, Jules 65 Bloch, Marc 33, 109, 269 Boas, Franz 40, 91 Boccara, Pierre 431 Bonaparte, Marie 174 Bonaparte, Napoléon 31 Bonnafé, Lucien 161 Bonnafé, Pierre 392 Bopp, Franz 64, 82 Borges, Jorge Luis 410 Boudon, Raymond 73 Bougie, Célestin 34 Boulez, Pierre 364 Bourbaki 51, 133, 321, 416 Bourdet, Claude 394 Bourdieu, Pierre 15, 140, 460, 468,

549 f. Bouveresse, Jacques 418 f. Bouvet, Maurice 159 Braudel, Fernand 213, 243, 250,268

f., 301, 351, 460, 467, 552 Brecht, Bertolt 125 Bréhier, Louis 33 Brémond, Claude 299 f., 406, 462,

464 f. Breton, André 23, 35, 146 Brondal, Viggo 96,115,119 Bruneau, Charles 111 Brunoff, Suzanne de 453 Brunschvicg, Léon 33, 135 Βuci-Glucksmann, Christine 409 Burke, Edmund 517

Butor, Michel 304 Caillois, Roger 56, 198 ff. Calame-Griaule, Geneviève 459 Calvet, Louis-Jean 87, 122 f., 332 Camus, Albert 24, 117 Canetti, Elias 459 Canguilhem, Georges 24, 137 ff.,

211,219,223,228 f., 234, 287,411 f., 421 f., 449, 460, 479, 497, 550

Carnap, Rudolf 114, 134, 562 Carpentier, Alejo 210 Cartry, Michel 211, 243, 245, 397 Casanova, Antoine 408 Castel, Robert 140, 237 ι Castex, Gérard 286 Castoriadis, Cornelius 191, 242,

245 f. Cavaillès, Jean 135 f., 139, 142, 415,

550 Cazeneuve, Jean 206 Certeau, Michel de 360 Chapsal, Madeleine 205, 477 Char, René 226 Charbonnier, Georges 277, 320 Chateaubriand, François 205 Châtelet, François 477, 514 Chevalier, Jean-Claude 102 f., 105,

283 f., 291, 293 Chlebnikow, Welemir 92 Chomsky, Noam 292, 322, 402 Chruschtschow, Nikita 239 Cixous, Hélène 376 Clastres, Pierre 243 ff., 376 Clavreul, Jean 154, 364 Clemens, René 254 Clérambault, Gaétan Gatian de 146 Cohen, Marcel 102, 109, 292, 308 Colombel, Jeannette 409 Comte, Auguste 36 ff., 198, 253,

503, 555 Condorcet, Antoine de 141, 198,

510 Conté, Claude 154 Cooper, David 237

Personenregister 611

Coquet, Jean-Claude 82, 310, 314 Cournot, Antoine Augustin 288 Crevel, René 146 Cuisinier, Jean 346 Culioli, Antoine 102 f., 105, 286,

292, 308, 323 Curien, Raoul 227 Cuvier, Georges 481, 489 Daix, Pierre 407 Dali, Salvador 146 Danton, Georges 31 Darbel, Alain 460 Darwin, Charles 480, 522 Davy, Georges 43, 338 Dayan, Sonia 339 Debray, Régis 24, 420 Dédéyan, Charles 286 Delay, Jean 234 Deleuze, Gilles 477, 514 Deloffre, Jacques 286 Deltheil, Robert 138 Derrida, Jacques 15 f., 356 f., 406,

433, 456, 473, 535, 542 f., 549, 560

Desanti, Jean-Toussaint 224, 322, 414 ff.

Descartes, René 129 f., 132, 231, 420, 498, 534 f., 546

Descombes, Vincent 73, 77, 428 Détienne, Marcel 67, 376 Deyon, Pierre 271 Diatkine, René 190 Diderot, Denis 141 Didier 105 Dieterlin, Germaine 397 Dolto, Françoise 154 Domenach, Jean-Marie 346, 385,

468 Dor, Joël 153, 167,169,182 Dreyfus, Alfred 271 Droit, Roger-Pol 288, 432 Dubois, Jean 102 ff., 291 ff., 296 f.,

401 f., 457, 495 Duby, Georges 67, 408

Ducrot, Oswald 89, 292, 308, 310, 323, 401 f.

Dufrenne, Mikel 272, 469 Dumayet, Pierre 475 Dumézil, Claude 158 f., 272 Dumézil, Georges 31, 35, 62 ff.,

139, 227 f., 234, 272 f., 303, 365, 460, 475, 478, 554

Dumont, Louis 213 f. Dumont, René 214 Dumur, Guy 125 Durkheim, Emile 13, 27, 36 ff., 65,

255, 336 f., 378, 505 Duroux, Yves 420 Durry, Marie-Jeanne 286 Duvignaud, Jean 125, 246 f., 266 f.,

338 f., 387, 396 f., 538 Eco, Umberto 462, 465, 556 Eichenbaum, Boris Michajlowitsch

93 Eliade, Mircea 473 Engels, Friedrich 38 Éribon, Didier 39, 478 Ernout, Alfred 65 Escarra, Jean 43 Espinas, Alfred 72 Establet, Roger 337, 420, 433 Étiemble, René 24, 207 f. Evans-Pritchard, Edward 390 Ewald, François 287, 478 Ey, Henri 156 f., 189 Faral, Edmond 65 Farge, Ariette 538 Faye, Jean-Pierre 243, 406 f. Febvre, Lucien 65, 127, 206, 269,

328 Feigl, Herbert 562 Fejtö, François 246 Ferry, Luc 535 Feuerbach, Ludwig 419, 437 Fichte, Johann Gottlieb 129, 131 f.,

437 Flaubert, Gustave 122 Fleming, Ian 465

612 Personenregister

Fleury, M. 87 Florenne, Yves 343 Focillon, Henri 114 Fontenelle, Bernard Le Bouvier de

13 Fortes, Meyer 390 Fortini, Franco 246 Foucault, Michel 11 f., 15 f., 57, 75

f., 82, 84, 130, 132, 137, 139 ff., 217 ff., 228, 230 ff., 242 f., 284, 298, 304, 348, 409, 412, 420, 435 f., 439, 456, 458 f., 470, 475 ff., 498, 505 f., 519, 535 ff., 543, 550 f.

Fouché, Pierre 102 Fougeyrollas, Pierre 188, 242, 246 f. Fouque, Antoinette 497 Fournie, Georges 121 Francastel, Pierre 408 Frege, Gottlob 324 Freud, Sigmund 29, 38, 44, 71, 77,

99, 147, 150 ff., 156 ff., 161, 163, 165, 167, 170, 173 ff., 179 f., 185, 192, 224, 226, 342, 348, 356 ff., 378, 399, 408, 421, 435, 443, 445, 450, 454 ff., 471, 473, 480 f., 497 f., 505, 540

Freyre, Gilberto 207 Friedmann, Georges 402 f. Fromm, Erich 162 Furet, François 222, 513, 561 Gadet, Françoise 79 f., 286, 450 Galilei, Galileo 450, 545 Gandillac, Maurice de 211,229, 258,

261 Garaudy, Roger 408, 420 f., 429 ff. Gardin, Jean-Claude 303 Garrone (Kardinal) 427 Gaston-Granger, Gilles 129, 252,

257, 303, 336 f., 448, 461, 544 Gauchet, Marcel 237 f., 561 Gaulle, Charles de 156, 240, 393 f.,

403,493 Genette, Gérard 15, 226, 242, 285,

310, 406, 458, 462, 466, 496 f.

Gentilhomme, Yves 310 George, François 287 Gernet, Louis 272 Gide, André 219 Gilson, Etienne 127 Gödel, Kurt 325 Godelier, Maurice 377, 398, 467 f.,

498 f., 546 Goethe, Johann Wolfgang von 82 Goldmann, Lucien 29, 258, 260 f.,

473, 493 Goldmann, Pierre 11 Goldschmidt, Victor 129 Goldstein, Kurt 156 Gombrowicz, Witold 410 Gomulka, Wladyslaw 243 Gorki, Maxime 94 Goubert, Pierre 460 Gougenheim, Georges 101, 104 Gouhier, Henri 229 Gourou, Pierre 400 Gracq, Julien 207 Grammont, Maurice 100 Granai, Georges 208 Granet, Marcel 63 Granoff, Wladimir 152 f., 159 Green, André 124 f., 180, 190, 348

f., 357 f., 361 f., 364 Greimas, Algirdas Julien 15, 54, 74,

79, 104 f., 111 ff., 115, 119, 290 f., 293, 296, 308 ff., 320, 325 f., 332, 401 f., 429, 457, 462 f., 467, 554

Griaule, Marcel 43, 73, 209, 214 Gritti, Jules 462 Grosrichard, Alain 412 Gross, Maurice 291, 308, 402 Gruson, Claude 252 Guattari, Pierre 211 Guérin, Daniel 395 Gueroult, Martial 127 ff., 223, 277,

417, 448 Guilbert, Louis 104, 293, 296 Guillaume, Gustave 101 Guiraud, Pierre 105

Personenregister 613

Guitton, Jean 11, 426 f. Gurvitch, George 54, 60, 255, 335

ff., 387 Habermas, Jürgen 528 Hagège, Claude 67 Hallier, Jean-Edern 405 Hamon, Philippe 106, 286 Haudricourt, André-Georges 108

f., 208, 277, 292 Hay, Louis 290 Hécaen, Henry 402 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm

13, 141, 161, 193, 198 f., 223, 261, 425, 430, 436 ff., 440, 468

Heidegger, Martin 161 f., 171, 226, 240, 354, 399, 422 f., 522 ff., 526 ff., 538 ff., 549

Heller, Clemens 213 Henry, Paul 449 Héritier-Auge, Françoise 212, 398 Herrenschmidt, Olivier 211, 213 Hertz, Robert 55 f. Hesiod 261 f., 273 Heusch, Luc de 209 Hitler, Adolf 138, 208 Hjelmslev, Louis 14, 96, 104, 106,

112 ff., 116, 123, 290, 293, 301, 310 f., 318, 321 f., 456, 467

Hobbes, Thomas 546 Houphouët-Boigny, Félix 388 Hugo, Victor 31 Husserl, Edmund 69, 93, 136, 141,

415, 422 Huston, John 29 Hyppolite, Jean 24, 150 f., 190, 211,

222 ff., 229, 244, 426 Hyppolite, Madame 190 Imbs 103 Izard, Michel 210 ff., 377, 395, 395 Jacquart, Jean 271 Jakobson, Madame 464 Jakobson, Roman 13, 35, 40, 48 ff.,

59 f., 79, 88, 90 ff., 107, 119, 165, 167, 172, 187, 248, 259, 293 f.,

303, 317, 330, 334, 407, 456, 458, 557

Jakubinskij 93 Jambet, Christian 432 Jamin, Jean 55 Jankélévitch, Vladimir 211, 426 Jaulin, Robert 28 Jespersen, Otto 106 Jodelet, François 285 Johannes Paul II. 427 Johnson, Lyndon B. 471 Joyce, James 476 Jung, Carl Gustav 369 Juranville, Alain 359 Jussieu, Antoine Laurent de 488 Kanapa, Jean 407 Kant, Immanuel 47, 131, 437, 490,

492,539 Kanters, Robert 343, 477 Karcevski, Serge 79, 95, 259 Klein, Melanie 357 Klossowski, Pierre 221 Kojève, Alexandre 146, 223 Kopernikus, Nikolaus 480, 545 Koyré, Alexandre 127 Kriegel, Annie 271 Kristeva, Julia 88, 284, 310, 319,

406, 493 ff. Kroeber, Alfred Louis 40 Labiche, Eugene 180 Labrousse, Ernest 270 f. Lacan, Jacques 11 f., 15 f., 57, 74 f.,

85, 99, 118, 125, 134, 145 ff., 170 ff., 180 ff., 220, 226, 235 f., 244, 287, 309, 312, 319, 322 ff., 334, 350 ff., 366, 373, 382, 399, 406, 408, 411 f., 423 f., 429, 434 f., 442 f., 445, 450, 454 f., 458, 461, 470 ff., 477 f., 491, 494, 497 f., 506, 535, 540 ff., 549, 554, 560, 562

Lacan, Marc-François 161 Lacan, Sylvia 161, 165, 541 Lacroix, Jean 205, 224, 343, 477

614 Personenregister

Lagache, Daniel 157, 160, 224, 226, 229,255,259

Lagarde, André 17 Laing, Ronald 237 Lalande, André 13 Lamarck, Jean Baptiste de Monet,

Chevalier de 481, 488 Lapassade, Georges 468 Laplanche, Jean 190 ff., 223, 350,

361 Laporte, Jean 33 Lapouge, Gilles 456 Lawrence, D.H. 330 Leach, Edmund 390 Lebesque, Morvan 125 Lebovici, Serge 190 Leclaire, Serge 154, 187, 190 f., 354,

357, 361, 364 Lecourt, Dominique 410 f. Lefebvre, Henri 190, 260, 512 Lefort, Claude 24, 27, 53, 60 f., 191,

211, 242, 244 f., 339 Lefranc, Georges 33 Le Goff, Jacques 67, 391, 508 Leibniz, Gottfried Wilhelm 142 Leiris, Michel 52, 56, 72 ff., 387 Lejeune, Michel 103 Lemaire, Anika 193 Lemoine, Gennie 497 Lenin 410, 427, 454 Leroi-Gourhan, André 214 ff., 277,

408 Le Roy Ladurie, Emmanuel 271,

460 Lévi-Strauss, Claude 12, 15, 26 ff.,

32 ff., 43 ff., 62 ff., 66, 71 ff., 90 f, 119, 133, 139, 145, 149, 161 ff., 172 ff., 187 f., 195 ff., 218, 234 f., 243, 249, 252, 256, 259, 261 ff., 275 f., 290, 294, 301, 303, 305, 309 f., 312, 317, 325, 334 ff., 366 ff, 400, 411 f, 420 f, 429, 442 ff, 449, 459, 462 ff, 467 f, 471, 473, 475 ff, 481 f, 484,

489 ff, 494, 497 ff, 506, 509, 517 ff, 535, 538 ff, 543, 547, 549, 554, 557 f, 562

Lévi-Strauss, Monique 183 Lévy-Bruhl, Lucien 73, 340, 509 Lhomme, Jean 251 Lingat, Robert 214 Linhart, Robert 410 ff, 453 f. Loewenstein, Rudolph 191 Lowie, Robert 34, 40 Luther, Martin 127 Lyotard, Jean-François 242, 507,

517 Macherey, Pierre 141, 228, 420, 424,

430, 433, 460, 495 ff, 499 Majakowski), Wladimir 92, 94 Maldidier, Denise 297, 450 Malewitsch, Kasimir 92 Malinowski, Bronislaw 39 f, 263,

342,366 Mallarmé, Stéphane 92, 320, 495 f,

537 Mandela, Nelson 393 Mandelstam 457 Mannoni, Octave 187 Mao Tse Tung 424 Marcellesi, Jean-Baptiste 297 Marchai, André 254, 260 Marchai (Brüder) 251 Marcuse, Herbert 515 Martin, Serge 116 Martinet, André 82 f, 101, 103 f,

106, 109, 115, 213, 282 ff, 309, 400 f, 554

Marx, Karl 13, 33, 38, 44, 77, 198, 225 f, 253, 261, 378, 406, 408, 410 f, 415, 419 ff, 424, 430 f, 433 ff, 443 ff, 447 f, 450 f, 453 ff, 467, 470, 491, 496, 498 f, 503, 514, 555

Mascolo, Dionys 246 Massignon, Louis 65 Mathesius, Vilém 95 Matignon, Renaud 457

Personenregister 615

Matoré, Georges 111, 290 Mauriac, Claude 343 Mauron, Charles 332 Mausi, Robert 222 Mauss, Marcel 38, 54 ff., 63, 65, 71

ff., 109, 196, 275, 558 Mazon, André 65 McCarthy, Joseph 200 McLuhan, Marshall 560 Mead, Margaret 59 Meillassoux, Claude 297, 394 ff.,

452 Meillet, Antoine 64, 92, 100 f., 109,

259 Mendel, Gérard 180 f. Mendès France, Pierre 220 Merleau-Ponty, Maurice 24, 69 ff.,

144, 156, 190, 224, 255, 415, 550 Meschonnic, Henri 104 Mesliand, Claude 271 Métraux, Alfred 34, 73, 206 Metz, Christian 293, 310, 462 Meyerson, Ygnace 272 Michard, Laurent 17 Michaud, René 426 Middleton, John 390 Miller, Gérard 125 Miller, Jacques-Alain 82, 125, 287,

324, 358, 410 ff., 420, 423, 461 Milner, Jean-Claude 411 f., 420 Mitterand, Henri 104 f., 290, 292 f. Mitterrand, François 11 Molière 77 Molino, Jean 226 Mondrian, Piet 304 Monnet, Georges 33 Montaigne 198 Montesquieu 419 f. Montuclard, Maurice 427 Moreno, Jacob Levy 260 Morgan, Lewis Henry 13, 45 Morin, Edgar 246 f. Morin, Violette 462 Moscovici, Serge 449

Mounin, Georges 126,171, 268,409 Mukarovsky, Jan 95 Murdock, George-Peter 259, 335 Mury, Gilbert 431 Nacht, Sacha 160 Nadeau, Maurice 119, 121 f. Nadel, Siegfried Frederick 390 Napoleon III. 403 Nasio, Jean-David 354 Naville, Pierre 297, 395 Needham, Rodney 55, 393 Neurath, Otto 562 Newton, Isaac 87, 438 Nicolai, André 255 Nietzsche, Friedrich 219, 226 f.,

240, 403, 422, 522 ff., 529 f., 532 ff., 536 ff., 554

Nkrumah, Kwame 388 Nora, Pierre 217, 276, 459 f., 475 Normand, Claudine 81 f., 297, 450 Ortigues, Edmond 343 Ozouf, Jacques 271 Pages, Robert 260 Papin, Christine und Léa 147 Pariente, Jean-Claude 223 Pascal, Biaise 261, 427, 546 Passeron, Jean-Claude 140, 226 Pavel, Thomas 561 Pêcheux, Michel 420 f., 432, 449 ff. Peirce, Charles Sanders 90, 532 Perrier, François 190 Perrot, Jean 103, 271 Perrot, Michelle 538, 553 Perroux, François 251 f., 254, 260 Piaget, Jean 14, 33, 255, 258, 261,

322, 535 Piatier, Jacqueline 332 Picard, Raymond 327, 330 ff., 457,

496, 546 Pichon, Edouard 101, 171 Picon, Gaétan 295 Piganiol, André 65 Pingaud, Bernard 470 Pinguet, Maurice 226, 539

616 Personenregister

Pinto, Louis 551 Piot, Colette 297, 395 Pividal 339 Piaton 77, 163, 336, 420, 466 Pleynet, Marcelin 404 f. Poe, Edgar Allan 168, 542 Poincaré, Henri 135 Polivanov, Evgeni 93 f. Pommier, Jean 65 Pommier, René 334 Pontalis, Jean-Bertrand 119, 190,

361 Popper, Karl R. 313, 562 Pottier, Bernard 102 f., 291, 296 f.,

308 Pouillon, Jean 26 ff., 51 ff., 398, 466 Poujade, Pierre 208 Poulantzas, Nicos 11 Poulet, Georges 473 Propp, Wladimir 114, 299 f., 303,

312 ff., 367, 456, 463 f., 481 Proust, Jacques 224 Proust, Joëlle 448 Proust, Marcel 119 f., 383 Puschkin, Aleksandr 92 Quémada, Bernard 104, 111, 290,

296 Rabelais, François 127 Racine, Jean 261, 327 ff. Radcliff-Brown, Alfred Reginald

39 f. Rancière, Jacques 420, 422, 424,

433 Rastier, François 314 Rébeyrol, Philippe 332 Régis-Bastide, François 205 Régnault, François 411 f., 420 Rémond, Pierre 321 Renaut, Alain 535 Revault dAllones, Olivier 43, 225,

242, 332 Revel, Jean-François 319, 472 Ricardo, David 434, 456, 481, 488 Ricardou, Jean 405

Richard, Jean Pierre 303 Ricœur, Paul 190, 346 ff., 352, 469 Riffaterre, Michael 293 Rimbaud, Arthur 306, 456 Rivaud, Albert 33 Rivet, Paul 73, 195, 545 Rivière, Georges-Henri 277 Robbe-Grillet, Alain 470 Robin, Régine 450 Roche, Denis 405 Rodinson, Maxime 208 Rossi, Tino 111 Roudinesco, Elisabeth 287, 324,

409, 498, 540 f. Rousseau, Jean-Jacques 202 f., 266,

378, 524 Roussel, Raymond 226 Rousset, David 24 Rousset, Jean 294 f., 461 Roustang, François 181 f., 360 Roy, Claude 206, 241, 266, 342 Royer-Collard, Pierre Paul 346 Rüssel, Bertrand 134 Ruwet, Nicolas 308, 346, 376, 401

f., 473 Safouan, Moustafa 186 f. Saint-Hilaire, Geoffroy 82 Saint-Simon, Claude Henri Graf

von 503 Sapir, J. David 91 Sartre, Jean-Paul 12, 23 ff., 69, 71,

118, 200, 241, 287, 339, 344, 348, 387, 447, 466, 470 ff., 475, 478, 519, 530 f., 547 f., 550, 560

Saussure, Ferdinand de 13, 50, 64, 70 f., 74, 77 ff., 92, 97, 111 ff., 123, 126, 130, 163 ff., 172, 188, 248, 259, 275, 301, 304, 310 f., 316, 319, 352, 356, 362, 370, 378, 421, 456, 467, 469, 473, 476, 510, 555, 562

Sauvy, Alfred 252 Schaff, Adam 408 Schklowskij, Victor 93

Personenregister 617

Schlegel, August Wilhelm von 64, 81

Schlegel, Friedrich von 64, 81 Schleicher, August 64 Schlick, Moritz 134 Sebag, Lucien 243, 245, 308, 468 Séchehaye, Albert 78 f. Sédar-Senghor, Leopold 200, 388 Seghers, Anna 35 Semprun, Jorge 430 Serge, Victor 35 Serres, Michel 15, 142 ff., 223 Sève, Lucien 409, 431 Sichere, Bernard 360 Simiand, François 37, 262, 270 Simon, Michel 430, 449 Singevin, Charles 112 Smith, Adam 434, 481, 488 Smith, Michael-Garfield 390 Sokrates 525 Sollers, Philippe 360, 405 f., 466,

494 Sophokles 180 Soustelle, Jacques 34, 73, 212 Souvarine, Boris 147 Spencer, Herbert 13, 503 Spengler, Oswald 503, 523 Sperber, Dan 393 f. Spinoza, Baruch de 129, 132, 136,

351, 445, 546 Spitzer, Leo 105, 295 Stalin, Josef 227, 239, 433 Starobinski, Jean 87 Stein, Conrad 190 Stendhal 456 Straka, Georges 103, 290 Sullivan, Harry Stack 162 Sumpf, Joseph 297 Swain, Gladys 237 f. Tarde, Gabriel 255, 336 Terray, Emmanuel 44, 395, 398, 451

f., 499 Texier, Jean 431 Thibaudeau, Jean 405, 466

Thorez, Maurice 431 Thorner, Daniel 214 Todorov, Tzvetan 15, 284 f., 299,

308, 402,406, 458, 462, 465, 473, 493 f., 554

Togeby, Knud 104, 291 Tort, Michel 420 Touré, Sékou 388 Tracy, Destutt de 54 Tristani 339 Trotzki, Leo 94 Trubetzkoy, Nicolai 13, 49, 59, 79,

92, 95, 97,106,111, 115, 259, 303 Tudesq, André 271 Uri, Pierre 252 Vachek, Emil 95 Vailland, Roger 241 Valadier, Paul 294 Valéry, Paul 343 Vaugelas, Claude Favre 13 Veille, Jacques 121 Vendryes, Joseph 100, 106 Verdès-Leroux, Jeannine 339 Verlaine, Paul 92 Vernant, Jean-Pierre 15, 67, 261,

272 ff., 376, 473 f., 549 Verret, Michel 430 Verstraeten, Pierre 345 Veyne, Paul 226, 538 Vico, Giambattista 198 Vidal-Naquet, Pierre 67, 391 Vidal de la Blache, Paul 277 Viderman, Serge 363 Viet, Jean 548 Vilar, Jean 125 Vilar, Pierre 260, 270, 409, 439 Virilio, Paul 516 Voltaire 524 Wagemann, Ernst 254 Wagner, Robert-Léon 101,104, 293,

296, 379 Wahl, François 352, 403, 458 Wahl, Jean 211, 223 f. Wallon, Henri 148

618 Personenregister

Wanters, Arthur 33 Weil, André 51, 134 Weil, Simone 51 Weiller, Jean 251 Westermarck, Edvard 45 Winnicott, Donald W. 357 f.

Wittgenstein, Ludwig 114, 134, 532 Wolff, Etienne 259 Wormser, André 222 Yaguello, Marina 286 Zonabend, Françoise