doppelpunkt no20 19.05.2016

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D ie reformierte Schweizer Kirche in London liegt am Rande des Stadtviertels Covent Garden, an der Achse, wo sich Touristen zwischen der berühmten Markthalle und dem Bri- tischen Museum hin und her bewegen, wo Businessleute sich zum Lunch treffen und Obdachlose frühmorgens ihre Kar- tonunterlagen zusammenpacken, um sich unter die Menschen zu mischen. Rund dreissig Auslandschweizer und de- ren Angehörige kommen hier jeden zweiten Sonntag zum Gottesdienst zu- sammen. Hochzeiten werden hier gefei- ert, Kinder getauſt und Schweizer (Kir- chen-)Traditionen gepflegt. Reformierte, Katholiken, Anglikaner und Zweifelnde feiern in ökumenischer Verbundenheit. Doch die Schweizer Kirche in London ist weit mehr als nur Gottesdienstort: Sie ist Gemeindezentrum für die Schweizer Gemeinschaſt in London. Rund 15 000 Schweizer leben in der Metropole. Fuss- ballländerspiele der Schweizer National- mannschaft werden hier übertragen, Fondueabende und «Räbeliechtli»-Um- züge für Familien organisiert. Gerade jüngere Menschen, die in London ihr Glück versuchen, können schnell in eine Notlage geraten und finden bei der Schweizer Gemeinschaſt Halt. Aber nicht nur Schweizer bekommen Unterstützung. Obdachlosen wird zwei- mal pro Woche eine Mahlzeit ausgege- ben, und im Pfarrhaus steht ein Zimmer für Asylsuchende zur Verfügung. Seel- sorgebesuche bei älteren Schweizern, die fern der Heimat leben, sind ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des Pfarramtes. Überhaupt, die Gemeinschaſt ist sehr wichtig, besonders für die ausgewander- ten Schweizer, die den grössten Teil ih- res Lebens hier verbracht haben. «Die Hauptgründe, weshalb ich hierherkom- me, sind die Gemeinschaſt und Freund- schaſt», sagt eine Frau. «Ich bin nicht be- sonders religiös, obwohl ich hier nach und nach meinen eigenen Glauben ent- decke.» Gemeinsam statt einsam Freundschaſtliche Kontakte sind auch wichtig für junge Berufstätige und Stu- dierende, die der Grossstadtanonymität entfliehen wollen. Einsamkeit ist eine Epidemie, die sich in London rasend schnell ausbreitet, bei Jung und Alt, und die Schweizer Kirche hat es sich zum Ziel gesetzt, dieser Epidemie entgegenzuwir- ken. Einige treffen sich donnerstag- abends zur Andacht nach einer Liturgie der schottischen Iona Community und gehen anschliessend auf ein Pint ins Pub. Alle drei Monate lade ich mit meinem Mann zum «Bring Your Own Drinks»- Netzwerkabend ins grosse Pfarrhaus ein. Da kann es schon mal nach Mitternacht werden, und es wird viel gelacht. Die äl- teren Semester fahren einmal im Jahr weg, einen Tag nach Paris oder wie die- ses Jahr zwei Tage nach Brügge. Dabei entstehen lockere Gespräche über Gott und die Welt. Manche kommen zum RELIGION Nr. 20/2016 Swiss Church in London: Heimat, Modehaus, Ausbildungsort Nur noch bis Ende 2017 unterhält der Schweizeri- sche Evangelische Kirchen- bund die Schweizer Kirche in London. Pfarrerin Carla Maurer beschreibt, was diese Gemeinde besonders macht und mit welchen Problemen sie zu kämpfen hat. von Carla Maurer Ohne Kirchenbänke ist die Kirche ein multifunktionaler Begegnungsort. Foto: Carla Maurer 10

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Page 1: Doppelpunkt No20 19.05.2016

D ie reformierte Schweizer Kirchein London liegt am Rande desStadtviertels Covent Garden, an

der Achse, wo sich Touristen zwischender berühmten Markthalle und dem Bri-tischen Museum hin und her bewegen,wo Businessleute sich zum Lunch treffenund Obdachlose frühmorgens ihre Kar-tonunterlagen zusammenpacken, umsich unter die Menschen zu mischen.Rund dreissig Auslandschweizer und de-ren Angehörige kommen hier jedenzweiten Sonntag zum Gottesdienst zu-sammen. Hochzeiten werden hier gefei-ert, Kinder getauft und Schweizer (Kir-chen-)Traditionen gepflegt. Reformierte,Katholiken, Anglikaner und Zweifelndefeiern in ökumenischer Verbundenheit.

Doch die Schweizer Kirche in Londonist weit mehr als nur Gottesdienstort: Sieist Gemeindezentrum für die SchweizerGemeinschaft in London. Rund 15 000Schweizer leben in der Metropole. Fuss-ballländerspiele der Schweizer National-mannschaft werden hier übertragen,Fondueabende und «Räbeliechtli»-Um-züge für Familien organisiert. Geradejüngere Menschen, die in London ihrGlück versuchen, können schnell in eineNotlage geraten und finden bei derSchweizer Gemeinschaft Halt.Aber nicht nur Schweizer bekommen

Unterstützung. Obdachlosen wird zwei-mal pro Woche eine Mahlzeit ausgege-ben, und im Pfarrhaus steht ein Zimmer

für Asylsuchende zur Verfügung. Seel-sorgebesuche bei älteren Schweizern, diefern der Heimat leben, sind ebenfalls einwichtiger Bestandteil des Pfarramtes.Überhaupt, die Gemeinschaft ist sehrwichtig, besonders für die ausgewander-ten Schweizer, die den grössten Teil ih-res Lebens hier verbracht haben. «DieHauptgründe, weshalb ich hierherkom-me, sind die Gemeinschaft und Freund-schaft», sagt eine Frau. «Ich bin nicht be-sonders religiös, obwohl ich hier nachund nach meinen eigenen Glauben ent-decke.»

Gemeinsam statt einsamFreundschaftliche Kontakte sind auch

wichtig für junge Berufstätige und Stu-dierende, die der Grossstadtanonymität

entfliehen wollen. Einsamkeit ist eineEpidemie, die sich in London rasendschnell ausbreitet, bei Jung und Alt, unddie Schweizer Kirche hat es sich zum Zielgesetzt, dieser Epidemie entgegenzuwir-ken. Einige treffen sich donnerstag-abends zur Andacht nach einer Liturgieder schottischen Iona Community undgehen anschliessend auf ein Pint ins Pub.Alle drei Monate lade ich mit meinemMann zum «Bring Your Own Drinks»-Netzwerkabend ins grosse Pfarrhaus ein.Da kann es schon mal nach Mitternachtwerden, und es wird viel gelacht. Die äl-teren Semester fahren einmal im Jahrweg, einen Tag nach Paris oder wie die-ses Jahr zwei Tage nach Brügge. Dabeientstehen lockere Gespräche über Gottund die Welt. Manche kommen zum

R E L I G I ON

Nr. 20/2016

Swiss Church in London:

Heimat, Modehaus, AusbildungsortNur noch bis Ende 2017unterhält der Schweizeri-sche Evangelische Kirchen-bund die Schweizer Kirchein London. Pfarrerin CarlaMaurer beschreibt, was dieseGemeinde besonders machtund mit welchen Problemensie zu kämpfen hat.

von Carla Maurer

Ohne Kirchenbänke ist die Kirche ein multifunktionaler Begegnungsort.

Foto:C

arlaMau

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Gottesdienst, andere engagieren sich so-zial, wieder andere helfen bei der Durch-führung eines Fondue-Fundraising-Abends oder mimen am 6. Dezemberden Samichlaus.

Was die Schweizer Kirche als spirituel-len Raum besonders attraktiv macht, istdie minimalistische Eleganz, die sie seitdem Umbau durch die Schweizer Archi-tekten Christ & Gantenbein prägt. Mo-dern, ohne Kirchenbänke und licht-durchf lutet, und doch sichtlich einchristlicher Raum mit einer 150-jähri-gen Geschichte, ist die Kirche ein multi-funktionaler Raum, der den meistenMenschen beim ersten Betreten ein«Wow» entlockt. Hier sind die Gedankenfrei, können sich entfalten und strebennach oben. Die Architektur des Raumes

spielt eine ausserordentlich wichtigeRolle. Die Kirche ist nicht nur Heimat fürihre zahlreichen Benutzergruppen, son-dern auch für Gäste. Hier finden Tanz-klassen und Meditationsabende statt. Eswerden Prüfungen geschrieben undSchweizer Weinseminare abgehalten.Und hier wird Mode präsentiert. Wäh-rend der London Fashion Week ziehenschon mal Modelabels wie Barber oderTom Smedley ein und übernehmen dieKirche. Modeschau im Gotteshaus? Dasist natürlich durchaus kontrovers. Unddoch stellt man bei genauerem Hinschau-en fest, dass sich auch hier Gemeinschaftbildet. Die Eventmanagerin bietet sichan, bei der Essensausgabe mitzuhelfen.Der elegant gekleidete Obdachlose, derzuerst für einen Modeboss gehalten wird,kann sich beim Bühnenaufbau etwasGeld verdienen. Die Modefirma schicktkistenweise Kleider, die im Winter an dieBedürftigen verteilt werden.

Nicht alles grün, was glänztAlles im grünen Bereich also? So ein-

fach ist das leider nicht. Die SchweizerKirche in London muss sich ein neuesFinanzierungsmodell überlegen. In Eng-land werden keine Kirchensteuern erho-ben, und nur mit Mitgliedsbeiträgenlässt sich eine Kirche nicht finanzieren.Bis vor zwei Jahren wurde die Gemeindezu rund fünfzig Prozent über denSchweizerischen Evangelischen Kir-chenbund von den Schweizer Kirchge-meinden finanziert. Doch im Zuge derBudgetkürzungen hat die Abgeordne-tenversammlung beschlossen, ihre we-nigen verbleibenden Auslandkirchen fi-nanziell und strukturell abzulösen. 2018wird die Unterstützung der SchweizerKirche in London durch den SEK voll-ständig eingestellt. Die Beträge nehmenschon jetzt jährlich ab. In Zukunft wirdsich die Schweizer Kirche auf ein dreitei-liges Finanzierungsmodell verlassenmüssen: Vermietungen, Spendengelderund Projektfonds sind die Einnahme-quellen. Immer mehr Kirchgemeindenin der Schweiz nehmen ihre LondonerSchwesterkirche in den Kollektenplanauf. Die Kontakte in die Schweiz führendazu, dass immer öfter Konfirmations-klassen eine Reise in die Weltstadt vor-nehmen und mit Unterstützung derSchweizer Kirche ein vielfältiges Pro-gramm gestalten. «Die Konfirmations-

reise ist jedes Jahr ein Highlight für dieKonfirmanden», sagt Pfarrer Hans We-ber aus Sempach. «Hier erleben sie allegrossen Weltreligionen auf engstemRaum und kommen auch mit Menschenin Berührung, die ganz andere Lebens-geschichten haben als wir. Letztes Jahrhaben die Jugendlichen für die Obdach-losen gekocht und sich mit ihnen unter-halten. Ohne die Unterstützung derSchweizer Kirche wäre ein solcher Ein-blick nie möglich. Es wäre ein Verlust fürdie reformierte Kirche, wenn es die SwissChurch in London nicht mehr gäbe.»

Seit Kurzem ist die Kirche in Londonauch Ausbildungsplatz. Pfarrpersonenaus der Schweiz können hier ihr Sabba-tical absolvieren, junge Schweizer kön-nen ein Praktikum machen. Derzeit istdie 21-jährige Schulabgängerin LilianJost drei Monate Teil des Teams. «In derGrossstadt London ein Praktikum zufinden, ist alles andere als einfach», sagtsie. «Die Schweizer Kirche ist eine gross-artige Möglichkeit, etwas Sinnvolles zutun und wertvolle Berufserfahrung zusammeln.»

Auskünfte für Besuche oder Spenden [email protected].

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Carla Maurer:

«Die Gemeinschaftist für die Schweizersehr wichtig»

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