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Page 1: Virtuelle Produktentstehung fur Fahrzeug und Antrieb im Kfz. Prozesse, Komponenten, Beispiele aus der Praxis, 1. Auflage  GERMAN
Page 2: Virtuelle Produktentstehung fur Fahrzeug und Antrieb im Kfz. Prozesse, Komponenten, Beispiele aus der Praxis, 1. Auflage  GERMAN

Ulrich Seiffert | Gotthard Rainer (Hrsg.)

Virtuelle Produktentstehung für Fahrzeug und Antrieb im Kfz

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Ulrich Seiffert |Gotthard Rainer (Hrsg.)

VirtuelleProduktentstehung für Fahrzeug und Antrieb im KfzProzesse, Komponenten, Beispiele aus der Praxis

Mit 359 Abbildungen

PRAXIS | ATZ/MTZ-Fachbuch

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Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten© Vieweg+Teubner Verlag | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Thomas Zipsner | Elisabeth Lange

Der Vieweg+Teubner Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.viewegteubner.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werkberechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervon jedermann benutzt werden dürften.

Technische Redaktion: Klementz publishing services, GundelfingenUmschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, BerlinGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.Printed in Germany

ISBN 978-3-8348-0345-0

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V

Vorwort

Die Fahrzeugentwicklung steht nach wie vor unter steigenden Anforderungen sowohl von Seiten des Marktes als auch bedingt durch Auflagen des Gesetzgebers. Hohe Fahrzeugsi-cherheit und Qualitätsansprüche, geringst mögliche Abgaswerte, niedriges Außenge-räusch, geringer Verbrauch und damit verbunden geringe CO2-Emissionen, akzeptable Fahrleistungen, erweiterte Variantenzahl pro Hersteller, Integration in Verkehrssysteme und internationaler Wettbewerb sind nur einige Stichwörter. Neben den Produkten sind es die Prozesse, die die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit ganz entscheidend beeinflus-sen. In den hier zusammengestellten Beiträgen zur virtuellen Produktentstehung, die im Wesentlichen auf Präsentationen der ATZ/MTZ-Konferenzen zur VVC (Virtual Vehicle Creation) und VPC (Virtual Powertrain Creation) aufbauen, wird für das Gesamtfahrzeug aber auch für sämtliche Hauptgruppen wie Antrieb, Aufbau Fahrwerk und Elektronik durch die entsprechenden fachlichen Stellungnahmen diese veränderte Welt beschrieben. Obwohl es immer noch der physikalischen Tests auf der Basis von Hardwarekomponen-ten und Prototypen bedarf, trägt der veränderte Prozess nicht nur zur Erhöhung der Ent-wicklungsqualität sondern auch zur Verringerung der Entwicklungszeit bei. Das vorlie-gende Fachbuch zeigt ganzheitlich die Lösungen anhand von Praxisbeispielen auf. Dieses Fachbuch richtet sich vor allem an in Praxis und Wissenschaft tätige Fachleute der Kfz-, Zulieferer- und Elektronikindustrie sowie an Hard- und Softwarehersteller. Auch Professoren und Studenten der Kfz-Technik bietet es einen hilfreichen Begleiter und zu-verlässigen Ratgeber. Unser besonderer Dank gilt allen unseren Autoren für ihren großen Einsatz bei der Reali-sierung dieses Fachbuches. Dabei sind vor allem die ausgeprägte Fachkompetenz und die verständliche Darstellung der Lösungen hervorzuheben. Dem Vieweg Verlag, insbesondere dem Lektor Herrn Thomas Zipsner, danken wir für die jederzeit kollegiale und vorausschauende Mitarbeit. Braunschweig, Graz im März 2008 Ulrich Seiffert Gotthard Rainer

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VII

Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis

Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Albert Albers Institut für Produktentwicklung, [5.1] Universität Karlsruhe www.ipek.uni-karlsruhe.de

Dr. Klaus U. Baron Delphi Deutschland GmbH, Wuppertal [2.3] www.delphi.com

Dr. rer. nat. Jost Bernasch Kompetenzzentrum – [6.2] Das Virtuelle Fahrzeug Forschungsgesellschaft mbH, A-Graz www.virtuellesfahrzeug.at

Dr.-Ing. Ernst Beutner IAV GmbH, Chemnitz [1.2] www.iav.de

Dr.-Ing. Thomas Binder Audi AG, Ingolstadt [1.1] www.audi.de

Dipl.-Ing. Thomas Bock Audi AG, Ingolstadt [1.1] www.audi.de

Dr. Bernd Bohr Robert Bosch GmbH, Stuttgart [2.1] www.bosch.de

Dr.-Ing. Stefan Bunzel Continental, Frankfurt a.M., [2.2] www.continental-corporation.com

Dr. Dipl.-Ing. Klaus Denkmayr AVL List GmbH, A-Graz [3.4] www.avl.com

Dipl.-Ing. Arnulf Deschler ZF Friedrichshafen AG, Friedrichshafen [4] www.zf.com

Dipl.-Ing. Michael Dick Audi AG, Ingolstadt [1.1] www.audi.de

Dr. Raimund Ellinger AVL List GmbH, A-Graz [3.1] www.avl.com

Dipl.-Ing. Andreas Ennemoser AVL List GmbH, A-Graz [5.3] www.avl.com

Dipl.-Ing. Helmut Fennel Continental, Frankfurt a. M., [2.2] www.continental-corporation.com

Dr. Robert Fischer AVL List GmbH, A-Graz [3.1] www.avl.com

Ronald Gneiting Behr GmbH & Co. KG, Stuttgart [6.1] www.behrgroup.com

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VIII Autorenverzeichnis

Dipl.-Ing. Michael Günther IAV GmbH, Chemnitz [3.6] www.iav.de

Dr.-Ing. Thomas Heckenberger Behr GmbH & Co. KG, Stuttgart [6.1] www.behrgroup.com

M. Sc. Borislav Klarin AVL-AST d.o.o., Zagreb, Croatia [5.4] www.avl.com

Dr.-Ing. Peter A. Klumpp Audi AG, Ingolstadt [3.2] www.audi.com

Dipl.-Ing. Thomas Kriegel, MBA Audi AG, Ingolstadt [1.1] www.audi.de

Dipl.-Ing. Markus Kühl aquintos GmbH, Karlsruhe [5.1] www.aquintos.com

Dr.-Ing. Gerhard Maas IAV GmbH, Chemnitz [1.2] www.iav.de

Dr.-Ing. Franz Maaßen FEV Motorentechnik GmbH, Aachen [3.3] www.fev.com

Hinrich Meinheit Institut für Kraftfahrwesen, RWTH Aachen [5.2] www.ika.rwth-aachen.de

Dipl.-Ing. Thomas Müller Audi AG, Ingolstadt [1.1] www.audi.de

Prof. Dr.-Ing. Klaus Müller-Glaser Institut für Technik der Informations- [5.1] verarbeitung, Universität Karlsruhe www.itiv.uni-karlsruhe.de

Dr. Peter Nefischer BMW Motoren GmbH, A-Steyr [5.3] www.bmw-werk-steyr.at

Prof. Dr.-Ing. Horst Oehlschlaeger Volkswagen Nutzfahrzeuge, Wolfsburg [1.3] www.vwn.de

Dipl.-Ing. Sascha Ott Institut für Produktentwicklung, [5.1] Universität Karlsruhe www.ipek.uni-karlsruhe.de

Dr. Heinz Petutschnig AVL List GmbH, A-Graz [5.3] www.avl.com

Prof. Dr.-Ing. Stefan Pischinger FEV Motorentechnik GmbH, Aachen [3.3] www.fev.com

Dipl.-Ing. Dr. techn. Wolfgang Puntigam Kompetenzzentrum – [6.2] Das Virtuelle Fahrzeug Forschungsgesellschaft mbH, A-Graz www.virtuellesfahrzeug.at

Dr. Gotthard Rainer AVL List GmbH, A-Graz [Hrsg.] www.avl.com

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Autorenverzeichnis IX

Dr.-Ing. Martin Rebbert FEV Motorentechnik GmbH, Aachen [3.5] www.fev.com

Dipl.-Ing. Thomas Resch AVL List GmbH, A-Graz [5.4] www.avl.com

Dr. Johannes-Jörg Rüger Robert Bosch GmbH, Stuttgart [2.1] www.bosch.de

Dr. Christof Samhaber BMW Motoren GmbH, A-Steyr [5.3] www.bmw-werk-steyr.at

Dipl.-Ing. Thomas Schaffner CD Labor für Motor- und Fahrzeugakustik, [5.4] A-Graz

Dr.-Ing. Christian Schyr AVL List GmbH, A-Graz [5.1] www.avl.com

Prof. Dr.-Ing. Ulrich Seiffert WiTech Engineering GmbH, Braunschweig [Hrsg.] www.witech-engineering.de

Dipl.-Ing. Martin Sopouch AVL List GmbH, A-Graz [5.4] www.avl.com

Dr.-Ing. Karin Spors Volkswagen AG, Wolfsburg [1.4] www.volkswagen.de

Dr.-Ing. Ulrich Uphoff BMW Group München [1.5] www.bmwgroup.com

Dipl.-Ing. Christian Vock AVL List GmbH, A-Graz [5.4] www.avl.com

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Henning Wallentowitz Institut für Kraftfahrwesen, RWTH Aachen [5.2] www.ika.rwth-aachen.de

Dr.-Ing. Thomas Wetzel Behr GmbH & Co. KG, Stuttgart [6.1] www.behrgroup.com

Dr.-Ing. Steffen Zwahr Westsächsische Hochschule, Zwickau [3.6] www.fh-zwickau.de

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XI

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1 Gesamtfahrzeug .................................................................................................... 1 1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung ................................ 1 1.1.1 Einflüsse auf die Automobilindustrie .................................................. 1 1.1.1.1 Globale Trends ....................................................................... 1 1.1.1.2 Anforderungen aus geänderten Kundenerwartungen ............. 4 1.1.1.3 Neue Wege gehen ................................................................... 6 1.1.2 Der Produktprozess und die Rolle der virtuellen Entwicklung ............ 7 1.1.2.1 Paradigmenwechsel im Produktprozess ................................. 7 1.1.2.2 Synchronisation des Entwicklungsprozesses .......................... 8 1.1.2.3 Datenlogistik .......................................................................... 9 1.1.2.4 Simulation als Prozessintegrator ............................................ 12 1.1.3 Die Verwendung der virtuellen Techniken zur Komponenten- und Eigenschaftsentwicklung ..................................................................... 15 1.1.3.1 Eigenschaftsableitung ............................................................. 15 1.1.3.2 Eigenschaftsverfolgung (-Monitoring) ................................... 17 1.1.3.3 Interdisziplinäre Prozessketten im Entwicklungsprozess ....... 18 1.1.3.4 Neue Herausforderungen in der Simulation durch Regelsysteme 20 1.1.3.4.1 Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen ............ 21 1.1.3.4.2 Vehicle in the Loop (VIL) ...................................... 22 1.1.4 Zusammenfassung und Ausblick ......................................................... 27 1.1.4.1 Geänderter Produktprozess ..................................................... 27 1.1.4.2 Grenzen der virtuellen Entwicklung ....................................... 28 1.1.4.3 Ausblick ................................................................................. 29 1.2 Auslegungstools und Expertenwissen ............................................................. 29 1.2.1 Einleitung ............................................................................................. 29 1.2.2 Der „Integrierte Entwicklungsablauf“ ................................................... 31 1.2.3 Mit Auslegungstools zur simulationsgestützten Entwicklung in frühen Entwicklungsphasen ............................................................................ 35 1.2.4 Verstärkte Nutzung von Wissen im Engineeringprozess ..................... 42 1.2.4.1 Wissen – auf dem Weg zur Ressource ................................... 42 1.2.4.2 Lösungsansätze für wissensbasiertes Engineering ................. 44 1.2.4.3 Wissensdatenbanken .............................................................. 46 1.2.5 Anwendung von Wissensdatenbanken ................................................. 50 1.2.5.1 Information ............................................................................. 50 1.2.5.2 Technisches Benchmarking .................................................... 50 1.2.5.3 Bereitstellung Expertenwissen ............................................... 53 1.2.5.4 Bauteilauslegung .................................................................... 54 1.2.6 Zusammenfassung und Ausblick ......................................................... 56 1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen ...... 58 1.3.1 Konzeptentwicklung, Frontloading ...................................................... 59

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XII Inhaltsverzeichnis

1.3.2 Beispiele für Simulationswerkzeuge in der Konzeptphase .................. 60 1.3.2.1 Concept Car (Parametrisches Konzeptmodell) ....................... 60 1.3.2.2 Digital Mock-Up (DMU) ....................................................... 62 1.3.2.3 Virtuelle Sitzkiste ................................................................... 63 1.3.2.4 Augmented Reality ................................................................. 64 1.3.2.5 Parametrische Berechnungsverfahren .................................... 65 1.3.2.6 Modularer Berechnungsmodell-Aufbau ................................. 67 1.3.2.7 Strömungsberechnung (CFD) ................................................. 68 1.3.2.8 Mehrkörpersimulation (MKS) ................................................ 71 1.3.2.9 Blattfedergeführte Starrachse ................................................. 72 1.3.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Zukunft ...................................... 73 1.4 Beschleunigung des Produktprozesses ............................................................ 75 1.4.1 Einleitung ............................................................................................. 75 1.4.2 Die drei Beschleunigungskomponenten ............................................... 77 1.4.3 Ausgewählte Beispiele ......................................................................... 83 1.4.4 Zusammenfassung und Ausblick ......................................................... 87 1.5 Virtueller verteilter Entwicklungsprozess bei Abgasanlagen und -konzepten 88 1.5.1 Einleitung ............................................................................................. 88 1.5.2 CAE-Methoden im Entwicklungsprozess Abgasanlage ...................... 88 1.5.3 Numerischer Werkzeugkasten für Abgasanlagenberechnungen .......... 91 1.5.3.1 Vernetzungsrichtlinie für Abgasanlagenmodelle ................... 93 1.5.3.2 Nummerierungskonvention für Abgasanlagenmodelle .......... 94 1.5.3.3 Eine hierarchisch angelegte Struktur für Abgasanlagenberechnungen ................................................... 94 1.5.3.4 Automatisierungsalgorithmus ................................................. 95 1.5.3.5 Verschiedene kleinere Programme zur Erledigung von Teilaufgaben ........................................................................... 95 1.5.4 Beispiele ................................................................................................ 95 1.5.5 Einführung einer gemeinsamen Methodik bei den Partnern ................. 97 1.5.6 Zusammenfassung ................................................................................. 98 2 Elektronik .............................................................................................................. 99 2.1 Elektronik als Schlüsseltechnologie zur unfallfreien und umweltfreundlichen Mobilität der Zukunft ..................................................... 99 2.1.1 Globale Herausforderungen ................................................................. 99 2.1.2 Elektronik und Systemvernetzung ....................................................... 101 2.1.3 Maßnahmen zur Qualitätssicherung bei Elektronik-Systemen ............ 111 2.1.4 Zusammenfassung ............................................................................... 113 2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 114 2.2.1 Einleitung ............................................................................................. 114 2.2.2 AUTOSAR-Projektorganisation .......................................................... 115 2.2.3 Technisches Konzept von AUTOSAR ................................................ 116 2.2.3.1 Schichtenmodell der Softwarearchitektur .............................. 116 2.2.3.2 Virtueller Funktionaler Bus .................................................... 118 2.2.3.3 Metamodell und Methodik ..................................................... 120

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Inhaltsverzeichnis XIII

2.2.3.4 Konfigurationskonzept ........................................................... 122 2.2.3.5 Fehlerbehandlung ................................................................... 124 2.2.3.6 Anwendungssoftware ............................................................. 125 2.2.4 Status der AUTOSAR-Spezifikationen ............................................... 125 2.2.4.1 AUTOSAR Release 1.0 .......................................................... 125 2.2.4.2 AUTOSAR Release 2.0 .......................................................... 126 2.2.4.3 AUTOSAR Release 2.1 .......................................................... 127 2.2.5 AUTOSAR Konformitätsprüfung ........................................................ 127 2.2.5.1 Zielsetzung ............................................................................. 127 2.2.5.2 Prozess der Konformitätsprüfung ........................................... 128 2.2.6 AUTOSAR Phase II: 2007 – 2009 ....................................................... 129 2.2.6.1 Inhalte der AUTOSAR Phase II ............................................. 129 2.2.6.2 Start von AUTOSAR Phase II ................................................ 131 2.2.7 Schlussfolgerung und Ausblick ........................................................... 131 2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät ......... 133 2.3.1 Einleitung ............................................................................................. 133 2.3.2 Anforderungsverursachte Komplexitätszunahme im E/E-Entwurfsprozess ........................................................................... 135 2.3.3 Konventionelle Architektur- und Steuergeräteentwicklung ................. 138 2.3.4 Integraler Toolverbund zur virtuellen E/E-Entwicklung ..................... 140 2.3.4.1 eSCOUT ................................................................................. 142 2.3.4.2 CAPEmaster/CAPEopticon .................................................... 145 2.3.4.3 Virtuelle Hardware ................................................................. 148 2.3.4.4 HW/SW Co-Simulation .......................................................... 149 2.3.5 Schlussbetrachtung .............................................................................. 151 3 Motor ...................................................................................................................... 154 3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung .............................................................. 154 3.1.1 Einleitung ............................................................................................. 154 3.1.2 Entwicklungsprozess der Antriebsstrangentwicklung ......................... 155 3.1.3 Kalibrierung im Fahrzeug, auf der Straße ............................................ 156 3.1.4 Kalibrierung im Fahrzeug, auf dem Rollenprüfstand ........................... 160 3.1.5 Kalibrierung auf Motor-, Getriebe- und Antriebsstrangprüfständen .... 164 3.1.6 Kalibrierung in der Hardware-in-the-Loop (HiL) und Model-in-the-Loop (MiL) Umgebung ................................................. 166 3.1.7 Zusammenfassung und Ausblick ......................................................... 170 3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch .................................... 172 3.2.1 Einleitung ............................................................................................. 172 3.2.2 Entwicklungstools: Simulations- und Messtechniken .......................... 172 3.2.3 Zähnezahlen ......................................................................................... 175 3.2.4 Kettenart .............................................................................................. 177 3.2.5 Dynamikergebnisse .............................................................................. 180 3.2.6 Unrunde Kettenräder ............................................................................ 181 3.2.7 Aufbau und Ausbau der Simulationstechnik ........................................ 184 3.2.8 Zusammenfassung ............................................................................... 188

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XIV Inhaltsverzeichnis

3.3 Virtuelle Motorenentwicklung ........................................................................ 189 3.3.1 Einleitung ............................................................................................. 189 3.3.2 Entwicklungsplan ................................................................................. 189 3.3.3 CAE-Unterstützung und virtuelle Produktfreigabe .............................. 191 3.3.4 Festigkeit und Kühlung ........................................................................ 193 3.3.5 Ladungswechsel und Thermodynamik ................................................ 194 3.3.6 Kosten und Gewicht ............................................................................. 195 3.3.7 NVH und Gewicht ............................................................................... 196 3.3.8 Dokumentation und Projektmanagement ............................................. 299 3.3.9 Motormanagement, Software und Applikation .................................... 299 3.3.10 Zusammenfassung ............................................................................... 200 3.3.11 Fazit ..................................................................................................... 201 3.4 Zuverlässigkeitsmethoden in der Motorentwicklung ...................................... 202 3.4.1 Einleitung ............................................................................................. 202 3.4.2 Der Zuverlässigkeitsprozess ................................................................ 202 3.4.2.1 Statistische Analysen .............................................................. 204 3.4.2.2 Projekt-Risikomanagement .................................................... 204 3.4.2.3 FMEA – Fehler-Möglichkeits- und Einflussanalyse .............. 205 3.4.2.4 Concern-System ..................................................................... 205 3.4.2.5 Design of Experiments (DoE) und Robustheit ....................... 206 3.4.2.6 Zuverlässigkeitsblockdiagramme (Reliability Allocation) ..... 206 3.4.2.7 Intelligente Validierung – Die Load Matrix Methodik ........... 206 3.4.2.7.1 Prozess der Load Matrix Erstellung ....................... 207 3.4.2.7.2 Maßnahmen zur Verbesserung der Validierung ..... 208 3.4.2.7.3 Nutzen der Load Matrix ......................................... 208 3.4.7.8 Reliability Charts .................................................................... 209 3.4.2.9 Garantiekostenprognose ......................................................... 211 3.4.3 Zusammenfassung ............................................................................... 212 3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe ................................................................... 213 3.5.1 Einleitung ............................................................................................. 213 3.5.2 Simulation der Kolbengruppe in Bausteinen ....................................... 214 3.5.2.1 Thermische Strukturanalyse des Kolbens ............................... 214 3.5.2.2 Simulation der Kolbensekundärbewegung ............................. 216 3.5.2.3 Simulation der Kolbenringdynamik ....................................... 220 3.5.3 Anwendungsbeispiel: Reibungsanalyse ............................................... 223 3.5.4 Zusammenfassung ............................................................................... 225 3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation zur Bedatung von Motorsteuergeräten ......................................................................................... 227 3.6.1 Einleitung ............................................................................................. 227 3.6.2 Motivation ............................................................................................ 227 3.6.3 Grundlagen zur Einbeziehung der Vorausberechnung in den Applikationsprozess ............................................................................. 228 3.6.4 Werkzeuge zur effektiven Grundbedatung mit Vorausberechnung ..... 230 3.6.5 Anwendung für Füllungserfassung, Momentenstruktur und Zündwinkelvorgabe ............................................................................. 232

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Inhaltsverzeichnis XV

3.6.6 Weitere Einsatzmöglichkeiten der Simulation im Applikationsprozess 245 3.6.7 Fazit ..................................................................................................... 247 4 Getriebe .................................................................................................................. 249 4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik ............................................... 249 4.1.1 Einleitung .............................................................................................. 249 4.1.2 Gliederung der Optimierungsverfahren ............................................... 250 4.1.3 Topologieoptimierung: Begriffsklärung und Analogie ........................ 252 4.1.4 Prinzipielle Vorgehensweise bei einer Topologieoptimierung ............ 253 4.1.5 Grundlegende Erfahrungen bei der Topologieoptimierung eines Differenzialdeckels .............................................................................. 254 4.1.6 Topografieoptimierung einer Ölwanne ................................................. 267 4.1.7 Topologieoptimierung eines Getriebegehäuses .................................... 272 4.1.8 Optimierung eines Halteblechs ............................................................. 279 4.1.9 Einbindung in den Produktentwicklungsprozess .................................. 284 5 Antriebsstrang/Hybrid ......................................................................................... 286 5.1 Modellbasierte Antriebsstrangentwicklung ..................................................... 286 5.1.1 Einleitung ............................................................................................. 286 5.1.2 Werkzeuge im modellbasierten Entwicklungsprozess ......................... 288 5.1.2.1 Systemmodell ......................................................................... 288 5.1.2.2 Regelbasierte Modelltransformation ...................................... 290 5.1.2.3 Physikalische und signalflussorientierte Modelle .................. 291 5.1.2.4 Optimierungswerkzeuge ......................................................... 294 5.1.2.5 Modellbasierte Validierung .................................................... 294 5.1.3 Zusammenfassung ............................................................................... 296 5.2 Hybridfahrzeug in seiner Verkehrsumgebung ................................................ 298 5.2.1 Einleitung ............................................................................................. 298 5.2.2 Simulationsumgebung ......................................................................... 298 5.2.2.1 Längsdynamiksimulation ....................................................... 299 5.2.3.2 Verkehrsszenarien .................................................................. 303 5.2.3 Simulationsergebnisse ......................................................................... 305 5.2.3.1 Hybridantrieb ......................................................................... 305 5.2.4 Zusammenfassung ............................................................................... 309 5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittelseitigen Wärmeübergang in Verbrennungsmotoren ................................................................................. 310 5.3.1 Einleitung ............................................................................................. 310 5.3.2 Sieden .................................................................................................. 311 5.3.2.1 Beschreibung des Siede-Phänomens ....................................... 311 5.3.2.2 Einflüsse .................................................................................. 312 5.3.2.2.1 Kühlmittelzusammensetzung .................................. 313 5.3.2.2.2 Rauigkeit ................................................................ 314 5.3.2.2.3 Orientierung ............................................................ 314 5.3.2.2.4 Druckgradient ......................................................... 315 5.3.2.2.5 Vibration ................................................................. 315

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XVI Inhaltsverzeichnis

5.3.3 Modellbildung und Berechnungsmethodik .......................................... 316 5.3.3.1 Boiling-Departure-Liftoff (BDL)-Modell .............................. 316 5.3.3.2 Gekoppelte Berechnungsmethodik ......................................... 318 5.3.4 Anwendungsbeispiel ............................................................................ 320 5.3.5 Zusammenfassung ............................................................................... 322 5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang ....................................... 323 5.4.1 Einleitung ............................................................................................. 323 5.4.2 Modellkomplexität ............................................................................... 324 5.4.3 Softwareprogramme und Modellierungsansätze .................................. 327 5.4.4 Untersuchung an einem Front-Querantriebsstrang .............................. 332 5.4.4.1 1D-Torsionsansatz .................................................................. 333 5.4.4.2 3D-MKS (Starrkörper) ........................................................... 334 5.4.4.3 3D-MKS (flexible Körper) ..................................................... 338 5.4.5 Zusammenfassung ............................................................................... 343 6 Nebenaggregate ..................................................................................................... 345 6.1 Simulation in der Produktentwicklung ............................................................ 345 6.1.1 Einführung ........................................................................................... 345 6.1.2 Dynamikanalyse von Kühlmodulen ..................................................... 345 6.1.3 Temperaturwechselbeanspruchung von Ladeluftkühlern .................... 347 6.1.4 Motorraumdurchströmung ................................................................... 348 6.1.5 Auslegung von Hybridquerträgern für Thermostrukturmodule© ......... 350 6.1.6 Komfortbewertung mit dem virtuellen thermischen Dummy .............. 352 6.1.7 Dynamische Berechnung der Ladeluftkühlung mit BISS .................... 354 6.1.8 Füllungsoptimierung eines R744 Kältekreislaufs ................................ 355 6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation ausgeführt am Beispiel des Thermischen Managements ...................................................................... 358 6.2.1 Einleitung ............................................................................................. 358 6.2.2 Motivation und Problemstellung .......................................................... 359 6.2.3 Technologien, Methoden und Werkzeuge für Integriertes Engineering 360 6.2.4 Rolle der Co-Simulation für das Thermische Management ................. 364 6.2.5 Design einer unabhängigen Co-Simulationsplattform-Erstellung eines Gesamtfahrzeugmodells am Beispiel des Thermischen Managements 366 6.2.5.1 Aufteilung des Gesamtsystems in Teilmodelle ...................... 367 6.2.5.2 Kopplung der Teilmodelle zu einem Gesamtmodell .............. 367 6.2.5.3 Synchronisierung der Teilmodelle innerhalb des Gesamtmodells ....................................................................... 369 6.2.6 Betrachtung der Energieströme innerhalb eines gekoppelten thermischen Gesamtfahrzeugmodells .............................. 372 6.2.7 Zusammenfassung und Ausblick ......................................................... 376 Ausblick ...................................................................................................................... 380 Sachwortverzeichnis ................................................................................................. 381

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XVII

Abkürzungen und Akronyme

2D zweidimensional 3D dreidimensional ADC Analogue Digital Converter AGR Abgasrückführung AR Augmented Reality AUTOSAR AUTomotive Open System ARchitecture BDL Boiling Departure Liftoff BISS Behr integrierte Systemsimulation BSA Betriebsschwingungsanalyse BSW Basic Software CAD Computergestützte Konstruktion (Computer Aided Design) CAE Computergestütztes Engineering (Computer Aided Engineering) CAx Sammelbegriff für computergestützte Arbeitstechniken CD Compact Disc CFD Numerische 3D-Strömungssimulation (Computational Fluid Dynamics) CPU Central Processing Unit CTA Conformance Test Agency CTS Conformance Test Suite CVT Continuously Variable Transmission DEM Diagnostics Event Manager DET Development Error Tracer DMU Digitales Zusammenbau-Modell (Digital Mock-Up) DoE Design of Experiments (statistische Versuchsplanung) DV-Technik Datenverarbeitungstechniken E/E Electric/Electronics ECU Electronic Control Unit ERP Computergestützte Planung der Unternehmensressourcen

(Enterprise Resource Planning) FE Finite Elemente FEM Finite-Elemente-Methode FMEA Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse GIF Graphic interchange Format – Komprimierendes Bilddateiformat GJL Gusseisen mit Lamellengraphit GJV Gusseisen mit Vermikulargraphit HMD Head-Mounted-Display HMI Human Machine Interface HW Hardware I/O Input/Output IT Informations-Technologie KW Kurbelwelle

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XVIII Abkürzungen und Akronyme

MARCO Thermischer Dummy MKS Mehrkörpersimulation MTBF Mean Time Between Failures NVH Noise, Vibration and Harshness PDM Produkt-Daten-Management PVS Produktionsvorserie RA Risk Assessment RFID Radio Frequency Identification RTE Runtime Environment SFE Gesellschaft für Strukturanalyse in Forschung und Entwicklung mbH SIMBAUK Simulations-Baukasten SOP Start der Serienfertigung (Start of Production) SW-C Software Component TSM Thermostrukturmodul© UML Unified Modeling Language VB-Prozess Versuchsbauprozess, dient der Erstellung von Prototypen VFB Virtual Functional Bus ViP Virtuelle Produktentwicklung VR Virtual Reality VREP virtueller Ergonomieprüfstand XML eXtensible Mark up Language ZKG Zylinder-Kurbel-Gehäuse

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1 Gesamtfahrzeug

1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung

1.1.1 Einflüsse auf die Automobilindustrie

Mobilität stellt eines der Grundbedürfnisse der Menschen dar. Das Fahrzeug ist als indi-viduelles Verkehrsmittel in der heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Die Mo-bilität in Zukunft sicher zu stellen ist neben der gesellschaftspolitischen Verantwortung auch eine technische Herausforderung. Die Automobilindustrie steht heute im starken Wandel. Durch sich stark verändernde Rahmenbedingungen und Einflüsse müssen Entscheidungen getroffen werden, die in der zukünftigen Gesellschaft tragfähig sind. Die Basis dafür stellt die genaue Analyse der verschiedenen Einflussgrößen auf die Ge-sellschaft, Verhaltensweisen und Produkterwartungen. Dazu zählen die globalen Trends genauso wie die sich ständig verändernden Kundenanforderungen an das Fahrzeug. Im Folgenden werden die vielseitigen Einflüsse auf die Automobilindustrie und die Auswir-kungen für den Produktentstehungsprozess dargestellt. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf den direkten Auswirkungen der sich konstant ändernden Rahmenbedingen auf das Produkt, sondern es geht um die notwendigen Anpassungen des Entwicklungsprozesses und die Verwendung neuer Methoden, um mit optimalen Ressourcen im Wettbewerbs-umfeld zu bestehen.

1.1.1.1 Globale Trends

Die Entwicklung der globalen Trends kann in Form vieler Einzelmeldungen täglich ver-folgt werden (Bild 1-1). Die Verknappung von natürlichen Ressourcen wie Wasser und Rohöl wird in Zukunft massive Auswirkungen auf die Menschheit haben. Die Urbanisierung, die in Europa Ih-ren Höhepunkt bereits überschritten hat, läuft in Metropolen des südamerikanischen und asiatischen Raums weiter. Aus der anhaltenden Besiedelung von Naturflächen durch den Menschen ergibt sich eine sichtbare Zunahme von Naturereignissen, bei denen Menschen zu schade kommen. So-wohl die Gesellschaft als auch die Politik beschäftigen sich infolgedessen immer stärker mit dem Thema Umwelt, wie zum Beispiel mit der Ursache und Bekämpfung des Treib-hauseffektes.

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Bild 1-1: Globale Trends.

Die Alterung der Gesellschaft ist etwas, was nicht nur jeder als Person selbst erlebt, son-dern auch in vielfältiger Weise Auswirkungen auf das Wirtschaftsumfeld haben wird. Bild 1-2 stellt die Entwicklung der Verteilung der Altersgruppen bis Ende des Jahrhun-derts in Deutschland dar. Heute sind über 30 Mio. (37 %) Bürger in Deutschland über 50 Jahre alt. Künftig (2030) wird knapp die Hälfte der Bevölkerung über 50 Jahre alt sein. Die Zahl der 60 Jährigen und älter steigt besonders stark an und diese Menschen werden ein wesentlicher Bestand-teil des Fahrzeugklientels sein. Wir sprechen von der so genannten Generation Plus. Die Generation Plus ist durch große Wachstumsdynamik und hohe Konsumbereitschaft ge-kennzeichnet. Diese Zielgruppe möchte in ihrem Alter das Leben genießen, weiter an verschiedenen sozialen Aktivitäten teilnehmen, und ebenso weiter selbstständig sein. Dazu gehört auch die Mobilität, die sie keineswegs aufgeben möchten. Ferner spielt der Begriff „Sportlich-keit“ in dieser Zielgruppe eine immer wichtiger werdende Rolle.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 3

Bild 1-2: Alterung der Gesellschaft am Beispiel Deutschland.

Die Entwicklung der Weltbevölkerung und die Globalisierung, die immer stärkere inter-nationale Vernetzung sowohl im privaten, als auch im beruflichen Umfeld führen unwi-derruflich nach einem immer stärker anwachsenden Bedarf an Logistik. Hier geht es nicht nur um Güter, die transportiert werden müssen, sondern auch um Informationen und Menschen. Aufbauend auf verschiedene Szenarien haben die Verkehrsforscher ein vertiefendes Sze-nario zur regionalen Verkehrsentwicklung in Deutschland erarbeitet. Man erkennt eine deutliche Zunahme des Verkehrsaufkommens im Bereich Berlin, Hamburg, Rhein/Ruhr, Rhein/Main, Stuttgart und München (Bild 1-3). In Korrelation dazu steht, wie auf Bild 1-4 zu erkennen, die prognostizierte Bevölke-rungszunahme in genau diesen Regionen. Der Entvölkerung im Osten steht ein starker Zuwachs der Bevölkerung im Raum Berlin gegenüber. Das größte Wachstum soll aber vor allem im Süden, in der so genannten „greater Munich area“ erfolgen.

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4 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-3: Verkehrszuwachs am Beispiel Deutschland.

Bild 1-4: Zu- und Abwanderungsübersicht am Beispiel Deutschland.

1.1.1.2 Anforderungen aus geänderten Kundenerwartungen

Neben den globalen Veränderungen und deren Auswirkungen spielt auch die frühzeitige Erkennung und Erfüllung des Kundenwunsches eine wesentliche Rolle beim Unterneh-menserfolg. Der persönliche Wunsch, etwas Exklusives und Einzigartiges zu sein, spiegelt sich beim Kaufverhalten des Kunden eins zu eins wider. Eine immer stärkere Derivatisierung ist notwendig, um ein Volumenwachstum verzeichnen zu können (Bild 1-5). Ferner ist der Kunde ständig bestrebt, das Fahrzeug individuell zu gestalten. Markenprä-gende Innovationen gehören genauso dazu wie eine exakt nach Kundenwunsch spezifisch ausgewählte Ausstattung. Daraus ergibt sich eine Kombinations- und Variantenvielfalt, deren Komplexität (Bild 1-6) sowohl in der Produktentwicklung, als auch in der Herstel-lung beherrscht werden muss.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 5

Bild 1-5: Derivatisierung der Produktpalette über die Zeit.

Bild 1-6: Anzahl der Produktinnovationen als Komplexitätstreiber.

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Die Zeiten des Fahrzeuges als Massenprodukt in einheitlicher Farbe, Form und Ausstat-tung, sind in der Form, wie sie diese Henry Ford mit dem T-Modell einmal propagiert und erfolgreich vermarktet hat, vorüber. Trotz der gestiegenen Derivatisierung und Produktkomplexität akzeptiert der Kunde kei-ne längeren „Wartezeiten“. Vielmehr erfordert das starke Wettbewerbsumfeld, dass man als Automobilhersteller immer der erste ist, der mit attraktiven Produkten und Innovatio-nen den Markt besetzt. Die Zeit, die für die Produktentwicklung bis zur Vermarktung zur Verfügung steht („Time to Market“), wird demnach immer geringer. Damit ergeben sich auch für die Entwicklung immer kürzer werdende Entwicklungszeiten (Bild 1-7) trotz zunehmender Komplexität und Varianz. Und dieses natürlich unter Einhaltung der höch-sten Qualitätsstandards.

Bild 1-7: Reduktion der Entwicklungszeit.

1.1.1.3 Neue Wege gehen

Die Entwicklungsprozesse müssen den dargestellten Einflüssen (Bild 1-8) angepasst werden. Unter Beibehaltung der klassischen Entwicklungsmethoden ergäbe sich ein Res-sourcenbedarf an Mitarbeitern und Material, welcher unternehmerisch unwirtschaftlich wäre. Der Schlüssel zum Erfolg liegt im konsequenten Einsatz virtueller Entwicklungsmetho-den im Produkt-Entstehungsprozess. Sowohl in der frühen Entwicklungsphase, als auch als Absicherungsmethode für Softwareversionen und Hardwarevarianten müssen diese Methoden intensiv umgesetzt werden.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 7

Bild 1-8: Zusammenfassung der aktuellen Herausforderungen an die Automobilindustrie.

1.1.2 Der Produktprozess und die Rolle der virtuellen Entwicklung

1.1.2.1 Paradigmenwechsel im Produktprozess

Im Produktprozess spielt die Simulation eine immer größere Rolle. Die Erwartungshal-tung an die Simulation ist hoch. Sie soll maßgeblich helfen bei:

� der Verkürzung der Entwicklungszeiten

� der Beherrschung der steigenden Variantenvielfalt

� der Einsparung von Hardwareschleifen

� der Erhöhung der Erprobungsqualität von Prototypen

� der Erweiterung von Erprobungsmöglichkeiten.

Die folgende Graphik (Bild 1-9) verdeutlicht das Ziel der virtuellen Entwicklung: durch die frühzeitige Auslegung der Funktionen soll der Reifegrad der Fahrzeuge schon in der Konzeptphase ein höheres Niveau erreichen. Nur die frühzeitig verfügbare, höhere Pro-duktreife ermöglicht kürzere Entwicklungszeiten und somit eine Reduktion der Zeit bis zur Produkteinführung („Time to Market“).

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Bild 1-9: Reifegrad der Entwicklung.

1.1.2.2 Synchronisation des Entwicklungsprozesses

Im klassischen Entwicklungsprozess werden die Fahrzeugkomponenten (Antriebsstrang, Karosse, Fahrwerk, Elektrik, Ausstattung, usw.) erst im ersten gebauten Fahrzeug, zum Beispiel Prototypen aufeinander abgestimmt. Eine Synchronisation der Entwicklungsleis-tung findet demnach erst spät im Entwicklungsprozess statt.

Bild 1-10: Klassischer Entwicklungsprozess mit Synchronisation in der Hardware von rechts.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 9

Im virtuellen Entwicklungsprozess hingegen werden virtuelle Projektmeilensteine integ-riert. Zu diesen Meilensteinen müssen die Bauteile nicht nur geometrisch, sonder auch funktional aufeinander abgestimmt sein. Diese schrittweise Iteration von Funktionen im „Virtuellen Prototypen“ lässt den Reifegrad des Fahrzeuges steigen und das bei transpa-renter Messbarkeit. Durch die Unabhängigkeit der Hardware können verschiedene Funk-tionen parallel erprobt werden, man spricht in diesem Zusammenhang von synchronisier-ten Prozessen.

Bild 1-11: Virtuelle Entwicklung mit Synchronisationspunkten vor der Hardware.

1.1.2.3 Datenlogistik

Um den Reifegradprozess zu unterstützen, müssen alle dazu benötigten Daten und Infor-mationen entsprechend strukturiert und organisiert werden. Sinnvoll ist das in Form der Neuschaffung einer übergreifenden Datenlogistik, die in einer Rolle als Dienstleister den Datenbereitstellungsprozess in enger Abstimmung mit der Projektsteuerung koordiniert. Zu den zu leistenden Aufgaben gehörten (Bild 1-12):

Daten: � Dateninhalte � Detaillierungsgrade � Zeitpunkte und Konfigurationen für die entsprechenden Nutzer � fachspezifische Datenaufbereitung � Datenverfolgung.

Logistik: � Strukturierung und Verwaltung der Input- und Output-Daten für verschiedene Anwen-

dungsfälle � Synergien durch Mehrfachverwendungen.

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Bild 1-12: Aufgabenbereiche der Prozessdatenlogistik.

Prozesse: � Permanente Optimierung des Datentransformationsprozesses von den Quell- in die

Zielsysteme � Prozessanalyse und -Optimierung für die angewendeten Methoden und Systeme � Umsetzung / Integration in den Fachbereichen Die Datenlogistiker haben in Analogie zu den Teilelogistikern in der Prototypenwerks-statt die Aufgabe, die Datenversorgung für die Nutzer zu organisieren. Der prinzipielle Arbeitsablauf ist unter Bild 1-13 dargestellt. Um die Vielzahl der verschiedenen Berechnungsmethoden bedienen zu können, muss für jede Berechnungsart eine Datenzusammenstellung mit nutzergerechtem Detaillierungs-grad aufbereitet werden. Um den individuellen Aufbereitungsaufwand zu minimieren, wird ein Mastermodell geschaffen, aus dem sich die verschiedenen Detaillierungsgrade ableiten lassen. Somit wird außerdem sichergestellt, dass die verschiedenen Berechnungsdisziplinen auf einem gemeinsamen Datenstand ihre Simulationen durchführen können. Damit kann eine Rep-roduzierbarkeit der Ergebnisse sichergestellt werden. Bild 1-14 zeigt beispielhaft die Mehrfachnutzung des Mastermodells für unterschiedliche Simulationsarten.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 11

Bild 1-13: Teile- und Datenlogistikprozess.

Bild 1-14: Mastermodell mit Mehrfachverwendung.

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Um die Komplexität der Anforderungen bedienen zu können, ist ein zielgerichteter Anf-lugsprozess erforderlich. Dieser gliedert sich in vier Meilensteine (Bild 1-15). Nach der Definition der für die Funktionsauslegung erforderlichen Daten und Konfigurationen wird in einem weiteren Meilenstein eine Bestandsaufnahme des Füllungsgrades festge-halten. Vor dem Datenfreeze findet eine Kontrolle der Geometrie-Daten im DMU-Freeze statt.

Bild 1-15: Datenanflugprozess.

Die sich ergebende Produktreife trägt dazu bei, den Einsatz physischer Prototypen zu minimieren. Darüber hinaus ist es möglich, Geometrien und Eigenschaften des Fahrzeugs frühzeitig erlebbar zu machen und größere Produktrisiken zu vermeiden.

1.1.2.4 Simulation als Prozessintegrator

Den in Kap. 1.1.2.1 aufgeführten Anforderungen konnte die Simulation in der Vergan-genheit oft nicht standhalten. Dazu sei im Folgenden ein wesentlicher Prozessgrund ange-führt. Die Rolle der Simulation im Entwicklungsprozess war in der Vergangenheit maßgeblich getrieben durch die Begleitung des geometrischen Auslegungsprozesses auf Bauteil- ,System- und Gesamtfahrzeugebene (Digital Mock Up). Die funktionalen und eigen-schaftsbasierten Aspekte wurden primär durch Komponentensimulationen unterstützt. Fehlende bzw. unzureichende Simulationsmethoden auf Fahrzeugebene führten zur Pro-

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 13

zesslücke zwischen der Zielfahrzeugpositionierung am Anfang des Produktentstehungs-prozesses und den daraus abgeleiteten Anforderungen an die Systeme und Bauteile. Diese mehrmonatige Konstruktionsphase mündete in Fahrzeugprototypen zur Überprüfung der einst aufgestellten Zielfahrzeuganforderungen (Bild 1-16). Die Ergebnisse dieses Entwicklungsprozesses waren:

� hohe Entwicklungsrisiken im Produktentstehungsprozess bis zur erprobungstauglichen Darstellung der ersten Prototypen

� späte Darstellung der Gesamtfahrzeugeigenschaften im Produktentstehungsprozess

� hoher versuchstechnischer Aufwand inkl. hoher Prototypenanzahl

� mehrere und späte Entwicklungsschleifen.

Bild 1-16: Unterbrochene Prozessketten in der Vergangenheit am Beispiel Fahrverhalten.

Die konsequente Weiterentwicklung der Simulationsmethoden führte in den letzten Jah-ren mehr und mehr zur Erschließung neuer, in der Vergangenheit teilweise unbesetzter Felder und zur Schließung von Prozesslücken im Produktprozess. So wurden immer komplexere Modelle schrittweise zu einer Methodenqualität entwickelt, die es heute er-laubt, auch auf der Eigenschaftsebene des Gesamtfahrzeugs gute bis sehr gute Ergebnisse zu erzielen (Bild 1-17). Künftig geht es, neben der festen Etablierung dieser Methoden im Produktentstehungsprozess, um die interdisziplinäre Verknüpfung der Simulationsme-thoden, um daraus weitere Potenziale zu erschließen.

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Bild 1-17: Funktionale / Eigenschaftsbasierte Simulation.

Erst mit der Erschließung der Gesamtfahrzeugeigenschaften für die Simulation können jetzt schrittweise die Prozesslücken im Produktentstehungsprozess effizient geschlossen werden (Bild 1-18). Dadurch erhöht sich die Prozessqualität deutlich und die Arbeitswei-se aller im Produktprozess Beteiligten verändert sich nachhaltig. Eigenschaftsableitung und Eigenschaftsverfolgung sind zwei zentrale Aspekte der neuen Arbeitsweise.

Bild 1-18: Geschlossene Prozessketten durch die Simulation am Beispiel Fahrverhalten.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 15

1.1.3 Die Verwendung der virtuellen Techniken zur Komponenten- und Eigenschaftsentwicklung

1.1.3.1 Eigenschaftsableitung

Ausgangsbasis und Leitfaden im Produktprozess ist ein klares Eigenschaftsprofil, ausge-richtet am Kundenbedürfnis. Mit dem definierten Ziel-Eigenschaftsprofil wird der Ent-wicklungsprozess gestartet und an diesem Profil werden die Entwicklungsstände immer wieder gespiegelt.

Die Herausforderung dabei ist:

� die Anforderungen aus den Zieleigenschaften in Einklang mit den Bauteil- und Kom-ponentenanforderungen (Gewicht, Kosten, Modularität, Herstellbarkeit, Qualität) zu bringen

� die Komponentenfunktionen zueinander zu einem stimmigen Gesamtfahrzeug zusam-menzuführen und unerwünschte Interaktionen bspw. zwischen geregelten und mecha-nischen Systemen zu vermeiden

� die Fahrzeugeigenschaften bestmöglich zueinander in Abstimmung zu bringen, dass heißt Zielkonflikte frühzeitig aufzuzeigen und zur Abwägung zu führen.

Im gewählten Beispiel der Eigenschaft Fahrverhalten wird zunächst eine konsequente Stärken-Schwächen-Analyse des Vorgängerfahrzeugs und der zu erwartenden Wettbe-werbsprodukte für den Zeitpunkt der Markteinführung des neuen Fahrzeugs vorgenom-men. Stark gefragt sind hierbei die Einschätzungen aus dem Feld, dem Fahrversuch und aus dem Marketing. Unter Berücksichtigung konzeptioneller Randbedingungen wird daraus eine Zielpositionierung formuliert. Mittels eines MKS-Gesamtfahrzeugmodells lassen sich erste konzeptionelle Änderungen am Fahrzeug bewerten. Dazu werden zu-nächst die wichtigsten Einflussgrößen wie Fahrzeugmasse, Achslastverteilung, Schwer-punkthöhe, Achskinematiken variiert. Die Bilder 1-19a und 1-19b zeigen dabei die Er-gebnisse einer Sensitivitätsstudie durch Kopplung des Mehrkörpersystem-Modells der Vorderachse mit einem DoE-Tool (Design of Experiments, dass heißt statistischer Ver-suchsplanung). Dabei repräsentiert jeder Linienzug eine Kombination aus Lagersteifig-keiten. Ausgewertet sind typische Achskenngrößen wie Längs- und Quersteifigkeit, Sturznachgiebigkeit und Spur für definierte Lastfälle wie Kurvenbremsen und stationäre Kreisfahrt – dargestellt auf den vertikalen Achsen. Durch Eingrenzung des Wertebereichs der Achskenngrößen auf die aus der Gesamtfahrzeugsimulation ermittelten Zielgrößen wurden interaktiv die besten Varianten ausgewählt (Bild 1-19b).

Auf diese Weise konnten automatisiert hunderte von kinematischen als auch elastokine-matischen Variationen durchgeführt werden. Ausgewählte Designs der Kinematik und Elastokinematik wurden danach in der Gesamtfahrzeugsimulation hinsichtlich ihrer fahr-dynamischen Performance überprüft.

Um sowohl qualitative als auch quantitative Einschätzungen zum Zielwettbewerb zu ermöglichen, werden in der Simulation auch Wettbewerbsfahrzeuge aufgebaut und dem Fahrzeugkonzept gegenübergestellt.

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Bild 1-19: Sensitivitätsanalyse von kinematischen und elastokinematischen Varianten auf ausge-wählte Achskenngrößen. Jeder Linienzug repräsentiert ein Kinematik/Elastokinematik-Design; a) alle untersuchten Designs (oben), b) gültige Designs nach Zielwerteinschränkung (unten).

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 17

Umfangreiche Untersuchungen im stetigen Abgleich der erreichbaren mit den Zieleigen-schaften erlauben die konzeptionelle Festschreibung wichtiger Eckpunkte. Die Zieleigen-schaften werden so auf Systemebene herunter gebrochen und in Lastenheften formuliert.

1.1.3.2 Eigenschaftsverfolgung (-Monitoring)

Die kontinuierliche Gegenüberstellung des Fahrzeugentwicklungsprojektes gegenüber dem Wettbewerb ermöglicht insbesondere in der Definitionsphase, das heißt in der Kon-zeptentwicklung, aus einer Vielzahl von Optionen die richtigen Entscheidungen zu tref-fen. Dies hilft dabei, das eigene Produkt zielgerichteter zu entwickeln und die getroffenen Entscheidungen gegenüber Entscheidungsträgern objektiver begründen zu können. Im konkreten Fall standen eine spürbare Verbesserung der Agilität, des Anlenkens und der Zielgenauigkeit des neuen Fahrzeugs gegenüber dem Vorgänger bei gleichzeitiger Verbesserung der Gierstabilität und des Grenzbereichsverhaltens als Entwicklungsziele fest. Mit genannter Methode wurden in Sensitivitätsstudien gezielt die Auswirkungen verschiedenster Parameteränderungen wie Achslastverteilung, Schwerpunkthöhe, Elasto-kinematik und Feder-Dämpfer-Abstimmung aufgezeigt (Bild 1-20).

Bild 1-20: Monitoring ausgewählter fahrdynamischer Eigenschaften im Produktprozess.

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Durch den stetigen Abgleich des aktuellen Entwicklungsstandes mit den Entwicklungs-zielen und dem Monitoring der Wettbewerber konnten frühzeitig die richtigen konzeptio-nellen Entscheidungen getroffen werden.

1.1.3.3 Interdisziplinäre Prozessketten im Entwicklungsprozess

An ausgewählten Beispielen wird die interdisziplinäre Verknüpfung der Simulationsme-thoden im Produktprozess erläutert (Bild 1-21).

Bild 1-21: Interdisziplinäre Verknüpfung in der Simulation im Produktprozess.

Ausgangspunkt in der Konzeptphase ist ein MKS-Gesamtfahrzeugmodell, bestehend aus Teilmodellen der Reifen, des Antriebsstrangs, der Vorder- und Hinterachse inklusive der detaillierten Abbildung der Kinematik und der Elastokinematik (Fahrwerklager), der Lenkung, der Massen- und Massenträgheitseigenschaften des Aufbaus und ggf. geregel-ten Fahrwerkssystemen wie ESP (ABS) und Dämpferregelung. Solch ein Gesamtfahrzeugmodell ist Grundlage für die in Bild 1-21 gezeigte Ableitung der Zieleigenschaften hinsichtlich des Fahrverhaltens auf die Komponentenebene. Neben der Bewertung der Disziplin Fahrdynamik wird das Modell, angepasst an die jeweilige Fragestellung für unterschiedlichste Eigenschaftssimulationen verwendet, seien beispiel-haft erwähnt:

� Eigenfrequenzanalysen der Achsen

� Fahrkomfort (Stuckern, Kantenempfindlichkeiten, Verhalten auf guten und schlechten Straßen)

� Fahrstabilität und Rollover

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� Seitenairbagsensierung bei Rollover

� dynamische Bauraumuntersuchungen bei Straßenanregung

� Ermittlung der Schnittlasten

� Funktionsauslegung und Variantenabsicherung von Fahrwerkregelsystemen.

Im Folgenden wird der Prozess der Schnittlastermittlung angerissen. Maßgebliche Eingangsgröße einer ersten Dimensionierungsabschätzung von Fahrwerks-komponenten und Karosserie sind die beim Missbrauchslastfall der Schwellenüberfahrt und Schlaglochdurchfahrt auftretenden Kräfte (Bild 1-22).

Bild 1-22: Simulation der Schlaglochdurchfahrt zur Ermittlung der Schnittkräfte – Abgleich Simu-lation (rot) – Messung (blau).

Bild 1-23: Schnittlastermittlung am realen und virtuellen Achsprüfstand aus gemessenen Anregun-gen (links: realer Achsprüfstand, rechts: virtueller Achsprüfstand).

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Darüber hinaus hält sukzessive die Simulationsmethode der virtuellen Befahrung der Auslegungsstrecken zur Ermittlung der Schnittlasten Einzug in die Projekte. Die ausle-gungsrelevanten Prüfstrecken liegen bei dieser Simulation als virtuelle Straße vor und auf Basis der so ermittelten Schnittlasten werden die für die Bauteile schädigungsrelevanten Lastkollektive ermittelt. Aufgrund der sehr hohen Genauigkeitsanforderung an die derart ermittelten Schnittlasten zur Ableitung der Lastkollektive für die Betriebfestigkeitsauslegung konnte diese Simula-tionsmethode bisher nicht die aufwändigen Messungen ersetzen. Die Schwachstelle bil-dete hierbei das Reifenmodell und dessen Bedatung. Daher dienen heute immer noch gemessene Anregungskräfte und -momente am Rad als Eingangssignal für den virtuellen und realen Achsprüfstand (Bild 1-23). Die Anregungs-daten aus der Messung werden konsequent sowohl für den Versuch als auch die numeri-sche Simulation verwendet. Ergebnis dieser Untersuchungen sind die für die jeweiligen Achsbauteile relevanten Lastkollektive zur betriebsfesten Auslegung. In der Frühphase der Entwicklung dienen die ermittelten Schnittlasten einer ersten Lebensdauerprognose im Rahmen der rein vir-tuellen Vordimensionierung. In der späteren Entwicklungsphase können parallel zum Versuch Varianten (Abstimmteile Feder/Dämpfer, Stabilisator) bzw. Bauteilmodifikatio-nen (Bauteilgewichte/Steifigkeiten) hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Belastungs-situation gezielt bewertet werden. Auf der Bauteilebene wird auf Basis der so ermittelten bauteilbezogenen Lastkollektive die Betriebsfestigkeitssimulation durchgeführt und be-einflusst damit unmittelbar die Bauteilkonstruktion. Die enge Verknüpfung zwischen den Prozessen in der virtuellen Welt und der Hardware wird auch auf der Komponentenebene sichtbar. Das Reifenmodell ist – wie oben erwähnt – nach wie vor eine wesentliche Schwachstelle im Prozess der Schnittlastenermittlung. Bei der Bedatung von Reifenmodellen werden reale Reifen in einer umfangreichen Prüfpro-zedur auf einem Rollenprüfstand vermessen. Die physikalischen Reifeneigenschaften in einem Modell ohne vorherige Hardwaremessung zu erfassen, ist auch auf absehbare Zeit nicht möglich. Damit hängt die Güte vieler mit dem Reifenmodell gemachten Simulati-onsaussagen nach wie vor von der Verfügbarkeit des physischen Reifens ab – ein ent-scheidender Nachteil in Fahrzeugprojekten mit neuen Reifendimensionen.

1.1.3.4 Neue Herausforderungen in der Simulation durch Regelsysteme

Bild 1-24 gibt einen Auszug der Regelfunktionen im Fahrwerk, die bereits in den heuti-gen Produkten Einzug gehalten haben bzw. kurz vor Serienstart stehen. Viele davon sind adaptiv, dass heißt Kennlinien und Einstellungen verändern sich mit den Fahrzuständen. Die daraus entstehende riesige Vielfalt von Einstellungsmöglichkei-ten und deren Rückwirkungen auf das Fahr- und Funktionsverhalten ist ohne Simulati-onsunterstützung praktisch nicht mehr beherrschbar.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 21

Bild 1-24: Geregelte Fahrwerkssysteme und -funktionen.

1.1.3.4.1 Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen

Systeme zur Verbesserung der Fahrsicherheit stellen ein wesentliches Entscheidungskri-terium beim Neuwagenkauf dar und werden zu einem immer wichtigeren Umsatz- und Ertragsträger für den Automobilsektor. Während im klassischen Bereich der passiven Fahrsicherheit nur noch kleine Fortschritte mit verhältnismäßig hohem Aufwand erzielt werden können, lassen sich mit Systemen zur aktiven Sicherheit noch deutlich mehr Po-tentiale ausschöpfen. Ein aktuelles Forschungs- und Entwicklungsthema stellen autonom intervenierende As-sistenzsysteme dar, welche die Unfallfolgen mindern (Collision Mitigation) oder Unfälle vermeiden (Collision Avoidance) sollen. Da derartige Systeme teilweise auch ohne expli-zite Handlung des Fahrers in die Fahrdynamik eines Fahrzeugs eingreifen, sind die An-forderungen an die Funktionssicherheit und Zuverlässigkeit der Einzelsysteme sowie deren Interaktion mit bereits bestehenden Fahrzeugsystemen besonders hoch. Mit der gestiegenen Komplexität dieser Systeme ändert sich auch die Anforderung an die bis zur Entwicklung der Serienreife benötigten Test- und Simulationswerkzeuge. Aktuel-le und künftige Assistenzsysteme können mit etablierten Methoden oft nur eingeschränkt oder gar nicht erprobt werden. Der derzeit vertretbare Auslösezeitpunkt einer automati-schen Notbremsung liegt beispielsweise in einem sehr kurzen Zeitfenster unmittelbar vor einer Kollision (Bild 1-25). Deshalb erweist sich der reproduzierbare und vor allem si-chere Test für den Versuchsfahrer derartiger Sicherheitssysteme bisher als sehr schwie-rig.

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Bild 1-25: Entwicklungstrend ACC – Audi Braking Guard – Automatische Notbremse.

Fahrerassistenzsysteme, die in kritischen Verkehrssituationen unterstützen, erfordern eine Erprobung und Absicherung unter nahezu realen Verkehrsbedingungen. Der derzeitige Stand der Technik sind Fahrsimulatoren, Verkehrsflusssimulationen und Erprobungsfahr-zeuge, die mit Ersatzobjekten wie zum Beispiel Schaumstoffwürfeln kollidieren. Die derzeit verfügbaren Testwerkzeuge (siehe Bild 1-26) erfüllen die Anforderungen nach einer realistischen, reproduzierbaren, sicheren und zugleich Ressourcen schonenden Test-umgebung allerdings nur eingeschränkt.

1.1.3.4.2 Vehicle in the Loop (VIL)

Anhand der bekannten Testmethoden zur Absicherung von Collision Mitigation und Avoidance Systemen wird die Notwendigkeit einer alternativen Testmöglichkeit sichtbar. Diese muss analog zu Fahrsimulatoren eine sichere, reproduzierbare und Ressourcen schonende Testumgebung darstellen. Selbst komplexe Bewegungssysteme können aller-dings die reale Fahrzeugdynamik nur begrenzt abbilden. Der Ansatz des Vehicle in the Loop Prüfaufbaus liegt daher in der Kopplung des Testfahrzeugs mit einer virtuellen Verkehrsumgebung, um die Vorteile beider Verfahren zu vereinigen.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 23

Bild 1-26: Vehicle in the Loop – Kopplung von Simulator und Realfahrzeug.

Der Vehicle in the Loop Prüfaufbau ermöglicht eine Funktionserprobung von Fahreras-sistenzsystemen direkt in einem Fahrzeug, welches sich allerdings nicht im realen Ver-kehr bewegt, sondern auf Freiflächen oder abgesperrten Straßen, wie zum Beispiel auf einem Prüfgelände. Besondere Vorteile ergeben sich bei der Absicherung von Assistenz-systemen, wie etwa einer Notbremsfunktionalität, da auch fehlende Auslösungen des Systems auf Grund eines virtuell vorausfahrenden Fahrzeugs, sicher und reproduzierbar untersucht werden können. Verkehrssimulation und Visualisierung In Bild 1-27 ist der Systemaufbau des Vehicle in the Loop Prüfaufbaus gezeigt. Die Verkehrssimulation ist so konzipiert, dass mit Hilfe unterschiedlicher Trigger, repro-duzierbare Spurwechsel-, Brems- und Beschleunigungsmanöver des simulierten Fremd-verkehrs hervorgerufen werden können. Die Auslösetrigger für diese Manöver können entweder relativ zu anderen Verkehrsteilnehmern (somit auch zum eigenen Versuchs-fahrzeug) oder durch Überfahren einer absoluten Ortposition ausgelöst werden. Der Fremdverkehr kann sich auch autonom fortbewegen, wobei hier die Längs- und Querdy-namik eines Normalfahrers nachempfunden wird.

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24 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-27: Systemarchitektur VIL.

Positionierung des Versuchsträgers in der Verkehrssimulation Zur Darstellung des richtigen Streckenausschnittes in der Verkehrssimulation muss die Position des Versuchsfahrzeuges auf der Prüfstrecke genau bestimmt werden. Dies er-folgt mit Hilfe einer Inertialsensorplattform mit DGPS-Anbindung. Falls die Anzahl der sichtbaren Satelliten oder das Funksignal zum Versuchsfahrzeug für die DGPS-Korrekturdaten abreißt, wird die Position des Versuchsfahrzeugs durch die Inertialsen-sorplattform weitergeführt. Alle Signale zur Fahrzeugposition und den Fahrzuständen werden auf einen eigenen CAN Bus geschrieben und stehen somit der Simulation zur Verfügung. Einbindung des Fahrers mit Hilfe von Augmented Reality Der Fahrer kann nicht gleichzeitig das ganze Fahrzeugumfeld wahrnehmen, so wie es in der Simulation vorhanden ist, sondern ist auf sein persönliches Sichtfeld beschränkt. Dementsprechend muss sich die Visualisierung auf dieses natürliche Sichtfeld beschrän-ken. Das Sichtfeld ändert sich laufend mit der Kopfposition des Fahrers. Nur der jeweils der Kopfposition des Fahrers entsprechende Ausschnitt aus der Verkehrssimulation darf im HMD (Head Mounted Display, siehe auch Bild 1-28) gezeigt werden. Die Qualität des Vehicle in the Loop Prüfaufbaus hängt entscheidend von der exakten Übereinstimmung dieses realen Sichtfeldes mit dem eingeblendeten, simulierten Verkehr ab.

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 25

Bild 1-28: HMD und Headtracker im Vehicle in the Loop.

Die Simulation errechnet aus den eingehenden Daten für die Kopf- und Fahrzeugposition bzw. -lage (aus Headtracker und Inertialsensorblock) eine Visualisierung der Verkehrs-szene aus der Fahrerperspektive. Damit der Fahrer des Versuchsfahrzeugs die visualisier-te Verkehrsszene räumlich interpretieren kann, wurde die Bildebene/-abstand (Virtual Image Distance) des HMDs auf 10m festgelegt, da ab diesem Abstand überwiegend die monokularen Tiefenhinweise dominieren. Durch diese Tiefenhinweise können auch grö-ßere Distanzen zum Fremdverkehr glaubwürdig vermittelt werden. In Bild 1-29 ist eine Augmented Reality Darstellung zu sehen, in der das Versuchsfahr-zeug des Vehicle in the Loop Prüfaufbaus einem virtuellen Fahrzeug folgt. Neben dem virtuellen Fremdverkehr sind zusätzlich virtuelle Fahrspuren zu sehen, die den Fahrbahn-verlauf vorgeben sollen.

Bild 1-29: Augmented Reality Darstellung des Vehicle in the Loop Prüfaufbaus.

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26 1 Gesamtfahrzeug

Radar- und Videosensormodell Der Vehicle in the Loop Prüfaufbau wird für die Entwicklung von Fahrerassistenzsyste-men eingesetzt, welche auf Umfeldsensorik aufbauen. Naturgemäß können reale Umfeld-sensoren keine Objekte eines virtuellen Verkehrsumfeldes erfassen. Daher werden ent-sprechende Sensormodelle zur Abbildung der Sensorfunktionalität erforderlich. In einem ersten Schritt wurde hierzu ein Radar- und Videosensormodell entwickelt. Dazu wird das Verhalten der realen Sensorik unter Nachbildung der physikalischen Zusammenhänge in einem Softwaremodell abgebildet. Die Kommunikation erfolgt nach einem definierten Protokoll, in welchem unter anderem Positions- und Zustandsdaten des simulierten Fremdverkehrs vom Simulationsrechner übertragen werden. Da das Sensormodell auf Basis idealer Fremdverkehrpositionsdaten aus der Verkehrssimulation arbeitet, mussten zusätzlich die typischen Störgrößen und Messunsicherheiten realer Sensoren statistisch ausgewertet und entsprechend in das Sensormodell eingebunden werden. Insbesondere wurde der Erfassungsbereich, die x/y-Abweichung und das Trennfähigkeitsvermögen für unterschiedliche Verkehrsteilnehmer (Pkw, Lkw, Motorrad) erfasst und durch mathema-tische Fehlergleichungen modelliert. Validierung des Vehicle in the Loop (VIL) Mit Hilfe einer Studie mit 36 Probanden wurde überprüft, inwieweit der VIL-Prüfaufbau als Tool für Entwicklungsingenieure dienen kann. Eine entscheidende Rolle spielt dabei, neben technischen Messdaten, die subjektive Wahrnehmung des Fremdverkehrs durch den Fahrer. Hieraus leitet sich direkt die Anforderung an den VIL-Prüfaufbau ab, dass der Fahrer den Verkehr möglichst realistisch wahrnehmen muss. Somit stand im Fokus der Studie, ob das Fahrverhalten der Probanden bei den Versuchen mit virtuellem Vor-derfahrzeug dem Verhalten bei realem Vorderfahrzeug gleicht. Die Überprüfung dieser Anforderung erfolgte auf der Basis zweier Datenquellen. Zum einen konnte ein Fragebogen Aufschluss über die subjektive Wahrnehmung des simulier-ten Verkehrs und das Zusammenspiel der Simulation mit den kinematischen Fahreigen-schaften geben. Zum anderen ließen sich bei definierten Fahrmanövern Erkenntnisse aus dem Vergleich der Fahrerreaktionen auf simulierten und realen Verkehr gewinnen. Hier-zu wurden objektive Daten der beiden Fahrten (realer / simulierter Verkehr) aufgezeich-net und miteinander verglichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der VIL-Prüfaufbau als zukünftiges Entwick-lungstool geeignet ist. Die Simulation des Fremdverkehrs durch den VIL und de-mentsprechend auch das Fahrgefühl bei den virtuellen Versuchen ist sehr realitätsnah. Die Versuchspersonen zeigten bei den Fahrten mit virtuellem Vorderfahrzeug vergleich-bares Fahrverhalten wie im realen Versuch. Sie könnten sich vorstellen, mit dem VIL als Entwicklungswerkzeug zu arbeiten und sind von der Möglichkeit, kritische Fahrmanöver realitätsnah darstellen zu können, überzeugt. Eine kurze Trainingsphase von ca. 15 Minuten war ausreichend, um mit dem System Vehicle in the Loop vertraut zu werden. Bei häufiger Benutzung dieses Systems gewöhnt sich der Benutzer schnell an die verbaute Messtechnik und an das Tragen des Head

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1.1 Einsatz virtueller Techniken in der Produktentwicklung 27

Mounted Displays. Das aus herkömmlichen Fahrsimulatoren bekannte Problem der Si-mulatorkrankheit, auch Motion Sickness genannt, wird durch das Vehicle in the Loop System vermieden.

1.1.4 Zusammenfassung und Ausblick

1.1.4.1 Geänderter Produktprozess

Um den geänderten Anforderungen gerecht zu werden, wurde der Produktprozess durch Integration verschiedener virtuellen Techniken mit zusätzlichen Meilensteinen im Pro-duktentstehungsprozess angepasst. Dadurch werden in der frühen Entwicklungsphase die wichtigsten konzeptionellen Kriterien abgesichert. Bei AUDI werden derzeit mehrere 100 Kriterien durch Simulationen abgesichert. Auf dieser Basis werden Richtungsentschei-dungen getroffen und der Aufbau der Fahrzeug-Prototypen und Technikträger gesteuert. Kriterium hierfür ist die durch die Simulationen festgestellte Erprobungswürdigkeit der Fahrzeuge, dass heißt einer definierten Fahrzeugqualität zur „Erfahrung“ der Zieleigen-schaften. Das dadurch stetig durchgeführte Monitoring des Entwicklungsreifegrades verringert zudem das Risiko „unliebsamer“ Überraschungen und erhöht die Planungssicherheit für die in der Prozesskette nachgeschalteten Beteiligten (Beschaffung, Produktion, Logistik, Qualitätssicherung, Vertrieb und Kundendienst). Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die virtuelle Entwicklung nicht die Hardware ersetzt, sondern komplementär und unterstützend zu dieser eingesetzt wird. Die sinnvolle Ergänzung von virtuellen und physischen Modellen und Methoden, integ-riert im Produktprozess, ist demnach die Herausforderung an die Eigenschaftsentwick-lung im heutigen Gesamtfahrzeug. „Das Beste aus zwei Welten“ ist damit ein wesentlicher Erfolgsfaktor für einen effizien-ten, transparenten und qualitativ guten Produktprozess (Bild 1-30). Die dramatisch ansteigende Fahrzeugkomplexität, insbesondere getrieben durch den Ein-zug der Regelsysteme ins Fahrzeug, bei steigender Variantenvielfalt und größtmöglicher Individualisierung und gleichzeitiger Reduzierung der Entwicklungszeiten und -kosten sind ohne Simulationsunterstützung nicht mehr beherrschbar. Die Verfügbarkeit und Qualität von Simulationsmethoden und deren Prozessintegration wird damit zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor.

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28 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-30: Verknüpfung von virtueller und physischer Erprobung als Erfolgsfaktor.

1.1.4.2 Grenzen der virtuellen Entwicklung

Die Verwendung von virtuellen Methoden ist aber nicht in jedem Einsatzfeld sinnvoll. Oftmals führt die konventionelle Entwicklung schneller und Ressourcenschonender zum Ziel. Einige, aktuelle Grenzen werden im Folgenden aufgelistet:

� Unzureichende Simulationsmethoden (unzureichend validiert oder numerisch instabil): das darzustellende Phänomen ist modelltechnisch nicht beschreibbar und damit virtuell nicht abbildbar.

� Unterbrochene Prozessketten: einzelne Simulationsmethoden, meist zu unterschiedli-chen Zeitpunkten im Produktentstehungsprozess verankert, decken die Fragestellung nicht oder nur ungenügend ab. Daten, die als Ergebnis einer Simulation als Eingang-größe für eine darauffolgende Methode verwendet werden sollte liegen nicht vor, da die gesamte Prozesskette nicht geschlossen ist.

� Unbekannte Phänomene: sind technische Zusammenhänge physikalisch in Ihrer Wir-kungskette nicht klar, können entsprechende Modelle nicht erzeugt und validiert wer-den.

� Nicht wettbewerbsfähiger Simulationsaufwand: ist der Aufwand für Modellierung, Bedatung, Simulation und Bewertung im direkten Vergleich zum Versuchsaufwand zu hoch, greift man zu konventionellen Methoden (zum Beispiel Fahrwerklager müssen im Fahrzeug nur verbaut werden, um sie zu erproben. Für die Simulation müssen diese Lager zunächst aufwändig vermessen werden und anschließend für ein Simulationsmo-dell identifiziert und validiert werden).

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 29

� Unzureichende Datenqualität / Datenverfügbarkeit im Produktprozess: Die Datenquali-tät wächst kontinuierlich im Produktentstehungsprozess durch den direkten Abgleich mit Hardwareversuchen. Liegen in der frühen Entwicklungsphase nur unzureichend, hoch qualitative Daten vor, schmilzt der virtuelle Entwicklungsvorteil gegenüber der Hardware.

In diesen Fällen stellt der Versuch mit konventionellen Entwicklungsmethoden nach wie vor die zuverlässige und schnelle Alternative dar.

1.1.4.3 Ausblick

Der Einsatz der virtuellen Entwicklungstechniken stellt heute einen wesentlichen Erfolgs-faktor in der Produktentwicklung dar. Dadurch können frühzeitig Fahrzeugeigenschaften ermittelt werden, die noch vor dem Aufbau der ersten Prototypen zu einem höheren Rei-fegrad der Fahrzeuge führt. Neben der Reduktion der Entwicklungszeit und -schleifen werden virtuelle Entwick-lungsmethoden als Absicherungswerkzeuge für die immer weiter steigende Komplexität und Variantenvielfalt intensiv genutzt. Die virtuelle Entwicklung wird die konventionelle Entwicklung nie vollständig verdrän-gen. Vielmehr gilt es, eine technisch sinnvolle und unternehmerisch wirtschaftliche Er-gänzung beider Methoden zu suchen, das „Beste aus zwei Welten“.

1.2 Auslegungstools und Expertenwissen

1.2.1 Einleitung

Die aktuellen markt- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit (Bild 1-31) führen auch im Automobilbau zu einer deutlichen Verstärkung der sich seit einigen Jahren ohnehin bereits abzeichnenden Anforderungen:

� zunehmender Zeit- und Kostendruck durch stetig kürzer werdende Entwicklungszyklen bzw. sinkender Time to Market

� verstärkter Zwang zu innovativen Lösungen bei Produkten und zugehörigen Produkt-entstehungsprozessen mit dem Ziel einer drastischen Einsparung von Material- und Energieressourcen incl. der nachhaltigen Senkung von Schadstoffen

� Beherrschung einer stetig steigenden Produktvielfalt und Produktkomplexität ein-schließlich ihrer zugehörigen Produktentstehungsprozesse, insbesondere hervorgerufen durch Integration der bisher mechanisch dominierten Automobilentwicklung mit Elekt-rik-, Elektronik- und Softwarekomponenten.

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30 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-31: Produktentwicklung im Wandel.

In Folge des wachsenden Anforderungsdruckes sind neuartige Lösungsansätze zur Ge-staltung innovativer Produkte und Produktentstehungsprozesse unumgänglich. Beispiele dafür sind

� die umfassende Anwendung der Methoden des virtuellen Engineerings (Bild 1-32) ver-bunden mit einer verstärkten Orientierung auf integrative Methoden bzw. Handlungs-weisen

� der Einsatz von Wissen als Wettbewerbsvorteil und strategische Ressource [11].

Die schnellstmögliche Umsetzung der genannten Lösungsansätze in die entsprechenden Entwicklungsprozesse ist von essentieller Bedeutung für jedes Unternehmen. Ausdruck dieser Umsetzungsbemühungen ist der Begriff „Integrierter Entwicklungsprozess“. Der „Integrierte Entwicklungsprozess“ wird nach [1] in erster Linie als Zielorientierung bzw. Referenzprozess für den umfassenden Einsatz des virtuellen Engineering und integ-rativer Methoden im gesamten Entwicklungsablauf eines Unternehmens angesehen. An den Beispielen „virtuelle Auslegung von Bauteilen“ und „verstärkte Nutzung von vorhandenem Expertenwissen“ werden Erfahrungen mit praktischen Lösungen bei der schrittweisen Umsetzung des „Integrierten Entwicklungsablaufes“ in der Mechanikent-wicklung von Aggregaten aufgezeigt.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 31

Bild 1-32: Einsatzfelder Virtuelles Engineering.

1.2.2 Der „Integrierte Entwicklungsablauf“

Versteht man unter virtuellem Engineering im umfassenderen Sinne die Anwendung virtueller Technologien zur computergestützten Ingenieursarbeit in der Produktentste-hung (Bild 1-32), dann ist letztlich ein Ziel des „Integrierten Entwicklungsablaufes“ den Übergang zur „Virtuellen Produktentwicklung (ViP)“ durch die ganzheitliche Beherr-schung/Anwendung des Virtuellen Engineering im Entwicklungsprozess anzustreben [2]. Ein weiteres Ziel ist die Förderung integrativer Methoden bzw. Handlungsweisen. Grundsätzlich kann sich dabei die Integration vorwiegend auf eine Entwicklungsphase konzentrieren (z. B. Zusammenarbeit der Entwicklungsbereiche innerhalb der Bauteil-entwicklung) oder sich aber in der ganzheitlichen Betrachtung über alle Phasen der Pro-duktentstehung widerspiegeln. In jedem Fall spielt dabei die Intensivierung der Zusam-menarbeit zwischen den Mitarbeitern der verschiedenen Entwicklungsgewerke inkl. der verstärkten Nutzung von Erfahrung und Expertenwissen der Mitarbeiter eine Schlüssel-rolle, zu der es keine Alternative gibt. Über Inhalt und Nutzen des „Virtuellen Engineering“ bzw. der „Virtuellen Produkt-entwicklung“ wurde in der letzten Zeit viel diskutiert. Heute ist die Notwendigkeit der schnellstmöglichen Einführung virtueller Arbeitsweisen unumstritten. Es gibt selbstver-ständlich auch einen Grundkonsens darüber, dass virtuelle Produktentwicklung nicht bedeutet, alle Phasen einer Produktentwicklung bis zur Vorserie ausschließlich virtuell bearbeiten zu wollen, um damit gar auf Hardware und reale Versuche verzichten zu kön-nen.

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Hinsichtlich der Charakteristika virtueller Entwicklung besteht aber auch Konsens zu bestimmten unabdingbaren Voraussetzungen, die es aus heutiger Sicht gerechtfertigt erscheinen lassen, von virtueller Produktentwicklung zu sprechen. Hierzu gehören z. B. die durchgängige Anwendung der digitalen 3D-CAD-Geometrie als verbindliche Pro-duktdaten, der durchgehende Einsatz von CAx-Arbeitsweisen sowie die Anwendung von Produktdaten-Management- (PDM) und Collaboration-Technologien. Deutlich wird hierbei, dass bei dieser Betrachtung der Inhalt bzw. die Messlatte, wann von einer „Virtuellen Produktentwicklung“ gesprochen werden darf, subjektiven Charak-ter hat und dem Zeitbegriff unterliegt. Versucht man auf der Basis der Fachliteratur und eigener Erfahrungen der letzten 2 bis 3 Jahre die öffentliche Wahrnehmung ausgewählter Schlüsseltechnologien für die Virtuali-sierung des Produktentstehungsprozesses zu bewerten, dann ergibt sich Bild 1-33. Dar-gestellt ist in dieser Abbildung ein so genannter Hype-Cyklus nach der Gartner Group [5]. Er zeigt den typischen Verlauf der öffentlichen Aufmerksamkeit über dem Einfüh-rungszeitraum für neuartige Technologien bzw. technischer Entwicklungen. Nach Unter-suchungen aus [5] gibt es nämlich bei vielen neuartigen Technologien bzw. Produkten solche Einführungsphasen wie den „Gipfel überzogener Erwartungen“, das „Tal der Ent-täuschung“ und schließlich das „Plateau der Produktivität“. Nach eigenen Erfahrungen spiegelt diese Betrachtungsweise sehr gut die Höhen und Tiefen des Einführungsprozes-ses virtueller Technologien in der Produktentstehung wieder. Daher wurden stellvertre-tend die „Virtuelle Produktentwicklung (ViP)“, die „PDM“ -Technologie und die „Digita-le Fabrik“ auf diese Art bewertet und in den Hype-Cyklus der Gartner Group eingetragen. Bezüglich des Nutzens der virtuellen Entwicklung ist die anfängliche Hoffnung auf dras-tische Reduzierung von Entwicklungszeiten und Aufwendungen verflogen. Heute wird bzgl. der Verkürzung von Entwicklungszeiten von ca. 10...15 % gesprochen und vor allem die Beherrschung steigender Produktkomplexität sowie damit verbunden die Verbesserung der Prozessstabilität bzw. Sicherung der Produktqualität als Hauptvor-teil virtueller Entwicklung angesehen. Dieser Nutzen wird aber nur dann eintreten, wenn es gelingt, die Anwendung virtueller Technologien durchgängig über dem Entwicklungsprozess abzusichern und mit entspre-chenden Arbeitsprinzipien sowie angepassten Geschäftsprozessen und Organisationsab-läufen zu koppeln. Darauf hinzuwirken ist ein vorrangiges Ziel des „Integrierten Entwick-lungsprozesses“ (Bild 1-34). Wie eingangs bereits erwähnt, ist er als Referenzprozess zu verstehen, der auf der Basis der firmenspezifischen Geschäftsprozesse in ein hierarchisch aufgebautes System von Methoden und Tools zur Projektsteuerung und Prozessoptimie-rung zu überführen ist.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 33

Bild 1-33: ViP in der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Bild 1-34: Integrierter Entwicklungsablauf.

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34 1 Gesamtfahrzeug

Als charakteristische Eigenschaften dieses „Integrierten Entwicklungsablaufes“ werden nach [1] die angewendeten Arbeitsprinzipien und virtuellen Technologien, die verwende-ten Datenmodelle und Technologien zur Generierung von Hardware ausgewiesen. Da Arbeitsprinzipien bzw. Arbeitsweisen sehr eng mit Technologien verknüpft sind, ist eine Trennung nicht immer eindeutig. Typische Beispiele für Arbeitsprinzipien sind neben dem schon lange bewährten Simultaneous Engineering, die simulationsgestützte Ent-wicklung, das Prinzip des Frontloading (z. B. der fertigungsspezifischen Anforderungen) und die verstärkte Integration von Mechanik- und Elektronikentwicklung. Das Spektrum des Einsatzes virtueller Technologien beginnt mit den fest etablierten Multimedia-Technologien, umfasst die Anwendung des breiten Spektrums von CAx-Arbeitsweisen, PDM- und Collaboration-orientierten Tools, den Einsatz der Telekoope-ration (E-Mail, Intranet, Internet, Videoconferencing, ...) und Electronic Engineering Plattformen bis hin zu Anwendungen der Virtual Reality Technologie. Bei den Datenmodellen geht es vor allem um die Durchgängigkeit des Datenflusses pro-duktbezogener 3D-Daten in den verschiedenen Phasen des Entwicklungsprozesses. Dies beinhaltet die Sicherung der Datenqualität und die Verwendung konsistenter Produktmo-delle. Letztere umfassen die Entwurfs- und Konzeptmodelle, gehen über verschiedenste 3D-Partialmodelle, über das Digital Mock-Up (DMU) zu virtuellen Prototypen bzw. bis zu integrierten Produkt- und Prozessmodellen. Durchgängiger Datenfluss beinhaltet aber auch die Sicherstellung einer leistungsfähigen Datenverwaltung, z. B. durch die Anwen-dung PDM-orientierter Tools. Wachsende Bedeutung für den integrierten Entwicklungsprozess bekommen leistungsfä-hige Technologien zur Generierung seriennaher Hardware auf der Basis virtueller Pro-duktbeschreibungen. Das beginnt bei den so genannten Rapid Prototyping-Technologien (3D-Printing, Stereolithographie, Selectives Lasersintern, ...) und geht über das Prototy-ping von technischen Prototypen sowie Werkzeugen mit generativen oder auch konven-tionellen Technologien bis hin zur Herstellung von Serienteilen. In der zeitlichen Darstellung des „Integrierten Entwicklungsablaufes“ finden heute die so genannten „virtuellen Baustufen“ verstärkte Anwendung. Ihnen nachgelagert sind übli-cherweise noch 2...3 vorwiegend hardwareorientierte Baustufen. Das Ziel in absehbarer Zeit eine Reduzierung auf 1...2 Hardwarebaustufen zu erreichen, darf bei der heute be-reits erreichten Güte von Berechnungsmodellen und der damit verbundenen Qualität der Berechnungsergebnisse als realistisch angesehen werden. Eine einheitliche Terminologie der Bezeichnung von Baustufen und der zugehörigen Freigabeszenarien ist leider nicht anzutreffen und wird wegen firmenspezifischer Beson-derheiten auch zukünftig nicht gleich zu erwarten sein. Die angestrebten Entwicklungs-zeiten für eine Serienentwicklung bis SOP (Start of Production) bewegen sich üblicher-weise zwischen 32 und 36 Monaten.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 35

Aus der dargestellten Vielfalt der Facetten eines „Integrierten Entwicklungsablaufes“ muss nun jedes Unternehmen, abhängig von seinen firmenspezifischen Gegebenheiten, die eigenen Strategien zur Umsetzung dieses Prozesses selbst finden. Von wenigen Un-ternehmen abgesehen, dürften aber die meisten Firmen wohl nicht die Kraft haben sich mit allen Aspekten des „Integrierten Entwicklungsablaufes“ gleichzeitig auseinander zu setzen. Gefragt sind also Schwerpunkte, d. h. Lösungsstrategien, die unter den Bedingun-gen des heutigen Hard- und Software-Entwicklungsstandes das Machbare realisieren. Zwei solcher vielversprechender Lösungsansätze zur Umsetzung des „Integrierten Ent-wicklungsablaufes“ sind die:

� Durchsetzung der „virtuellen Auslegung“ als Teil der simulationsgestützten Bauteilent-wicklung in den frühen Entwicklungsphasen

� Integration von Expertenwissen in den Konzept- und Auslegungsprozess.

1.2.3 Mit Auslegungstools zur simulationsgestützten Entwicklung in frühen Entwicklungsphasen

Von simulationsgestützter Entwicklung wird dann gesprochen, wenn die Entwicklungs-stufen eines Produktes direkt an die Ergebnisse aus Berechnung und Simulation gebun-den sind [2]. Im Einzelnen geht es dabei um solche Teilaufgaben wie die rechnergestützte Dimensionierung und Auslegung als Grundlage der Geometriefindung von Bauteilen, die Auswahl von Entwicklungsvarianten auf Basis rechnerischer Untersuchungen sowie die berechnungsseitige Optimierung und Absicherung der Produkteigenschaften. Bild 1-35 charakterisiert die heute übliche Arbeitsteilung bei der Anwendung von Be-rechnung und Simulation in der Bauteilentwicklung. Von besonderem Interesse ist gegenwärtig in den frühen Entwicklungsphasen die virtuel-le Dimensionierung und Auslegung. Begründet ist dies einerseits darin, dass bekanntlich [7] mit der Produktentwicklung über ca. 70 % der späteren Produktionskosten entschie-den wird und durch die Optimierung von Produktvarianten entscheidend die späteren Änderungskosten beeinflusst werden. Andererseits ist beim heutigen Entwicklungsstand der Hard- und Softwaresysteme vor allem aus Zeit- und Aufwandsgründen noch nicht jede Berechnung im Sinne einer simulationsgestützten Entwicklung durchsetzbar bzw. praktikabel. In der virtuellen Auslegung, bei der in den seltensten Fällen bereits eine detaillierte Geometriebeschreibung des Produktes vorliegt, werden in kurzen Zeiträumen und mit überschaubarem Berechnungsaufwand Aussagen zur Bauteildimensionierung getroffen. Damit wird Unterstützung bei der Geometriefindung geleistet sowie durch Untersuchung einer Vielzahl von Produktvarianten der optimale Bauteilentwurf bzw. das Konzeptmodell ausgewählt. Erreicht wird dies durch die Anwendung von Berechnungs-modellen mit eingeschränkter Komplexität bzw. Detailliertheit (z. B. eindimensional, kinematisch/kinetisch, lineare Dynamik, quasistatische Zustandsänderung ). Die damit erzielte Ergebnisqualität ist trotzdem für viele Anwendungen durchaus ausreichend.

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Bild 1-35: Simulationsgestützte Entwicklung.

In den späten Entwicklungs- bzw. Detailierungsphasen brauchen Berechnungsmodelle eine hohe Modellgüte. Hier steht die Vorhersage und Optimierung von Bauteileigen-schaften sowie die Absicherung bzw. Überprüfung des Entwicklungsstandes im Sinne einer virtuellen Freigabe bzw. eine Reifegradbewertung im Vordergrund. Vergleichswei-se hohe Kosten, relativ lange Bearbeitungszeiten, hohe Anforderungen an Qualität und Umfang erforderlicher Eingangsgrößen inkl. detaillierter 3D-Geometrien sowie die Exis-tenz ausreichend verifizierter Bewertungskriterien für die Bewertung der Ergebnisse sind mit diesen Berechnungen verbunden. Auf dem Markt gibt es bereits seit Jahren zahlreiche benutzerfreundliche Tools zur virtuel-len Auslegung, besonders auf dem Gebiet der Motormechanik [1]. Bild 1-36 zeigt einen Überblick über bevorzugte Aufgabenstellungen der virtuellen Auslegung in der Aggregate-entwicklung:

� Optimierung geometrischer Zusammenhänge z. B. Freigänge im Kurbeltrieb, Anord-nung von Ventilen und Volumenaufteilungen im Brennraumbereich

� Auslegung Motorkonzept ( Zündfolge, Zündabstände, Kurbelstern, ...)

� Kurbelwellenkonzept (Optimierung Massenausgleich / Lagerlast / Masse / Massenträg-heitsmoment, Ausgleichsvorschläge)

� Kinetostatische und dynamische Auslegung konventioneller und variabler Ventiltriebe

� Erstellung Layout und kinetostatische Auslegung von Steuertrieben

� Auslegung von Maschinenelementen (Gleitlager, Zahnräder)

� Berechnung der Torsionsschwingungen in unverzweigten- und verzweigten Wellensys-temen

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 37

Bild 1-36: Beispiele virtueller Auslegung.

� Auslegung elastischer Triebwerklagerungen

� Getriebeabstimmungen bzgl. Fahrleistung und Fahrkomfort.

Die Auslegungen selbst werden nicht nur von den Berechnungsspezialisten, sondern zunehmend von den Konstrukteuren selbst durchgeführt. Mit der wachsenden Leistungsfähigkeit von Hard- und Softwaresystemen steigt auch die Bedeutung der Anwendung komplexer Berechnungsmodelle bereits in der Auslegungs-phase. Zu ihrer Lösung werden MKS-Programmsysteme (Mehr-Körper-Simulation) so-wie vereinfachte FEM- (Finite Elemente Methoden) und CFD-Lösungen (Computational Fluid Dynamics) angewendet. Typische Aufgabenstellungen dafür sind:

� Dynamiksimulation Steuertrieb und dynamische Auslegung des Gesamttriebes (Kur-bel-, Ventil- und Steuertrieb)

� statische FEM-Festigkeitsberechnungen in hochbelasteten Bereichen geometrisch ein-facher Bauteile, z. B. in den Kurbelkröpfungen von Kurbelwellen und bei Verschrau-bungen

� Auslegung von Saug- und Auspuffanlagen, z. B. bzgl. der Festlegung von Steuerzeiten und der Abstimmung des Ladungswechsels

� Auslegung von Ein- und Auslasskanälen

� Dimensionierung von Kühl- und Schmiersystemen.

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Infolge der verstärkten Anstrengungen der CAD-System-Hersteller zur Integration von MKS-, FEM- und CFD-Funktionalitäten in ihre Konstruktionssysteme, wird der Trend zur virtuellen Auslegung in den frühen Entwicklungsphasen durch den Konstrukteur massiv unterstützt. Durch die Entwicklungsanforderungen der Fachabteilungen ausgelöst, haben sich bei der virtuellen Auslegung folgende vier Anwendungsszenarien etabliert bzw. wird bzgl. der Weiterentwicklung von Toolanwendungen nachfolgende Strategie verfolgt [1].

1. Zielgerichtete und verbindliche Anwendung einzelner Tools zur Berechnung vorgege-bener Parametervarianten. Diese Anwendungsform gehört in vielen Firmen zum verbind-lichen Entwicklungsschritt im Konzept- und Auslegungsprozess. Bild 1-37 zeigt das Beispiel der kinetostatischen Auslegung eines Rollenschlepphebeltriebes.

2. Automatische Variantenanalyse bzw. Optimierung von Zielfunktionen auf der Basis von Einzeltools. Beispiele hierfür sind die Optimierung der Kurbelwellengeometrie (Bild 1-38) und die multikriterielle Optimierung eines variablen Ventiltriebes. Auch diese Form der Einbindung von Auslegungsberechnungen unter Benutzung von mathemati-schen Optimierungsstrategien ist heute vielfach verbindlicher Bestandteil des Entwick-lungsablaufes.

3. Aufbau von Berechnungs-Prozessketten durch Kopplung von Einzeltools entsprechend vorgegebener workflows. In Bild 1-39 ist als Beispiel die Prozesskette „Ermittlung No-ckenwellenlagerkraft“ aus der Verkettung der Einzeltools „Ventiltrieb“, „Steuertrieb“ und „Motor“ dargestellt. Natürlich werden solche Arten von Berechnungsketten, wenn es die Aufgabenstellung erfordert bzw. ein Optimierungspotenzial enthält, mit der Anwendung von mathematischen Optimierungsstrategien verknüpft.

Bild 1-37: Kinetostatische Auslegung eines Rollenschlepphebeltriebes.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 39

Bild 1-38: Optimierung Kurbelwellengeometrie.

Bild 1-39: Prozesskette „Nockenwellenlagerkraft“.

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Bild 1-40: Wissensbasierter Optimierungsprozess.

4. Die Bauteilauslegung wird einerseits wissensbasiert und andererseits als ein komplexer Optimierungsprozess aus dem Zusammenwirken der Einzeltools angestrebt. Letzteres bedeutet, dass es nicht nur um die Optimierung von Parametern einer Teilaufgabe (z. B. eines Ventiltriebes) geht, sondern um die Berücksichtigung der gegenseitigen Beeinflus-sungen unterschiedlicher Teilprozesse. Im Beispiel von Bild 1-40 geht es dabei um die Kopplungen von Ventiltrieb und dem Ladungswechsel. Voraussetzungen für die erfolgreiche Verwirklichung der genannten Strategien sind zu-nächst leistungsfähige und benutzerfreundliche Einzeltools. Auf dem Markt werden heute von professionellen Softwarefirmen aber auch von renommierten Engineeringdienst-leistern selbst entsprechende Produkte angeboten. Erstere haben meist Vorteile bei der Leistungsfähigkeit der Benutzeroberflächen und der Bereitstellung durchgängiger Soft-waresysteme mit Schnittstellen zu benachbarten Berechnungslösungen. Bei letzteren überzeugt vor allem das stärkere Einbringen des eigenen Entwicklungs-Know-how. Die-ses führt meist dazu, nicht nur softwaretechnischen sondern auch technisch-fachlichen Support leisten zu können sowie die Berechnungslösung selbst auf sehr spezifische Ent-wicklungsfragen anzupassen, da diese Software nicht unter den Bedingungen, ein breites Anwendungsspektrum bedienen zu müssen, entwickelt wurde.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 41

Wie bereits weiter oben angedeutet, ist eine leistungsfähige virtuelle Bauteilauslegung in der Zukunft nicht allein durch ihre Auslegungstools charakterisiert, sondern durch:

� die Fähigkeit zur Kopplung der Tools zu Berechnungs-Prozessketten. Dies kann über Schnittstellen im Rahmen einer Toolplattform oder auch innerhalb eines modularen Softwaresystems erfolgen

� eine leistungsfähige Datenverwaltung entweder durch Anbindung an externe Daten-banktools oder durch eine im Programmsystem selbst implementierte eigenständige Datenbankapplikation

� die Realisierung einer simulationsbasierten Variantenrechnung bzw. Parameteroptimie-rung. Letztere beinhaltet neben der Bereitstellung von Optimierungsroutinen zur Para-meteroptimierung auch die Implementierung automatisiert ablaufender Optimierungs-abläufe

� die Anbindung an CAD-Mastermodelle zur direkten Übergabe von Auslegungsparame-tern an die Geometriemodellierung

� die Fähigkeit zur Nutzung von Expertenwissen, z. B. durch bidirektionale Kopplungen an Wissensdatenbanken oder Expertensysteme

� den Zugriff auf verbindliche Auslegungsprozeduren inkl. zugehöriger Freigabeszena-rien.

Bild 1-41 zeigt die „virtuelle Auslegung“ als Teil bzw. Basis der virtuellen Baustufen innerhalb des integrierten Entwicklungsprozesses [3]. Insbesondere bei der „Freigabe virtuelle Auslegung“ gibt es hierbei in den wenigsten Firmen bereits ausreichend verifi-zierte und damit verbindliche, dokumentierte Unterlagen.

Bild 1-41: „Virtuelle Auslegung“ – Basis virtueller Baustufen.

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42 1 Gesamtfahrzeug

Die Gründe dafür liegen vor allem in Folgendem: Einerseits lassen sich Auslegungstools zeit- und kostengünstig anwenden, so dass die damit erzielten Ergebnisse im Sinne einer simulationsgestützten Entwicklung im Entwicklungsprozess berücksichtigt werden kön-nen. Andererseits sind die Berechnungsergebnisse auf Grund der begrenzten Modellgüte nur von beschränkter Aussagekraft über die Zusammenhänge zwischen den Auslegungspa-rametern und dem tatsächlichen Bauteilverhalten. Daher spielt bei der Bewertung der Berechnungsergebnisse im Sinne einer Freigabe das Experten-Know-how eine besonders große Rolle. Gemeint ist damit vor allem das meist implizite (unbewusste) Wissen der Fachleute, aber auch der Zugriff auf explizites Expertenwissen wie systematisch aufbe-reitete interne und externe Referenzlösungen. Fortschritte bei der Durchsetzung einer verbindlichen „Freigabe virtuelle Auslegung“ sind daher nur dann zu erwarten, wenn es gelingt, die Wissensbasis über die Wechselwirkung von Auslegungsparametern und Bau-teilverhalten zu erweitern. Neben einer konsequenten Verifizierung der Berechnungser-gebnisse ist dafür die systematische Erweiterung der Wissensbasis an internem und ex-ternem Experten- bzw. Erfahrungswissen der wichtigste Beitrag. Eine leistungsfähige Wissensbasis ist auch Voraussetzung dafür, dass die virtuelle Auslegung nicht nur bei Neuentwicklungen von Bedeutung sein soll, sondern auch bei den in der Praxis häufiger vorkommenden Derivat-Entwicklungen. In diesen Fällen kann z. B. über systematisch erfasste Referenzlösungen eine schnelle „vergleichende“ Auslegung inkl. der effizienten Bewertung des Entwicklungsstandes im Sinne einer Freigabe erfolgen.

1.2.4 Verstärkte Nutzung von Wissen im Engineeringprozess

1.2.4.1 Wissen – auf dem Weg zur Ressource

Wie bereits eingangs erwähnt, gehört die verstärkte Nutzung von Wissen für jedes Unter-nehmen zu einem entscheidenden Lösungsansatz bei der Beherrschung zukünftiger An-forderungen an die Produktentstehung. Ziel muss es dabei sein, Wissen als betriebliche Ressource bzw. als wertschöpfenden Produktionsfaktor einzusetzen. In der Literatur be-steht sogar allgemeine Übereinstimmung darin, dass die Produktivität der „Ressource Wissen“ in zunehmenden Maße der bestimmende Faktor für die Wettbewerbsposition eines Unternehmens ist [6], [11]. Allein die digitale Durchdringung des Produktentstehungsprozesses ist mit einem rasan-ten Anstieg von Daten- bzw. Informationsmengen verbunden. Eine effiziente Aufberei-tung dieser Informationsflut inkl. daraus folgender Generierung neuen Wissens ist in den immer kürzer werdenden Entwicklungszeiträumen mit herkömmlichen Methoden nicht mehr machbar. Andererseits ist auch die Durchführung vieler virtueller Entwicklungsar-beiten ohne effizientere Nutzung bereits vorhandenen Wissens nicht finanzierbar. Schon die verstärkte Anwendung der Berechnung verlangt die Bereitstellung einer steigenden Anzahl oft nur mit großem Aufwand zu ermittelnder Eingangsdaten aber auch von Be-

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 43

wertungsgrößen für die Ergebnisse von Softwareanwendungen. Dieses Expertenwissen entsteht durch eigene Messungen und Berechnungen, muss aber zukünftig verstärkt durch systematische Aufbereitung bereits vorhandenen Wissens aus internen und externen Quellen erschlossen werden. Mit dem rasanten Wachstum des World Wide Web und den damit zur Verfügung stehenden Informationsquellen entstehen hier dringend benötigte Synergien. Keine Firma kann es sich daher zukünftig leisten bei immer härterem Wett-bewerb und immer kürzer werdenden Entwicklungszeiten auf das „Wissen was andere wissen“ zu verzichten. Für den Begriff des Wissens selbst findet sich in der Literatur bisher noch keine exakte und umfassend anerkannte Definition. Im einfachsten Fall ist Wissen gespeicherte In-formation [9]. Im Sinne dieses Beitrages wird Wissen als Gesamtheit der Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden, die jemand auf einem bestimmten Gebiet hat [6]. Hinsichtlich des Wissenstyps unterscheidet man zwischen Kausalwissen („Wissen warum“), handlungsorientiertes oder prozedurales Wissen („Wissen wie“) sowie dekla-ratives oder Faktenwissen („Wissen was“). Bei allen Wissenstypen wird außerdem zwischen explizitem (bewusstes) und implizitem (unbewusstes, verborgenes, stilles) Wissen unterschieden [6]. Explizites Wissen lässt sich mit Hilfe von Daten, wissenschaftlichen Formeln, festge-schriebenen Verfahrensweisen und individuellen Prinzipien eindeutig kodieren und damit über Sprache oder Schrift kommunizieren oder auch mit einem Computer problemlos erfassen und in Datenbanken abspeichern. Implizites Wissen ist dagegen sehr persönlich und bezeichnet nicht formalisiertes Wis-sen, also solche Kenntnisse oder Fähigkeiten, die nicht explizit formuliert und im Allge-meinen schwer mitteilbar sind. Mit sehr unterschiedlichen Erfolgen wird seit langem vielfach versucht das implizite Wissen in explizites Wissen umzuwandeln. Die Erfolge stehen leider oft nicht im Verhältnis zum eingesetzten Aufwand. Praktisch kann in jedem Unternehmen erfahren werden, wie schwierig es ist z. B. das Know-how anerkannter Experten in einem Fachbereich zu erfassen und es zum Wohle der Firma einer breiteren Nutzung zuzuführen. Sowohl objektive (z. B. lassen sich bestimmte Fähigkeiten oder Können nur sehr schwer verbalisieren, Schutz des geistigen Eigentums) aber auch subjek-tive Gründe (z. B. Angst um Arbeitsplatz ) sind dafür verantwortlich. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich daher auf Lösungsansätze für eine verstärkte Nutzung von vor-handenem expliziten Expertenwissen, da mit diesem Schritt am schnellsten die Ressource Wissen nutzbar gemacht werden kann und dadurch die Bereitschaft der Mitarbeiter für weiterführende Anwendungsstrategien am ehesten geweckt wird. Methoden und Werkzeuge, die darauf abzielen, in Organisationen Wissen einzusetzen und zu entwickeln, um die Unternehmensziele bestmöglich zu erreichen, werden nach [9] als Wissensmanagement bzw. Knowledge-Management bezeichnet. In den letzten Jahren sind auf diesem Gebiet eine kaum zu überschauende Vielfalt an Fachliteratur, Methoden und Tools erschienen [11]. Ähnlich wie bei dem Begriff Wissen gibt es auch bei dem Begriff Wissensmanagement und den darin enthaltenen Teilgebieten keine exakten Ab-

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44 1 Gesamtfahrzeug

grenzungen. Dies betrifft auch das so genannte „Wissensbasierte Engineering“ bzw. „Knowledge-Based Engineering“. Im Sinne dieses Beitrages werden darunter alle Tätig-keiten und Überlegungen zur Erfassung und Erzeugung sowie zur Verwaltung und Ver-wendung bzw. Integration von Wissen im Engineeringprozess der Produktentstehung verstanden. Wenn auch die Notwendigkeit einer verstärkten Nutzung der Ressource Wissen allge-mein anerkannt ist, stellt sich trotzdem die Frage, welche Voraussetzungen für eine Inten-sivierung der Wissensnutzung gegeben sein müssen. Bisherige eigene Erfahrungen zei-gen jedenfalls, dass in erster Linie das klare Bekenntnis des Managements zur verstärkten Wissensnutzung gegeben sein muss. Darauf aufbauend garantiert nur die Einheit aus der Bereitstellung von aktuellem und geprüftem Wissen, die Existenz benutzerfreundlicher Tools zur Suche, Aufbereitung und Darstellung des Wissens sowie die Sicherung einer angepassten Arbeitsumgebung den Erfolg bzw. Akzeptanz bei den Mitarbeitern. Unter angepasster Arbeitsumgebung ist sowohl eine effiziente Arbeitsorganisation (benutzer-freundlicher Zugang zur Wissensdatenbank, ein erprobter Geschäftsprozess zur Nutzung aber auch zur kontinuierlichen Erfassung von Wissen, Support) als auch eine aufge-schlossene Arbeitsatmosphäre (Mitwirkung bei der Wissensakquisition, verantwortungs-voller Umgang mit eigenem und fremdem Wissen, Bereitschaft zur Mitwirkung an der Externalisierung impliziten Wissens) zu verstehen. Das Fehlen einer der genannten Komponenten verringert beträchtlich den möglichen Nutzen.

1.2.4.2 Lösungsansätze für wissensbasiertes Engineering

„Wissensbasiertes Engineering“ in der Produktentstehung hat vielfältige Ausprägungen. Grundlage für viele Lösungen ist eine Wissensbasis, die das Expertenwissen in geeigne-ten Repräsentationen enthält. Bild 1-42 zeigt die wichtigsten Quellen für explizites Wis-sen im Umfeld eines Unternehmens. Mit der Abbildung des Wissens befasst sich das Arbeitsfeld der so genannten Wissensmodellierung (Knowledge-Engineering). Zu ihren Aufgaben gehören nach [9] z. B.:

� Erfassung und Strukturierung von explizitem und implizitem Wissen (Wissensakquisi-tion)

� Formalisierung und Abbildung im Computer (Wissensrepräsentation)

� Wissensaufbereitung zur Lösung bestimmter Probleme

� Darstellung des Wissens (Informationsvisualisierung).

Sowohl professionelle Softwareentwickler als auch Engineeringdienstleister bieten heute auf dem Markt entsprechende IT-Lösungen inkl. zughöriger Wissensbasen an. Für die Anwendung in den frühen Entwicklungsphasen dominieren nachfolgende Lösungsansät-ze:

� Wissensdatenbanken Erfassung, Aufbereitung und Bereitstellung von strukturiertem Expertenwissen in Da-tenbank-Applikationen innerhalb unternehmensweiter Rechner-Netze.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 45

Bild 1-42: Explizites Expertenwissen im Umfeld eines Unternehmens.

� Expertensysteme [12]

Wissensbasierte Systeme zur Problemlösung und Entscheidungsunterstützung für einen relativ engen Problembereich. In einer Wissensbasis ist das spezifische Fachwissen von Experten über das Anwendungsgebiet als Daten und in Form von If-Then-Regeln abge-speichert. Eine Dialogkomponente dient als Schnittstelle zwischen System und Benut-zern. Sie hat die Aufgabe das Wissen aus dem System so aufzubereiten, dass es für den Benutzer lesbar ist. In einer Problemlösungskomponente (Inferenzkomponente) werden nach einer Abarbeitungsstrategie aus der Wissensbasis Schlussfolgerungen und neues Wissen zur Lösung der gestellten Anfragen erzeugt. Die Güte eines Expertensystems lässt sich daran messen, in welchem Maße das System überhaupt zu Schlussfolgerun-gen in der Lage ist und wie es fehlerfrei dabei vorgeht.

� Wissensbasierte Konstruktion (Knowledge-Based Design) Bereitstellung und Verarbeitung von Wissen für die Produktentwicklung im Rahmen von IT-Applikationen und in Kooperation mit CAD-Systemen.

Bzgl. der Anbindung an CAD-Systeme gibt es sowohl die direkte Integration eines wis-sensbasierten Systems in das CAD-System als auch die separate Geometriemodellierung mit anschließender Übergabe an das CAD-System. Eine wichtige Grundlage jedes wissensbasierten Systems ist die Repräsentation des Wis-sens in einer solchen Form, die eine einfache Erfassung, Anwendung und Modifikation erlaubt sowie Suchstrategien zur Entscheidungsfindung gestattet. Hier werden unter-schiedlichste Systeme eingesetzt [2], wie:

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46 1 Gesamtfahrzeug

� Rule-based Reasoning: regelbasierte Systeme, in denen Regeln und Informationen durch eine Inference Engine verarbeitet werden

� Model-Based Reasoning: Einbeziehung der Simulation des Systemverhaltens

� Case-Based Reasoning: Schlussfolgerungen aus Fallbeispielen

� Constraint-Based Reasoning: Einschränkung des Lösungsraumes durch Randbedin-gungen.

Zunehmende Bedeutung erlangt innerhalb der wissensbasierten Konstruktion die Anwen-dung der Feature- und Template-Technologie. Ursprünglich nur auf reine Geometrieele-mente angewendet, wird die Erfassung und Verarbeitung nichtgeometrischer Produkteigen-schaften bzw. Expertenwissens in Features und Templates immer wichtiger. Features sind informationstechnische Elemente, die relevante Eigenschaften eines Produktes beschreiben und üblicherweise in Bibliotheken abgelegt werden. Templates sind vereinfacht ausged-rückt anwendungs-, prozess- oder produktabhängige CAx-Vorlagen. Ziel dieser Technologie ist im Kern die Implementierung von best practices von der Geometriemodellierung an bis zum Technologie Know-how in CAx-Modelle, die Be-rücksichtigung standardisierter Konzepte und Methoden, die Wiederverwendung von erprobtem Design Know-how sowie Know-how zur Erleichterung der Beherrschung der Produkt- und Prozess-Komplexität. Im Weiteren wird auf Erfahrungen bei der Verwendung von Wissensdatenbanken einge-gangen.

1.2.4.3 Wissensdatenbanken

Bei explizitem Expertenwissen nach Bild 1-42 gibt es eine Vielzahl von Wissensreprä-sentationen wie Office-Dokumente, CAx-Modelle, Messreihen, Zeichnungen, Fotos so-wie Audio- und Video-Aufzeichnungen [3]. Im Engineeringprozess erscheint dabei eine Trennung zwischen vorwiegend projektbezogenen Daten einerseits und überwiegend Know-how bezogenen Daten andererseits als sinnvoll. Projektbezogene Daten stehen in direktem Zusammenhang mit der Bearbeitung von Entwicklungsprojekten (3D-CAD-Modelle, Zeichnungen, Stücklisten, Berechnungsergebnisse, Versuchsprotokolle,...). Sie werden üblicherweise mit PDM-orientierten Tools verwaltet. Aktuelles Ziel dieser Sys-teme ist vor allem die Erfassung und Steuerung digitaler Produktdaten im Sinne von Pro-jekt-, Dokumenten-, Teile- und Prozessmanagement. Der Trend zur stärkeren Nutzung dieser projektbezogenen Daten im Sinne „Ressource Wissen“ ist aber eindeutig, schließ-lich ist z. B. in den Produktmodellen direkt und indirekt das Entwicklungs-Know-how gespeichert. Strategien zur Gleichteileerkennung mit dem Ziel der Teilestammreduzie-rung oder das Scannen der Produktmodelle zum Zwecke der Selektion entwicklungsrele-vanter Daten (z. B. charakteristische Abmessungen, Masse, Werkstoff, Bearbeitungsfea-tures,...) sind Anwendungen mit beachtlichem Kostensenkungspotenzial.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 47

Know how-bezogenes Expertenwissen aus internen und externen Datenquellen wie:

� Produkt- und Prozessbeschreibungen

� technische und technologische Kennwerte/Kennlinien, Stoff- und Materialgrößen,...

� Eingabedaten und Bewertungsgrößen für Softwaretools

� Referenzdaten aus Berechnung und Versuch

� Hauptabmessungen/Auslegungsdaten von Bauteilen

� Wissensdokumente (Lastenhefte, technisch-wiss. Berichte, Berechnungsvorschriften, Auslegungsprozeduren, Freigabeszenarien, ...).

werden meist in strukturierten Wissensdatenbanken abgespeichert. Die Strukturierung selbst kann nach unterschiedlichen Merkmalen vorgenommen werden. Hier muss mit Hilfe der entsprechenden Fachleute immer ein Kompromiss gefunden werden. Einerseits besteht der Wunsch nach möglichst viel und tief strukturierten Fachbegriffen, anderer-seits sind der gezielte Zugriff auf relevantes Wissen, die modulare Erweiterbarkeit und vor allem ein beherrschbarer Aufwand zur Beschaffung und Pflege der Daten abzusi-chern. Für die Akzeptanz einer Wissensbasis ist es jedenfalls sehr wichtig, wenn diese weitestgehend mit aktuellen und geprüften Daten gefüllt ist. Große Lücken oder gar Feh-ler in den Datenbeständen führen sehr schnell zur Ablehnung der Datenbank. Die Gründe für die Verwendung gesonderter Wissensdatenbanken anstelle der PDM-Systeme liegen nicht zuletzt in Funktionalitäten, die bisher nicht zu den Stärken von PDM-Lösungen gehörten. Dazu zählen z. B.:

� leistungsfähige Suchsysteme bzw. Data-Mining-Funktionen (Anwendung mathema-tisch-statistischer Methoden auf vorwiegend große Datenbestände zur Erkennung von Regeln, Mustern bzw. statistischen Auffälligkeiten [9])

� grafische Darstellungen in Säulen-, Linien oder Netzdiagrammen, Abhängigkeits-Bäume, Entscheidungs-Graphen

� statistische und multikriterielle Auswertefunktionalitäten (Korrelation, Regression,...)

� Regelinterpreter zur Verknüpfung von Suchkriterien, Ermittlung abgeleiteter Kenngrö-ßen, Unterstützung von Plausibilitätskontrollen und formaler Datenprüfungen, ...

� hohe Flexibilität bzgl. Kundenanforderungen incl. leistungsfähige Schnittstellen zu nachverarbeitenden Systemen (Excel, ...)

� Mehrsprachigkeit.

Nicht vergessen darf man hier auch die lizenz- bzw. preispolitischen Aspekte. Wenn die genannten Funktionalitäten weiter angereichert werden, so dass geistige Akti-vitäten wie Klassifizieren, Diagnostizieren, Konstruieren und Planen in einer Qualität erfolgen, die der Leistung menschlicher Experten vergleichbar ist, spricht man nach [8], [12] von Expertensystemen. Letztere generieren mit Hilfe der Wissensbasis und einer so genannten Inferenzkomponente (Inferenz: aufbereitetes Wissen, dass durch logische Schlussfolgerungen gewonnen wurde) Problemlösungen für die vom Benutzer eingege-benen Problemmerkmale. Wissensdatenbanken sind damit als Vorstufe von Expertensys-temen zu werten. Der Einsatz letzterer Systeme sollte aber sorgfältig vorbereitet werden,

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da dafür eine breite Wissensbasis, intelligente Inferenzlösungen sowie eine aufwendige Systempflege benötigt werden. Überhaupt muss beim Einsatz wissensbasierter Systeme in erster Linie die Bereitschaft bzw. der Bedarf der Mitarbeiter an der Nutzung der Ressource Wissen geweckt werden. Dies ist ein langfristiger Prozess und setzt vor allem eine aktuelle und auf Richtigkeit geprüfte Wissensbasis sowie verbindliche und benutzerfreundliche Arbeitsabläufe vor-aus. Von strategischer Bedeutung ist, bei aller Wichtigkeit der verwendeten IT-Systeme, der Ausbau einer ganzheitlichen Wissensbasis, d. h. die verschiedenen Wissensquellen eines Unternehmens (Bild 1-42) sind hier in eine einheitliche Nutzungsstrategie einzu-binden. Bei der systematischen Erfassung des expliziten Expertenwissens bekommt zunehmend die Erschließung des Internet und die Anwendung der Data-Mining-Technologie eine ausschlaggebende Bedeutung. Bzgl. des Internet geht es einerseits um das Auffinden von Datenquellen bzw. Web-Datenbanken, die für einen Nutzer interessant sind und anderer-seits um effiziente schlüsselwortbasierte Suchstrategien innerhalb der Web-Datenbanken. Aktuell verfügbare Suchmaschinen sind dafür gegenwärtig nur bedingt geeignet [10]. Unbefriedigend ist gegenwärtig noch die Nutzung elektronischer Medien im Zusammen-hang mit Verlagserzeugnissen, insbesondere bei den Periodika. Hier gibt es seitens der Verlage oft keine Zustimmung zu vereinfachten und preiswerten elektronischen Nach-nutzungen. Bild 1-43 zeigt das in der IAV GmbH verwendete Datenkonzept einer Wissensdaten-bank. Als Datenquellen werden vor allem ausgewählte Fachzeitschriften, renommierte Fachtagungen, Technische Berichte, Produktanalysen und Internetrecherchen genutzt. Der Datenbestand selbst unterscheidet zwischen public und private Daten. Damit kann ein Kunde bzw. Nutzer seine spezifischen private Daten in zusätzlichen Datenbankin-stanzen getrennt erfassen und verwalten. Die Grundfunktionalitäten der Wissensdaten-bank lassen sich sowohl auf public als auch auf private Daten anwenden. Bild 1-44 zeigt eine Übersicht ausgewählter Grundfunktionalitäten der Wissensdaten-bank. Das verwendete objektorientierte Datenmodell und ein ausgefeiltes Autorisie-rungskonzept gestatten hohe Flexibilität in der Berücksichtigung kundenspezifischer Anforderungen und Einhaltung höchster Geheimhaltungsansprüche. Große Bedeutung haben außerdem leistungsfähige Schnittstellen, die einerseits die Weiterverarbeitung der selektierten Daten sichern und andererseits durch direkte Kopplung z. B. mit den ein-gangs erwähnten Auslegungstools die direkte Ablage von Expertenwissen ermöglichen. Angestrebt wird die Kopplung mit PDM-Systemen, um entweder relevantes Experten-wissen aus den Projekten gefiltert abzulegen bzw. um bei Bedarf Zusatzinformationen (z. B. 3D-Produktmodell) zu selektierten Produkten ansehen zu können.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 49

Bild 1-43: Datenkonzept Wissensdatenbank.

Bild 1-44: Grundfunktionalitäten einer Wissensdatenbank.

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50 1 Gesamtfahrzeug

1.2.5 Anwendung von Wissensdatenbanken

1.2.5.1 Information

Die umfassende Information über den Markt, die Wettbewerber und charakteristische technisch-technologische Details der Produkte Motor, Getriebe und Fahrzeug auf Basis von Datenblättern und daraus resultierender grafischer Auswertungen sowie entsprechen-der Informationen aus zughörigen relevanten Fachartikeln gehört zu den Grundanwen-dungen der Wissensdatenbank. Die Suche über Schlagworte nach spezifischen Produkten oder Kennwerten aber z. B. auch nach zugehörigen internen und externen Technischen bzw. Tagungsberichten dient diesem Informationsbedürfnis.

In der Praxis hat sich neben der Information im Komplettsystem der Wissensdatenbank auch die Darstellung von Teilabzügen des Datenbestandes in Pocketrechnern als gern genutzte mobile Anwendung für Beratungen, Tagungen und Messen herausgestellt.

1.2.5.2 Technisches Benchmarking

Unter Benchmarking versteht man die eigenen Produkte und Leistungen in einem konti-nuierlichen Prozess gegen die Bestleistungen der Wettbewerber zu messen, um darauf aufbauend Best in Class-Lösungen entwickeln zu können. Das Spektrum solcher Tests ist vielgestaltig und von den firmenspezifischen Fragestellungen abhängig. In jedem Fall zählt das Benchmarking zu den unverzichtbaren Methoden für eine leistungsfähige Pro-duktentwicklung. Bild 1-45 zeigt die Funktionalität der implementierten Best-of-Class-Analyse. Für eine durch den Nutzer anhand von Klassifikationsmerkmalen vordefinierte Klasse von Moto-ren wird gemäß ausgewählter Benchmark-Kriterien und vorgegebener Wichtungsfaktoren ein Ranking der Motoren durchgeführt.

Eine andere Form des Technischen Benchmarks ist die Recherche technischer Parameter bzw. Kennwerte für eine vorgegebene Klasse von Motoren bzw. Getrieben. Bild 1-46 zeigt ein entsprechendes Anwendungsbeispiel für die Schmiermittelmenge ausgewählter Ottomotoren als Funktion der spezifischen Leistung.

Bei Anklicken der einzelnen Messpunkte werden die Aggregatebezeichnungen aufgek-lappt und weiterführende Informationen angeboten.

Von Bedeutung für den Aggregateentwickler sind in der Vorentwicklung sowie in der Konzept- und Entwurfsphase eines Entwicklungsprojektes die Trend- bzw. Potenzialana-lysen technischer Kennwerte bzw. Parameter. Bild 1-47 zeigt als Beispiel die spez. Kol-benflächenbelastung aufgeladener Ottomotoren und den Hauptlagerdurchmesser von Otto-Saugmotoren über dem zeitlichen Ersteinsatz des entsprechenden Motors. Solche Trendanalysen unterstützen die Abschätzung des Entwicklungspotenzials eines Motors oder eines Funktionssystems bzw. die frühzeitige Erkennung technischer Entwicklungs-trends. Letzteres ist auch das Anliegen der gesonderten Auswertestrategie „Technisches Highlight“. Hierbei geht es um das Erkennen und Darstellen neuartiger Entwicklungen bzw. Technologien als Ideengeber für die eigene Produktentwicklung.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 51

Bild 1-45: Best-of-Class-Analyse.

Bild 1-46: Benchmark Schmiermittelmenge.

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Bild 1-47: Trend- bzw. Potenzialanalyse.

Bild 1-48: Best-of-Sales-Analyse.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 53

Von großer Bedeutung für die Produktstrategie eines Unternehmens sind Best-of-Sales- Analysen. Ausgehend von einem interessierenden Absatzmarkt mit bereitgestellten Ver-kaufszahlen (von Spezialdienstleistern auf dem Markt angeboten) für Personen- oder Nutz-kraftwagen wird für interessierende Marktsegmente eine Analyse nach Marktanteilen der Hersteller bzw. nach den meistverkauften Fahrzeugmodellen im vorgegebenem Marktseg-ment durchgeführt. Anschließend erfolgt die Analyse der meistverkauften Fahrzeuge z. B. hinsichtlich der Ausrüstungscharakteristik ihrer eingebauten Antriebe (Bild 1-48), um dar-aus Hinweise für relevante Kundenwünsche bzw. für das anzustrebende Produkt-Portfolio abzuleiten.

1.2.5.3 Bereitstellung Expertenwissen

Die systematische Erfassung, Aufbereitung, Verwaltung und Bereitstellung von produkt- und prozessbezogenem Expertenwissen kann deutlich zur Effizienzverbesserung bei den Engineeringprozessen beitragen. Beispiele dafür sind die Bereitstellung entsprechender Inputs für CAE-Softwareanwendungen wie Material- und Stoffkennwerte, Masse und Trägheitsmomente, Steifigkeiten und Dämpfungen, Widerstands- und Durchflussbeiwer-te, Drall- und Tumblewerte, Formfaktoren für Brennfunktionen aber auch technologische Kennwerte und Kosteninformationen. Im Kern geht es immer wieder darum, durch sys-tematische Ablage und Verwaltung dieser Daten unnötige Suchzeiten im Bedarfsfall zu vermeiden. Dazu gehört auch durch Interpolations- und Extrapolationsstrategien unbe-kannte Größen schnell abschätzen zu können.

Bild 1-49: Expertenwissen Kanäle.

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Bild 1-50: Expertenwissen Werkstoffe.

Bild 1-49 zeigt am Beispiel von Kanälen und Bild 1-50 am Beispiel von Werkstoffen die Bereitstellung entsprechenden Expertenwissens über Eigenschaften bzw. Kennwerte/Kenn-linien mit entsprechenden Verknüpfungen zu Bauteilen aber auch zu zugehörigen Facharti-keln.

1.2.5.4 Bauteilauslegung

Die Bauteilauslegung in frühen Entwicklungsphasen wird zukünftig wie bereits in Pkt. 1.2.3 erläutert, als wissensbasierter Optimierungsprozesses zu gestalten sein. Bei der Integration vorhandenen Expertenwissens in den Auslegungsprozess bieten hierbei Wis-sensdatenbanken vielfältige Ansatzpunkte. Als Beispiele für die verstärkte Nutzung von vorhandenem Expertenwissen im Auslegungsprozess seien genannt:

� Durchführung von Technischen Benchmarks sowie Trend- und Potenzialanalysen als verbindliche Entwicklungsschritte in der Bauteilauslegung mit den Zielstellungen

� Wettbewerbsanalyse als Ausgangspunkt für die Festschreibung von Lastenheftzielstel-lungen

� Erstauslegung von Bauteil-Hauptabmessungen für Entwurfs-/Konzeptmodelle

� Bereitstellung von Expertenwissen zur Rationalisierung der Preprozesse von Berech-nung und Simulation

� Unterstützung durch auslegungsrelevante Wissensdokumente (Lastenhefte, Zielfunk-tionen und Restriktionen für Optimierungsaufgaben, Auslegungsprozeduren, Freigabe-kriterien, ...)

� systematische Erfassung und Auswertung relevanter Daten aus Berechnung und Versuch

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 55

� als Referenzlösung für die Bewertung von Entwicklungsständen im Zusammenhang mit der Freigabe virtueller Baustufen

� für Datenanalysen zur Generierung von Schlussfolgerungen z. B. hinsichtlich des Erken-nens von Zusammenhängen und der Ableitung von Strategien zur Weiterentwicklung

� Multikriterielle Bewertung von Entwicklungsständen. Die Bewertung von Entwick-lungsständen ist eine Standardaufgabe im alltäglichen Entwicklungsprozess. Einerseits kann dabei die Auswahl einer optimalen Variante aus mehreren untersuchten Entwick-lungsvarianten oder andererseits die Bewertung eines Entwicklungsstandes im Sinne einer Freigabe verstanden werden. Bild 1-51 zeigt die Anwendung von „Entschei-dungs-Graphen“ am Beispiel der Bewertung einer Motor-Grundauslegung. Im ersten Graph sind ausgewählte Auslegungsparameter bzw. Hauptabmessungen für das aktuel-le Projekt und vorher festgelegter Referenzaggregate dargestellt. Im zweiten Graph sind die entsprechenden Bewertungskriterien zu sehen. Erleichtert wird die Bewertung durch den Vergleich mit statistischen Kenngrößen.

� Auslegungs-workflows für wissensbasierte Bauteilauslegungen. Bild 1-52 zeigt am Beispiel eines Aufladesystems wie im Konzeptstadium die Auslegung mit Unterstüt-zung der Wissensdatenbank abläuft. Die entscheidende Voraussetzung für die Güte solcher Methoden ist natürlich die Quantität und Qualität des abgelegten Wissens. Hier kann nur durch Kontinuität sowie durch Einbeziehung möglichst vieler Mitarbeiter aus Konstruktion, Berechnung und Versuch in den Prozess der Erfassung und Aufbereitung von Expertenwissen der Erfolg gesichert werden. Voraussetzung ist aber auch, dass verbindliche, dokumentierte Auslegungsabläufe existieren, die dann als Basis für eine mögliche Einbindung der Wissensdatenbank dienen.

Bild 1-51: Multikriterielle Bewertung mit „Entscheidungs-Graphen“.

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Bild 1-52: Erstauslegung Aufladesystem Pkw-Mittelklasse.

Aussagen zum Nutzen der Anwendung wissensbasierter Auslegungen im Vergleich zum herkömmlichen Vorgehen sind bisher nur bedingt möglich, da noch zu wenig Beispiele repräsentative Bewertungen zulassen. Für Neuentwicklungen ist dieses Vorgehen in je-dem Fall anzustreben. Eine leistungsfähige Wissensbasis vorausgesetzt, sollte aber auch bei den üblicherweise überwiegenden Derivat-Entwicklungen eine effizientere und rep-roduzierbare Auslegung möglich sein.

1.2.6 Zusammenfassung und Ausblick

Stetig steigende Anforderungen an die Produktentstehung verlangen neuartige Lösungs-ansätze zur Gestaltung innovativer Produkte und Produktentstehungsprozesse. Beispiele dafür sind die umfassende Anwendung der Methoden des „Virtuellen Engineerings“ und der Einsatz von „Wissen als Produktivfaktor“. Obwohl über Inhalt und Nutzen des „virtuellen Engineering“ und dem Einsatz von „Wis-sen als Produktivfaktor“ in den letzten Jahren viel und z. T. kontrovers diskutiert wurde, ist inzwischen die Notwendigkeit dieser Strategien unumstritten und ihre schnelle Umset-zung in die entsprechenden Entwicklungsprozesse von essentieller Bedeutung für jedes Unternehmen. Gefordert ist dabei „das Machbare“ unter den Bedingungen des heutigen Hard- und Software-Entwicklungsstandes, d. h. die Entwicklungsstufen eines Produktes mit überschaubarem Zeit- und Kostenaufwand direkt an die Ergebnisse von Berechnung und Simulation zu binden und dabei vorhandenes Expertenwissen systematisch als Syn-ergie zu nutzen.

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1.2 Auslegungstools und Expertenwissen 57

Geeignete Beispiele dafür sind heute die: � Etablierung der „virtuellen Auslegung“ als verbindlicher Teil der simulationsgestützten

Bauteilentwicklung in den frühen Entwicklungsphasen

� umfassende Nutzung expliziten Expertenwissens zur Rationalisierung von Enginee-ringprozessen und zur Generierung wissensbasierter Lösungen im Konzept- und Aus-legungsprozess.

Das klare Bekenntnis und die aktive Mitwirkung von Management und Mitarbeitern an der Gestaltung dieser Prozesse vorausgesetzt, sind benutzerfreundliche Toolplattformen aber vor allem verbindlich dokumentierte Auslegungsprozesse inkl. der Definition von Freigabeszenarien für virtuelle Baustufen sowie der Aufbau einer leistungsfähigen Wis-sensbasis die entscheidenden Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung der ge-nannten Zielstellungen. Die erfolgreiche Beherrschung einer simulationsgestützten und wissensbasierten Bauteilauslegung muss dabei als zeitgemäßer Schritt auf dem Weg zur virtuell orientierten Bauteilentwicklung gesehen werden. Trotz der mancherorts bereits erreichten Fortschritte, bleibt dies aber für die Mehrheit der Unternehmen eine aktuelle Aufgabenstellung der nächsten Jahre.

Literatur zu Abschnitt 1.2

[1] Maas, G.; Neukirchner, H.; Beutner, E.: Zum Integrierten Entwicklungsablauf durch Nut-zung von Auslegungstools und Wissensdatenbanken. Tagung „Virtual Product Creation“, Stuttgart 2005

[2] Beutner, E.; Neukirchner, H.: Virtuelle Produktentwicklung, Kap. 13 im Fachbuch Künt-scher/Hoffman (Hrsg.): Kraftfahrzeugmotoren, 4. Auflage, Vogel Buchverlag 2006

[3] Beutner, E.: Virtuelles Engineering, Vorlesungen an der Westsächsischen Hochschule Zwi-ckau, 2007

[4] Krause, F.-L.: The Future of Product Development, Springer Verlag 2007 [5] Honsel, G.: Fieberkurve der Aufmerksamkeit, Technology Review 10/2006 [6] Greiffenberg, N.: Wissensmanagement im Unternehmen eines Entwicklungsdienstleisters der

Automobilindustrie. Diplomarbeit FHTW Berlin, 2001 [7] Sorger, H.: Der integrierte virtuelle AVL-Prozess-Schlüssel zur kosteneffizienten Powertrain

Entwicklung. 7. Grazer Allradkongress, 2006 [8] Görz, G.; Rollinger, C.-R.; Schneeberger J.: Handbuch der künstlichen Intelligenz, 4. Aufla-

ge. München: Oldenbourg Verlag [9] Internet/Wikipedia, 2007 [10] Weber, G.: Techniken für Suchmaschinen zum Auffinden relevanter Informationseinheiten in

Web-Datenbanken. Dissertation Universität Rostock, 2006 [11] Boughzala, I.; Ermine, J.-L.: Trends in Enterprise Knowledge Management. GET and

LAVOISIER, 2004 [12] Kurbel, K.: Entwicklung und Einsatz von Expertensystemen – Eine anwendungsorientierte

Einführung in wissensbasierte Systeme. Berlin: Springer Verlag, 1992

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58 1 Gesamtfahrzeug

1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen

Hoher Wettbewerbsdruck und der Anspruch, auf geändertes Kundenverhalten schneller zu reagieren und damit früher am Markt zu sein, verstärken den Anspruch an die Pro-duktentstehung, Konzepte schneller und umfassender abzusichern und damit letztlich die Entwicklungszeiten zu verkürzen [1]. Gleichzeitig zeigt sich für die Konzeptentwicklung, dass aufgrund eines stetig steigenden technischen Anspruchs und der komplexen Anforderungen durch Gesetzgebung, Consu-mer-Tests etc. die zu berücksichtigenden Randbedingungen zunehmen. Dadurch ergibt sich der Bedarf an Untersuchungen von Konzeptalternativen, die in kurzen Zeiträumen abzuarbeiten und zu bewerten sind. Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, werden zunehmend in der Konzeptentwick-lung konsequent moderne Methoden der Virtuellen Produktentwicklung mit dem Ziel eingesetzt, Fahrzeugkonzepte mit allen wesentlichen Fahrzeugeigenschaften zu beschrei-ben und deren Machbarkeit abzusichern. Um dies zu gewährleisten und damit spätere Änderungsschleifen zu minimieren, ist Frontloading im Entwicklungsprozess unbedingt erforderlich.

Bild 1-53: Produktspreizung von Entwicklungen bei Volkswagen Nutzfahrzeuge.

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1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen 59

Für die Produktentstehung ist dies dann von besonderer Bedeutung, wenn sie sich mit der Entwicklung vom Lkw bis zum Sport-Utility-Vehicle (SUV) der Premiumklasse einem breiten Anforderungsspektrum zu stellen hat, Bild 1-53. Diese erfordert eine breit gefä-cherte Entwicklungs-Kompetenz.

1.3.1 Konzeptentwicklung, Frontloading

Die Hauptaufgabe der Konzeptentwicklung ist das Sicherstellen eines kundengerechten und wettbewerbsüberlegenen Fahrzeugkonzeptes, das im Produktionskonzept zu markt-gerechten Kosten herstellbar ist. Der Fokus der Virtuellen Fahrzeug-Entwicklung ist daher insbesondere auf die Frühphase einer Fahrzeugentwicklung zu legen, um die häufig genannten Vorteile des Frontloadings umzusetzen, Bild 1-54:

Bild 1-54: Konzeptentwicklung im Produktentstehungs-prozess.

Nach Festlegung der Marketing- und Finanzziele (Positionierung des Fahrzeuges) folgen die ersten Schritte der Konzeptentwicklung [2]:

1. Definition des Innenraumkonzeptes

2. Festlegung der Ergonomie

3. Festlegung des mechanischen Packages

4. Beschreibung der Bauräume für die Rohbau-Struktur etc.

Damit verbunden ist die Aufgabe, die festgelegten Funktionen durch Simulation und Visualisierung sicherzustellen, z. B.:

� Sicht, Innenraum, Raumgefühl

� Fahreigenschaften

� Karosseriesteifigkeit/-Festigkeit und Crashverhalten etc.

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60 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-55 soll dies deutlich machen: Zur Analyse und Bewertung von Fahrzeugeigen-schaften (äußerer Ring in Bild 1-55) werden eine Vielzahl von z. T. neuentwickelten Verfahren (innerer Ring in Bild 1-55) eingesetzt, die im Folgenden näher erläutert wer-den.

Bild 1-55: Beispiel für Auslegungsschritte und -werkzeuge in der Konzeptphase.

1.3.2 Beispiele für Simulationswerkzeuge in der Konzeptphase

1.3.2.1 Concept Car (Parametrisches Konzeptmodell)

Für ein parametrisches Konzept-Design werden bei der Produktentstehung Volkswagen Nutzfahrzeuge zwei Ansätze verfolgt. Der erste ist der Aufbau eines 2D-Werkzeuges zur Visualisierung eines Grund-Package, Bild 1-56. Das System basiert auf einem reinen Geometrie-Ansatz und ermöglicht durch Eingabe von Grundparametern wie Radstand, Überhängen, Anzahl der Sitzreihen etc. eine schnelle Darstellung des Grundkonzeptes. Dabei lassen sich die einzelnen Geomet-rieteile, aus denen z. B. die Außenhaut dargestellt wird, auf einfache Weise in Höhe und Länge verändern, so dass aus der Startgeometrie praktisch sämtliche Fahrzeugtypen ab-geleitet werden können. CAD-Kenntnisse sind hierzu nicht erforderlich.

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1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen 61

Bild 1-56: 2D-Werkzeug Papst (PC Aplikation zur Package Simulation).

Der zweite Ansatz verfolgt den Weg, ein 3-dimensionales Konzeptfahrzeug in einem CAD-System aufzubauen, Bild 1-57. Dieses Werkzeug dient zur Visualisierung eines Konzeptes und zur Überprüfung von Gesetzen und internen Vorgaben z. B. zur Sicht. Ändern sich die Randbedingungen, wie z. B. der SR-Punkt (Sitz-Referenz-Punkt), sind die Auswirkungen in kurzer Zeit zu überprüfen. Hierfür sind u. a. Ergonomie-Ansätze (RAMSIS) implementiert. Dieser Ansatz macht sich die Methode der parametrisch assoziativen Konstruktion mo-derner CAD-Systeme zunutze, indem Geometrieelemente parametrisch definiert werden. Des Weiteren können zwischen Geometrieelementen assoziative Beziehungen aufgebaut werden, so dass z. B. eine Änderung der Längsträgerspur zu einer Änderung eines an-schließenden Querträgers führt. Besonders hilfreich ist die Möglichkeit, Regeln zu defi-nieren, mit denen das Einhalten von Gesetzen oder Konstruktionsrichtlinien (Wissensba-siertes Konstruieren) sichergestellt werden kann. Ein Beispiel zeigt Bild 1-57. Hier sind die Maße (Parameter) Vorderer Überhang, Rad-stand und Hinterer Überhang modifiziert worden. Die Aufgabenbereiche, die mit diesem Werkzeug bearbeitet werden, sind zur Zeit die Bereiche

� Ergonomie

� Mechanisches Package

� Konzeptaußen- und -innenflächen.

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62 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-57: Concept Car (Parametrisches Konzept-Modell).

1.3.2.2 Digital Mock-Up (DMU)

Die moderne Konzeptentwicklung erfordert einen erweiterten Einsatz von CAD zur de-taillierten Beschreibung des zu entwickelnden Fahrzeugkonzeptes. Hier entsteht eine Fülle von verschiedenen Daten, die Varianten beschreiben und zu bestimmten Ständen eingefroren und dokumentiert werden müssen. Eine effiziente Verwaltung dieser Daten wird in sinnvoller Weise durch ein entsprechen-des Team-Data-Management-System vorgenommen, das nur geringen formalen Zwängen unterworfen ist (im Gegensatz zur Stückliste im Serienprozess). Weiterhin ist die Über-nahme existierender Bauteile und gegebenenfalls Neupositionierung in der aktuellen projektabhängigen Bauteillage notwendig. Die so verwalteten Daten liefern dem Anwender einfachen Zugriff auf strukturierte Um-fänge und ermöglichen die schnelle Visualisierung und Prüfung des Fahrzeugkonzeptes sowie den Vergleich von Varianten oder unterschiedlichen Konstruktionsständen. Mit diesen Daten können weitergehende Untersuchungen zur Montierbarkeit, der Bauteilki-nematik sowie Qualitätsprüfung wie Kollisions-Check vorgenommen werden, Bild 1-58. So entsteht eine Datenbasis, die als Quelle für die Versorgung von Berechnung und Vir-tual und Augmented Reality herangezogen wird. Wichtig beim Aufbau des DMU der Konzeptentwicklung ist eine sinnvolle Strukturierung, um für alle Entwicklungs- und Planungsteams die leichte Auffindbarkeit von Daten im Konzept- und später im Serien-prozess zu gewährleisten.

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1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen 63

Bild 1-58: Digital Mock-Up (DMU): graphische Darstellung.

1.3.2.3 Virtuelle Sitzkiste

Zur realitätsnahen Visualisierung z. B. von Innenraumkonzepten wurde in der Produkt-entstehung Volkswagen Nutzfahrzeuge ein Virtueller Ergonomieprüfstand (VREP) ent-wickelt. Der VREP ist derzeit eines der jüngsten, im Produktentstehungsprozess einge-setzten, virtuellen Entwicklungswerkzeuge bei Volkswagen Nutzfahrzeuge [3]. Zentrale Komponente des Systems ist ein Datenhelm (Head-Mounted-Display), über welchen dem Benutzer z. B. ein vollständiges Fahrzeuginterieur dargestellt werden kann, wie dies bisher erst durch aufwändige physikalische Aufbauten möglich war. Die Bewe-gungen des visuell von seiner Umwelt abgeschlossenen Benutzers werden von einem optischen Trackingsystem erfasst. Über ein digitales 3D-Menschmodell erhält der Benut-zer ein optisches Feedback seiner eigenen Person im virtuellen Raum. Ergonomieunter-suchungen mit subjektiver Bewertung von Sichtbedingungen, Bedieninteraktionen und Tätigkeitsabläufen bis hin zu einfachen Fahrszenarien können in einer virtuellen Umge-bung durchgeführt werden. Die dargestellten virtuellen Geometrien basieren auf CAD-Daten, die in einem vorgeschalteten Arbeitsgang für die Darstellung in der virtuellen Umgebung aufbereitet werden. Daher ist es möglich, bereits in sehr frühen Phasen unmit-telbar nach der CAD-Datenentstehung bereits ein weitgehend vollständiges Fahrzeug-interieur darzustellen und erste Ergonomiebewertungen durchzuführen, Bild 1-59. Alter-nativen können „per Knopfdruck“ ein- und ausgeblendet und direkt miteinander vergli-chen werden.

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64 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-59: Virtuelle Sitzkiste.

Die durch den Einsatz von VR-Simulationen mögliche Substitution realer Fahrzeugkom-ponenten eines physischen Modells durch virtuelle Bauteile ermöglicht die anschauliche Darstellung teilweise abstrakter Konstruktionsdaten sehr viel zeitnäher zur Datenentste-hung als dies bisher möglich war. Entscheidungen können dadurch früher und aufgrund der möglichen Darstellung einer Vielzahl von Alternativen mit größerer Sicherheit ge-troffen werden.

1.3.2.4 Augmented Reality

Das wesentliche Merkmal der AR-Technologie liegt in der bewussten Vermischung der realen mit der virtuellen Welt. Anders als in der VR-Technologie wird die natürliche Umgebung des Benutzers nicht mehr vollständig durch eine künstliche ersetzt, sondern mit virtuellen Bestandteilen angereichert. Damit bildet die natürliche Umwelt (hier: Fahr-Umgebung) die Grundlage der AR-Anwendung.

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1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen 65

Bild 1-60: Beispiele zur Anwendung von Augmented Reality (AR).

Die mobile Augmented Reality Plattform ist ein neues Entwicklungstool für die frühe Phase des Produktentstehungsprozesses. Mit diesem Tool ist es erstmals möglich, Bewer-tungen der Sichtverhältnisse und Bedienfelder des Fahrzeugführers bereits in der Kon-zeptphase eines Fahrzeugs in realen Fahrsituationen durchzuführen [4]. Die Kombination von Augmented Reality Technik und einer fahrbaren Plattform (modifizierter VW T5) ermöglichen es, dem Fahrer der Plattform über ein Head-Mounted-Display (HMD) den Innenraum eines beliebigen Fahrzeugs zu visualisieren. Der Fahrer sieht dabei ein räum-liches Videobild seiner realen Umgebung, in das ein auf CAD-Daten basierender virtuel-ler, dreidimensionaler Fahrzeuginnenraum positionsgenau und perspektivisch korrekt in Echtzeit eingebunden wird, Bild 1-60. Dem Fahrer wird der Eindruck vermittelt, in einem neuen – zu dem Zeitpunkt nur in Da-ten existierenden – Fahrzeug zu fahren. So können beispielsweise die Sichtverhältnisse beim Abbiegen, Spurwechsel oder Einparken frühzeitig in realer Umgebung und unter realistischen Fahrbedingungen beurteilt werden. Darüber hinaus können verschiedene Innenraum-Varianten eingeblendet und deren Einfluss auf die Sicht des Fahrers direkt miteinander verglichen werden.

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66 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-61: Aufbau eines parametrischen Berechnungsmodells für Fahrzeugstrukturen in SFE CONCEPT.

1.3.2.5 Parametrische Berechnungsverfahren

Um Aussagen zu den Struktureigenschaften treffen zu können, bieten sich in der Frühphase parametrische FEM-Berechnungsmodelle an. Als Werkzeug wird u. a. SFE CONCEPT verwendet, Bild 1-61 [5]. Dieses Tool bietet die Möglichkeit, parametrisch topologisch beschriebene Geometrie zu erzeugen und von dieser sehr schnell FEM-Modelle abzuleiten. Typische parametrische Beschreibungselemente sind Punkte, Linien, Flächen, Profile, Balken und Knoten, zwi-schen denen dann topologische Abhängigkeiten definiert werden. Änderungen im Konzept können mit einer so beschriebenen Geometrie schnell in Be-rechnungsmodelle überführt werden, die Aussagen zu Karosseriesteifigkeiten, Crashver-halten etc. erlauben.

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1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen 67

Bild 1-62: Beispiele für FEM-Anwendungen mit parametrischen Berechnungsmodellen (vgl. Bild 1-61).

Somit können Konzeptalternativen in kurzer Zeit bearbeitet werden, was insbesondere in der Konzeptphase von Bedeutung ist, um Designvorschläge praktisch zeitgleich beurtei-len zu können. Typische Beispiele zu Anwendungen der parametrischen Berechnungsmodelle sind in Bild 1-62 dargestellt.

1.3.2.6 Modularer Berechnungsmodell-Aufbau

Bild 1-63 zeigt schematisch den aktuellen Prozess, bei dem auf der Basis von Modulen bereits in der Frühphase der Produktentstehung sehr schnell Berechnungsmodelle aufge-baut werden können.

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68 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-63: Modularer Berechnungsmodell-Aufbau.

Dazu sind in einer Datenbank Komponentenmodelle aus verschiedenen Entwicklungs-ständen und/oder Projekten als so genannte Includefiles abgelegt. Diese werden über ein Steuerfile eingelesen und über fest definierte Starrkörperelemente mit der Karosserie-struktur verbunden. Je nach Entwicklungsphase kann das Finite-Elemente-Modell der Karosseriestruktur auf der Basis von gespiegelten SFE-Halbmodellen, unsymmetrischen SFE-Modellen oder CAD-Daten erstellt sein. Durch einen hohen Automatisierungsgrad lassen sich so sehr schnell Crash- und Trimmed-Body-Berechnungsmodelle aufbauen. Bei Trimmed-Body-Berechnungsmodellen handelt es sich um teilausgestattete Fahr-zeugmodelle, die für NVH-Untersuchungen (Schwingungskomfort, Akustik) Verwen-dung finden. Die Komponentendatenbank kann permanent parallel zum Projekt weite-rentwickelt und gepflegt werden.

1.3.2.7 Strömungsberechnung (CFD)

Als äußerst wichtig für die Design-Begleitung in der Konzeptphase hat sich der umfas-sende Einsatz der Strömungsberechnung (CFD, Computational Fluid Dynamics) erwie-sen. Die auch im Design-Prozess immer früher erzeugten Außenhaut-Daten erlauben z. B. eine frühzeitige Abschätzung des Luftwiderstandsbeiwertes cw und der für die Fahrdynamik wichtigen Auftriebsbeiwerte an Vorder- und Hinterachse.

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1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen 69

Die Untersuchungen von Details – z. B. die Untersuchung von Ausströmerkonzepten – basiert häufig nur auf Konzeptschnitten, aus denen dann die Geometrie abgeleitet und berechnet wird. Neben der Aufbereitung der Geometrie ist für den Prozess der konzeptbegleitenden Strömungsberechnung eine schnelle Modell-Generierung Voraussetzung. Dafür wurde ein spezielles Pre-Processing-Verfahren entwickelt [6], das Volumennetze für die CFD-Codes innerhalb von Stunden generiert. Neben den schon erwähnten Einsatzgebieten werden auch Konzeptuntersuchungen von Dachöffnungssystemen (Wummern), lokaler Strömungseigenschaften z. B. Spiegelums-trömung, Seitenscheiben-Verschmutzung, Motorraum-Durchströmung und Bestimmung von Druckprofilen an Außenflächen zur Lage-Optimierung von Lufteinlässen (Kühler-grill, Rohluftansaugung) durchgeführt. In Bild 1-64 sind beispielhaft Berechnungs- und Versuchsergebnisse für eine Spiegelumströmung dargestellt. Die gute Übereinstimmung zwischen der Simulation und der späteren Absicherung im Versuch ist deutlich zu erken-nen. Diese Arbeiten dienen der Vermeidung von in der Regel aufwändigen Änderungen an Außenhautteilen im späteren Entwicklungsstadium und sind ein typisches Beispiel für frühzeitige Konzeptabsicherung.

Bild 1-64: Prognosegüte am Beispiel Ablösebereich an einem Außenspiegel.

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Bild 1-65: Beispiele für Strömungsberechnungen zu instationären Einflüssen von Dachöffnungs-systemen.

Bild 1-65 zeigt dazu ein Simulationsmodell für Dachöffnungssysteme, mit dem das Wummern bei geöffnetem Schiebedach untersucht wurde. Dabei waren Maßnahmen zu finden, mit denen Wummer-Erscheinungen minimiert werden können. Das von Passa-gieren als unangenehm empfundene Geräusch entsteht durch Druckschwankungen, die oberhalb der Dachöffnung auftreten können. Hierbei bildet der Fahrzeuginnenraum einen Helmholtz-Resonator. Es hat sich gezeigt, dass CFD heute auch in der Lage ist, Klimatisierungskonzepte zu überprüfen und auszulegen. Fragestellungen hierzu sind in der Konzeptphase u. a.:

� Welche Querschnitte sind erforderlich?

� Wie müssen die Ausströmer angeordnet werden?

� Welche Grundform und Anordnung muss der Ausströmer zur Sicherstellung optimaler Be-/Entlüftungsverhältnisse haben?

Bild 1-66 zeigt dazu ein CFD-Simulationsmodell zur Klärung der Fragestellung, wie eine hinten liegende Klimaanlage die Insassen gleichmäßig mit einem Luftstrom versorgen kann. Die Ergebnisse hieraus ergeben die Antworten auf die oben gestellten Fragen.

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1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen 71

Bild 1-66: Beispiel für Strömungsberechnung zur Auslegung von Klimakanälen.

1.3.2.8 Mehrkörpersimulation (MKS)

Zur Berechnung der Achs-Elastokinematiken wie zur Simulation von Gesamtfahrzeug-verhalten hinsichtlich Längs-, Quer- und Vertikaldynamik hat sich die Methode der Mehrkörper-Systeme (MKS) in der Fahrzeugentwicklung bewährt. Bei diesem Verfahren werden die Geometrien (im Wesentlichen Fahrwerksteile) zunächst als starre Körper diskretisiert und über Feder- und Dämpferelemente gekoppelt. Zur Anwendung in der Konzeptphase ist auch hier der schnelle Modellaufbau ausschlag-gebend. Bild 1-67 zeigt ein Gesamtfahrzeugmodell zur Simulation des Spurwechselver-haltens in Abhängigkeit von Reifen-/Achsdaten, Feder-/Dämpferabstimmung und Fahr-zeug-Schwerpunktlage.

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Bild 1-67: Beispiel für MKS-Modelle in der Konzeptphase: Gesamtfahrzeugmodell.

Ähnliche Modelle erlauben die Bestimmung von Karosserie-Belastungen bei Überfahrten von Extremhindernissen oder Fahrmanövern und Antriebsstranguntersuchungen. Die ermittelten Belastungen dienen anfangs zu Grundauslegungen und sind später Eingangs-größen für weitergehende Betriebsfestigkeitsanalysen.

1.3.2.9 Blattfedergeführte Starrachse

Im Nutzfahrzeugbau weit verbreitet sind blattfedergeführte Starrachsen mit linearen oder progressiven Parabelfedern. Eine wesentliche Eigenschaft dieser Achsen ist das Roll-Lenken, d. h. der durch das Wanken des Aufbaus bei Kurvenfahrt hervorgerufene Achs-Lenkwinkel. Dieser kann zur Erzielung bestimmter Fahreigenschaften bzw. zur Kompen-sation von Beladungseinflüssen erwünscht sein und hängt bekanntlich u. a. von Federnei-gung, Federsprengung, Auswalzung der Feder, Anschlagpuffer etc. ab. Zur Auslegung wurde ein gekoppeltes und weitgehend „automatisiert“ arbeitendes Be-rechnungsverfahren entwickelt [7], das zunächst über FORTRAN-Routinen die Federaus-legung vornimmt und anschließend einen Datensatz für ein standardisiertes Starrachs-Modell (FEM-Code ABAQUS) erstellt. Das Modell berücksichtigt dabei auch Federein-spannung, Einspannungs-Elastizität, Federaugenelastizität etc.. Programmablauf und Ergebnisauswertung erfolgen dabei „selbsttätig“. Durch diesen parametergesteuerten Ablauf ist es möglich, wesentliche Achsgeometrien in schneller Abfolge zu untersuchen, Bild 1-68. Dies ist notwendig, da Achskonzept und -geometrie das gesamte Hinterwa-genkonzept beeinflussen, insbesondere:

� Rahmen-Form � Lage der Querträger � Tankanordnung � Dämpferanordnung � Zusatzfeder/-Anordnung etc.

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1.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Konzeptphase von Nutzfahrzeugen 73

Bild 1-68: Simulation des Lenkverhaltens (Rolllenken) bei Starrachsen.

Das hier genannte Verfahren ist ein weiteres, typisches Beispiel für Simulationsverfahren in der Konzeptphase, die mittels einfacher Beschreibung durch wenige Parameter komp-lexe Berechnungen ermöglichen und damit eine wesentliche Grundlage für die Konzept-auslegung darstellen.

1.3.3 Virtuelle Produktentwicklung in der Zukunft

Die aufgezeigten Beispiele zu Simulationsmodellen belegen, dass wesentliche Fortschrit-te bei der Simulation von Fahrzeugeigenschaften in der Konzeptphase erreicht wurden. Weitere Arbeiten werden zukünftig darin bestehen, einen Simulations-Baukasten zu entwi-ckeln, der alle wesentlichen Fahrzeugeigenschaften in der Konzeptphase abzusichern hilft. Einen Konzeptansatz (SIMBAUK) [8] zeigt Bild 1-69. Darin sollen alle wesentlichen Berechnungstechniken (parametrische Package-Modelle, FEM, CFD, MKS, Fahrleistungs- und Verbrauchsmodelle etc.) integriert und über Para-meter-Steuerung schnell veränderbar gehalten werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Simulations-Umfang innerhalb der Phase der Konzeptentwicklung zukünftig noch erheblich ausgebaut werden wird, um das Ziel einer verlässlichen Konzeptabsicherung vor dem Bau der ersten Prototypen zu erreichen. Dazu ist neben einem weiteren Ausbau der Simulations-Umfänge und -Prozesse auch ein voll-ständigeres Produktdaten-Management unter Einbeziehung der nachfolgenden Serien-entwicklungsprozesse notwendig.

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74 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-69: Konzeptansatz für einen Simulations-Baukasten.

Literatur zu Abschnitt 1.3

[1] Pape, E.; Oehlschlaeger, H.: Die Zukunft des Leichten Nutzfahrzeuges als eigenständiges Fahrzeugsegment zwischen Lkw und Pkw. VDI/VW Gemeinschaftstagung in Wolfsburg, 23.11.2001

[2] Balk, A; Oehlschlaeger, H.: Vorentwicklung in der Nutzfahrzeugindustrie: Organisation, Methoden und Prozesse. EUROFORUM, Königswinter 1999, Vorentwicklung – Schlüssel-faktor der F & E Effizienz

[3] Oehlschlaeger, H.; Krebs, J.: Einsatz virtueller Technologien in der Konzeptentwicklung bei Volkswagen Nutzfahrzeuge. VDI-Tagung Der Fahrer im 21. Jahrhundert, Braunschweig, Ju-ni 2003

[4] Vienenkötter, A.: Entwicklung einer Versuchsplattform für den Einsatz der AR-Technologie in der Automobilvorentwicklung. Diplomarbeit, Universität Paderborn, März 2003

[5] Zimmer, H.; Hövelmann, A.; Schmidt, H.; Umlauf, U.; Frodl, B.; Hänle, U.: Entwurfstool zur Generierung parametrischer, virtueller Prototypen im Fahrzeugbau. VDI BERICHTE Nr. 1559, 2000

[6] Sydell, B.: Vergleich von Effizienz und Aussagesicherheit unterschiedlicher Berechnungsver-fahren und Turbulenzmodellierungen in der Fahrzeuginnen- und Außenströmung. Star-CD-User-Tagung, Berlin 2003

[7] Oehlschlager, H., Tautenhahn, W.: Das Roll-Lenken von blattfedergeführten Starrachsen. ATZ 9/1990, S. 488

[8] Oehlschlaeger, H.; Kölsch, D.; Jelich, F.: SIMBAUK – ein Simulationsbaukasten für die Nutzfahrzeug-Konzeptentwicklung. VDI-Tagung, München 1999

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1.4 Beschleunigung des Produktprozesses 75

1.4 Beschleunigung des Produktprozesses

1.4.1 Einleitung

Die erneute Beschleunigung des Produktprozesses braucht eine Entschleunigung, damit nur das getan wird, was auch wirklich getan werden muss.

The renewed acceleration of the product process needs deceleration.

This is necessary in order to do only what actually has to be done.

„Entschleunigung” als Kunstwort im Kontext des Produktprozesses scheint zunächst etwas ungewöhnlich und im Widerspruch zu den Zielen eines jeden Unternehmens zu stehen. Denn jedes Unternehmen verfolgt das Ziel, seinen Entwicklungsprozess zu be-schleunigen, um dem Kunden seine Produkte in kürzerer Zeit, mit besserer Qualität und zu einem günstigeren Preis anzubieten. Ausgehend von der These: Eine erneute Beschleunigung des Produktprozesses kann er-reicht werden, wenn die drei Komponenten Prozess- und Struktur-Organisation, DV-Technik und Qualifizierung der Mitarbeiter ausschließlich aufeinander abgestimmt, an-gepasst werden. Das Optimum der Beschleunigung ist erreicht, wenn die drei Komponen-ten, wie in Bild 1-70 dargestellt, im Gleichgewicht zueinander stehen. Im Folgenden werden diese drei Komponenten als Beschleunigungskomponenten bezeichnet. Im Folgenden wird gezeigt, wie die oben aufgestellte These durch die tägliche Arbeit im Produktentstehungsprozess bestätigt wird.

Bild 1-70: Gleichgewichtsdreieck der Beschleunigungskomponenten Prozess- und Struktur-Orga-nisation, DV-Technik, Qualifizierung der Mitarbeiter.

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Betrachtet man die Produktentstehung eines Pkw, so hat diese sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Ausgehend von einer sequentiellen Arbeitsweise wurde in den letzten Jahren der Übergang zu einer simultanen Arbeitsweise vollzogen. Hierfür sind alle Arbeitsweisen längs der gesamten Prozesskette zu überarbeiten. Aus Sicht der Entwicklung steht dabei im Vordergrund, dass mit unreifen, noch nicht voll-ständig auskonstruierten Daten und Informationen im Prozess weitergearbeitet werden muss. Diese Daten und Informationen werden, wie in Bild 1-71 dargestellt, an neuen Übergabepunkten zwischen den einzelnen Funktionsbereichen der Produktentstehung weitergegeben.

Bild 1-71: Einfluss der simultanen Entwicklung auf den Gesamtprozess [Quelle: AUDI AG].

Zeichnen sich im Laufe des Entwicklungsprozesses noch weitere konstruktive Erkenn-tnisse ab, so ist sicherzustellen, dass diese Erkenntnisse allen betroffenen Fachgruppen zeitnah zur Verfügung gestellt werden. Dies erfordert einen sehr flexiblen Änderungspro-zess. Durch den so angepassten Produktprozess wurde eine deutliche Verkürzung der Entwicklungszeiten eines Pkw erreicht. Begleitend zu diesen Anpassungen sind weitere, parallele Veränderungen durchzuführen in: 1. der Prozess- und Struktur-Organisation,

2. der DV-Technik und

3. der Qualifizierung der Mitarbeiter.

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1.4 Beschleunigung des Produktprozesses 77

1.4.2 Die drei Beschleunigungskomponenten

1.) Im Bereich der Prozess- und Struktur-Organisation erfolgt in den einzelnen Auto-mobil-Unternehmen der Wechsel von der seriellen hin zu einer simultanen Arbeits-weise kontinuierlich. Dafür wird die traditionelle Linienorganisation, vgl. Bild 1-72, durch eine Matrix-Organisation, gepaart mit einer fachgruppenübergreifenden Team-organisation, ersetzt. Die Kombination zwischen fachlich geführt und organisatorisch zugeordnet ergab ei-ne neue Führungsorganisation, die sich in den Berichtswegen und -inhalten wider-spiegeln musste. Dafür war es erforderlich, die kontinuierlichen Berichte und Präsen-tationen an die neue Organisationsform anzupassen.

Bild 1-72: Prozess- und Struktur-Organisation.

2.) Die Veränderungen im Einsatz der DV-Technik waren ebenso bemerkenswert. Hier

seien nur einige markante Technologien hervorgehoben, die den Produktprozess wesentlich veränderten. Der durchgängige Einsatz der elektronischen Bürokommu-nikation, ohne die unsere heutige Kommunikationsgesellschaft nicht denkbar wäre, steht hier für einen Vertreter diese Entwicklung. Nichts geht mehr ohne E-Mail, Internet und elektronischen Kalender. Gleichsam ist der flächendeckende Einsatz von virtuellen Techniken zur Unterstützung der Konstruktion aus dem heutigen All-tag nicht mehr wegzudenken. Alle Bereiche des Produktprozesses werden heute mit virtuellen Techniken unterstützt. In Bild 1-73 sind einige davon dargestellt. Das Zusammenfügen der Konstruktionsdaten im DMU (digital mock-up) zu virtuellen Prototypen unterstützt den Konstrukteur bei seiner täglichen Arbeit. Im gleichen Maße werden diese Daten für die Auslegungs- und Absicherungssimulation einge-setzt. Im Sinne des simultanen Prozesses werden die Daten für die ersten Untersu-chungen im Kontext der digitalen Fabrik genutzt. All diese Maßnahmen führen be-reits in der frühen Produktphase zu einer deutlich erhöhten Produktreife und unters-tützen die Beherrschung der gestiegenen Produktkomplexität.

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78 1 Gesamtfahrzeug

Bild 1-73: Einsatz von DV-Techniken im Konstruktionsumfeld.

In der DV-Technik wurden weitere wesentliche Technologien zur Verkürzung des Produktprozesses zur Verfügung gestellt. Sie führen dazu, dass es eine 24 Std. Be-triebsgarantie der wesentlichen DV-Systeme rund um den Globus gibt. In Bild 1-74 ist die Möglichkeit einer länderübergreifenden Zusammenarbeit sowie die Möglich-keit einer 24 Std.-Entwicklung durch die Arbeit in unterschiedlichen Zeitzonen dar-gestellt. Die durchgängige Nutzung dieser kollaborativen Technologien wird in naher Zukunft den Produktprozess abermals wesentlich verändern.

Bild 1-74: 24 Std. Betriebsgarantie.

Einen weiteren wesentlichen Einfluss auf den Produktprozess stellt die DV-Sicherheitstechnik dar. Sie hat die Aufgabe, die Angriffe von außen abzuwehren, die beispielsweise durch Viren oder Würmer erfolgen. Diese Angriffe können zu Daten-verlusten führen oder aber geheime Entwicklungsdaten Dritten zugänglich machen. Ohne eine DV-Sicherheitstechnik ist eine moderne Entwicklung komplexer Produkte nicht mehr möglich.

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1.4 Beschleunigung des Produktprozesses 79

Diese Liste der Einflüsse der DV-Technik auf den Produktprozess könnte noch viele Seiten füllen. Aus allem wird deutlich, wie stark der Produktprozess von der DV-Technik abhängig ist.

3.) So hat sich auch in der Mitarbeiter-Qualifizierung in den letzen Jahren sehr viel getan. Das Beherrschen von DV-Techniken stellt einen wesentlichen Teil des aktuel-len Schulungsbedarfs dar. Die Vermittlung des Wissens setzt dabei auf einem hohen Stand der bereits vorhandenen Qualifikationen auf. In Bild 1-75 wird eine Form der Wissensvermittlung dargestellt, die auf einer Kombination von theoretischen Grund-lagen und praktischen Übungen basiert.

Bild 1-75: Mitarbeiterqualifikation.

Neben dieser Technologie getriebenen Ausbildung umfasst die Schulung der Mitarbei-ter auch die Vermittlung von neuem Prozesswissen und Arbeitstechniken. Bild 1-76 verdeutlicht, dass sich die Arbeitsweisen der Fachgruppen durch die Einführung der si-multanen Arbeitsweise wesentlich verändert haben.

Bild 1-76: Veränderung der Aufgabenprofile.

Die Kommunikation erfolgt nicht mehr in separaten Fachteams, sondern in fachbereichs-übergreifenden Teams, die häufig nicht alle an einem Ort arbeiten. Videokonferenzen und der Einsatz von Sharing-Systemen im Produktprozess erfordern gesonderte Schu-lungsmaßnahmen. Dadurch nimmt das überfachliche Training zunehmend mehr Raum in den Ausbildungsplänen ein. Speziell im Bereich der Kommunikations- und Präsentations-techniken sowie im Umgang mit Kunden liegen hier die Seminarschwerpunkte.

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Bild 1-77: Potential im ersten Optimierungsschritt.

Die aufgeführten Beispiele der durchgeführten Veränderungen in den Beschleunigungs-komponenten Prozess-Struktur-Organisation, DV-Technik und Qualifizierung der Mitar-beiter führten jede für sich zu einer Beschleunigung des Produktprozesses. Bild 1-77 stellt diese Vorgehensweise abstrahiert dar. Jede der drei Beschleunigungskomponenten wird durch einen eigenen Kreis symbolisiert. Je mehr Veränderungen innerhalb einer Komponente durchgeführt werden, umso größer wird der Kreis und die Beschleuni-gungskurve steigt stark an. Jede der Beschleunigungskomponenten kann sich unabhängig von den anderen entwickeln, was wiederum zu einer Beschleunigung des Produktprozes-ses führt. Der in Bild 1-77 dargestellte Zustand könnte zeitlich vor der Einführung des Simultaneous Engineering -Prozesses in der Phase 1 durchgeführt worden sein. In dieser Phase gab es noch sehr viel Potential innerhalb der jeweiligen Komponente. Jede der drei Beschleunigungskomponenten hat die unabhängig voneinander existieren-den Potentiale genutzt. Es entstanden effiziente Lösungen innerhalb der einzelnen Be-schleunigungskomponenten. Die Erfolge waren sehr schnell sehr groß, da es sich um ungenutzte Potentiale handelt. Nach dem Abschluss der ersten Optimierungsphase waren die schnell zu nutzenden Po-tentiale ausgeschöpft. Die größer werdenden Kreise in Bild 1-78 symbolisieren die weite-ren Veränderungen. Es ist ein Zustand dargestellt, in dem sich die einzelnen Beschleuni-gungskomponenten thematisch schon stark überschneiden. Hier ist jetzt eine weitere, unabhängige Optimierung der einzelnen Themengebieten ohne ein Absinken der Opti-mierungserfolge nicht mehr möglich. Werden die Arbeiten ungehindert weiter fortge-führt, kommt es zu ineffizienter Doppelarbeit. Jeder weitere Ausbau führt zwangsläufig zu einer Dopplung der Aktivitäten pro Thema. Wie in Bild 1-78 dargestellt, sinken die Beschleunigungskurve und damit die Erfolge zur Beschleunigung des Produktprozesses.

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1.4 Beschleunigung des Produktprozesses 81

Bild 1-78: Überlagerung der Einflussbereiche der Beschleunigungskomponenten.

Um die Nachhaltigkeit des Erreichten zu gewährleisten und den Beschleunigungsprozess kontinuierlich voranzutreiben, folgt nun eine Phase, in der erst durch Synchronisation der einzelnen Beschleunigungskomponenten eine erneute Beschleunigung möglich wird. Durch diese Maßnahme erscheint es zunächst so, als würde Schwung aus der Verände-rung herausgenommen werden. Aus Sicht der einzelnen Komponente stimmt das sogar, vgl. Bild 1-79. Erst nach einer inhaltlichen und zeitlichen Harmonisierung mit den anderen Beschleuni-gungskomponenten werden die abgestimmten Aktivitäten fortgesetzt. Durch diese Har-monisierung kommt es zu einer effektiven Zuordnung der anliegenden Aufgaben und damit zu einer frühzeitigeren Zielerreichung bei einem gleichzeitig ruhigeren Projektab-lauf.

Bild 1-79: Phasen der Veränderung im Produktprozess.

Das Durchlaufen dieser zwei Phasen zeigt sich auch in unserem heutigen Alltag recht häufig, wenn es um Veränderungen oder um Neuerungen in den DV-Techniken geht. Diese Veränderungen sind häufig gekoppelt an Veränderungen der Arbeitsabläufe und dies wiederum erfordert eine neue Qualifizierung der Mitarbeiter. Werden parallel zu den Veränderungen in den DV-Techniken auch Veränderungen in der Beschleunigungskom-ponente Prozess- und Struktur-Organisation durchgeführt, so erfordert diese wiederum eine angepasste DV-Technik. Für das Unternehmen ergibt sich die Konsequenz, dass ein beträchtlicher Mehrbedarf an Qualifizierung seiner Mitarbeiter hinsichtlich der Einarbei-tung in neue DV-Systeme und Arbeitsprozesse entsteht.

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Gesamtheitlich betrachtet zeigt dieses Beispiel, dass die notwendige Beschleunigung des Entwicklungsprozesses in Stagnation geraten kann, obwohl alle Beteiligten weiterhin mit der Optimierung der einzelnen Beschleunigungskomponenten beschäftigt sind. Jeder möchte das Beste und arbeitet hoch engagiert. Doch das so erreichte Gesamtergebnis, als Summe der Einzelaktivitäten in den Beschleunigungskomponenten bleibt hinter dem möglichen Gesamtergebnis weit zurück. Hier führt ein harmonisiertes Vorgehen zu einer Entschleunigung der Einzel-Aktivitäten bei einer gleichzeitigen Beschleunigung des Gesamtprozesses. Anhand dieser Erkenntnisse kann das folgende Vorgehen abgeleitet werden. Sein Einsatz hat sich zur Vermeidung von Doppelarbeit und zur Harmonisierung des Gesamtergebnis-ses in zahlreichen Projekten als praktikabel und vorteilhaft erwiesen. So wird die Aufgabenstellung gesamtheitlich formuliert und den drei Beschleunigungs-komponenten zugeordnet. Durch diese Detaillierung werden der Komplexitätsgrad der Aufgabe und der Harmonisierungsbedarf zwischen den drei Beschleunigungskomponen-ten deutlich. Eine gezielte Abarbeitung ist in jeder Komponente jetzt möglich. Durch diese Abstimmungen wird die Gefahr der Doppelarbeit und des Stagnierens oder Absin-kens der Beschleunigungskurve vermieden. Begleitend dazu ist es erforderlich, für jedes Projekt den Rahmen festzulegen, in dem es sich bewegen darf. Das sind verbindliche Festlegungen des Projektverantwortlichen. Sie sind zwingend einzuhalten. Im Einzelnen könnten es die folgenden Vorgaben sein: Für die Prozess- und Struktur-Organisation

� Die Teamarbeit ist das tragende Element einer Simultaneous Engineering Entwicklung.

� Einflüsse auf die Zusammenarbeit mit internen und externen Partnern sind zu ermitteln und besonders auszuweisen.

� Einflüsse auf Freigabe- und Änderungsprozesse sind besonders auszuweisen.

Für die DV-Technik könnten sie lauten:

� Die Systemstrategie und die damit verbundenen Masterdatenobjekte sind solange ver-bindlich, bis eine Veränderung entschieden wurde.

� Neue Themen sind immer auf Querverbindungen zu vorhandenen DV-Systemen hin zu prüfen.

Im Bereich der Mitarbeiter-Qualifikation ist eine mögliche Vorgabe:

� Ergänzende Bildungsangebote sind besonders auszuweisen.

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1.4 Beschleunigung des Produktprozesses 83

1.4.3 Ausgewählte Beispiele

Das Vorgehen soll an dem folgenden DV-Beispiel erläutert werden: Ein neues CAD-System bietet interessante Möglichkeiten zur parametrisch assoziativen Konstruktion. Aus Sicht der DV-Technik ist sie potentiell vorteilhaft. Doch was heißt das für das Gleichgewichtsdreieck der drei Beschleunigungskomponenten. Wie ist es zu erreichen, dass ein harmonisiertes Ergebnis entsteht?

Im 1. Schritt sind gesamtheitliche Aufgabenstellungen wie in Bild 1-80 dargestellt zu formulieren. Sie verdeutlichen, dass es sich hierbei um eine sehr stark vernetzte Aufgabe handelt mit einem hohen Grad an Harmonisierungsbedarf zwischen den drei Beschleuni-gungskomponenten. Einige Fragestellungen für eine Abstimmung der drei Beschleuni-gungskomponenten untereinander sind im Folgenden beispielhaft aufgeführt.

Bild 1-80: Gesamtheitliche Fragestellungen zur Einführung eines parametrisch, assoziativen CAD-Systems.

An die Prozess- und Struktur-Organisation:

� Ist der aktuelle Freigabeablauf geeignet für eine parametrisch assoziative Konstruktion?

� Unterstützt der heutige Änderungsprozess die parametrisch assoziative Arbeitsweise?

� Wer hat die Verantwortung für die Parametrik und Assoziativität entlang des Produkt-prozesses?

� Wie sind die Informations- und Berichtswege zu gestalten?

� Wie wird ein parametrisch assoziativer Datensatz monetär bewertet? – Ist ein parametrisch assoziativer Datensatz mehr wert? – Wie müssen die Kalkulationsunterlagen überarbeitet werden? – Wenn Änderungen jetzt schneller erfolgen, wie wirkt sich das auf die Folgeprozesse

aus?

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An die DV-Technik:

� Bieten die vorhandenen Archivierungssysteme Möglichkeiten an, parametrisch assozia-tive Datensätze so abzulegen, dass sie über Jahre hinweg revisionssicher sind?

� Sind parametrisch assoziative Datensätze auch bei einem Release- oder Systemwechsel der Software noch brauchbar?

� Ist der Datenaustausch mit internen und externen Partnern sicher durchzuführen?

� Ist das Berechtigungskonzept noch ausreichend?

An die Mitarbeiter-Qualifikation und Qualifizierung:

� Wie kalkuliert man parametrisch assoziative Konstruktionen für eine qualifizierte Ver-gabe?

� Wie müssen Schulungen jetzt gestaltet werden, um die Prozessdurchgängigkeit zu er-halten?

� Welche Mitarbeiter benötigen eine spezielle Schulung und mit welchem Tiefgang muss geschult werden?

Die Durchführung dieser Aufgaben erforderte einen fachbereichsübergreifenden Projekt-ansatz, da zu erwarten war, dass hier alle drei Beschleunigungskomponenten in einen Veränderungsprozess einbezogen werden müssen. Die Zusammensetzung der Teams orientierte sich an den erforderlichen Wissens-Profilen, denn diese Aufgabe erforderte nicht nur technisches Know-how, sondern auch Wissen über Arbeitsabläufe und die Sen-sibilität gegenüber den beteiligten Kollegen. Ein weiteres Beispiel für die Anwendung der vorgestellten Vorgehensweise kommt aus dem Bereich der Prozessoptimierung. Hierbei sollte ein Vorgehen zur „Verkürzung der Bauzeit von Prototypen“ erarbeitet werden. Die konkrete Aufgabenstellung lautete: Verkürzung der Aufbauzeiten von Prototypen bei gleichzeitiger Qualitätsverbesserung zu geringeren Kosten. Es war klar, dass diese Auf-gabe nur gelöst werden kann, wenn ein harmonisches Gleichgewicht zwischen einer er-forderlichen Prozessanpassung, dem begleitenden Einsatz von DV-Techniken und eine neue Art der Mitarbeiterqualifizierung besteht. Der vorgegebenen Projektrahmen hieß: Alle Störgrößen, die die Aufbauzeiten verlängern, sind in der Phase der Bauvorbereitung zu klären und ggf. zu beheben. Einige der als Störgrößen erkannten Probleme waren: nicht termingerechte Datenüberga-ben, unreife Datenstände mit Verbaubarkeitsproblemen, unzureichende Verbindungsin-formationen zum Befestigen von Bauteilen an der Karosserie, zu lange Beschaffungspro-zesse für Versuchsteile, unkonkrete Beschreibungen zum Aufbau der Prototypen. Durch die Einführung der Phase der Bauvorbereitung war es möglich, die erkannten Stör-größen weitgehend zusammenzufassen und eine Zuordnung der Probleme zu den einzelnen Beschleunigungskomponenten unseres Gleichgewichtsdreiecks durchführen, vgl. Bild 1-81.

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1.4 Beschleunigung des Produktprozesses 85

Bild 1-81: Beispiel zur Verkürzung der Bauzeit von Prototypen, das mit dem Gleichgewichtsansatz durchgeführt wurde.

Gemäß dem entwickelten Vorgehen erfolgte eine Zuordnung der erkannten Aufgaben zu den drei Beschleunigungskomponenten des Gleichgewichtsdreiecks. Innerhalb der ein-zelnen Beschleunigungskomponenten wurden unterschiedliche Arbeitsgruppen gebildet, die über die Projektleitung miteinander verzahnt waren. Wie in Bild 1-82 dargestellt, umfasste die Arbeit der einzelnen Gruppen folgende Aufgaben: Die Prozess- und Struktur-Organisations-Gruppe kümmerte sich um die Punkte:

� nicht termingerechte Datenübergaben,

� zu lange Beschaffungsprozesse für Versuchsteile,

� unkonkrete Beschreibungen zum Aufbau der Erprobungsträger.

Die Aufgabe der DV-Technik-Gruppe umfasste die Klärung der Punkte:

� Umgang mit unreifen Datenständen mit Verbaubarkeitsproblemen,

� Umgang mit unzureichenden Verbindungsinformationen zum Befestigen von Bauteilen an der Karosserie.

Die Schulungs-Gruppe kümmerte sich um den Aufbau einer Prozess- und Methodenschu-lung für die Projektmitglieder.

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Bild 1-82: Beispiel zur Verkürzung der Bauzeit von Prototypen, das mit dem Gleichgewichtsansatz durchgeführt wurde.

Damit war eine weitgehend parallelisierte Bearbeitung der einzelnen Aufgaben, bei gleichzeitiger Vermeidung von Doppelarbeit, möglich. An diesem konkreten Projekt konnte gezeigt werden, welches Potential in dem vorgestellten Vorgehen steckt. In Bild 1-83 sind die Ergebnisse des Projektes dargestellt. Es entstanden optimierte Prozesse mit einer auf sie abgestimmten DV-Lösung und einem angepassten Schulungskonzept. Nach einem dreiviertel Jahr Vorarbeit wurden die Ergebnisse des Projektes in einem konkreten Fahrzeugprojekt eingesetzt. Um einige weitere Verbesserungen angereichert, wird dieser Arbeitsprozess jetzt in allen weiteren Projekten eingesetzt. Das gewählte Vorgehen hat das gewünschte Ziel voll erreicht.

Bild 1-83: Projektbezogenes Gleichgewichtsdreieck.

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1.4 Beschleunigung des Produktprozesses 87

Durch die Harmonisierung der drei Beschleunigungskomponenten „Prozesse und Struk-tur-Organisation, DV-Technik und Qualifizierung der Mitarbeiter“ entstanden Lösungen, die jede Komponente für sich allein nie hätte erreichen können. Damit hat sich die zuvor aufgestellte These „Eine erneute Beschleunigung des Produkt-prozesses kann erreicht werden, wenn die drei Beschleunigungskomponenten: Prozess- und Struktur-Organisation, DV-Technik und Qualifizierung der Mitarbeiter ausschließ-lich aufeinander abgestimmt, angepasst werden. Das Optimum der Beschleunigung ist erreicht, wenn die drei Beschleunigungskomponenten, wie in Bild 1-83 dargestellt, im Gleichgewicht zueinander stehen.“.

1.4.4 Zusammenfassung und Ausblick

Der ständig steigende Anspruch nach einer kontinuierlichen Beschleunigung des Pro-duktprozesses erfordert begleitende Vorgehensweisen, die dies ermöglichen. Das vorges-tellte Vorgehen geht von einer ganzheitlichen Betrachtung des Produktprozesses aus. Im Vordergrund steht die Abhängigkeit der Komponenten:

1. Prozess- und Struktur-Organisation,

2. DV-Technik und

3. Qualifizierung der Mitarbeiter.

Erfährt eine dieser drei Komponenten eine Veränderung, so beeinflusst dies nachhaltig auch die anderen beiden Komponenten. Werden diese nicht mit verändert, so kommt es zu einer Schieflage im Gesamtprozess. Es wurde gezeigt, dass nur in einem Gleichge-wichtszustand ein kontinuierliches Wachstum möglich ist. Anhand von konkreten Bei-spielen wurde das angewandte Vorgehen vorgestellt. Es hat sich im Alltag als praktikabel erwiesen und stellt damit eine Möglichkeit dar, um die Herausforderungen des Marktes auch in Zukunft bestehen zu können.

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1.5 Virtueller verteilter Entwicklungsprozess bei Abgasanlagen und -konzepten

1.5.1 Einleitung

Immer größer werdende Anteile der Entwicklungstätigkeiten werden vom Automobil-hersteller an Zulieferer und Ingenieurdienstleister als Komplettumfang extern vergeben. Hierbei handelt es sich einerseits um einzelne, vordefinierte Auslegungs- und Absiche-rungsaktivitäten, zum anderen aber auch um die Komplettentwicklung von ganzen Bau-teilsystemen. Diese Vorgehensweise trägt bei zu einem sinnvollen Ressourcenmanage-ment und bietet im Gewährleistungsfall eine klare Zuordnung von Verantwortung und Haftung. Damit die Aufteilung von Entwicklungsaufgaben zwischen internen und externen Part-nern nicht zu Qualitätseinbußen am zu entwickelnden Produkt führt, muss der Auto-mobilhersteller sicherstellen, dass die Durchführung des nun extern ablaufenden Ent-wicklungsprozesses bestimmten Qualitätsanforderungen genügt. Betrachtet man die herkömmlichen Qualitätssicherheitsmethoden, so fällt auf, dass deren Fokus meist auf die Bauteilqualität oder deren Fertigung ausgerichtet ist. Eine Bewertung der zur Bau-teilauslegung verwendeten CAE-Methoden hinsichtlich Aussagegüte und Qualität wird dabei nicht vorgenommen. Begründet ist dies zum einen durch Kosten- und Zeitdruck – die CAE-Methode soll möglichst schnell und kostengünstig angewendet werden – und durch die Vielseitigkeit der eingesetzten Berechnungsmethoden. Eine zeitintensive Qualitätssicherung jeder einzelnen angewandten Methodik würde schnell den Wert der Berechnung an sich in Frage stellen. Im Folgenden soll deshalb gezeigt werden, dass die Qualitätssicherung ausgewählter Berechnungsmethoden gerade im Bezug auf ein „Outsourcing“ ein merkliches Potenzial für Qualität und Kosteneinsparungen bildet. Konsequent angewendet, lässt sich so der Reifegrad des Bauteils schon im frühen Entwicklungsprozess erhöhen.

1.5.2 CAE-Methoden im Entwicklungsprozess Abgasanlage

Eine genauere Betrachtung der Integration von CAE-Methoden in den Entwicklungsab-lauf eines Abgasanlagensystems, wie es vor ca. 5 Jahren üblich war, bietet zahlreiche Optimierungsmöglichkeiten. Beim Automobilhersteller lag der gesamte Ablauf einer Abgasanlagenentwicklung sei-nerzeit komplett in der Hand der Abgasanlagen-Entwicklungsabteilung. In dieser Fachab-teilung lag die Verantwortung für die konstruktive Konzeptfindung und für den freige-benden Bauteilversuch. Berechnungsunterstützung wurde von einer organisatorisch ge-trennt lokalisierten Berechungsabteilung angefordert. Diese Entwicklungsleistung wurde

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1.5 Virtueller verteilter Entwicklungsprozess bei Abgasanlagen und -konzepten 89

angefordert in Form von einzelnen Berechnungsaufträgen. Der Abgasanlagenzulieferer wurde spät, d. h. erst nach der Entscheidung für ein Konzept eingeschaltet mit der Auf-gabenstellung, sich letztlich nur um die Fertigungsbelange der vorgegebenen Abgasanla-ge zu kümmern (Bild 1-84). Eine Komplettentwicklung von Abgasanlagen und damit auch die eigenständige Verantwortung für Berechnungsaktivitäten fand beim Zulieferer nur im Rahmen von so genannten Anpassungsprojekten ab. Hier war das Konzept bereits festgelegt, der Zulieferer kümmerte sich um die Fahrzeuganpassung der vorgegebenen Basisanlage. Geprägt von einer eher überschaubaren Anzahl verschiedener Fahrzeugpro-jekte funktionierte diese Konstellation lange Zeit zufriedenstellend. Mit Aufkommen einer größeren Modellvielfalt traten nun jedoch mehr und mehr Spitzenlasten auf, die zu Kapazitätsengpässen im Entwicklungsablauf führten. Sowohl Zulieferer als auch die interne Berechnungsabteilung gingen in dieser Zeit dazu über, temporäre Ressourcen-knappheit durch die Einbindung von Ingenieurdienstleistern zu kompensieren.

Bild 1-84: Alter Entwicklungsprozess: Trennung von Konstruktion, Versuch und Berechnungsakti-vitäten.

Die mit der steigenden Projektanzahl notwendig gewordene Kommunikation zwischen den Schnittstellen zeigte einen weiteren Nachteil der bestehenden Konstellation: Die für die Berechnungsaktivitäten verantwortlichen Ingenieure arbeiteten jeweils örtlich ge-trennt von den Konstrukteuren und Versuchsingenieuren, was der notwendigen Kommu-nikation zwischen den Disziplinen eher entgegenwirkte. In Folge wurden frühe Konzepte nur selten einer umfassenden rechnerischen Bewertung unterzogen. Der organisatorische und kommunikative Mehraufwand des Ansatzes „Berechnung als Dienstleitung“ war einfach zu groß, um eine saubere Verzahnung virtueller und realer Entwicklungsabläufe zu gewährleisten.

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Was zusätzlich die notwendige Kommunikation behinderte, war die Vielzahl und Unter-schiedlichkeit der vorhandenen und angewendeten Methoden bei allen Partnern (Bild 1-84). Hinzu kam, dass die Berechnungsabteilung, der Ingenieurdienstleister und der Zulie-ferer jeweils mit unterschiedlichen FEM-Solvern und Postprozessoren rechneten und auswerteten. Die Ergebnisdokumentationen war dementsprechend uneinheitlich, die technische Ergebniskontrolle schwierig. Vom unternehmerischen Standpunkt rangierte der gesamte CAE-Prozess in einer Grauzone, in der nicht immer nachvollziehbar war, welche Leistungen mit entsprechendem Erfolg erbracht worden sind. Die aktuell bei allen Automobilzulieferern gestarteten Produktoffensiven mit einer Viel-zahl von neuen Fahrzeugmodellen lassen sich mit der eingangs beschrieben Aufstellung der internen und externen Entwicklungsmannschaften nicht mehr abarbeiten. Gepaart mit gestiegenen Anforderungen an Qualität und Effizienz, wurde eine komplette Neuausrich-tung der CAE-Integration in den Entwicklungsprozess unumgänglich (Bild 1-85).

Bild 1-85: Aktuelle Aufstellung der Partner bei der Abgasanlagenentwicklung, einheitliche CAE-Methodik.

Die kommunikationsbehindernde Trennung von Konstruktion, Berechnung und Versuch wurde aufgehoben durch die Schaffung eines Teams aus erfahrenen Berechnungsinge-nieuren, örtlich lokalisiert in der Abgasanlagen-Entwicklungsabteilung. Dieser „Vor-Ort-Einsatz“ der Berechnungsingenieure ist dabei temporär. Die Mitarbeiter kehren von Zeit zu Zeit in die Berechnungsabteilung zurück, um dort – mit ihren gewonnenen Erfahrun-gen – der Methodenentwicklung neue Impulse zu geben. Die frühe Konzeptphase wird

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1.5 Virtueller verteilter Entwicklungsprozess bei Abgasanlagen und -konzepten 91

nun von einem massiven Einsatz virtueller Methoden dominiert. Im weiteren Entwick-lungsablauf wirkt die Berechung unterstützend, wobei klassische Felder des Versuchs, wie zum Beispiel die Dauererprobung nicht angetastet werden. Neben dieser beim Automobilhersteller intern abgelaufenen Umstrukturierung wurde auch die Einbindung der Zulieferer in den Entwicklungsprozess neu überdacht. Gerade im Bereich der Abgasanlagenentwicklung ist es einfach, komplette Arbeitspakete zu schnüren und diese komplett an einen Zulieferer zu vergeben. Die anfallenden Projekte werden nun gemäß ihrer Komplexität klassiert und entsprechend ganz oder teilweise vergeben. Der Zulieferer erhält damit ein hohes Maß an Verantwortung und ist aufgefor-dert, im Rahmen dieser Entwicklungspakete seine Arbeitsabläufe in Eigenverantwortung zu strukturieren. Dies gilt dementsprechend auch für anfallende Berechnungsumfänge, die ebenfalls komplett beim Zulieferer ablaufen sollen. Der Zulieferer ist aufgefordert, die notwendigen Berechnungsteams bereitzustellen und die Berechnung selbst mit Kons-truktion und Versuch in geeigneter Weise zu verzahnen. Er wird dabei selbstverständlich in gewissen Phasen in gleicher Weise externe Berechnungsdienstleiter in Anspruch neh-men wie das Entwicklungsteam beim Automobilhersteller. Um nicht nur die Zusammenarbeit in den Teams effizienter zu gestalten, sondern um gleichzeitig auch die Entwicklungsqualität zu steigern, wurde unter Berücksichtigung der schlechten Erfahrungen mit den bislang uneinheitlichen Berechnungsmethoden folgende Randbedingung formuliert: „Alle Partner im Rahmen eines Abgasanlagenentwicklungsprojekts (Automobilhersteller, Zulieferer u. Ingenieurdienstleister) bedienen sich bei den Standard-Berechnungsmethoden einer einheitlichen, vom Automobilhersteller vorgegebenen Methodik.

1.5.3 Numerischer Werkzeugkasten für Abgasanlagenberechnungen

In der Abgasanlagenentwicklung werden hauptsächlich nichtlineare Thermomechaniksi-mulationen und lineare Statik- und Dynamiksimulationen durchgeführt. Da die Thermo-mechanikberechnungen jeweils einen sehr hohen individuellen Vorbereitungsaufwand benötigen, wurde für einen ersten Schritt zu einer gemeinsamen Berechnungsmethodik nur der Bereich der linearen Festigkeitsrechung betrachtet. Eine Analyse der in den letz-ten 24 Monaten in diesem Bereich durchgeführten Berechnungen zeigt, dass die am meis-ten verwendete Rechenmethode (81 %) die Betriebsschwingungsanalyse (BSA) einer kompletten Abgasanlage unter motorischer Schwingungsanregung ist (Bild 1-86). Weite-re Methoden sind die rechnerische Modalanalyse (3 %), die nichtlineare Durchsenkung (2 %) und statische Berechnungen (14 %). Das höchste Potenzial für eine Vereinheitli-chung der Berechnungsmethodik mit gleichzeitig hoher Automatisierung bietet sich so-mit bei der rechnerischen BSA an.

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Bild 1-86: Häufigkeitsverteilung Berechnungsarten.

Die Idee, einen Berechnungsprozess vollkommen automatisiert ablaufen zu lassen, ba-siert auf verschiedenen Optimierungsansätzen, die nach und nach in der Berechnungsab-teilung formuliert wurden. Schon früh war der Ehrgeiz vorhanden, den kompletten Vor-gang einer rechnerischen BSA innerhalb eines Tages abzuschließen. Eine Analyse zeigte auffallend viele, immer wiederkehrende Teilvorgänge, was zu der Idee führte, diese Ein-zelschritte mit Hilfe der Skriptsprache Perl zu automatisieren. Mit der steigenden Anzahl von Berechnungsergebnissen kam zusätzlich der Wunsch auf, dauerhaft auf alle anfallen-den Ergebnisse während der aktiven Entwicklungszeit eines Projekts zugreifen zu kön-nen. Neben den Perl-Programmen zur Steuerung der Rechenabläufe wurde zusätzlich eine stringente Ordnungsstruktur für das Pre- und Postprozessing der Berechnungsaufga-ben eingeführt, welche seitdem unverändert die Grundlage aller automatisiert ablaufen-den Berechnungsvorgänge bildet. Verbesserte Computerhardware und die kontinuierliche Arbeit mit den erstellten Perl-Programmen führten dann zu dem Wunsch, einen Standard BSA-Durchlauf mit einem Pre- und Postprozessing Aufwand von unter 15 Minuten durchführen zu können. Dieses Ziel ist mittlerweile erreicht. Parallel zur Standardisierung und Automatisierung des wichtigsten Berechnungsverfah-rens BSA wurde an der Formulierung einer Vernetzungsrichtlinie für Abgasanlagenkom-ponenten gearbeitet. Deren Verwendung bei der Aufbereitung der FEM-Netze sichert zum einen die Vergleichbarkeit unterschiedlichster Abgasanlagenmodelle, zum anderen ist man in der Lage, einen im Laufe der Zeit entstehenden Modulbaukasten aus einheit-lich vernetzten Abgasanlagenkomponenten aufzubauen und zu verwenden (Bild 1-87). Es ist nur konsequent, die beim Automobilhersteller erreichten Vereinheitlichungen bei den Berechnungsverfahren auf die Zusammenarbeit mit den Zulieferern und den Inge-nieurdienstleistern auszudehnen. Deshalb wurde aus dem im Folgenden beschriebenen numerischen Werkzeugkasten eine Softwaredistribution zusammengestellt, die an die wichtigsten Zulieferer verteilt worden ist, mit der Aufforderung, diese Werkzeuge bei aktuellen und künftigen Projekten zu verwenden.

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1.5 Virtueller verteilter Entwicklungsprozess bei Abgasanlagen und -konzepten 93

Bild 1-87: Modularisierung eines Abgasanlagenmodells.

Der entstandene CAE-Werkzeugkasten ist in fünf Bereiche aufgeteilt, die zusammenge-nommen eine Standardmethodik für die Dynamiksimulation von Abgasanlagensystemen beschreiben:

1.5.3.1 Vernetzungsrichtlinie für Abgasanlagenmodelle

Die Notwendigkeit einer einheitlichen Vernetzungsrichtlinie ergab sich aus ständigen Diskussionen über vorhandene Differenzen in den FEM-Modellen bei Projekten, an de-nen mehrere Partner beteiligt waren. Unterschiedliche Auffassungen über die Art der Vernetzung bestimmter Details, (z. B. Schweißnähte), führten zu langwierigen Diskus-sionen und teilweise erheblichen Abweichungen bei den Ergebnissen. Um diese Diskus-sionen zu beenden, wurden in der Richtlinie detaillierte Vorschriften zur Vernetzung von Abgasanlagenkomponenten formuliert. Die Richtlinie bezieht sich dabei nicht nur auf Dynamik-, sondern auch auf die Netzerstellung für Thermomechanikberechnungen an Abgasanlagen. In der Richtlinie werden Anzahl der Knoten und Elemente vorgegeben. Vorgaben für die Art der Elemente bzw. deren Anordnung bei z. B. Schalldämpfern, Katalysatoren, Haltern, Tilgern, Schiebesitzen, etc. sind ebenso formuliert wie die ein-heitliche Aufbringung von Temperaturrandbedingungen und die Vorgabe der kritischen Dämpfung. Auch wenn die Richtlinie federführend vom Automobilhersteller formuliert wurde, ist sie dennoch offen für Verbesserungen und stetige Änderungen. Die Richtlinie wird in regelmäßigen Abständen mit allen beteiligten Partnern diskutiert und weiterent-wickelt.

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1.5.3.2 Nummerierungskonvention für Abgasanlagenmodelle

Um den angesprochenen automatisierten Ablauf der BSA zu unterstützen und um den Abgasanlagenbaukasten so flexibel wie möglich zu halten, werden Bauteile in speziellen Nummerierungsbereichen vernetzt. Für jedes Modul einer Abgasanlage ist in der Richtli-nie ein Intervall definiert, in dem die zugehörigen Elemente und Knoten nummeriert werden müssen. Ein Nachschalldämpfer wird dadurch in jeder Abgasanlage die gleichen, einheitlichen Elementnummern haben. Ein Alternativ-Bauteil kann so ohne Probleme an Stelle des Originals ins Modell eingebracht und in einer Variantenrechnung bewertet werden.

1.5.3.3 Eine hierarchisch angelegte Struktur für Abgasanlagenberechnungen

Ein automatisierter Ablauf der BSA und anderer Standardberechnungen ist nur mit einer einheitlichen Datenhaltung der Modelle und der Varianten möglich. Diese ist an der ak-tuellen Fahrzeug- und Motorenpalette des Automobilherstellers angelehnt. Die typische Ordnung erfolgt in der Abfolge: Fahrzeug – Motor – Entwicklungsstand – Modelldaten – Berechungsvariante (Bild 1-88). Die Einhaltung der auf den ersten Blick starren und formalistisch anmutenden Struktur hat sich bewährt und wird nun schon seit mehreren Jahren vollzogen.

Bild 1-88: Hierarchisches Dateisystem für Abgasanlagenberechnungen.

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1.5 Virtueller verteilter Entwicklungsprozess bei Abgasanlagen und -konzepten 95

1.5.3.4 Automatisierungsalgorithmus

Zentraler Punkt des numerischen Werkzeugkastens ist ein in der Scriptsprache Perl ge-schriebenes Steuerungsprogramm, welches den Standardablauf einer BSA bzw. anderer Standardberechnungsverfahren vollständig automatisiert. Der Berechnungsingenieur muss im Vorfeld nur noch die FE-Modelle prüfen und die geprüften Komponenten in den bereits beschriebenen Dateibaum einzupflegen. Nach Auswahl der Berechnungsart, des zu untersuchenden Lastzustandes (Volllast, Leerlauf, Schub) und einiger Optionen zur Ergebnisformatierung wird die Berechung gestartet und läuft komplett im Hintergrund ab. Eingesetzte Rechner sind zum Teil lokale Workstations oder ein Großrechnercluster. Nach durchschnittlich einer Stunde kann der Berechnungsingenieur die Ergebnisse in standardisierter Form am Drucker abholen. Entsprechende Dokumente in normiertem Format werden gleichzeitig automatisch an dafür vorgesehener Stelle im Dateibaum ab-gelegt.

1.5.3.5 Verschiedene kleinere Programme zur Erledigung von Teilaufgaben

Der im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Algorithmus stellt in Form eines Hauptprogramms nur den Grobablauf der durchzuführenden Berechung sicher. Die dabei anfallenden Detailarbeiten, angefangen vom Prüfen der Modelle, Zusammenset-zen der Steuerdatei des FE-Rechenlaufs bis hin zur Aufbereitung der Ergebnisse wer-den von kleineren Programmmodulen und anderen Entwicklungswerkzeugen erledigt. Diese Programme sind zum Teil aus dem Public-Domain Bereich entnommen (Xmgr, Xfig, etc.) und zum anderen Teil beim Automobilhersteller selber entwickelt worden. Um den beteiligten Partnern die Übernahme der Methodik zu erleichtern, wurde be-wusst darauf verzichtet, zusätzliche kommerzielle Programme zu verwenden.

1.5.4 Beispiele

Um den Gedanken einer Standardisierung weiter zu verdeutlichen, soll im Folgenden das Ergebnis einer typischen BSA-Berechnung vorgestellt werden. Die Abarbeitung der BSA-Rechnung erfolgt in zwei Stufen. In der ersten Stufe werden die kritischen Reso-nanzen der Abgasanlage unter Motoranregung berechnet und an den vom Versuch vorde-finierten Messpunkten ausgewertet. In der zweiten Stufe werden die auftretenden Bau-teilspannungen ermittelt. Die in der ersten Stufe gefundenen Resonanzen sind als Peaks im Ergebnisdiagramm erkennbar (Bild 1-89). Sie werden über der Motordrehzahl bzw. der Frequenz dargestellt. In Analogie zu einem Messwertaufnehmer wird pro Messort ein Diagramm gezeichnet. In diesen Diagrammen können mehrere Varianten einander gegenübergestellt und vergli-chen werden. Ein Algorithmus detektiert nach der Berechnung die auftretenden Reso-nanzspitzen, deren Verschiebungen über einem vorgegebenen Limit liegen und bereitet so den Rechenlauf der zweiten Stufe vor.

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Bild 1-89: Beispiel Ergebnis Betriebsschwingungsanalyse Phase 1.

Dieser zweite Rechendurchlauf liefert als Ergebnis die relevanten Schwingformen der Anlage bei der entsprechenden Frequenz. Die Schwingformen werden standardmäßig in drei Ansichten als statisches Bild ausgedruckt. Optional kann die animierte Schwingform dreidimensional drehbar am Bildschirm sichtbar gemacht werden. Hier erkennt der Be-rechnungsingenieur die hoch belasteten Stellen der Abgasanlage und kann prüfen und entscheiden, ob die Belastungen gezielte Optimierungsaktivitäten nach sich ziehen wer-den (Bild 1-90).

Bild 1-90: Beispiel Ergebnis Betriebsschwingungsanalyse Phase 2.

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1.5 Virtueller verteilter Entwicklungsprozess bei Abgasanlagen und -konzepten 97

Geeignete Komprimierungsverfahren (animated GIF) sorgen nach der Simulation für die Platz sparende Ablage der wichtigsten Ergebniskomponenten. Das einheitliche Ergebnis-Ausgabeformat hat sich beim Vergleich unterschiedlicher Rechnungen bewährt, auch wenn diese in größeren Zeitabständen durchgeführt worden sind. Angaben über Details der Variante, Namen des verantwortlichen Berechnungsingenieurs und genaue Hinweise auf die Lage weiterer Informationen im Dateibaum machen das einzelne Dokument zu einem kleinen, aber wichtigen Teil des Entwicklungsprozesses.

Die Zeiteinsparung durch die Einführung der Automatisierung ist beachtlich. Verglichen mit einer manuellen Durchführung werden pro BSA rund 3,5 Stunden an vermeidbarer Handarbeit gespart. Diese Zeit setzt sich zusammen aus Einsparungen beim Modellauf-bau, bei der Fehlersuche, bei der effizienten Verteilung der Last auf vorhandene Compu-ter und bei der automatisierten Aufbereitung von Berechungsergebnissen, sowie deren Ablage an der richtigen Stelle im Dateibaum. So summiert sich die Einsparung intern beim Automobilhersteller auf über 1700 Mannstunden. Diese Zahl bezieht sich auf die Berechnungsaktivitäten der letzten 16 Monate. Die Einsparung eines Mannjahres wird oft als Beleg dafür gewertet, dass durch Automatisierung Personal eingespart werden kann. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Die eingesparte Zeit erlaubt zum einen die Bearbeitung von wesentlich mehr Projekten in der gleichen Zeit und zum anderen entfällt die oft als stupide empfundene Aufbereitung von Berechnungsläufen ersatzlos. Dem Ingenieur bleibt nun die Zeit, sich endlich wieder auf die wesentliche Arbeit zu konzentrieren: Das Entwerfen, Beurteilen und Optimieren qualitativ hochwertiger Bauteile.

1.5.5 Einführung einer gemeinsamen Methodik bei den Partnern

Um das Ziel, die Anwendung einer einheitlichen CAE-Methodik bei allen Partnern zu er-reichen, müssen von den Beteiligten gewisse Anforderungen erfüllt werden. Diese lassen sich aufteilen in Anforderungen personeller Art und in Anforderungen, die eine Schaffung technischer Voraussetzungen zur Anwendung der Methodik betreffen. Generell wird sei-tens des Automobilherstellers die Bereitstellung eines CAE-Teams beim Zulieferer gefor-dert. Innerhalb dieses Teams muss es einen klaren Ansprechpartner geben. Er plant die notwendigen Berechnungen und stellt sicher, dass der Einsatz von Berechnungsmethoden koordiniert, in Einklang mit den Disziplinen Konstruktion und Versuch, abläuft. Er sorgt auch dafür, dass zu den definierten Meilensteinen in der Entwicklung größere Ergebnispa-kete zu einem Projekt beim Automobilhersteller vor Ort vorgestellt werden.

Hinsichtlich der CAE-Methoden fordert der Automobilhersteller bei allen aktuellen und zukünftigen Projekten die Einhaltung der Vernetzungsrichtlinie. Nur so wird sicherge-stellt, dass in außergewöhnlichen Fällen Teile der Berechnung beim Automobilhersteller vor Ort nachvollzogen werden können. Diese Forderung erstreckt sich bis zum Bereich der Vorgabe von Rand- und Anfangsbedingungen. Es ist klar, dass weitergehende Vor-schriften hinsichtlich der Verwendung von Programmpaketen einen starken Eingriff in die Organisation der Berechungsabteilungen beim Zulieferer bedeuten. Der Ansatz hat sich jedoch in den letzen Jahren auch nach Aussagen aller beteiligten Partner bewährt.

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Zur Unterstützung dieser Empfehlung wurde seitens des Automobilherstellers der komp-lette numerische Werkzeugkasten, inklusive der Vernetzungsrichtlinie für die Abgasanla-genberechnung, in Form eines Programmpaketes auf CD zusammengestellt und den Zu-lieferern zur Verfügung gestellt. Die Programme liegen momentan in geschützter Binär-form vor, was weniger ein mangelndes Vertrauen ausdrückt, sondern zum Zweck hat, wirklich bei allen Beteiligten die gleiche, jeweils aktuellste Methodik zu implementieren. Sollte dies über einen längeren Zeitraum gelingen, so werden die Quellen allen Partnern in Form einer Open-Source Vereinbarung zugänglich gemacht. Um dem Gedanken einer Gleichberechtigung bei der Pflege und Entwicklung aktueller und zukünftiger Methodiken bei allen Partnern Rechung zu tragen, ist zudem ein Metho-dikkreis „Berechnung Abgasanlagen“ ins Leben gerufen worden. Dieser Methodikkreis behandelt primär die Weiterentwicklung der vom Automobilhersteller zur Verfügung gestellten Software-Werkzeuge. Außerdem wird im Rahmen von Diskussionen und tech-nischen Beiträgen die Vernetzungsrichtlinie auf einen von allen Partnern akzeptierten, aktuellen Stand gehalten. Für die Zukunft sind weitere Gemeinschaftsprojekte geplant. Diese Projekte werden so angelegt sein, dass sie im Rahmen der Qualitätssicherung der Berechnungsmethodik von allgemeinem Interesse sind und somit auf keinen Fall firmen-internes Know-how der jeweiligen Partner preisgeben. Das bisherige Fazit ist positiv und deutet auf eine gute und effiziente Zusammenarbeit in den nächsten Jahren hin. Am „Methodikkreis Berechnung“ nehmen Berechnungsinge-nieure aller beteiligten Zulieferer produktiv teil. Die von Automobilhersteller entwickelte Berechnungsmethodik ist mittlerweile bei 75 % der Zulieferer installiert und wird pro-duktiv angewendet.

1.5.6 Zusammenfassung

1. Eine Standardisierung der bestehenden Berechungsmethodik bei der Abgasanlagen-entwicklung ist für die weitere Zusammenarbeit mit Lieferanten im Hinblick auf die ge-stiegenen Kosten- und Qualitätsziele unverzichtbar.

2. Die Grundidee dieser Standardmethodik lässt sich reduzieren auf die konsequente Ein-haltung einer vorgegebenen Vernetzungsrichtlinie, die Einhaltung eines modularen Auf-baus von Abgasanlagenmodellen, eine einheitliche, bei den Partnern gespiegelt vorhan-dene Datenhaltung sowie den Einsatz von Softwarewerkzeugen zur Automatisierung von Standardberechnungsabläufen.

3. Der Automobilhersteller hat die Richtlinien formuliert, den numerischen Werkzeug-kasten entwickelt und stellt beides den Zulieferern zur Verfügung.

4. Ein gemeinsamer Methodikkreis, bestehend aus Teilnehmern aller beteiligten Unter-nehmen, sichert die Weiterentwicklung der Werkzeuge und beschäftigt sich mit der Qua-litätssicherung der Berechnungsmethoden bei Abgasanlagen.

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2 Elektronik

2.1 Elektronik als Schlüsseltechnologie zur unfallfreien und umweltfreundlichen Mobilität der Zukunft

Die Erhöhung der Verkehrssicherheit und – vielleicht noch wichtiger – die Sicherstellung der Umweltverträglichkeit sind die entscheidenden Arbeitsgebiete zur Sicherung der automobilen Zukunft. Und diese Aufgaben sind global zu lösen: Verkehrssicherheit ge-winnt in den stark wachsenden Märkten – wie China und Indien – immer mehr an Bedeu-tung, wenn man betrachtet, dass hier die Unfallzahlen in den letzten Jahren stark anges-tiegen sind. Aber auch in der so genannten entwickelten Welt gibt es globale Anstren-gungen den positiven Trend der letzten Jahre weiter fortzuführen. Die Umweltverträg-lichkeit wiederum wird zunehmend vom Thema Klimaschutz dominiert und ist damit ohnehin im globalen Kontext zu sehen. Unfallfrei und umweltfreundlich sind dabei Attri-bute, die als Anspruch bzw. anzustrebendes Ideal zu sehen sind, nicht etwa als – womög-lich gar bereits eingelöstes – Versprechen. Bei der Lösung dieser Aufgaben gewinnt die Elektronik mehr an Bedeutung. Dominierte bisher vor allem die Realisierung von flexiblen und kundenindividuellen Funktionen in den einzelnen Domänen, wie Antrieb oder Bremse, so findet derzeit eine zunehmende Vernetzung der Domänen und mithin die Realisierung neuer, domänenübergreifender Funktionen im Fahrzeug statt. Und der nächste Schritt ist mit der Kommunikation über die Grenzen des einzelnen Fahrzeuges hin zur car-to-car bzw. car-to-x Kommunikation bereits in Entwicklung. Diese zunehmende Vernetzung von Elektronik-Komponenten erfordert erhöhte Anstrengungen bei der Qualitätssicherung und der Standardisierung, um die Funktionen verlässlich und kostengünstig darzustellen. 2.1 Elektronik als Schlüsseltechnologie

2.1.1 Globale Herausforderungen

Die individuelle Mobilität steht in den asiatischen Ländern erst am Anfang einer stürmi-schen Entwicklung. Betrug der Fahrzeugbestand in China und Indien in 2005 noch rund 13 bzw. 8 Millionen Pkw und war im Vergleich zu rd. 152 Millionen Pkw in den USA sehr gering, so wird sich dies bis zum Jahr 2035 gemäß einer aktuellen Studie der Asia Development Bank radikal ändern. China wird mit rund 190 Millionen Fahrzeugen die USA deutlich übertreffen und auch in Indien wird sich der Bestand auf voraussichtlich 80 Millionen Pkw verzehnfachen (Bild 2-1).

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100 2 Elektronik

Bild 2-1: Prognose zur Entwicklung des Pkw-Bestandes von 2005 bis 2035 in China und Indien im Vergleich zu den USA (Studie der Asia Development Bank, 2006).

Allein vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass sich in diesen Ländern die Ver-kehrsdichte signifikant erhöhen und die Verkehrssicherheit deutlich an Gewicht gewin-nen wird. Dies umso mehr, als hier bereits in den vergangenen Jahren die Unfallzahlen stark angestiegen sind. So sind im Jahr 2000 in Indien bei weitaus kleinerer Fahrzeugflot-te fast 50 % mehr Personen im Straßenverkehr getötet worden als in Europa; und das mit steigender Tendenz (Bild 2-2).

Bild 2-2: Getötete im Straßenverkehr; Vergleich Indien und Europa (IRTAD, 2003).

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2.1 Elektronik als Schlüsseltechnologie 101

Die besondere Herausforderung in diesen Märkten besteht darin, Sicherheit bezahlbar zu machen, d. h. Systeme wie ABS und Airbag auch für Fahrzeuge in der Preisklasse 3000–5000 Euro darzustellen. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass sich der bisherige Trend weiter fortsetzt oder bei steigendem Fahrzeugaufkommen gar beschleunigt.

So wie Europa mit der Initiative e-Safety, haben sich auch die USA und Japan ehrgeizige Ziele gesetzt, der Vision vom unfallfreien Fahren näher zu kommen.

Aber die steigende Mobilität hat nicht nur Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit, sondern vor allem für die Umwelt. Kurz- und mittelfristig sind dabei Partikel- und NOx-Emissionen weiter zu senken. Hierfür liegen technische Konzepte entweder vor oder sind in Entwicklung, so dass auch hier wiederum die besondere Herausforderung darin be-steht, diese Systeme für die neuen Märkte nutzbar zu machen, d. h. entsprechend preis-günstig realisieren zu können.

Hier ist also eine Lösung in Sicht; im Gegensatz dazu stellen die Treibhausgase ein schwieriger zu lösendes Problem dar. In den nur schwach wachsenden etablierten Märk-ten wird sich aufgrund technischer Weiterentwicklungen eine deutliche Verbesserung realisieren lassen. In den neuen Märkten jedoch ist das Marktwachstum dominant. So wird trotz Einrechnung deutlicher Effizienzsteigerungen für den Zeitraum bis 2035 für China und Indien eine Vervierfachung der CO2-Emissionen des Straßenverkehrs prog-nostiziert. Von daher haben effiziente und umweltfreundliche Antriebe gerade auch für diese Märkte höchste Priorität.

Langfristig gesehen, ist die Energieeffizienz und die Reduzierung der Emission von Treib-hausgasen damit weltweit bei der Weiterentwicklung der Antriebstechnik das beherrschen-de Thema.

2.1.2 Elektronik und Systemvernetzung

Sowohl für die Erhöhung der Verkehrssicherheit als auch der Energieeffizienz war die Darstellung von zunehmender Funktionalität in Elektronik und Software ein Schlüssel-faktor. Systeme wie Airbag, ABS und ESP tragen tagtäglich entscheidend zur Verkehrs-sicherheit bei und nur mittels elektronischer Motorsteuerungen war es möglich, gleichzei-tig die Fahrzeugemissionen um über 90 % zu reduzieren und die Energieeffizienz deut-lich zu steigern. In den letzten zwei Jahrzehnten sind wir damit der Vision von der unfall-freien und umweltfreundlichen Mobilität deutlich näher gekommen.

Der Trend zu mehr Elektronik im Fahrzeug wird sich mit der zunehmenden Vernetzung von verschiedenen Domänen fortsetzen. Damit einhergehend ist ein wachsender Wert-schöpfungsanteil. Die Erwartungen liegen bei einer Steigerung von knapp 20 % in 2002 auf rd. 35 % in 2015 bezogen auf das gesamte Fahrzeug. Den größten Anteil dar-an wiederum werden IC, Sensoren und Software mit zweistelligen Wachstumsraten haben (Bild 2-3). Das Marktvolumen von Sensoren wird sich mehr als verdoppeln, das von ICs nahezu vervierfachen und Softwareanwendungen gar verfünffachen.

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102 2 Elektronik

Bild 2-3: Wachstumsrate elektrischer und elektronischer Komponenten im Fahrzeug. Studie von Mercer Consulting und Fraunhofer Gesellschaft, 2003.

Wie stark sich die Komplexität des elektrischen Systems im Fahrzeug bereits verändert hat, zeigt auch anschaulich der Vergleich der Kabelbäume eines Fahrzeuges aus dem Jahr 1947 mit dem eines modernen Fahrzeugs (Bild 2-4).

Bild 2-4: Vergleich der Komplexität verschiedener Kabelbäume: 1947 zu 2003.

War es in der Vergangenheit insbesondere die Elektronik zur Steuerung und Regelung einzelner Systeme, wie Motorsteuerung, ABS oder ESP, so werden in Zukunft stärker noch die system- oder domänenübergreifenden Funktionen in den Vordergrund rücken. Es kommt also zu einer immer stärkeren Vernetzung über die bisherigen Systemgrenzen hinaus. Daraus resultiert ein intensiver Datenaustausch zwischen den unterschiedlichen Steuergeräten im Fahrzeug, wie in Bild 2-5 angedeutet.

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Bild 2-5: Vernetzung unterschiedlicher Domänen im Fahrzeug basiert auf intensiver Kommunika-tion der Steuergeräte.

Wenden wir uns zunächst der Verkehrssicherheit zu. Bei Bosch arbeiten wir an der Vernet-zung bestehender Systeme zur aktiven und passiven Sicherheit unter der Bezeichnung CAPS (combined active and passive safety, Bild 2-6).

Bild 2-6: Vernetzung von Systemen zur aktiven und passiven Sicherheit (CAPS).

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Dies umfasst zum einen die Nutzung von Sensorinformationen über die originären Do-mänen hinaus und ergänzt diese durch die Nutzung zusätzlicher radar-, ultraschall- oder videobasierter Umfeldsensorik, wie sie in Fahrerassistenzsystemen Verwendung finden. Erst damit werden viele neue Funktionen möglich. Die Hinzunahme von Kommunikationselementen, wie insbesondere car-to-x-Kommuni-kation wird in Zukunft nicht nur die eigene Zustands- und Umwelterkennung nutzbar machen, sondern durch den Informationsaustausch zwischen verschiedenen Fahrzeugen und mit der Peripherie zusätzliche Informationsquellen erschließen, um noch frühzeitiger das Fahrzeugverhalten an die aktuellen Erfordernisse anpassen zu können. Dies alles wird möglich, da die eingesetzten Kfz-Sensoren nicht nur kleiner und kosten-günstiger, sondern auch intelligenter werden und einen immer größeren Funktionsumfang abdecken. Bild 2-7 zeigt exemplarisch einen Airbag Aufprall-Sensors, der die Beschleu-nigungserfassung und -auswertung sowie die rechtzeitige Auslösung der Airbags sichers-tellt. In modernen Airbag-Systemen sind derartige Sensoren sowohl in peripheren Be-reich des Fahrzeugs als auch im zentralen Steuergerät verbaut. Die Technologie der Mikromechanik erlaubt es, die Beschleunigungsmessung längs der zwei relevanten Raumachsen, bei neuesten Sensor-Generationen sogar längs aller drei Achsen auf einem einzigen Silizium-Chip zu integrieren.

Bild 2-7: Airbag Aufprall-Sensor mit Sensorelement und Signalaufbereitung (links). Rechts er-kennt man die Struktur eines mikromechanischen Sensors im Detail.

Heutige Sensoren beinhalten weiterhin eine intelligente, digitale Signalaufbereitung mit der entsprechenden Digitalschnittstelle, die insbesondere zu einer erhöhten Robustheit und Zuverlässigkeit des Gesamtsystems führen. Zukünftige Generationen von Sensor-elementen werden einen noch größeren Funktionsumfang aufweisen. Es ist geplant, dass bisher extern verbaute EEPROM-Speicher, Mikrocontrollerfunktionen, Schnittstellen-

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Transceiver und andere elektronische Bauteile in das Chip-Gehäuse mit integriert bzw. mehrere Messgrößen in einem Sensorelement vereint werden. Neben der funktionalen Erweiterung gibt es einen Trend zur Sensorintegration in einem so genannten Sensorcluster. Beim Sensorcluster für das elektronische Stabilitätsprog-ramm ESP und Airbag wird z. B. der als MEMS (Micro Electro Mechanical System) dargestellte Drehratensensor, der die Gierrate des Fahrzeuges misst und so dem ESP-Steuergerät notwendige Informationen über eventuell kritische Fahrsituationen zur Ver-fügung stellt, mit dem MEMS-Beschleunigungssensor auf einer gemeinsamen Leiterplat-te in einem Gehäuse zusammengefasst. Das Cluster-Konzept für das Fahrdynamiksystem ESP ist durch einen modularen Aufbau gekennzeichnet, der erlaubt, möglichst flexibel auf verschiedene Kundenanforderungen und -konfigurationen einzugehen. Hier reicht die Spanne von einer grundlegenden ESP-Funktion über Zusatzfunktionen wie Hill-Hold-Control und aktive Lenkunterstützung bis hin zu einem umfangreichen Chassis-Management, das z. B. das Wank- und Nickverhalten des Fahrzeugs aktiv beeinflusst. Je nach Funktionsumfang enthält das Sensorcluster hierbei eine variable Bestückung von verschiedenen Inertialsensorelementen (Bild 2-8).

Bild 2-8: Sensorcluster mit Integrati-on von Drehratensensor und Beschleunigungssensor.

Die nächste Stufe dieser Entwicklung wird die Grenzen zwischen Funktionsbereichen überschreiten und dazu dienen, neue Funktionen zu realisieren und Synergien zu nutzen, wie das folgende Beispiel zeigt. Durch die Vernetzung eines Sensors oder Sensorclusters mit Steuergeräten mehrerer Funk-tionsbereiche und durch Integration von Sensoren aus verschiedenen Funktionsbereichen in einem einzigen Steuergerätegehäuse bzw. durch Wegfall von Sensor-Redundanzen werden sich Kostensenkungspotenziale erschließen. Ein Beispiel hierfür ist die Integration der ESP-Sensorik in ein Airbag-Steuergerät. Bild 2-9 zeigt das bisher verwendete ESP-Sensorcluster mit Inertialsensorik, das ohne zusätzlichen Bauraumbedarf in das Airbag-Steuergerät integ-riert werden soll. Diese Verschmelzung wird Bosch ab 2008 anbieten. Dabei wird in einer ersten Integrationsstufe die Sensorik in einem Gehäuse integriert und in einer zweiten Stufe die Verschmelzung auf Sensorebene vollzogen.

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Bild 2-9: Integration der ESP-Sensorik in ein Airbag-Steuergerät. In der ersten Integrationsstufe erfolgt eine Verschmelzung auf den Ebenen Mechanik, Elektronik und Software auf einer Leiter-platte; in der zweiten Integrationsstufe kommt die Verschmelzung auf Sensor-Ebene hinzu, bei der ein weiterentwickelter Inertialsensor die Aufgaben der bisherigen zwei Sensoren übernimmt.

Betrachten wir nach der domänenübergreifenden Integration auf Elektronik-Ebene nun die Verbundfunktionen zur Erhöhung der aktiven und passiven Sicherheit (CAPS). Bild 2-10 zeigt am Beispiel von Deutschland und den USA die Hauptunfallsituationen bei Verkehrsunfällen mit Todesfolge. In beiden Ländern stellt das Verlassen der Fahrbahn mit einem möglichen Anprall gegen ein festes Objekt die häufigste Unfallsituation dar. Dieser folgenträchtigen Unfallsituation kann mit verschiedenen Funktionen der aktiven und passiven Sicherheit entgegengewirkt werden. Ein Lane Keeping Support System unterstützt beispielsweise den Fahrer bei der Spurhaltung und hilft somit das häufig durch Unaufmerksamkeit verursachte Abkommen von der Fahrbahn zu verhindern. Etwa ein Drittel der Fahrer reagieren beim Erleben einer solchen Situation über. D. h. sie lenken sehr schnell wieder in Richtung der Straße und lösen dadurch ein Schleudermanöver ihres Fahrzeugs aus. In verschiedenen Studien wurde bereits nachgewiesen, dass ESP 80 % dieser Schleudersituationen vermeiden kann. Mit steigender ESP-Penetrationsrate werden sich die Vorteile des Systems in deutlich reduzierten Unfallzahlen wiederspiegeln. Insbe-sondere in den USA wird sich die für 2011 geplante Verpflichtung zur Ausrüstung von Neuwagen mit ESP positiv auf das Unfallgeschehen auswirken. Die Wirkungsweise von Verbundfunktionen soll nun anhand der Beispiele Advanced Rollover Sensing zur Verringerung der Unfallfolgen bei Fahrzeugüberschlag und dem Predictive Safety System zur Verringerung bzw. Vermeidung von Auffahrunfällen dar-gestellt werden. Kann ein Abkommen von der Fahrbahn nicht verhindert werden, stellt besonders ein seitlich rutschendes Fahrzeug ein hohes Gefährdungspotential für die Insassen dar. Ein seitlicher Anprall gegen ein festes Hindernis oder gar ein Überschlag kann die Folge sein.

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Bild 2-10: Analyse von Ursachen von Unfällen mit Todesfolge in Deutschland und USA im Jahr 2005, Statistisches Bundesamt – Verkehrsunfälle 2005 bzw. Fatality Analysis Reporting System (FARS) 2005.

Für den Fall des Überschlags wurde die Funktion Advanced Rollover Sensing entwickelt. Bei der Funktion (Bild 2-11) wird das Signal eines separaten Rollratensensors zur Erken-nung einer Drehbewegung um die Längsachse aus dem Airbag-Steuergerät mit der Ge-schwindigkeit- sowie den Beschleunigungssignalen und der Gierrate des ESP-Steuer-gerätes verknüpft. Ziel ist es, beim seitlichen Rutschen im unbefestigten Untergrund mit anschließendem Überschlag des Fahrzeugs, die Auslöseentscheidung für Kopfairbags oder Überrollbügel und Gurtstraffer deutlich früher als bisher zu treffen. Ein solcher Fahrzeugüberschlag kann vor allem durch eine einseitige Anhebung an einer Böschung verursacht werden. Erfahrungen zeigen, dass sich damit schwere Kopfverletzungen, die bei typischen Roll-winkelraten von 50–100° pro Sekunde sonst sehr wahrscheinlich wären, stark reduzieren oder vermeiden lassen. Die dabei auftretende laterale Geschwindigkeit ist ein Maß für die kinetische Energie welche dem Fahrzeug zur Verfügung steht um einen Überrollvorgang zu induzieren. Ein separater Algorithmus im Airbagsteuergerät berechnet aus den Signa-len des ESP die laterale Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Neben der Lateralgeschwindig-keit werden die Signale der Überrollsensierung entsprechend der Fahrzeugbewegung bewertet und für eine situationsangepasste Auslöseentscheidung herangezogen.

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Bild 2-11: Advanced Rollover Sensing zur Verringerung der Unfallfolgen bei Fahrzeugüberschlä-gen.

Kommt es anstatt eines Überschlags zu einem seitlichen Anprall gegen ein festes Objekt, wie z. B. ein Baum, wird die Funktion Early Pole Crash Detection aktiviert. Mit dieser Funktion werden die seitlichen Rückhaltemittel bei Kontakt mit dem Hindernis noch früher als bisher ausgelöst. Beim Predictive Safety System wird die Abstandsinformation zum Vordermann bzw. Hindernis vom ACC (Adaptive Cruise System) genutzt. Reagiert der Fahrer nicht schnell genug, so unterstützt ihn das System vorausschauend bei der Bremsung (Bild 2-12). Un-tersuchungen belegen, dass bei nur einer geringfügig schnelleren Reaktionszeit von 500 Millisekunden 60 % der Auffahrunfälle und 30 % der Frontalunfälle vermieden werden könnten. Unter Nutzung von Daten eines Videosystems kann letztlich in Zukunft auch eine automatische Notbremsung eingeleitet werden. Das Beispiel ACC ist auch ein hervorragendes Beispiel für eine Funktion, die domänen-übergreifend in ihrer Realisierung ist, sich andererseits aber auch domänenübergreifend in ihrer Wirkung zeigt: sie lässt sich nicht nur zur Erhöhung der Verkehrsicherheit nut-zen, sondern hilft, wie im Folgenden aufgezeigt wird, auch bei der Kraftstoffeinsparung.

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Bild 2-12: Predictive Safety System zur Verringerung oder Vermeidung von Auffahrunfällen.

Betrachtet man, dass in Deutschland jährlich rund 800 Millionen Liter Kraftstoff in Staus vergeudet werden und damit 2 Millionen Tonnen CO2 unnötig emittiert werden, so kommt der Stauvermeidung hohe Bedeutung zu. Unabhängige Untersuchungen haben gezeigt, dass sich der Fahrzeugdurchsatz und damit der Verkehrsfluss auf einer vielbefah-renen Schnellstraße in Abhängigkeit des Ausstattungsgrades mit ACC um bis zu 30 % steigern lässt (Bild 2-13). Ursache dafür ist im Wesentlichen eine „Vergleichmäßigung“ des Verkehrsstromes. ACC hilft aber nicht nur Staus zu verringern, sondern das gleich-mäßigere Fahrprofil wirkt sich auch direkt positiv auf den Kraftstoffverbrauch aus. Pra-xistests belegen eine Verbesserung um gut 10 % bei konsequenter ACC-Nutzung.

Bild 2-13: Steigerung des Verkehrsflusses in Abhängigkeit vom ACC-Ausstattungsgrad.

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Zwar sind diese Maßnahmen geeignet, die CO2-Emissionen in der tagtäglichen Fahr-zeugnutzung zu reduzieren; zur Verringerung der zyklusrelevanten Emissionen tragen sie jedoch nicht bei. Die Zielsetzung diese im Mittel über die Fahrzeugneuzulassungen in Europa bis 2012 auf 130 g/km zu reduzieren, ist sehr anspruchsvoll und bedeutet gegenüber 2006 eine Absen-kung um rund 20 %. Bei der Erfüllung spielen erneut domänenübergreifende Funktionen eine wichtige Rolle. Bild 2-14 zeigt für ein typisches Mittelklasse-Fahrzeug ausgehend von einem Standard-Benziner bzw. einem Standard-Diesel die Wirkung von verschiedenen Maßnahmenpake-ten. Dabei ist über den Zusatzkosten für die Komponenten aufgetragen, wie hoch die Kraftstoffeinsparung für einen typischen Endverbraucher in den ersten drei Jahren ist. Ersichtlich ist eine der Maßnahmen mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis, die Start-Stopp-Automatik (Bild 2-15). Durch die intelligente Kombination von Batteriemanagement, Motormanagement, Senso-ren und Starter zu einem smarten Start-Stopp-System gelingt es mit vergleichsweise ge-ringem Zusatzaufwand, Verbrauchsreduzierungen von rd. 5 % im Zyklus und deutlich höhere Werte im reinen Stadtverkehr zu erzielen.

Bild 2-14: Maßnahmen zur Verbesserung der Kraftstoffeffizienz ausgehend von Standard-Benziner bzw. Standard-Diesel.

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Bild 2-15: Start-Stopp-System.

2.1.3 Maßnahmen zur Qualitätssicherung bei Elektronik-Systemen

Bei der zunehmenden Bedeutung der Elektronik insbesondere auch der zunehmenden Anzahl von Systemen, die domänen- und damit oftmals herstellerübergreifend realisiert werden, stellt sich die Frage nach der Qualität und wie diese auch in Zukunft sicherge-stellt werden kann. Bild 2-16 zeigt das Ergebnis einer Untersuchung und belegt, dass mit zunehmender Komplexität in Form von Anzahl der Elektronikfunktionen die Pannenhäu-figkeit näherungsweise proportional ansteigt. Ursache sind oftmals Schnittstellenproble-me und Inkompatibilitäten der Funktionsarchitekturen verschiedener Steuergeräte. Steu-ergeräte-Software und Netzwerk-Software haben jeweils mit rund 25 % den höchsten Anteil an den Elektronik-Fehlern. Vor dem Hintergrund domänenübergreifender Funktionen, verstärkter Bemühungen um Software-Wiederverwendung und Integration von Software aus verschiedenen Quellen, sind zusätzliche Anstrengungen erforderlich, um die Qualitätssituation nachhaltig zu ver-bessern. Diese Maßnahmen haben zwei Schwerpunkte: den Entwicklungsprozess und die Stan-dardisierung. Beim Entwicklungsprozess geht es insbesondere darum, die Prozessreife für die einzelnen Schritte von der funktionalen Anforderung des Kunden bis zur Abliefe-rung der Software zu erhöhen. Bei Bosch orientieren wir uns dabei am CMMI-Modell. Aktuell sind nahezu alle unsere Entwicklungsteams mindestens nach Level 3 zertifiziert, rund 30 % sogar nach dem höchsten Wert, Level 5. Damit ist Bosch in der Branche füh-rend.

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Bild 2-16: Zusammenhang zwischen Qualitätsproblemen und Anzahl an Elektronikfunk-tionen (JD Power & Asso-ciates, McKinsey and Com-pany, 2003).

Neben der Prozessreife ist die Effizienzsteigerung bei der Software-Erstellung entschei-dend für den Wettbewerbserfolg. Ansätze hierfür sind modellbasierte Entwicklung mit automatischer Code-Generierung sowie Software-Wiederverwendung. Bei der modellba-sierten Entwicklung wird die zu realisierende Funktion nicht direkt codiert, sondern zu-nächst als Simulationsmodell, beispielsweise über ASCET-SD, dargestellt. Die Gesamt-funktionalität im geschlossenen Regelkreis oder Gesamtsystem kann dann entweder im Software-Labor mit einem Simulationsmodell des Fahrzeuges erfolgen oder am Fahr-zeug-Prototypen im Sinne „hardware in the loop“ getestet werden. Befriedigt die Funktion die Kundenanforderungen, so kann aus dem Modell automatisiert Steuergeräte-Code erstellt werden. Vorteil dieser Vorgehensweise ist die direkte Erpro-bungsmöglichkeit der Funktion am Fahrzeugmodell oder im Fahrzeug und damit die kurze Regelschleife, falls Nachbesserungen erforderlich sind. Hinzu kommt die automati-sierte und damit gegenüber der Codierung von Hand weniger fehleranfällige Erstellung der Steuergeräte-Software. Grundvoraussetzung für Software-Wiederverwendung und insbesondere Software-Austausch über Domänen hinweg und zwischen verschiedenen Zulieferern ist eine geeig-nete Standardisierung. Mit herstellerübergreifenden Initiativen, wie insbesondere AUTOSAR wird versucht, die gesamte Software-Architektur so weit zu standardisieren, dass der Software-Austausch effizient möglich ist. Wenngleich es bis zu diesem Ziel noch eine lange Wegstrecke ist, kommt bereits heute die Software vieler Steuergeräte nicht mehr allein aus einer Hand; so erstellen viele OEM Teile der Software selbst und stellen sie dem Zulieferer zur Integration bei.

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Bild 2-17: Schritte von der Kundenanforderung bis zur Ablieferung der Software an den Kunden nach erfolgtem Systemtest.

Allein schon auf der Ebene des einzelnen Steuergerätes ist daher die Sicherstellung der Datenintegrität und des korrekten Echtzeitverhaltens anspruchsvoll. Mit der wachsenden Kommunikation der Steuergeräte untereinander in zeitkritischen, domänenübergreifenden Funktionen gewinnt diese Aufgabe aber noch einmal erheblich an Bedeutung und Komp-lexität. Trotz aller Möglichkeiten zum Einsatz von Simulationsmodellen und Fahrzeug-nachbildungen im Labor, ist daher der finale Funktionstest im Fahrzeug nicht ersetzbar.

2.1.4 Zusammenfassung

Die beiden Schwerpunkte für die Entwicklung der Mobilität der Zukunft werden die Er-höhung der Verkehrssicherheit und die Reduzierung der Fahrzeugemissionen sein. Bei der Lösung beider Aufgaben wird die Elektronik eine ganz entscheidende Rolle spielen. Anhand einiger Beispiele wurde aufgezeigt, welchen Beitrag gerade domänenübergrei-fende Funktionen leisten können, der Vision von der unfallfreien und umweltfreundli-chen Mobilität näher zu kommen. Der weiter wachsende Wertschöpfungsanteil der Elektronik am Fahrzeug wird es aber auch erforderlich machen, die Qualität sowie die Entwicklungseffizienz weiter zu erhö-hen. Heute wird beides in vielen Fällen durch inhomogene Schnittstellen negativ beeinf-lusst; hier gilt es die begonnenen Anstrengungen zu einem erfolgreichen Ende zu führen.

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114 2 Elektronik

2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung

2.2.1 Einleitung

Ende 2006 hat die AUTOSAR-Entwicklungspartnerschaft die Phase I ihrer Arbeit erfolg-reich abgeschlossen. Nach der Gründung Mitte 2003 durch die Kernpartner (Core Part-ner) hat AUTOSAR detaillierte Spezifikationen in mehreren Freigaben (Releases) erar-beitet. Die letzten Resultate der Phase I, das Release 2.1 (siehe [3]), können direkt zur Erstellung neuer, standardisierter Software für Serienapplikationen in der Automobilin-dustrie angewandt werden. Die Entwicklungspartnerschaft wird nun in der Phase II, 2007–2009 fortgesetzt. Aufgrund der in den nächsten Jahren anstehenden enormen Herausforderungen hinsich-tlich Umweltverträglichkeit und Sicherheit wird sich die Anzahl der elektronischen Funk-tionen in den Fahrzeugen dramatisch erhöhen (siehe [4, 8]). Aus verschiedenen Gründen sind diese Funktionen in viele elektronische Steuergeräte (ECUs) über das gesamte Fahr-zeug verteilt. Um dieses komplexe Netzwerk entwicklungstechnisch zu beherrschen, ist eine Standardisierung erforderlich. Die Wiederverwendbarkeit von Softwarekomponenten zwischen verschiedenen Fahr-zeugplattformen, Herstellern und Zulieferern ist eines der wichtigsten Ziele von AUTOSAR. Daher wurde eine Methodik entwickelt, die einen dezentralisierten, funkti-onsgesteuerten Entwicklungsprozess unterstützt. Die Standardisierung der Softwarearchi-tektur für ECUs, die ein Netzwerk innerhalb eines Automobils bilden, ist unerlässlich. AUTOSAR definiert auch kompatible Softwareschnittstellen auf Anwendungsebene, wobei die funktionalen Inhalte der Anwendungsmodule und Komponenten praktisch frei implementiert werden können und somit weiterhin von der Markenidentität der Automo-bilhersteller oder deren Systemlieferanten geprägt werden, bzw. den von ihnen ge-wünschten Eigenschaften. Das Abstraktionsprinzip ermöglicht es, in einem komplexen dezentralisierten Netzwerk die Software von der Hardware zu trennen. Damit sind vielerlei Vorteile verbunden:

� Beherrschung der E/E-Komplexität bei anwachsendem Funktionsumfang.

� Flexibilität für Produktänderungen, -erweiterungen und -aktualisierungen.

� Skalierbarkeit von Lösungen innerhalb von Produktlinien und auch linienübergreifend.

� Verbesserte Qualität und Verlässlichkeit von E/E-Systemen.

Die Automobilindustrie hat erkannt, dass ein technologischer Durchbruch notwendig ist. Die Entwicklung und Standardisierung einer AUTomotive Open System ARchitecture (AUTOSAR) wird Lösungen für diese Herausforderungen bereitstellen. Weil die Schaf-fung eines weltweiten Standards nicht von Firmen individuell geleistet werden kann, verfolgt AUTOSAR den Ansatz, möglichst viele Interessenten in diese Bemühungen einzuschließen, um gemeinsam erfolgreich zu sein.

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 115

Dadurch können alle in den Automobilentwicklungsprozess involvierten Parteien profi-tieren und ihre spezifischen Vorteile daraus ziehen. Dies gilt für alle, vom Softwaretool-hersteller, über Zulieferer aller Grade und dem Systemintegrator, bis hin zum Fahrzeug-hersteller. Aufgrund bewährter, wieder verwendbarer Architekturen und der hohen Quali-tät der Produkte profitieren auch neue Marktteilnehmer und Endkunden von diesem Standardisierungsansatz.

2.2.2 AUTOSAR-Projektorganisation

Am Ende von Phase I, im Dezember 2006, bestand die Partnerschaft aus über 100 Fir-men. Diese sind in verschiedenen Formen der Mitgliedschaft organisiert, wie Core-Partner (10), Premium-Mitglieder (52), Development-Mitglieder (3) und Associate-Mitglieder (44). Im Frühjahr 2007 beläuft sich die Zahl der Mitglieder schon auf über 120 (für aktuelle Informationen siehe [1]). Die Core-Partner (siehe Bild 2-18) steuern das Projekt und tragen die organisatorische und administrative Verantwortung. Sie habe eine dezentrale Organisation aufgebaut, die mit einstimmigen Entscheidungsprozessen arbeitet.

Bild 2-18: Die AUTOSAR-Core-Partner.

Die Premium-Mitglieder aus Phase I sind in Bild 2-19 dargestellt. Premium-Mitglieder wie Core-Partner tragen zur Schaffung des Standards durch aktive Teilnahme in den Arbeits-gruppen bei. Die Mitwirkung dieser hohen Anzahl an Premium-Mitgliedern bei der tägli-chen Arbeit im Projekt, ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Projekts. Ähnlich wie die Premium-Mitglieder nehmen die Development-Mitglieder in verschiedenen Arbeitsgruppen teil, allerdings typischerweise stärker fokussiert auf bestimmte Entwicklungsziele.

Bild 2-19: Die AUTOSAR-Premium-Mitglieder, Ende 2006.

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116 2 Elektronik

Bild 2-20: Die AUTOSAR-Associate-Mitglieder, Ende 2006.

Die Associate-Mitglieder (siehe Bild 2-20) stellen die Nutzer des AUTOSAR-Standards dar. Sie erhalten alle fertig gestellten Spezifikationen, bevor diese veröffentlicht werden. Allerdings tragen sie nicht aktiv zur Standardisierung bei. Des Weiteren gibt es 17 Teilnehmer (so genannte Attendees), die die Partnerschaft in be-stimmten Themengebieten mit einem eher wissenschaftlichen Schwerpunkt unterstützen. Zusammenfassend haben rund 650 Experten (inkl. der Leistung von Core-Partnern, Pre-mium-Mitgliedern und Development-Mitgliedern) zu der Entwicklung des Standards im Höhepunkt von Phase I beigetragen, was etwa 175 Vollzeitmitarbeitern entsprach. All dies erfordert in hohem Maße ein effektives und effizientes Projekt- und Ressourcenma-nagement, ein akkurates Berichtswesen, Qualitätssicherung und transparente Kommuni-kation. Da ein sehr ambitionierter Projektzeitplan erstellt wurde, erfolgte die Ausarbeitung der Spezifikationen weitest möglich parallel. Dies wiederum erforderte eine intensive Kom-munikation, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse der verschiedenen Arbeitsgruppen zusammenpassen.

2.2.3 Technisches Konzept von AUTOSAR

2.2.3.1 Schichtenmodell der Softwarearchitektur

Die Anforderung einer gemeinsamen Sammlung von Infrastruktursoftware erfüllt AUTOSAR durch eine detailliert spezifizierte standardisierte Basissoftware (BSW). Sie schließt die Lücke zwischen Mikrocontrollerhardware und Anwendungssoftware. Als ein grundlegendes Konzept entwickelte AUTOSAR ein Schichtenmodell der ECU-Softwarearchitektur, welches in diesem Umfang und Granularität in der automobilen Softwareentwicklung neu war (siehe [9]). Bild 2-21 zeigt das Schichtenmodell dieser ECU-Softwarearchitektur.

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 117

Bild 2-21: AUTOSAR-Schichtenmodell der ECU-Softwarearchitektur.

Unterhalb der Anwendungsschicht abstrahiert die AUTOSAR-Laufzeitumgebung (Run-time Environment, RTE) die Anwendungen von jeglichen Implementierungsdetails der Basissoftware und von der Hardware. In dieser Hinsicht ist das RTE eine neuartige ‚Middleware’ Schichttechnologie, welche die Verschiebbarkeit von Komponenten der Anwendungsschicht über ein dezentralisiertes Netzwerk ermöglicht. Die Basissoftware unterhalb des RTE stellt alle Systemdienste und -funktionen bereit, die für den Fahrzeugnutzer nicht direkt sichtbar sind. Um hier zwischen hardwareabhängigen und -unabhängigen Funktionen zu differenzieren, ist die Basissoftware in folgende Schichten unterteilt:

� Diensteschicht,

� ECU-Abstraktionsschicht,

� Mikrocontroller-Abstraktionsschicht und

� Komplexe Treiber.

Die Diensteschicht umfasst Systemdienste wie Diagnoseprotokolle, Management des Permanentspeichers, Management der ECU-Betriebsmodi und das Betriebssystem selbst. Die Module der Diensteschicht sind – vom Betriebssystem abgesehen – hardwareunab-hängig. Die ECU-Abstraktionsschicht trennt das ECU-Layout (d. h. wie die Peripherie-module mit dem Mikrocontroller verbunden sind) von den oberen Schichten. Obwohl diese Schicht ECU-spezifisch ist, ist sie unabhängig vom Mikrocontroller. Die nächste Abstraktionsstufe wird durch die Mikrocontroller-Abstraktionsschicht erreicht, die mik-rocontrollerspezifische Treiber umfasst. Diese Treiber beispielsweise sind I/O-Treiber für digitale Ein- und Ausgänge, oder ADC-Treiber zur Wandlung analoger Signale in digita-le Werte. Jede dieser Schichten ist in verschiedene Basissoftwaremodule unterteilt, wel-che die detaillierten Aufgaben der Schichten erfüllen.

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118 2 Elektronik

Module, die komplexe Sensoren oder Aktuatoren mit besonderen Echtzeitanforderungen oder mit spezifischen elektromechanischen Hardwareanforderungen ansteuern, können durch AUTOSAR nicht standardisiert werden, da hierzu spezifisches Fachwissen und geistiges Eigentum der Automobilhersteller oder der Zulieferer erforderlich wäre. Solche speziellen Module befinden sich in der Schicht der komplexen Treiber. Allerdings müs-sen sie auch dort den Anforderungen für Schnittstellenmechanismen in der AUTOSAR-Basissoftware genügen.

2.2.3.2 Virtueller Funktionaler Bus

Der virtuelle funktionale Bus (Virtual Functional Bus, VFB) ist ein weiteres neues Kon-zept, das der Trennung der Anwendungen von der Infrastruktur dient, selbst auf der Ebe-ne des Systemdesigns. Eine Anwendung besteht aus verbundenen „AUTOSAR-Softwarekomponenten“ (Software Components, SW-Cs). Der VFB (dargestellt im oberen Teil von Bild 2-22) stellt standardisierte Kommunikationsmechanismen und Dienste für diese Komponenten zur Verfügung. Dies umfasst alle Kommunikationsmechanismen, die für die Komponenten der Anwendungsschicht relevant sind.

Bild 2-22: Der virtuelle funktionale Bus (VFB) entkoppelt An-wendungen und Infrastruk-tur.

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 119

Das RTE stellt die Laufzeitimplementierung des VFB auf einer spezifischen ECU dar. Der VFB arbeitet unabhängig von der Verteilung der Softwarekomponenten auf die mi-teinander verbundenen ECUs im System (wie im unteren Teil von Bild 2-22 dargestellt). Als zwingende Voraussetzung für die Realisierung des VFB-Konzeptes muss jede AUTOSAR-ECU standardisierte Basissoftwarefunktionen und -schnittstellen haben. AUTOSAR-Softwarekomponenten, die einer bestimmten ECU zugewiesen sind, finden sich dann in der Anwendungsschicht der entsprechenden ECU. Die Implementierung einer solchen AUTOSAR-Softwarekomponente ist unabhängig vom Mikrocontroller und der ECU, ebenso wie von der Platzierung anderer Komponenten im System. Eine AUTOSAR-Softwarekomponente kommuniziert mit anderen Softwarekomponenten (in der selben oder in anderen ECUs), und mit den Diensten oder Funktionen in der Basis-software der ECU nur über das RTE. Bild 2-23 zeigt ein Beispiel des Kommunikations-mechanismus zwischen den Komponenten der Anwendungsschicht. Die Softwarekompo-nenten benutzen Ports, welche die Schnittstelle gemäß des Kommunikationsmechanismus implementieren (in diesem Fall Client-Server-Kommunikation).

Bild 2-23: Kommunikation durch Ports.

Das bedeutet, dass die Ports die Anschlüsse für jegliche Interaktion einer Komponente sind. Die Kommunikation erfolgt über das RTE, und die Kommunikationsmodule in der Basissoftware sind praktisch entkoppelt und für die Komponenten in der Anwendungs-schicht nicht sichtbar. AUTOSAR hat ein Komponentenmodell standardisiert, das eine präzise Abbildung der Ports auf die Programmiersprache C enthält, und außerdem ein Dateiformat für die for-male Beschreibung der Ports und der Anforderungen der Komponenten an die Basissoft-

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120 2 Elektronik

ware, inklusive der einplanungsrelevanten Anforderungen. Dieses Komponentenmodell und das RTE erlauben die Zerlegung der Anwendungssoftware in gut strukturierte, inter-agierende Komponenten. Diese Komponenten können während der Konzeptphase der Systementwicklung einfach zwischen ECUs verschoben werden oder aus anderen Projek-ten wieder verwendet werden (idealerweise ohne den Quellcode anzutasten). Dadurch lässt sich der Entwicklungs- und Erprobungsaufwand deutlich reduzieren.

2.2.3.3 Metamodell und Methodik

AUTOSAR hat ein Metamodell entwickelt, das präzise alle Konzepte definiert, die zur Beschreibung eines abgeschlossenen AUTOSAR-Systems erforderlich sind. In diesem Modell ist außerdem die Methodik der wesentlichen Entwicklungsschritte eines solchen Systems definiert. Das Metamodell ist in UML beschrieben, wobei ein speziell zuge-schnittenes AUTOSAR-Profil zur Anwendung kommt. Dadurch lässt sich die Struktur der Informationen im Metamodell sehr übersichtlich darstellen. Im Gegensatz zu einem Modell eines kompletten Systems oder nur einer Softwarekomponente definiert das Me-tamodell die Beschreibungselemente für solche Modelle. Beispielsweise definiert das Metamodell Elemente zur Beschreibung von Softwarekomponenten, oder von Schnitt-stellen und Datentypen solcher Komponenten. Diese formalen Beschreibungselemente können in einem Modell zur Charakterisierung einer Softwarekomponente verwendet werden, z. B. als Modell einer Spiegelverstell- oder einer Spiegelabblendkomponente. Bild 2-24 zeigt die Paketübersicht des AUTOSAR-Metamodells mit den drei unter-schiedlichen Kategorien der Beschreibungselemente, die in den verschiedenen Schritten des Gesamtsystemdesigns bzw. der -entwicklung erforderlich sind. Grundsätzlich gibt es Beschreibungsvorlagen (Templates) für Informationen zu:

� Softwarekomponenten (SWComponentTemplate): jede Softwarekomponente erfordert eine Beschreibung der Software-API (z. B. Datentypen, Ports, Schnittstellen, etc.), eine Beschreibung der Anforderungen dieser Komponente an die Basissoftware (welche Dienste benötigt werden und mit welchen Parametern).

� ECU-Ressourcen (ECUResourceTemplate): jede ECU erfordert die Spezifikation von z. B.: Prozessor, Speicher, Peripheriegeräten, Sensoren und Aktuatoren.

� Systembeschreibung (SystemTemplate): diese beinhaltet z. B. Einschränkungen oder Rahmenbedingungen bezüglich der Bussignale, der Systemtopologie und der Vertei-lung von zusammengehörigen Softwarekomponenten.

Zusätzlich zu den Beschreibungsvorlagen definiert das Metamodell auch ein Paket für generische Strukturelemente. Die generische Struktur wird von allen drei Vorlagenar-ten verwendet und referenziert. Sie beinhaltet einige grundlegende Infrastrukturklassen und -schablonen, z. B. für Definitionen von Grunddatentypen wie Integer usw.

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 121

Bild 2-24: Metamodell Paketübersicht.

Die Vorlagen zur Beschreibung einer konkreten Komponente, ECU oder eines Systems sind lediglich XML-Dateien. Mittels eines Schemagenerators können entsprechende XML-Schemata direkt aus dem Metamodell erzeugt werden. Diese Schemata wiederum können von Editorwerkzeugen verwendet werden, um die Gültigkeit einer XML-Beschreibung zu überprüfen. Beispielsweise ist die Softwarekomponentenbeschreibung einer Spiegelverstellkomponente eine XML-Datei, die im Prinzip nur einer ausgefüllten XML-Vorlage entspricht. Und die XML-Datei mit der Beschreibung der Spiegelverstell-komponente kann mittels des entsprechenden XML-Schemas für Softwarekomponenten-beschreibungen, die aus dem Metamodell generiert wurde, validiert werden. Dadurch lässt sich garantieren, dass die XML-Beschreibung der Spiegelverstellkomponente nur im Metamodell definierte Elemente, Eigenschaften und Parameter enthält. Dieser Validie-rungsmechanismus macht die AUTOSAR-Beschreibungsvorlagen zu eindeutig definier-ten Austauschformaten und unterstützt somit die Wiederverwendung und die Arbeitstei-lung. Die Methodik für die wesentlichen Entwicklungsschritte mit AUTOSAR-Systemen ist ebenfalls direkt in das Metamodell integriert. Hierzu wurde ein anderes UML-Profil ein-gesetzt. Die AUTOSAR-Methodik spezifiziert alle aufeinanderfolgenden Entwicklungs-schritte, indem sie die zu jedem Schritt gehörigen Austauschformate und Aktionen defi-niert. Dies umfasst die Definition aller benötigten Arbeitsprodukte und wie diese durch bestimmte Tätigkeiten bzw. Aktivitäten verarbeitet werden, und dies von der Systemde-signebene bis hin zur Generierung des ausführbaren ECU-Codes. Bild 2-25 veranschau-licht die Beziehung zwischen der Methodik und den Beschreibungsvorlagen im Metamo-dell.

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122 2 Elektronik

Bild 2-25: Methodik und Beschreibungsvorlagen im Metamodell.

In diesem Beispiel ist ganz links ein Arbeitsprodukt – ein Artefakt des Metamodells – namens „ECU Extract of System Configuration“ dargestellt. Dieses Element wird durch die Aktivität „Configure ECU“ verarbeitet, hier durch den gelben Blockpfeil symboli-siert. Diese Aktivität produziert das Arbeitsprodukt „ECU Configuration Description“. Die direkte Integration in das Metamodell bedeutet insbesondere, dass die in der Metho-dik verwendeten Arbeitsprodukte ganz explizit von den Metamodellelementen abgeleitet sind, die im Bereich der Beschreibungsvorlagen definiert wurden. Aus dieser direkten Integration resultieren mehrere Vorteile: Es gibt keine Inkonsistenzen, die Wartung des Metamodells ist einfach, und es gibt eine einheitliche Terminologie. Obwohl die Methodik keine vollständige Beschreibung des Entwicklungsprozesses ist, kann sie doch als Basis für verteilte Entwicklungsprozesse dienen. Analog zu den Vortei-len von kompatiblen technischen Schnittstellen, kann die Methodik zu Synergien und gesteigerter Effizienz führen, wenn sie korrekt in einem kooperativen Geschäftsumfeld angewandt wird.

2.2.3.4 Konfigurationskonzept

Das AUTOSAR-Konfigurationskonzept unterstützt vielfältige Konfigurationsvarianten. Es erlaubt über entsprechende Parameter eine Konfiguration zur Kompilierung (pre-compile), zum Linken (link-time), nach dem Linken (post-build) und auch eine Kombina-tion diese Konfigurationsklassen (siehe [5]). AUTOSAR definiert Vorlagen zur Beschreibung der Konfigurationsparameter aller Ba-sissoftwaremodule, inklusive eines XML-Schemas. Damit lassen sich mittels eines gene-

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 123

rischen Konfigurationseditors (siehe Bild 2-26) alle Basissoftwaremodule einer ECU konfigurieren. Dieses Konzept ermöglicht es Toolherstellern, Komfortfunktionen und Konsistenzprüfungen in ihre Produkte zu integrieren, die bislang nicht möglich waren. Dies wiederum wird sowohl die Entwicklungsgeschwindigkeit als auch die Produktquali-tät erhöhen.

Bild 2-26: Konfiguration der AUTOSAR-Basissoftware.

Die AUTOSAR-Spezifikationen für Basissoftwaremodule erlauben den Modullieferanten bzw. Implementierern mehrere Modi für die Konfiguration ihrer Module anzubieten. Dazu zählen die Konfiguration

� zur Kompilierung (pre-compile) für die beste Leistung in Bezug auf die Laufzeit,

� nach dem Linken (post-build) für höchste Flexibilität oder zur Vermeidung von erneu-ter Generierung oder Kompilierung aus Konfigurationsgründen, oder

� zum Linken (link-time), um einen Kompromiss zwischen den anderen beiden Optionen zu erzielen.

Die Konfiguration zur Kompilierung und zum Linken verwendet die Codegenerierung auf Basis der vom ECU-Konfigurationseditor erstellten ECU-Konfigurationsbeschreibung der Modulkonfiguration (siehe auch Bild 2-26). Mit diesem Konzept unterstützt AUTOSAR die Entstehung von integrierten und harmo-nisch kooperierenden Werkzeugketten für die Automobilsoftwareentwicklung.

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124 2 Elektronik

2.2.3.5 Fehlerbehandlung

Eine konsistente und einheitliche Fehlerbehandlung in der Basissoftware dient der effek-tiven Kommunikation zu Funktionen der Anwendungsschicht und kann auch zum Mana-gement der Betriebsmodi und zu Diagnosezwecken verwendet werden. Dies schließt auch Anwendungsfälle wie defekte Sensoren, Kommunikationsstörungen und Speicher-fehler mit ein. Sowohl für die Basissoftware als auch für das RTE sind Mechanismen definiert, um Feh-lerinformationen im System zu kommunizieren. Daher sind für alle Funktionsschnittstel-len der Basissoftwaremodule in der Modulspezifikation entsprechende Fehlercodes als Rückgabewerte definiert. Der gleiche Mechanismus ist auch für Anwendungssoftware-komponenten verfügbar. Ein erkanntes Diagnoseereignis kann entweder direkt im betroffenen Modul behandelt werden oder es wird über den Rückgabewert an das aufrufende Modul gemeldet. Zusätz-lich werden alle Diagnoseereignisse an eines der beiden speziellen Fehlerbehandlungs-module der Basissoftware gemeldet (siehe Bild 2-27).

Bild 2-27: Diagnose im Entwicklungs- und im Serienbetrieb.

Das erste Modul, der Development Error Tracer (DET), wird für Diagnoseereignisse verwendet, die nur während der Integrations- oder Implementierungsphase von Interesse sind. Der DET kann vom Systemintegrator sehr flexibel konfiguriert werden, um Diagno-seereignisse in gewünschter Weise zu verarbeiten. Für den Betrieb des Steuergerätes in der Serie im Fahrzeug wird der DET typischerweise per Konfiguration völlig aus dem System entfernt.

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 125

Diagnoseereignisse, die während des Normalbetriebs relevant sind, werden an den Diag-nostic Event Manager (DEM) gemeldet. Dieser kann so konfiguriert werden kann, dass er das Auftreten des Diagnoseereignisses in den Diagnosespeicher einträgt und den Be-triebsmodus ändert oder auch eine bestimmte Funktionalität der Anwendungssoftware unterbindet.

2.2.3.6 Anwendungssoftware

Zur besseren Integration von wettbewerbsrelevanter Anwendungssoftware ist neben der Standardisierung der Infrastruktur auch eine Klassifizierungsstrategie für solche Anwen-dungen sinnvoll. Die Software, die solche Anwendungsfunktionen implementiert, ist in AUTOSAR-Systemen in Softwarekomponenten gekapselt. Daher ist eine Standardisie-rung der Schnittstellen für AUTOSAR-Softwarekomponenten ein zentrales Element, um die Skalierbarkeit und die Übertragbarkeit von Anwendungen auf Steuergeräte verschie-dener Fahrzeugplattformen zu ermöglichen. Bei dieser Standardisierung muss natürlich das Einvernehmen unter den AUTOSAR-Partnern gesichert sein, sowohl für den Detail-lierungsgrad der Schnittstellenbeschreibung (welche standardisiert werden soll) als auch für den Grad der funktionalen Aufschlüsselung. Gegenwärtig konzentriert sich AUTOSAR auf die Domänen Komfort, Antrieb und Fahrwerk. In jeder dieser Domänen wurden bereits diverse Anwendungsschnittstellen ausgearbeitet, zum Beispiel Außen-lichtregelung, Scheibenwischer, Fahreranforderungen oder intelligente Geschwindig-keitsregelung (Adaptive Cruise Control, ACC).

2.2.4 Status der AUTOSAR-Spezifikationen

Für AUTOSAR sind drei übergeordnete Arbeitsgebiete von Bedeutung:

� Basissoftware und RTE,

� Vorlagen und Datenaustauschformate, und

� funktionale Schnittstellen in der Anwendungsschicht.

Bis 2006 hat AUTOSAR das Hauptaugenmerk auf das Gebiet der Basissoftware und RTE gelegt. Im Gegensatz zur Anwendungssoftware, die eine Kernkompetenz der Fahr-zeughersteller und Systemlieferanten ist und mit welcher der für den Endkunden sichtba-re Markenwert verbunden ist, hat die unterlagerte Basissoftware keine Eigenschaften, die direkt wettbewerbsrelevant sind. Dadurch gibt es im Bereich der Basissoftware ein hohes Potenzial für die Standardisierung.

2.2.4.1 AUTOSAR Release 1.0

2005 wurde der erste Satz von 57 Dokumenten (Spezifikationen) innerhalb der AUTOSAR-Gemeinschaft als „Release 1.0“ freigegeben. Der wesentliche Zweck die-ses Releases war eine Konzeptvalidierung in Form einer ersten Implementierung der AUTOSAR-Basissoftware: Der Validator 1. Die damit verbundene Evaluierung sollte natürlich auch der weiteren Verbesserung und Reifung des Standards dienen.

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126 2 Elektronik

Im Rahmen dieser Validierung teilten sich 14 AUTOSAR-Mitgliedsfirmen die Arbeit und implementierten den ersten Satz Basissoftwarespezifikationen auf zwei verschiede-nen Hardwareplattformen. Die hardwareabhängigen Basissoftwaremodule wurden einmal pro Plattform implementiert, während die hardwareunabhängigen Module zweimal – von verschiedenen Firmen – implementiert wurden, um direkt die Austauschbarkeit dieser Module zu beweisen. Während der Validierungsaktivitäten wurden mehr als 260 Änderungsgesuche zu den Spezifikationen gestellt. Davon verursachten allerdings nur wenige konzeptionelle Ände-rungen. Dies ist ein klares Zeichen für die Effizienz und Effektivität der Spezifikations-arbeit und des besonderen architektonischen Ansatzes.

2.2.4.2 AUTOSAR Release 2.0

Die Erfahrungen aus der Arbeit mit dem Validator 1 flossen direkt zu den Arbeitsgrup-pen, die sich mit Release 2.0 befassten, welches im Mai 2006 freigegeben wurde. Die Inhalte von Release 1.0 und 2.0 bzw. die entsprechenden Erweiterungen zeigt Bild 2-28. In Release 2.0 wurden verschiedene Module aus Release 1.0 aktualisiert und fehlende Module hinzugefügt.

Bild 2-28: Inhalte von AUTOSAR Release 1.0 und 2.0.

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 127

Da im Validator 1 die Konfiguration der Basissoftware noch proprietär dem Implemen-tierer überlassen war, wurde im Release 2.0 ein standardisiertes Konfigurationskonzept eingeführt. Dazu wurden ein generischer Konfigurationseditor und zusätzlich das RTE als Brücke zwischen der Basissoftware und den Anwendungen spezifiziert. Dieser erweiterte Satz von Spezifikationen des Release 2.0 wurde einer weiteren Validie-rung unterzogen – im Validator 2. Dabei arbeiten 12 Implementierer und ein Integrator eng zusammen.

2.2.4.3 AUTOSAR Release 2.1

Die Arbeit mit und die Erfahrungen aus dem Validator 2 sind die Basis für das Release 2.1, das im Januar 2007 fertig gestellt wurde. Dieses Release ist hauptsächlich eine Über-arbeitung von 2.0 und es verbessert insbesondere das Konfigurationskonzept der Basis-software, indem es die Verbindungen zwischen den standardisierten Konfigurationspa-rametern und den unterschiedlichen Basissoftwaremodulen berücksichtigt. Das Release 2.1 besteht aus ca. 130 Spezifikationsdokumenten. Es ist als das bislang ausgereifteste Resultat von AUTOSAR anzusehen. Dieser gut dokumentierte Satz von Spezifikationen ermöglicht es der Automobilindustrie, mit der Entwicklung von E/E-Fahrzeugarchitekturen entsprechend dieses Standards zu beginnen. Das Release 2.1 wird vor allem für Migrationsprojekte sinnvoll sein, z. B. für Projekte, in denen nur Teile der Software zu AUTOSAR konform sein sollen.

2.2.5 AUTOSAR Konformitätsprüfung

2.2.5.1 Zielsetzung

Alle Produkte, welche das Markenzeichen AUTOSAR verwenden, müssen konform zu den AUTOSAR-Spezifikationen sein. Bereits zu Beginn des AUTOSAR-Projekts wurden die Mittel zur Qualitätssicherung evaluiert, sowie entsprechende Arbeitspakete geplant und durchgeführt. Als Ergebnis dieser Arbeit ist ein Prozess zur Konformitätskontrolle erstellt worden. Die Konformitätskontrolle soll mittels Tests verifizieren, dass das geprüfte Produkt der ent-sprechenden AUTOSAR-Spezifikation genügt. Schließlich ist dies die Voraussetzung für Interoperabilität, Wiederverwendbarkeit/Portierbarkeit und Skalierbarkeit jener Produkte, die erfolgreich ihre Kompatibilität zum AUTOSAR-Standard gezeigt haben. Durch die AUTOSAR-Spezifikationen werden Basissoftwaremodule, das RTE und Ba-sisschnittstellen standardisiert. Auch die Schnittstelleneigenschaften der Komponenten der Anwendungssoftware haben ihren festen Platz im Bereich der Konformitätsprüfung.

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128 2 Elektronik

2.2.5.2 Prozess der Konformitätsprüfung

Der Prozess der Konformitätsprüfung wurde erstellt, um eine große Vielfalt von mögli-chen Entwicklungs- und Geschäftsprozessen mit AUTOSAR-Produkten zu gewährleis-ten. Der Prozess unterscheidet zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze, siehe Bild 2-29. Einerseits gibt es ein externes Konformitätszeugnis von einer neutralen, unabhängi-gen Einrichtung – einer Agentur für die Konformitätsprüfung (Conformance Test Agen-cy, CTA), die nach entsprechenden Richtlinien akkreditiert sein muss. Andererseits sind Verfahren bei den Produktlieferanten möglich, die zu einer Konformitätserklärung als Selbstdeklaration führen. Solch ein Produktlieferant muss in einer vergleichbaren Art und Weise wie eine CTA akkreditiert werden.

Bild 2-29: AUTOSAR Konformitätstestpfade.

Vom praktischen Gesichtspunkt betrachtet muss ein Produkt standardisierte Testfälle durchlaufen und bestehen, die in einer „Conformance Test Suite“ (CTS) ausgeführt wer-den. In der CTS sind die Konformitätstestspezifikationen implementiert, die von AUTOSAR definiert sind. Momentan bereitet AUTOSAR die Auswahl der Akkreditierungsinstitutionen und Gu-tachter vor, welche die Akkreditierung von CTAs und Produktlieferanten durchführen sollen. Bis zum Einsatz eines voll funktionsfähigen Prozesses ist eine individuelle Kon-formitätserklärung der Lieferanten, welche die AUTOSAR-Spezifikationen verwenden, vorgeschrieben.

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 129

2.2.6 AUTOSAR Phase II: 2007 – 2009

Nach erfolgreicher Beendigung der AUTOSAR Phase I beginnt für die Mitglieder von AUTOSAR die aktive Nutzung des Standards. Phase II, die bereits gestartet wurde, un-terstützt dies – neben der Aufgabe den Standard weiter zu optimieren. Jeder AUTOSAR-Core-Partner und die Mehrzahl der anderen Mitglieder haben ihr indi-viduelles Nutzungskonzept erstellt. Bereits in 2008 werden die ersten Automobile mit AUTOSAR-Technologie auf dem Markt erscheinen. So haben alle Core-Partner die Ein-führung von AUTOSAR bis 2010 geplant. Dies zeugt eindeutig von der hohen Akzep-tanz, welche dem Standard entgegengebracht wird. Ebenfalls wird eine Vielzahl von AUTOSAR-Produkten und Tools demnächst zur Verfügung stehen. Die Freigabe und Veröffentlichung der AUTOSAR-Spezifikationen verfolgte im Wesent-lichen die nachfolgenden Ziele:

� AUTOSAR als De-facto-Standard zu fördern,

� offene Kommunikation über Spezifikationen und AUTOSAR-Inhalte zu ermöglichen,

� und neue Mitglieder zu gewinnen.

Die Mitgliedschaft in AUTOSAR ist Voraussetzung für die Nutzung des Standards. Mit der Zustimmung der Core-Partner zur Fortführung der Projektpartnerschaft, wie sie bereits für Phase I festgelegt wurde, sind die Weichen für weitere drei Jahre fruchtbare Zusammenarbeit gestellt worden. Inzwischen ist ein nochmaliger Anstieg der Mitglieder-zahlen insgesamt zu beobachten.

2.2.6.1 Inhalte der AUTOSAR Phase II

Für die Arbeit in Phase II wurden zwei Hauptschwerpunkte definiert: 1.) Die Wartung des Ergebnisses aus der Phase I und die Unterstützung seiner Nutzung

und

2.) die weitere Entwicklung des Standards. Bild 2-30 zeigt die Struktur der Arbeitspake-te von AUTOSAR Phase II.

Bezüglich Nutzung und Wartung ist bereits ein Freigabeprozess für zukünftige Freigaben und ein Änderungsmanagement für zukünftige Verbesserungen des Standards eingeführt worden. Ebenso ist die Handhabung der Konformitätskontrollen bereits als Prozess be-schrieben worden (siehe auch Abschnitt „Prozess der Konformitätsprüfung“). Dies ist ein sehr wichtiger Aspekt für die Anwendung von AUTOSAR in der Praxis. Dies betrifft sowohl die Basissoftwaremodule (z. B. AUTOSAR OS, Kommunikationsmanager, RTE) als auch die Kompatibilität zwischen den Komponenten der Anwendungssoftware und dem RTE.

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Bild 2-30: Struktur der Arbeitspakete in AUTOSAR Phase II.

Wie bereits erwähnt, wird die Weiterentwicklung und Verbesserung des Standards stän-dig vorangetrieben, wobei die Erfahrungen aus der Validierung am Ende von Phase I berücksichtigt werden. Als ein Grundprinzip werden die Rückmeldungen von allen AUTOSAR-Interessengruppen in die Verbesserung mit einbezogen. Darüber hinaus sind zusätzliche Sicherheitseigenschaften im Fokus von Phase II. Die bereits in Phase I gestar-teten Aktivitäten werden in Phase II als eigenständiges Arbeitspaket weitergeführt. Die wesentlichen Arbeiten des sogenannten Safety Teams konzentrieren sich auf die Unters-tützung bei der Entwicklung sicherheitsrelevanter Funktionen durch die Erstellung von Sicherheitsrichtlinien und technischer Hilfestellung im Rahmen von AUTOSAR-Archi-tekturen. Details dieser Arbeit sind in [7] dargestellt. Ebenfalls wichtig für die Phase II ist die Standardisierung der AUTOSAR-Schnittstellen von vielen Funktionen der Anwendungssoftware (wie z. B. Zentralverriegelung, An-triebsregelung, ACC etc.). Als eine Voraussetzung arbeitet die AUTOSAR Partnerschaft an einer sinnvollen Modularisierung für solche Funktionalitäten. Dies ist bereits für viele Funktionsgruppen erreicht worden, weitere werden in AUTOSAR Phase II bearbeitet. Insbesondere sind die Arbeitspakete, die sich mit Insassen- und Fußgängerschutzsyste-men (Occupant & Pedestrian Safety, O&P) und Multimedia/Telematics/HMI beschäfti-gen komplett neu in Phase II. Die Schnittstellenstandardisierung bedeutet nicht nur eine Weiterentwicklung, sie unterstützt auch die Nutzung, weil dadurch der Austausch der Anwendungssoftware zwischen Automobilherstellern und Lieferanten vereinfacht wird.

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2.2 AUTOSAR – Der Standard, seine Anwendung und die weitere Entwicklung 131

2.2.6.2 Start von AUTOSAR Phase II

Aufgrund des anspruchsvollen Entwicklungsprogramms und der Arbeit an zusätzlichen Themen wie Multimedia und Telematics stimmten die Core-Partner einer Verlängerung der ersten Phase um weitere drei Jahre zu. In Bezug auf die beschriebenen Formen der Mitgliedschaft, waren keine grundlegenden Änderungen des Vertrages notwendig. Es wurden nur geringe Änderungen bzgl. der Ziele und der Zielsetzungen für Phase II vor-genommen. Die Möglichkeit für neue Mitglieder in Phase II einzusteigen, wurde genutzt, was die steigende Zahl der AUTOSAR-Partner beweist. Neue und zusätzliche Aufgaben in Phase II, wie Multimedia, Telematics etc. sind für Firmen interessant, die bereits auf diesen Gebieten arbeiten, aber bis jetzt mit dem AUTOSAR-Konzept keine oder nur wenige Anwendungsbereiche gesehen haben. Um sich mit dem Projekt in Phase II vertraut zu machen und auf den neuesten Stand bringen zu können, ist daher ein aktuelles Informati-onspaket auf der AUTOSAR-Webseite (siehe [1]) verfügbar.

2.2.7 Schlussfolgerung und Ausblick

Das AUTOSAR-Projekt war während der letzten dreieinhalb Jahre eine große, herausfor-dernde Aufgabe [6]. Die unterschiedlichen Meinungen, Interessen und Strategien von über 100 unterschiedlichen Partnern, zum großen Teil Wettbewerbern und unterschiedli-chen Nationalitäten zu sammeln, zusammenzufassen und in Einklang zu bringen war eine enorme Leistung. Dies alles vor dem Hintergrund, dass bereits einige Partner an ihrem eigenen, proprietären Standard gearbeitet und einiges investiert hatten. Das Ergebnis ist bemerkenswert. Die erarbeiteten Spezifikationen zählen zu den am bes-ten dokumentierten weltweit auf dem Gebiet der Automobilsoftware. Dieser Erfolg ba-siert nicht alleine auf der Arbeit der Core-Partner; er konnte nur durch die umfangreiche Mitwirkung der Premium-Mitglieder erreicht werden. Ohne deren Unterstützung, in Form von kontinuierlicher Mitwirkung erfahrener Spezialisten in den verschiedenen AUTOSAR-Arbeitsgruppen, hätte der Erfolg nicht erreicht werden können. Ungeachtet der Tatsache, dass viele AUTOSAR-Partner Konkurrenten im täglichen Geschäftsleben sind, entwickelte sich in den Arbeitsgruppen eine beispielhafte und äußerst produktive Zusammenarbeit. Während der Phase I hat die AUTOSAR-Partnerschaft eine beständige Basis erarbeitet, die unmittelbar in der modernen Automobilentwicklung angewendet werden kann. Die AUTOSAR-Infrastruktur und -Methodik bietet alle notwendigen Startbedingungen für die Nutzungsphase. Darüber hinaus werden mit den Arbeiten während der Phase II Vor-aussetzungen geschaffen, welche die sofortige Nutzung unterstützen und neue Einsatzge-biete erschließen.

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Danksagung

Die Autoren danken den Kollegen des AUTOSAR Steering Committees und des Project Leader Teams für ihre Unterstützung bei der Erstellung der englischen Ursprungsversion [2] dieses Textes: Harald Heinecke, Simon Fürst, BMW Group; Walter Grote, Nico Mal-dener, Bosch; Thomas Weber, Jens Ruh, DaimlerChrysler; Lennart Lundh, Tomas San-dén, Ford Motor Company; Peter Heitkämper, Robert Rimkus, General Motors; Jean Leflour, Alain Gilberg, PSA Peugeot Citroën; Ulrich Virnich, Stefan Voget, Siemens VDO; Kenji Nishikawa, Kazuhiro Kajio, Toyota Motor Corporation; Klaus Lange, Bernd Kunkel, Volkswagen.

Literatur zu Abschnitt 2.2

[1] www.autosar.org Offizielle Internetseite der AUTOSAR Entwicklungspartnerschaft. [2] Fennel, Helmut et al.: AUTOSAR – The Standard, its Exploitation and Further Development.

AAET 2007, 8. Symposium Automatisierungs-, Assistenzsysteme und eingebettete Systeme für Transportmittel, Braunschweig, Februar 2007.

[3] Fennel, Helmut et al.: Achievements and exploitation of the AUTOSAR development part-nership. Convergence 2006, Transportation Electronics Conference, Detroit, 2006.

[4] Fennel, Helmut et al.: Qualität und Markenidentität durch die AUTOSAR Standard Architek-tur. VDA Jahrestagung 2004, Rüsselsheim, März 2004.

[5] Heinecke, Harald et al.: AUTOSAR – Current results and preparations for exploitation. Euroforum conference May 3rd 2006.

[6] Heinecke, Harald et al.: AUTomotive Open System ARchitecture – An industry-wide initia-tive to manage the complexity of emerging Automotive E/E-Architectures. Convergence 2004, International Congress on Transportation Electronics, Detroit, 2004.

[7] Johannessen, Per: AUTOSAR Safety Approach. Convergence 2006, Transportation Elec-tronics Conference, Detroit, 2006.

[8] Scharnhorst, Thomas: AUTOSAR – ein wichtiger Beitrag für die Automobilarchitekturen der Zukunft. Vision Automobil, Handelsblatt Jahrestagung Automobiltechnologien 2005, München, 2005.

[9] Scharnhorst, Thomas et al.: AUTOSAR – Challenges and Achievements 2005. Electronic Systems for Vehicles 2005, VDI Congress, Baden-Baden, 2005.

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 133

2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät

2.3.1 Einleitung

Die etwa seit den 80er Jahren festzustellende rasante Zunahme des Elektronikumfangs in einem Kraftfahrzeug ist in der Fachwelt Gegenstand intensiver ingenieurtechnischer und -wissenschaftlicher Betätigung und in der breiten Öffentlichkeit eine bekannte und auch immer wieder vielfältig diskutierte Tatsache. In zahlreichen Publikationen sind Beispiele gegeben, z. B. [1], wie sich diese globale Aussage quantifizieren lässt. Hierzu werden Kriterien wie Leitungslänge und -zahl, Kontaktzahl, Anzahl Steuergeräte und Anzahl Busteilnehmer über einen Betrachtungszeitraum von zum Teil mehr als zwei Jahrzehnten und differenziert nach Fahrzeugklassen herangezogen. Abhängig vom Kriterium, auf das man sich bezieht, sind z. B. in der Mittelklasse Zunahmen bis etwa auf das Zehnfache anzutreffen.

Bild 2-31: Kabelsatz VW-Käfer.

Bild 2-32: Kabelsatz VW-Touareg.

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134 2 Elektronik

Auch eine vergleichende Betrachtung der Kabelsätze eines Fahrzeugs der 50er Jahre und eines heutigen Fahrzeugs (z. B. VW-Käfer, Bild 2-31, und VW-Touareg, Bild 2-32) zeigt anschaulich, wie „Elektrik“ und dementsprechend auch „Elektronik“ zuge-nommen haben. Schließlich werden in Bild 2-33 die Elektrik-/Elektronik-Funktionsbereiche eines Fahr-zeugs in ihrer Strukturierung nach so genannten Domänen dargestellt, die untereinander in einem mehrschichtigen Kommunikationsnetzwerk datentechnisch verbunden sind. Auch mit dieser mehr von der Anwendungssicht im Fahrzeug geprägten Betrachtungs-weise soll letztlich die dominierende Bedeutung der Elektronik nochmals herausgestellt werden.

Bild 2-33: Elektrik-/Elektronik Funktionsbereich strukturiert nach Domänen.

Anhand dieser Darstellung wird auch darauf hingewiesen, dass die weiteren Ausführun-gen auf den Elektrik-Elektronikentwurfsprozess der Domäne „Body-/Komfortelektronik“ eingegrenzt werden.

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 135

2.3.2 Anforderungsverursachte Komplexitätszunahme im E/E-Entwurfsprozess

Am Beispiel der einfachen Funktion eines Blinklichts zur Fahrtrichtungsanzeige lässt sich anschaulich zeigen, wie Anforderungen an Umfang und Komplexität zugenommen haben und wie sich dies auf die schaltungstechnische Umsetzung auswirkt. Früher lag die Blinklampe in einem äußerst einfachen Stromkreis zwischen der Quelle mit Sicherung und Fahrzeugmasse (Bild 2-34), ergänzt um einen vorgelagerten und ausschließlich ma-nuell betätigten Schalter sowie eine Blinkeinrichtung mittels Bimetallkontakt oder Relais, sozusagen ein äußerst einfaches Steuergerät. Diese Schaltung ist nicht mehr geeignet, um zusätzliche Forderungen nach einer Blinkfunktion als Alarm- oder Warnblinksignal, Ge-fahr- oder Crashblinken, Tippblinken oder Fahrzeugzugangssignalisierung (Öffnen, Ver-schließen) zu erfüllen. Ebenso wenig können komplexere Anforderungen, wie z. B. die Verteilung der Ansteuerung auf eine Front- und Heckelektronik (mit erforderlicher Syn-chronisation), Nutzung einer PWM, Diagnosefähigkeit, Leuchtmittelerkennung (Glüh-lampe, LED), Vernetzung mit anderen Steuergrößen (z. B. in Verbindung mit Abbiege-licht) umgesetzt werden. Hierzu bedarf es dann eines erheblich erweiterten Schaltungs-konzeptes, wie ebenfalls in Bild 2-34 dargestellt.

Komplexität

• Verteiltes System � Synchronisation• Vernetzung mit anderen Funktionen• Abbiegelicht• Tippblinken• Diagnose• Flexibilität• LED/Glühlampe• Domänenübergreifend• PWM

Komplexität

• Verteiltes System � Synchronisation• Vernetzung mit anderen Funktionen• Abbiegelicht• Tippblinken• Diagnose• Flexibilität• LED/Glühlampe• Domänenübergreifend• PWM

Neue Funktionen

• Alarmanlage• Warnblinken• Crashblinken/Gefahrblinken• Fahrzeugzugang• Tippblinken

Neue Funktionen

• Alarmanlage• Warnblinken• Crashblinken/Gefahrblinken• Fahrzeugzugang• Tippblinken

StandaloneStandalone

μC

Turn indicator Right

CANLIN

Turn Ind.left switch

Kl.15

Turn indicator Left

FET

Supply right

FET

Supply left

Kl.15

Turn Ind.right switch

Analog sense

Analog sensePWM Control

PWM Control

μC

Turn indicator Right

CANLIN

Turn Ind.left switch

Kl.15

Turn indicator Left

FET

Supply right

FET

Supply left

Kl.15

Turn Ind.right switch

Analog sense

Analog sensePWM Control

PWM Control

BimetallRelais

BimetallRelais

BimetallRelais

BimetallRelais

Bild 2-34: Blinklicht früher und heute.

Umfangs- und Komplexitätszunahme sowie Vernetzungsforderung, wie gerade am Bei-spiel des Fahrtrichtungsblinklichts erläutert, treffen auch auf jede andere elektrische Funktion zu, wie etwa Bremslicht, Innenlicht, Außenlicht, Fahrzeugzugang etc.

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136 2 Elektronik

Nehmen die elektrischen Funktionen hinsichtlich Umfang, Anforderungen und Komple-xität zu, bewirkt das konsequenterweise eine fast explosionsartige Zunahme des OEM-seitigen Spezifikationsumfangs. Während noch um 1990 etwa 50 Spezifikationsseiten mit 20 individuellen Funktionen genügten, waren nach 2000 bereits bis zu 3.000 Spezifikati-onsseiten mit 400 individuellen Funktionen erforderlich. Und als Darstellungsform ist auch jetzt noch mehrheitlich der Prosatext anzutreffen! Unter der Voraussetzung, dass vom OEM keine diesbezüglichen Vorfestlegungen getrof-fen sind und somit einzuhaltende Architekturvorgaben bestehen, sind die kundenseitigen funktionsbezogenen Lastenheftforderungen in einen Elektrik-/Elektronik-Architektur-entwurf und insbesondere eine Verteilung der Funktionen auf ein oder mehrere Steuerge-räte umzusetzen. Hierbei wird man mit einer großen Lösungsmannigfaltigkeit konfron-tiert, und es besteht die Aufgabe, aus der Vielzahl der Möglichkeiten nach definierten Bewertungskriterien die günstigste Lösung herauszuarbeiten. Dabei zeigt Bild 2-35 nicht nur, dass die Zahl der Bewertungskriterien während zweier Dekaden deutlich zugenommen hat, sondern dass sich gleichermaßen auch eine Schwer-punktverlagerung von rein physikalisch geprägten Kriterien hin zu elektro-nisch/datentechnisch beherrschten Attributen ergeben hat. Als Bewertungskriterien sind vornehmlich Verdrahtungsaufwand und Komplexität der(s) Steuergeräte(s), Verlustleis-tungshaushalt, Vernetzungsaufwand (Netzwerk-Management, SW-Komplexität), Varian-tenhandling, Skalierbarkeit, Platzbedarf, Gewicht, Beschaffungs- und Fertigungskosten sowie Service-/Austauschkosten zu nennen.

Bild 2-35: Architekturbewertung im Wandel der Zeit (Umfang und relative Wichtung).

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 137

Bild 2-36: Produktentstehungsprozess in V-Modellsymbolik.

Die angesprochene Komplexitätszunahme im Architektur- und korrespondierenden Steu-ergeräteentwurf, also gewissermaßen auf der „linken“ Seite des V-Modells (Bild 2-36), überträgt sich unmittelbar auf den Test- und Integrationsbereich, also die „rechte“ Seite des V-Modells. Die wohlbekannte Rückwirkung zwischen den „Ästen“ des V-Modells macht deutlich, welches immense Gefahrenpotential bei sequentiellem Entwicklungsfort-gang entlang der V-Modell-Äste durch eine späte Fehlerentdeckung, z. B. während des Integrationstests, gegeben ist. Genau dies ist aber absolut unzulässig in einem Umfeld, welches durch größere Modellvielfalt und häufigere Modellwechsel bei gleichzeitig wachsendem Innovationsinhalt geprägt ist und somit kürzere Entwicklungszeiten sowie selbstverständlich auch Fehlerfreiheit ab Serienstart verlangt. Der traditionelle, sequentielle Entwicklungsprozess früherer Dekaden kann dies nicht erfüllen. Ohne Zweifel leisten zahlreiche Simulationswerkzeuge, wenn auch zum Teil nur in inselartiger Anwendung oder geringfügig ineinander überführend und miteinander verbunden, bereits seit Jahren unverzichtbare Beiträge zur Verkürzung der Entwicklungs-zeiten bei gleichzeitig signifikant erhöhter Absicherung der Entwicklungsergebnisse. Jedoch kann noch eine weitere und wiederum in vielfältiger Hinsicht entscheidende Fort-schrittsstufe erreicht werden, wenn eine integrale, aufeinander aufbauende und ineinander überführende, das gesamte V-Modell umfassende Simulationstoolkette zur Anwendung gebracht werden kann, d. h. also, von den Fahrzeuganforderungen über den Architektur-entwurf bis zur hardware- und softwareseitigen Steuergeräteverifikation in einem über-geordneten Kommunikationsnetzwerk.

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138 2 Elektronik

2.3.3 Konventionelle Architektur- und Steuergeräteentwicklung

Der im vorangegangenen Kapitel angesprochene bisherige Entwicklungsprozess wird nachfolgend in seiner Anwendung auf den Architektur- und Steuergeräte-Entwurfs-prozess flussdiagrammartig dargestellt und beschrieben mit dem Ziel, in beiden Fällen seine Schwachstellen in Bezug auf moderne, informationstechnisch geprägte Architektu-ren von E/E-Systemen deutlich zu machen. Grundsätzlich wird erwartet, dass durch die-sen Prozess die Architektur eines E/E-Systems, das alle gerätetechnischen Bausteine wie Batterie-Trenneinrichtungen, Sicherungen, Stecksysteme, Kabelsätze, elektronische Steuergeräte und Bussysteme sowie zusätzlich Software zur Verteilung und Steuerung von elektrischer Leistung, Signalen und Information beinhaltet, aus gegebenen Kunden-forderungen (Funktionen, Eigenschaften, Implementierungsvarianten, erwartete Ausstat-tungsraten, etc.) entwickelt werden kann. Der Architektur-Entwurfsprozess beginnt daher mit der Analyse der kundenseitigen Funktionen und/oder Spezifikationen (Bild 2-37), woraus eine Zusammenstellung aller erforderlichen Ein-/Ausgänge abgeleitet wird, gefolgt von einem ersten, quasi „best guess“, Vorschlag zur Aufteilung des Funktionsumfangs auf ein oder mehrere Steuerge-räte. Diese Aufteilung erfolgt nach topologischen (mögliche Bauräume, mögliche Ver-bindungsleitungen bedingt durch Chassiskanäle) und nach busorientierten (Reaktionszei-ten, Bandbreite, Ausfallsicherheit) Gesichtspunkten. Hieraus wird schließlich eine Grob-definition des Kabelsatzes und des Steuergeräts (oder mehrere) auf Basis der I/Os erstellt. Im nächsten Schritt wird eine Bewertung dieses ersten Entwurfs anhand von Kriterien vorgenommen, wie sie z. B. in Kapitel 2.3.2 genannt wurden. Hierauf folgen im Allge-meinen mehrere Iterationsschleifen ausgehend von jeweils veränderten topologischen und busorientierten Ansätzen. Nach Festlegung auf eine als Optimum erachtete Lösung folgt die Lastenhefterstellung für das (die) Steuergerät(e).

Bild 2-37: Architektur – Entwurfsprozess.

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 139

Die Schwachstellen dieses Prozesses sind ebenfalls aus Bild 2-37 zu entnehmen. Es wird besonders hervorgehoben, dass wegen noch nicht vorhandener Software das zeitliche Verhalten von Kommunikationsnachrichten sowie Buslasten nicht endgültig bewertet werden kann und somit auch das informationstechnische Funktionsverhalten im Gesamt-system nicht nachweisbar ist. Ohne weitergehende Detaillierung, sondern in oberster Ebene („high level“), soll auch der Steuergeräte-Entwurfsprozess abgehandelt werden (Bild 2-38). Das „Ausgabe“-Ergebnis des Architektur-Entwurfs ist hier die Eingangsinformation, die im HW-Pfad in eine HW-Architektur und Blockschaltbild und im SW-Pfad in eine SW-Architektur umgesetzt wird. Es folgen eine Detaildefinition der μP-Ressourcen, A/D-Ports, PWM-Spezifika und Bussysteme im HW-Pfad sowie SW-Entwurf und -Implementierung im SW-Pfad bzw. mit den modifizierten Entwicklungsschritten im Falle modellbasierter SW-Entwicklung, wie ebenfalls dargestellt. Über die hardwareseitige Layout- und Mustererstellung /-test führt der Weg zur HW-/SW-Integration mit nachfolgendem SW-Test auf der Zielhardwa-re. Erfolgreiche Tests gestatten den Fortgang zum Steuergeräte-Prototyp (nicht mehr dargestellt in Bild 2-38!) mit Durchführung der Systemintegrationstests. Positive Ergeb-nisse im Rahmen der Integrationsphase sowie eine spezifikationskonforme Validierung vorausgesetzt, steht am Ende das freigegebene Steuergerät als Produkt zur Verfügung.

Bild 2-38: Steuergeräte – Entwurfsprozess.

Genau wie beim Architektur-Entwurfsprozess sind auch hier die offenkundigen Schwachstellen in Bild 2-38 dargestellt. Die möglicherweise suboptimale HW-/SW-Abstimmung hinsichtlich Grund- und Diagnosefunktionalität in Bezug auf Zeitverhalten und Rechenleistung sowie der im Entwicklungsprozess relativ späte Test auf der Ziel-

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140 2 Elektronik

hardware und ein naturgemäß ebenfalls später Integrationstest seien hier besonders her-vorgehoben. Folgenschwere und in mehrfacher Hinsicht schmerzliche Korrekturmaß-nahmen sind bei dieser Vorgehensweise prinzipiell nicht auszuschließen. Somit lässt sich also hier zusammenfassend feststellen, dass der gängige Entwurfsprozess bei Architektur- und Steuergerätedesign im Hinblick auf einen modernen, d. h. informati-ons- und softwaretechnisch beherrschten Systemansatz eines Elektrik-/Elektroniksystems Schwächen aufweist, die die Forderung nach einem umfassenden Modellierungs-/Simulationsansatz, wie bereits am Ende des vorangegangenen Kapitels ausgeführt, nach-haltig unterstreichen.

2.3.4 Integraler Toolverbund zur virtuellen E/E-Entwicklung

Nachdem im automotiven Umfeld der Begriff „Architektur“ häufig missverstanden und somit auch missbräuchlich angewandt wird, sei in Hinführung auf die nachfolgenden Ausführungen nochmals erinnert, dass die elektrische/elektronische Architektur in ei-nem Fahrzeug so gut wie alles umfasst. Speziell ist eine fahrzeugbezogene E/E-Architekturstudie eine Analyse, um aus der Gesamtfahrzeugsicht (Plattform bzw. Pro-duktpalette) das elektrische, elektronische, softwareseitige sowie daten- und informati-onstechnische Verhalten zu optimieren. Wie groß hierbei die in 2.3.2 bereits angespro-chene Lösungsmannigfaltigkeit ist, lässt sich sehr einfach quantifizieren: Nimmt man an, dass es in einem Fahrzeug 40 relevante Komponenten (Sensoren, Aktuatoren, Steu-ergeräte) gibt (vergleichsweise niedrige Annahme!) und jede dieser Komponenten ent-weder diskret oder über ein Netzwerk ansteuerbar sei, dann wären 240 (1012) Architek-turalternativen zu bewerten. Dies erklärt, warum die Fachwelt und auch insbesondere Delphi große Anstrengungen zum Aufbau rechnergestützter Architektur-Analysetools unternommen haben. Delphi verfügt diesbezüglich über einen Toolverbund, der auf drei Säulen beruht und in seinem derzeitigen Weiterentwicklungsstand das Ergebnis einer Kooperation mit der For-schungsgesellschaft vif (Das Virtuelle Fahrzeug, Forschungsgesellschaft, Inffeldgasse 21a, A-8010 Graz), ist; Bild 2-39 zeigt die Struktur des Toolverbunds in oberster Darstel-lungsebene. Bestandteile sind:

a) Das Delphi proprietäre Tool „eSCOUT“ (electronic System Cost Optimization Utili-zation Tool), welches den in dieser Arbeit bereits erläuterten klassischen Architektur-prozess datenbank- und rechnergestützt ausführt und nach Systemkosten optimiert [2], d. h. Elektronik- gegen Leitungskosten abwägt (also nach physikalisch-elektronischen Kriterien) und somit die Anzahl der Steuergeräte bzw. Anzahl der so genannten Smart Components bestimmt.

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 141

Bild 2-39: Toolverbund zur Architekturentwicklung.

b) Das vif-proprietäre Tool CAPEmaster, welches die in eSCOUT I/O-bezogen model-

lierten Funktionen (z. B. Abblendlicht, Blinklicht etc.) in ein applikationsunabhängi-ges, aus Prozesssicht geprägtes Abstraktionsmodell [3] überführt, in dem elektroni-sche Systeme durch Rückführung auf drei Grundbausteine (alias: Typen) beschrieben werden. Diese sind der Prozess-Typ (im wesentlichen Transformationsoperationen an I/Os), der Hardware-Typ (im wesentlichen A/D bzw. D/A-Wandlung) und, für diese high-level Darstellung am wichtigsten, der Software-Typ, der digitale Informationen verarbeitet und sie in neue Informationen wandelt. Mittels dieser Software-Typen werden SW-Module auf funktionaler Ebene auf Steuergeräte verteilt. Aufgrund dieser SW-Verteilung werden Signale zwischen den Eingangs- und Ausgangsgrößen einer Funktion generiert. Aus diesen Signalen werden später aus Architektursicht diskrete Leitungen bzw. Busnachrichten. CAPEmaster ergänzt also die physikalisch-elektro-nische Sichtweise von eSCOUT durch die funktional-logische Modellierung und re-präsentiert somit einen weiteren Baustein für die komplette Toolkette.

c) Die Delphi/vif Gemeinschaftsentwicklung CAPEopticon, welche ausgehend von der

in eSCOUT und CAPEmaster hinterlegten physikalischen und funktionallogischen Architektur drei Aufgaben durchführt:

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142 2 Elektronik

– Erstellung Netzwerktopologie – Erstellung vollständiger Buskonfiguration (Kommunikationsmatrix) mit Buslastbe-

rechnung und Ressourcenbedarfsabschätzung im(n) Steuergerät(en) – Gatewaylastanalysen und Zeitverhalten (Antwortzeiten) bei unterschiedlichen Bus-

kopplungen (z.Z. noch beschränkt auf CAN und LIN).

eSCOUT und CAPEmaster/CAPEopticon arbeiten im Verbund, d. h. eSCOUT übergibt seine Daten an die „CAPE“-Tools, dort werden in der Regel Iterationsschleifen zur Opti-mierung durchlaufen und bei Erfüllung von Abbruchkriterien (Minimierung Speicherbe-darf, möglichst wenig verteilte Funktionalität, realistische Buslast) die Konfigurationsda-ten an eSCOUT zurückgegeben, wo eine Gesamtbewertung stattfindet und nach ggf. weiteren Iterationsschleifen auf der Grundlage von modifizierten Ansätzen schließlich eine „beste“ Architektur vorgeschlagen wird. Nach dieser Übersichtsdarstellung folgt eine etwas detailliertere Beschreibung der Ein-zeltools des Verbunds.

2.3.4.1 eSCOUT

Der Aufbau des eSCOUT Tools wird in oberster Ebene anhand von Bild 2-40 dargestellt, woraus hervorgeht, dass sich die interne Programmstruktur von eSCOUT grob in zwei Bereiche einteilen lässt: Der „Project Creator“ erlaubt es, Projekte und somit Fahrzeuge mit Hilfe der „Car Definition“-Routinen physikalisch und funktional zu definieren bzw. zu verändern. Der „Architecture Manager“ dagegen erlaubt es in diesem vorgegebenen Rahmen, Architekturen mit Hilfe der „Support Algorithm“-Routinen zu definieren und mit Hilfe der „Cost Calculation“-Routinen diese anschließend kostenmäßig zu bewerten. Zur Kommunikation mit der Außenwelt stehen diverse Schnittstellen zur Verfügung, beispielsweise zu gängigen Office Produkten, um die Ergebnisse auszugeben und zu Da-tenbanken (alternativ auch als XML Format), um die Fahrzeugfunktionalität zu laden bzw. zu speichern. Nach diesem groben Strukturüberblick wird die Arbeitsweise mit eSCOUT etwas detail-lierter dargestellt. Der eSCOUT-Prozess beginnt über die graphische Bedieneroberfläche mit einer maßstabsgetreuen Eingabe der 2D-Karossenabmessungen und aller darin zuläs-sigen Leitungssatzführungen, jeglicher Komponenten (Sensoren, Aktuatoren) sowie aller theoretisch möglichen Einbauorte für Steuergeräte (Bild 2-41; Komponenten = Kreis, Steuergeräte = Quadrate); nur dann ist dem System bei der späteren Lösungsfindung die größtmögliche Flexibilität gegeben. Zuvor wurden alle entsprechend Lastenheft erforder-lichen Komponenten mit zugehörigen Funktionen modelliert, bzw. durch Abruf aus der eSCOUT Datenbank geladen (Bild 2-42).

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 143

Bild 2-40: Informationstechnische Grobstruktur von eSCOUT.

Bild 2-41: Maßstäbliche 2D-Fahrzeugkarosse mit Lei-tungssatzführungen sowie Komponenten- und möglichen Steuergeräteplatzierungen.

Bild 2-42: Beispiel hinterlegter Funktions- und Kompo-nentendatenbank.

Komponenten und Funktionen werden für die Architekturanalyse wichtige Parameter zugeordnet, wie z. B. Nominal-/Maximalstrom, Signaltyp, Netzwerkfähigkeit etc. Über diese Parameter wiederum wird der funktionale HW-Building-Block definiert, der für die Ansteuerung oder den Datenaustausch mit der Komponente erforderlich ist. Mittels die-ser Buildingblöcke ermittelt eSCOUT während der späteren automatischen Architektur-analyse die Auswirkung auf die alternative Platzierung der funktionalen HW-Building-blöcke in verschiedenen ECUs. Jetzt kann der genetische Algorithmus gestartet werden,

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um die kostengünstigste Architektur zu ermitteln. eSCOUT untersucht die Auswirkung infolge einer Funktionsplatzierung in verschiedenen Steuergeräten (wie zuvor angedeu-tet) im Vergleich mit verschiedenen Signalführungsalternativen ebenso wie die Auswir-kung einer diskreten Signalanbindung einer Komponente verglichen mit einer Netzwerk-anbindung und schließlich auch, welche möglichen Steuergeräte innerhalb des Lösungs-raums realisiert und welche eliminiert werden sollten. Als Ergebnis wird ein kostenbe-werteter Lösungsvorschlag ausgegeben, hier z. B. mit einem Steuergerät (siehe Bild 2-43, links). Danach können Designalternativen vorgegeben und kostenmäßig bewertet werden, wie beispielsweise eine Lösung mit zwei Steuergeräten (Bild 2-43, rechts).

Bild 2-43: Architekturvorschlag mit einem (links) und, alternativ, zwei Steuergeräten (rechts).

Bild 2-44: Architektur-Report (Beispiel).

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 145

Bedingt durch Thermal- oder Risikoanalysen sowie andere Partitionierungsgesichtspunk-te kann es erforderlich sein, die Auswirkung der Verlagerung von Merkmalen/Funktionen zwischen verschiedenen Steuergeräten zu untersuchen. In diese Auswirkungen gehen neben den Systemkosten auch Eigenschaften wie Rechenleistung im Steuergerät sowie Joulescher Leistungsumsatz ein. Solche „Verschiebungen“ lassen sich manuell über das GUI ausführen. Jeder Architekturvorschlag kann mittels eines Architektur-Reports über standardisierte Exportformate unter Nutzung von MS-Office Produkten oder XML-Formaten dokumentiert werden (Stücklisten, I/O-Tabellen, Blockdiagramm), Bild 2-44.

2.3.4.2 CAPEmaster/CAPEopticon

Während im gerade beschriebenen eSCOUT Tool Funktionen IO-bezogen modelliert werden, wird in CAPEmaster ein Abstraktionsmodell verwendet, in dem Funktionen durch die Verbindung bestimmter Grundbausteine dargestellt werden. Dazu werden die in eSCOUT definierten Funktionen durch ein XML-Austauschformat in CAPEmaster überführt und automatisch in die entsprechenden Bausteine (Typen) transformiert. Dies wird am Beispiel einer Heckscheibenheizung veranschaulicht. Die Funktion „Heckscheibenheizung“ besteht hier aus einem Taster mit integrierter Anzei-ge-LED und einem Heizwiderstand. In eSCOUT werden die elektrischen Parameter der beteiligten Sensoren/Aktuatoren so definiert, dass die zur Ansteuerung geeignete Hardware automatisch ausgewählt werden kann. Dieser Schritt erfolgt unabhängig von der Partitionie-rung der Funktionen auf ein/verschiedene Steuergerät(e) (Bild 2-45, oben). In CAPEmaster finden sich die gewählte Verschaltung der Sensoren und Aktuatoren sowie die Vorgaben zur Signalansteuerung wieder, wobei der Taster, die LED und der Heizwiderstand zu Pro-zess-Typen werden, welche Prozesswerte in elektrische Werte transformieren. Die geeigne-ten Hardware-Ressourcen werden in Form von Hardware-Typen abgebildet, welche elektri-sche Werte in digitale Daten transformieren (Bild 2-45, unten).

Bild 2-45: E/E-Funktion in eSCOUT (oben) und als Prozesskette im CAPEmaster-Abstraktions-modell.

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Die fehlenden Angaben über logische Verknüpfungen der Funktionalität werden im ers-ten Schritt in Form von Dummy-Bausteinen (Software-Typen) angelegt. Diese Software-Typen dienen der Verarbeitung digitaler Daten und der Überführung in Informationen (Bild 2-45, unten) und werden in CAPEmaster entweder manuell oder durch die Ver-knüpfung mit Matlab-Simulink-Modellen konfiguriert oder, im Fall einer Wiederverwen-dung, aus einer Datenbank geladen. Im hiesigen Beispiel der Heckscheibenheizung sind also zwei Software-Typen angelegt worden, mittels derer das Verhalten der Funktion „Heckscheibenheizung“ und die Inter-aktion mit anderen Funktionen definiert werden (z. B. das Ausschalten der Heckschei-benheizung nach einer bestimmten Zeit oder bei hoher Bordnetzlast). Somit ist durch CAPEmaster jede Funktion (hier das Beispiel Heckscheibenheizung) nicht nur wie zuvor in eSCOUT physikalisch/parametrisch, sondern zusätzlich auch softwaretechnisch detail-lierter definiert.

Bild 2-46: Alternative Verteilung von SW-Modulen auf Steuergeräte durch CAPEmaster.

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 147

Durch die Einbindung in den Prozessverbund mit eSCOUT lag CAPEmaster ein von eSCOUT aufgrund gewisser Kriterien als optimal ermittelter Architekturvorschlag vor, nämlich die Verwendung von zwei Steuergeräten mit den zugewiesenen Hardware-Ressourcen (s. Bild 2-46, oben). Für CAPEmaster ergeben sich daraus nun vier Alterna-tiven, wie die konfigurierten Software-Typen auf die vorhandenen zwei Steuergeräte verteilt werden können (Bild 2-46, unten). Es lässt sich erkennen, dass je nach gewählter Alternative mehr oder weniger logische Verbindungen mit signalbasiertem Datenaus-tausch benötigt werden. Hier kommt nun das Tool CAPEopticon zum Einsatz, wohin das durch CAPEmaster erzeugte signalbasierte Netzwerk inklusive der definierten zeitlichen Anforderungen über das FIBEX-Format mit seinen standardisierten und proprietären Bestandteilen importiert wird. Mit diesen Daten und unter Berücksichtigung der Netz-werktopologie werden die optimalen Routingpfade für die definierten Signale ermittelt. Die in CAPEopticon implementierten Berechnungs- und Optimierungsalgorithmen be-rücksichtigen hierbei die Anforderungen Buslastminimierung, Minimierung von Gate-way-Tabellen und garantierte Übertragung. Anschließend an die Berechnung der Rou-tingpfade werden die Signale in Telegramme gepackt und die erforderlichen Gateway-Tabellen erzeugt. Abschließend werden die Buslast und mögliche Inkonsistenzen (z. B. nicht erfüllte zeitli-che Anforderungen) bestimmt und dem Anwender zur Kenntnis gebracht. CAPEopticon exportiert die ermittelten Daten im FIBEX-Format und stellt die Ergebnisse damit sowohl CAPEmaster als auch bei Bedarf weiteren Tools , z. B. CANOe, zur Verfügung. Ein Rücktransfer nach eSCOUT führt die Ergebnisse mit den bereits vorhandenen Krite-rien und Teilergebnissen zusammen, so dass eine Entscheidung über Beendigung auf-grund erfüllter Vorgaben oder eine neue Iterationsschleife mit modifiziertem Ansatz ge-troffen werden kann. Zum Abschluss wird in Bild 2-47 nochmals der gesamte Prozessfluss des eSCOUT/ “CAPE“-Toolverbunds gezeigt. Nach unserer Kenntnis ist die simultan-interaktive Architekturoptimierung nach physikalischen und informations-/softwaretechnischen Parametern unter übergeordneten Systemkostengesichtspunkten eine bisher nicht vor-gestellte Innovation.

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Bild 2-47: Schematisierte Arbeitsweise des Toolverbunds in der Übersicht.

2.3.4.3 Virtuelle Hardware

Die im E/E Architekturprozess durch toolgestützte Automatisierung erreichten Vorteile in Bezug auf Beherrschung der Komplexität und Lösungsmannigfaltigkeit bei vertretba-rem Zeitaufwand legen es nahe, für den nachfolgenden Steuergeräte-Entwicklungs-prozess ebenfalls einen hohen Grad an toolgestützter Automatisierung und Simulation einzusetzen und zwar im SW- und im HW-Pfad. Im HW-Pfad kann hierfür z. B. virtuelle Hardware eingesetzt werden. Ergebnis ist ein auf einem Host-Rechner lauffähiger virtuel-ler Prototyp des Steuergeräts, welcher sich durch den Entwickler in gleicher Art bedienen lässt wie tatsächlich vorliegende Hardware. Es werden damit simultane Tests von Hard-ware und dem kompilierten Objektcode (modellbasiert entwickelt, autocodiert) möglich, ohne dass zuvor physikalische Hardware aufgebaut werden muss. Der offenkundige und bekannte Vorteil besteht darin, lange vor Bau der ersten Hardware das Funktionsverhalten durch Simulation zu untersuchen und spezifikationskonform si-cherstellen zu können. Dies gewinnt insbesondere dann an Gewicht, wenn spezielle Bau-teile (wie z. B. ASICs) noch nicht zur Verfügung stehen und deren Lieferzeit einem kurz-fristigen Aufbau von Hardware im Wege steht. Weiter können Unstimmigkeiten in der Software-Architektur, insbesondere im Zusammenspiel mit der Hardware, frühzeitig erkannt und behoben werden. Damit verbessert sich die Qualität der Software in der frü-hen Designphase und bietet eine bessere Grundlage für die weiteren Iterationsschritte.

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 149

2.3.4.4 HW/SW Co-Simulation

Die in der Anwendung virtueller Hardware durchgeführte HW/SW Co-Simulation kann z. B. unter Einsatz der SW-Umgebung von VaST (www.vastsystems.com) geschehen. Die damit umgesetzte Simulationsgenauigkeit ist auf eine akzeptabel schnelle Laufzeit ausgerichtet und bewegt sich im Rahmen von 1:30 im Vergleich mit einer realen Hard-ware. Das Verhalten gegen außen (Signale an den Kontakten der einzelnen Komponenten des Steuergerätes) wird dabei in ANSI C beschrieben und stimmt mit der Realität im Hinblick auf Zyklus-, Register- und Zeitverhalten überein. Elektrische Parameter, die bei Simulationen in der Hardwareentwicklung von Bedeutung sind, stehen dabei nicht im Vordergrund und bleiben daher weitestgehend unberücksichtigt. Hauptbestandteil eines virtuellen Prototypen (z. B. den eines Body Controllers) ist ein funktionales Modell des Prozessorkerns, welches von der Firma VaST erstellt und vom Halbleiterhersteller nach den selben Vorgaben getestet wird, wie das halbleiterbasierte Bauteil. Die sich auf dem Mikrocontroller (μC) befindliche Peripherie (A/D-Wandler, Timer, EEPROM, Interruptsteuerung, etc.) wird durch den Halbleiterhersteller erstellt und dem Modell des Prozessorkerns hinzugefügt. Diese Daten stehen dann Delphi im VaST-Tool CoMET als Bibliothek zur Verfügung. Mit CoMET entwickelt Delphi auch die Modelle der restlichen Bauteile des Steuergerätes, wie z. B. Spannungsregulatoren, I/O-ICs oder LIN und CAN Treiber. Die fertigen Modelle der einzelnen Komponenten werden im Anschluss, analog zur Leiterplatte im Steuergerät, per Konfigurations-File miteinander verbunden. Für die Ausführung des virtuellen Prototypen wird das VaST-Tool METeor verwendet, welches auch aus der normalen Entwicklung gewohnte Benutzeroberflächen für Soft-waretests oder Debugger von Drittanbietern mit einbinden kann. Darüber hinaus müssen jedoch für die Durchführung von Tests mit dem virtuellen Steuergerät weitere Schnitt-stellen geschaffen werden. Dies betrifft z. B. die Anbindung von CANoe für die Restbus-simulation oder eine Oberfläche zur Ausführung von Testscripts. Diese Anbindung ge-schieht durch den Delphi proprietären „Simulation Framework“, welcher den Datenaus-tausch und die Synchronisation der einzelnen Anwendungen mit den Simulationsobjekten steuert, Bild 2-48. Als Ergebnis einer solchen Simulation stehen neben den in Kapitel 2.3.4.3 genannten Vorteilen auch genaue Angaben über CPU-Auslastung, RAM Ausnützung sowie die Latenzzeit von Interruptbefehlen zur Verfügung. Ebenfalls ermöglicht sie eine effiziente Abtestung von Software, da ein virtueller Prototyp beliebig vervielfacht werden kann und weltweit zur Verfügung steht. Die Qualität der Testergebnisse wird darüber hinaus durch verbesserte Testmöglichkeiten, z. B. durch die Einführung von Printbefehlen in den Quellcode oder synchrones Stoppen und Wiederanfahren des ganzen Systems, deutlich verbessert.

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Bild 2-48: Schematische Darstellung eines virtuellen Prototypen mit Testumgebung.

Bild 2-49: Virtueller Entwicklungsprozess integriert in die V-Modellsymbolik.

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Die Anwendung von HW/SW Co-Simulation als Prozessschritt zur virtuellen System-entwicklung ist in Bezug auf das Produktgebiet Body Elektronik in unserer Geschäftsein-heit derzeit im Kontext zu einer regulären Produktentwicklung Gegenstand laufender Untersuchungen, über deren Ergebnisse zu gegebener Zeit berichtet werden kann. Bild 2-49 zeigt, wie sich die gerade beschriebene Methodik als unterste Ebene im V-Modell des virtuellen Entwicklungszyklus darstellt.

2.3.5 Schlussbetrachtung

Im den ersten Kapiteln wurde aufgezeigt, welche Auswirkungen die rasante Zunahme des Elektrik-/Elektronikanteils auf den Entwicklungsprozess der Architektur und der Steuer-geräte von Body-/Komfortfunktionen in heutigen Fahrzeugen hat und wo folglich die Schwachstellen des „klassischen“ Entwicklungsprozesses liegen. Im Rückgriff auf diese Kernaussagen kann man hier aus dem Blickwinkel einer ganzheitlichen Geschäftsbe-trachtung feststellen, dass sich hinsichtlich des erforderlichen Entwicklungsaufwands und aller weiteren Produktkosten Produkt- und Geschäftszielrichtungen nicht nur zum Teil untereinander, sondern insbesondere auch wechselseitig zueinander zunächst auf direk-tem Kollisionskurs befinden (Bild 2-50). Eine Produktzielrichtung, die durch wachsende Funktionalität/Komplexität, Innovation und Qualitätsforderung bei gleichzeitig sinken-dem Lebenszyklus gekennzeichnet ist, erfordert eigentlich mehr Entwicklungsaufwand und höhere Produktkosten, während die Forderung nach sinkendem Preis nur niedrigere Produktkosten gestattet, aber gleichzeitig „noch intelligentere“ Ansätze verlangt, um z. B. von Produktgeneration zu Produktgeneration mit weniger Material- und Fertigungsein-satz auszukommen.

Bild 2-50: Konfliktsituation durch Produkt- und Geschäftstrends; Zusammenhang mit Produkt-Lebenszykluskosten sowie Gegenmaßnahmen.

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152 2 Elektronik

Auf der anderen Seite erfordert eine Geschäftszielrichtung, die auf Wachstum über Marktanteilserhöhung und/oder Portfolioausweitung sowie exzellente Ausführung zur Sicherstellung von Qualität und Kundenzufriedenheit ausgerichtet ist, eigentlich verstärk-ten Entwicklungsaufwand, während die Forderung nach Kostensenkung als Beitrag zur Erwirtschaftung eines angemessenen Gewinns unter anderem natürlich auch niedrigere Produktkosten verlangt, wie der Blick in jedes G&V-Rechenschema unschwer zeigt. Der hier schließlich aufgezeigte umfassende, modellbasierte und auf einem geeigneten Toolverbund aufsetzende Entwicklungsprozess, der auf frühestmögliche Ergebnisgewin-nung und -verifikation durch Simulation ausgerichtet ist, also kurzweg der Virtuelle Ent-wicklungsprozess, abgeschlossen durch eine zügige HW/SW-Integration und Verifikati-on, ist der entscheidende Lösungsansatz um die angesprochene Konfliktsituation ge-schäftsergebnisorientiert zu beherrschen und zu entschärfen. Der Virtuelle Entwicklungsprozess besitzt mehrere Vorteile. In allen Phasen des bespro-chenen Architektur- und Steuergeräte-Entwicklungsprozesses wird der zu erbringende Aufwand deutlich reduziert. Der aus mehreren Gründen beim Steuergeräteentwurf zu forcierende Einsatz von häufig neuen, d. h. (noch nicht vorhandenen) ASICS, wird er-leichtert und begünstigt, weil mit Verfügbarkeit eines VaST-Modells des ASICs dieser in die HW/SW Cosimulation einbezogen und somit seine Funktionalität im Gesamtsystem frühzeitig, also lange vor Verfügbarkeit des ersten Musterchips, abgesichert werden kann. Schließlich werden auch im gesamten Entwicklungsprozess deutlich weniger „physikali-sche“ Musterbauten benötigt. Dies ist bereits ein Vorteil „per se“, erst recht aber im Hinb-lick auf Konfigurations-Management und Lieferzeitverkürzung von „Mustern“ in einem global operierenden Unternehmen mit global diversifizierten Entwicklungsteams, die weltweit agierende OEMs bedienen, welche vermehrt dazu übergehen, Produkte global einsetzen zu wollen und deren Entwicklung folglich auch von mehreren ihrer weltweit verteilten Entwicklungszentren steuern lassen. Die oftmals „Kopf zerbrechende“ Proble-matik, welches Entwicklungsteam am Mustertyp welchen Revisionsstandes (HW/SW!) gerade welches Ergebnis ermessen hat, um es mit anderen zu vergleichen, wird deutlich entschärft und allenfalls auf die letzte Phase eingegrenzt, denn im vorausgehenden Vir-tuellen Entwicklungsprozess ist jeder virtuelle Prototyp (mit definiertem Konfigurations-stand) auf „Knopfdruck“ weltweit eindeutig verfügbar zu machen. Alle diese Vorteile rechtfertigen weiterhin intensive Anstrengungen, um die Virtuelle Systementwicklung von der Anforderung bis zum Steuergerät schnellstens selbstverständliche, alltäglich ange-wandte Praxis werden zu lassen.

Danksagung

Herr Dr. Rainer Denkelmann aus meinem Team hat mich durch intensive und fruchtbare Diskussionen sowie einzelne Textbeiträge wertvoll unterstützt. Hierfür sei ihm und seinen Mitarbeitern mein besonderer Dank zum Ausdruck gebracht. Danken möchte ich auch den Herren Dr. Bernasch, Kaiser und Lehr von vif, Graz, für die kooperative und erfolgreiche

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2.3 Virtuelle Systementwicklung – Von der Anforderung zum Steuergerät 153

Zusammenarbeit. Schließlich danke ich auch Frau E. Wilke für die Texterstellung mit Bil-dern und Frau K. Hankammer für das Anfertigen zahlreicher Abbildungen.

Literatur zu Abschnitt 2.3

[1] Erich, E., Bolte, Th.: Optimierung im Bordnetz. 10. Euroforum Jahrestagung 2006, München [2] Denkelmann, R., Higgins, J., Turner, D.: Automated Electrical / Electronic Vehicle Architec-

ture Optimization Based on Functional and Physical Requirements. 6th Annual Intelligent Vehicle Systems Symposium & Exhibition, 2006, Traverse City, Mich., USA

[3] Kaiser, J. et al.: Integrated Computer Aided Project Engineering. World Congress for Rail-way Research 1997, Florenz

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154

3 Motor

3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung Der Stand der Technik am Beispiel der Kalibrierung

3.1.1 Einleitung

Die rasant wachsende Komplexität moderner Antriebsstrangkonzepte sowie die steigende Anzahl von Fahrzeugvarianten bei gleichzeitig reduzierten Entwicklungszeiten bilden die wesentlichen Treiber einer simulationsgestützten (virtuellen) Entwicklung. Zusätzlich verlangt die zunehmende Vernetzung der Einzelkomponenten im Gesamtfahrzeug (z. B. Verbrennungsmotor und automatische Getriebetypen oder Verbrennungsmotor und Elektromotor in einem Hybridantrieb) die durchgängige Entwicklung und Optimierung im Sinne des Gesamtsystems. Ein wesentlicher Anspruch an die simulationsgestützte, virtuelle Antriebsstrangentwicklung besteht daher in der Nachbildung von nicht vorhan-denen Antriebs- bzw. Fahrzeug-Komponenten zur Prüfung bzw. Abstimmung einer oder mehrerer Teile des Gesamtantriebsstranges an beliebiger Station im Prozess. Dies betrifft sowohl die Fahrzeughersteller als auch deren Zulieferer und Dienstleister jeweils lokal als auch in deren vernetzter Zusammenarbeit. Die Verlagerung von Entwicklungsaufgaben im Entwicklungsprozess nach vorne ermög-licht es, tragfähige Entscheidungen zu einem früheren Zeitpunkt zu treffen und damit einerseits durch die möglich gewordene Parallelisierung, andererseits durch Vermeidung zeitintensiver Schleifen Entwicklungszeit und –aufwand einzusparen (Bild 3-1). Eine sehr effektive und effiziente Methode dazu stellt die Simulation dar, mit deren Hilfe heu-te bereits in der Konzept- und der Designphase detaillierte Komponentenspezifikationen und -optimierungen möglich sind (siehe dazu Kapitel 5.4). Eine weitere Möglichkeit liegt in zielgerichteten Zuverlässigkeitsmethoden zur Vermeidung zeitintensiver Entwick-lungsschleifen (siehe dazu Kapitel 3.4). Dieser Beitrag soll konkret am Beispiel des Kalibrierungsprozesses die virtuelle An-triebsstrangentwicklung skizzieren [1]. Dabei wird der Weg vom kundennahen Fahrver-such auf der Straße über verschiedene Prüfstandssysteme bis zum rein virtuellen Test dargestellt. Dieser Prozess wird auch als „Road to Rig to Office“ bezeichnet. Ziel ist schlussendlich die Entwicklung einer Methodik, die eine simulationsgestützte Antriebs-strangentwicklung vom Büro bis zur Straße (also „from Office to Road“) ermöglicht. Virtuelle Antriebsstrangentwicklung heißt also nicht, die Entwicklung ohne Prüfstands- und Fahrversuche, sondern die Unterstützung des gesamten Entwicklungsprozesses mit Hilfe der Simulation bzw. virtueller Antriebskomponenten.

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 155

Bild 3-1: Schematische Darstellung des Entwicklungsaufwandes und -fortschritts für einen konven-tionellen und einen optimierten Kalibrierungs-Entwicklungsprozesses.

3.1.2 Entwicklungsprozess der Antriebsstrangentwicklung

Bild 3-2 zeigt die Phasen eines schematischen Entwicklungsprozesses für Motor und Getriebe. Der Prozess ist unterteilt in die Phasen Konzept, Design, Entwicklung auf Prüf-ständen und Entwicklung im Fahrzeug. In der Regel werden die einzelnen Phasen in Schleifen durchlaufen, also nach einer Prüfphase auf Prüfständen erfolgt eine weitere Designphase zur Optimierung der Komponenten. In jeder Entwicklungsphase gibt es typische Methoden und Werkzeuge. In Bild 3-2 sind exemplarisch die Konzept-Simulation, die eigentliche Konstruktion (Design), Digital-Mock-Up (DMU), die Finite-Element-Analyse (FEA), die Akustik-Simulation, Hardwa-re-in-the-Loop (HiL), der Motorprüfstand (ev. mit Getriebesimulation – ETest TSim), der Getriebeprüfstand (ev. mit Motorsimulation – TTest ESim), der Antriebsstrangprüfstand (P/T TestBed), der Rollenprüfstand und schlussendlich der Straßentest dargestellt. Steigende Anforderung hinsichtlich Fahrleistung, Verbrauch und Emissionen sowie im-mer komplexere Funktionen in Bezug auf Fahrkomfort, Fahrerassistenz, Sicherheit etc. erfordern die zunehmende Vernetzung der Einzelsysteme des Antriebsstranges. Ein paral-leler Entwicklungsprozess der Einzelsysteme (in Bild 3-2 repräsentiert durch Motor und Getriebe) ist daher anzustreben. Im Allgemeinen laufen die Phasen der Komponenten-entwicklung allerdings nicht parallel (im Bild 3-2 schematisch verdeutlicht durch schräge Verbindungen zwischen den Entwicklungsphasen).

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156 3 Motor

Bild 3-2: Schematischer Entwicklungsprozess für Motor und Getriebe.

Das Ziel der virtuellen Antriebsstrangentwicklung ist es, in jeder Entwicklungsphase entsprechende Modelle der Einzelkomponenten zur Verfügung zu stellen, sodass die Komponente in Entwicklung bzw. unter Test immer im Gesamtsystem entwickelt und getestet werden kann. Durch die dadurch mögliche Berücksichtigung des Gesamtsystems können Entwicklungsschleifen vermieden werden. Im Folgenden soll an Hand der Kali-brierung dargestellt werden, in wie weit dieser Anspruch bereits erfüllt werden kann.

3.1.3 Kalibrierung im Fahrzeug, auf der Straße

Kalibrierung erfordert die Abstimmung von Software-Parametern in den verschiedenen Steuergeräten der Einzelkomponenten. In modernen Steuergeräten sind für den Motor eine Anzahl von bis zu 20000 so genannten Labels, bzw. für Getriebe bis zu 15000 La-bels zu parametrieren, wobei ein Label auch ein Kennfeld mit vielen Stützstellen sein kann. Die Gesamtanzahl der Parameter ist daher noch einmal um eine Größenordnung höher. In Hybridantrieben erhöht sich die Zahl der Label weiter. Kalibrierung bedeutet dabei, dass die Steuerparameter auf einen bestimmten Wert gesetzt werden, eine Mes-sung erfolgt, die Messergebnisse bewertet werden und darauf aufbauend neue Werte für die Steuerparameter gewählt werden. Kalibrierung ist also ein Optimierungsprozess.

Während alle Funktionen in Bezug auf Verbrauch und Emissionen objektiv bewertet werden können, ist dies für Funktionen der Fahrbarkeit und des Fahrkomforts nicht direkt der Fall. Diese Funktionen werden heute durch einen Kalibrierungsingenieur im Fahr-zeug auf der Straße oder einer Teststrecke abgestimmt. Dabei sind alle Teilsysteme ein-schließlich der Straße und Umgebung real vorhanden und der Ingenieur führt die Kalib-rierungsaufgabe, d. h. die Planung und Durchführung der Tests, die Bewertung der Er-gebnisse und die Optimierung der Parameter, „von Hand“ durch (Bild 3-3).

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 157

Bild 3-3: Konventionelle Kalibrierung der Fahrbarkeit und des Fahrkomforts – Kalibrierung „von Hand“.

Die Bewertung der Fahrbarkeit und des Fahrkomforts beruht dabei auf dem subjektiven Empfinden des Entwicklungsingenieurs. Die Güte der Abstimmung ist in diesem Fall sehr stark vom Erfahrungsgrad des Ingenieurs abhängig. Dieser wird im Prozess lediglich durch einen direkten Zugang zu den Abstimmungsparametern der Steuergeräte mit Hilfe eines entsprechenden Computers im Fahrzeug unterstützt. Um die subjektiven Größen Fahrbarkeit und Fahrkomfort reproduzierbar, messbar und damit objektivierbar zu machen, bietet AVL schon seit mehreren Jahren mit dem System AVL-DRIVETM für die Abstimmung der Fahrzeugparameter und Kalibrierung der Motor und Getriebesteuerung ein objektives Bewertungstool an (Bild 3-4) [2, 3]. Durch entspre-chende Weiterentwicklung wird dieses System mittlerweile verstärkt sehr erfolgreich zur Beurteilung und Abstimmung in Hybridantrieben verwendet [4]. AVL-DRIVETM bewertet bis zu 350 antriebsstrang- und kalibrierrelevante Kriterien für 75 Fahrzustände und ist in Versionen für Handschaltgetriebe, automatisierte Schaltgetrie-be, Wandlerautomatik, Doppelkupplungsgetriebe und Hybridantriebe verfügbar. Die Detektierung der Fahrzustände und die objektive Bewertung erfolgt in Echtzeit. Die Be-urteilung kann im Fahrbetrieb im normalen Straßenverkehr erfolgen. Die Benotung er-folgt durch die bekannte SAE Skala von 1 bis 10, wobei 10 die Bestnote darstellt.

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158 3 Motor

Bild 3-4: Überblick über das AVL-DRIVETM System.

Bild 3-5 zeigt das Ablaufschema der objektiven Fahrbarkeitsbewertung mit AVL-DRIVETM. Über zusätzlich installierte Sensoren und mit Hilfe des CAN-Bus oder der analogen ECU-Schnittstelle werden Messgrößen wie Beschleunigung an der Nackenstüt-ze, Fahrzeuggeschwindigkeit, Fahrpedalstellung, Motordrehzahl, Vibrationen und Ge-räusch gemessen. Aus dem Fahrerinput und den Fahrzeugreaktionen werden bis zu 75 unterschiedliche Fahrzustände detektiert. Bei Erkennung eines bestimmten Fahrzustandes werden automatisch etwa 10–15 dafür definierte und charakteristische, physikalische Parameter berechnet. In Summe ergeben sich für die bis zu 75 Fahr- und Betriebszustän-de mehr als tausend Parameter. Aus Gruppen von Messgrößen und abgeleiteten Berech-nungsgrößen werden mittels neuronalen Netzen, Fuzzy Logic und konventionellen For-meln über 350 einzelne Detailnoten berechnet und entsprechend ihrer Gewichtung be-rücksichtigt. Diese Komplexität ist notwendig, um das nicht minder komplexe, subjektive Empfinden zu objektivieren.

Bild 3-5: Ablaufschema der objektiven Fahrbarkeitsbewertung mit AVL-DRIVETM.

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 159

Mit AVL-DRIVETM hat der Kalibrierungsingenieur ein sehr mächtiges Werkzeug im Fahr-zeug, mit dem er sehr schnell und einfach Messdaten klassifizieren (automatische Zuord-nung zu einem bestimmten Fahrmanöver), analysieren (Berechnung der für den jeweiligen Fahrzustand relevanten physikalischen Parameter) und bewerten kann. Bild 3-6 zeigt ein typisches Ergebnis für eine Zughochschaltung mit einem Doppelkupplungsgetriebe.

Bild 3-6: Typisches Ergebnis einer AVL-DRIVETM Bewertung für eine Zughochschaltung eines Doppelkupplungsgetriebes.

Bild 3-7: Konventionelle Kalibrierung der Fahrbarkeit und des Fahrkomforts mit Hilfe von AVL-DRIVETM.

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160 3 Motor

Neben einer unmittelbaren, während des Fahrversuches durchgeführten Bewertung kön-nen auch Messfahrten über mehrere Stunden aufgezeichnet, automatisch bewertet und anschließend nach einzelnen Kriterien sortiert und analysiert werden. Dies ermöglicht, unterstützt mit weiteren statistischen Auswertemöglichkeiten, eine sehr zielgerichtete und effiziente Entwicklung und Kalibrierung der Fahrbarkeit und des Fahrkomforts. AVL-DRIVETM ist der erste Verbesserungsschritt des konventionellen Kalibrierungspro-zesses (Bild 3-7). Darüber hinaus ist damit auch die Grundlage für den nächsten Schritt, die Verlagerung der Kalibrierung auf den Rollenprüfstand, gelegt.

3.1.4 Kalibrierung im Fahrzeug, auf dem Rollenprüfstand

Der Rollenprüfstand bietet die Möglichkeit, das gesamte Fahrzeug unter reproduzierbaren Umgebungsbedingungen zu testen. Für die finale Abstimmung von Verbrauch und Emis-sion sowie die Zertifizierung ist die Rolle heute schon die Methode der Wahl. Die Ab-stimmung der Fahrbarkeit und des Fahrkomforts ist für den Kalibrierungsingenieur auf der Rolle allerdings nur sehr schwer und eingeschränkt möglich. Wie im letzten Abschnitt dargestellt, bietet AVL-DRIVETM die Möglichkeit, Fahrbarkeit und Fahrkomfort objektiv, auf Basis physikalischer Messgrößen zu bewerten. Allerdings liefern Beschleunigungssensoren auf der Rolle nur sehr eingeschränkt Messgrößen für die Bewertung, da ja nicht das Fahrzeug bewegt wird, sondern quasi die Umgebung unter dem Fahrzeug. Daher müssen die Beschleunigungssensoren um einen Kraftsensor zwi-schen Fahrzeug und Rollenprüfstand ergänzt werden (Bild 3-8) [5].

Bild 3-8: Aufbau des Fahrzeuges auf dem Rollenprüfstand.

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 161

Der Kraftsensor bietet eine dem Beschleunigungssensor auf der Straße äquivalente Mess-größe. Bild 3-9 zeigt den Vergleich der Beschleunigungsmessung im Fahrzeug auf der Straße mit der Kraftmessung auf der Rolle. Es zeigt sich ein praktisch identischer Ver-lauf. Damit ist auch auf Basis der Kraftmessung eine objektive Bewertung der Fahrbar-keit und des Fahrkomforts möglich.

Bild 3-9: Vergleich der Beschleunigungsmessung auf der Straße zur Kraftmessung auf der Rolle.

Bild 3-10: Kalibrierung auf der Rolle.

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162 3 Motor

Das System stellt den ersten Schritt in Richtung einer „virtuellen“ Kalibrierung dar, da in diesem Fall die Umgebung, die Straße und der Fahrwiderstand des Fahrzeuges simuliert werden und daher virtuell in die Messung eingebunden werden (Bild 3-10). Die Einführung eines Fahrroboters ermöglicht eine automatische und reproduzierbare Durchführung beliebiger Fahrmanöver auf der Rolle (Bild 3-11). Erfolgt die Optimierung der Kalibrierungsparameter mit Hilfe computerbasierter Opti-mierungswerkzeuge kann für die Kalibrierung ein geschlossener und automatisierter Pro-zess implementiert werden (Bild 3-12). In diesem Fall werden von der Planung (z. B. Vorgabe eines Design-of-Experiment Planes durch das Optimierungswerkzeug), über die Durchführung, Bewertung und Optimierung alle Schritte des Kalibrierungsprozesses automatisch abgearbeitet. Mit dieser Methode ist heute bereits die Schaltkomfortabstimmung von automatischen Getriebetypen möglich [6]. Bild 3-13 zeigt den Vergleich einer Straßenmessung mit auf der Rolle, automatisch opti-mierten Steuerparametern zu Straßenmessungen mit einem existierenden Serienstand der Steuerparameter. Bei vergleichbarer Spontaneität der Schaltung konnte der Komfort sig-nifikant verbessert werden.

Bild 3-11: Kalibrierung auf der Rolle mit Fahrroboter.

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 163

Bild 3-12: Automatisierte Kalibrierung auf der Rolle.

Bild 3-13: Verifizierung einer am Rollenprüfstand optimierten Kalibrierung durch Messungen auf der Straße.

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164 3 Motor

3.1.5 Kalibrierung auf Motor-, Getriebe- und Antriebsstrangprüfständen

Die am Rollenprüfstand erarbeitete und erprobte Methodik ermöglicht, dass in noch frü-heren Phasen im Entwicklungsprozess die Kalibrierung des Gesamtsystems begonnen wird. Moderne Prüfstandstechnik auf Basis eines AVL PUMA Open ISAC Systems er-laubt eine hochdynamische Simulation des Verhaltens des Fahrzeuges, der Räder inklusi-ve Reifenschlupf und des Dämpfungsverhalten der Federung (Bild 3-14).

Bild 3-14: Automatisierte Kalibrierung am Antriebsstrangprüfstand.

Der Antriebsstrangprüfstand wird schon seit vielen Jahren sehr erfolgreich für die Ent-wicklung moderner Antriebssysteme verwendet [7]. Der Schwerpunkt der Aufgaben liegt dort im Allgemeinen auf der Hardware-Entwicklung, also Erprobung der prinzipiellen Funktion und der Dauerhaltbarkeit. Soll auf diesem Prüfstand auch die Kalibrierung der Fahrbarkeit durchgeführt werden, so wird spätestens an dieser Stelle deutlich, dass nur auf Basis einer objektiven Bewertung dieser Schritt denkbar ist. Falls nur der Motor als reale Komponente vorhanden ist, kann das Verhalten des Getrie-bes zusätzlich zum restlichen Antriebsstrang und dem Fahrzeug mit AVL PUMA Open ISAC simuliert werden. Ist umgekehrt nur das Getriebe als reale Komponente verfügbar, so kann ein Prüfstandsaufbau wie in Bild 3-15 dargestellt verwendet werden. In diesem Fall wird das Fahrzeugverhalten wieder über ein AVL PUMA Open ISAC System simu-liert. Zur Darstellung von Komforteffekten, deren Frequenzen die am Prüfstand darstell-baren Frequenzen überschreiten, kann dieser Prüfstand mit der hochdynamischen Fahr-zeug-Echtzeitsimulation AVL VSM [8] ergänzt werden. Zusätzlich wird das Verhalten

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 165

der Verbrennungskraftmaschine mit Hilfe einer hochdynamischen Elektromaschine, dem AVL Prime Mover, und einem Motormodell simuliert. Auf Basis der speziellen Techno-logie einer permanentmagneterregten Synchronmaschine mit einer extrem niedrigen Massenträgheit ist der Prime Mover in der Lage, die volle Dynamik einer Verbrennungs-kraftmaschine inklusive der Momentenfluktuation zu simulieren [7].

Bild 3-15: PUMA Open Getriebeprüfstand mit Prime Mover.

Diese Konfiguration erlaubt den Aufbau des Steuergeräteverbundes und in Kombination mit DRIVE und CAMEO den Ansatz der automatischen Kalibrierung. In diesem Fall sind also neben dem Getriebe die Getriebesteuerung und die Motorsteuerung real als Versuchsteile vorhanden, alle anderen Komponenten und Systeme sind virtuell in das Prüfsystem integriert (Bild 3-16).

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166 3 Motor

Bild 3-16: Automatisierte Kalibrierung am Getriebeprüfstand.

3.1.6 Kalibrierung in der Hardware-in-the-Loop (HiL) und Model-in-the-Loop (MiL) Umgebung

Im finalen Schritt erfolgt die Kalibrierung ohne reale Hardwarekomponenten des Ant-riebsstranges. Ein erster Schritt dazu ist der Hardware-in-the-Loop-Prüfstand. In diesem Fall ist die gesamte physikalische Strecke des Antriebsstranges von der Verbrennungs-kraftmaschine über das Getriebe bis zum Fahrzeug in Form eines Simulationsmodelles auf entsprechenden Computern abgebildet (Bild 3-17). Lediglich die Steuergeräte sind in Hardware vorhanden. Die Simulationsmodelle müssen alle Schnittstellen (also I/O-Signale der Sensoren und Aktoren) der Steuergeräte in Echtzeit bedienen. Der HiL-Prüfstand wird heute hauptsächlich für Diagnose- und Datenstandstest verwen-det. Um auf dieser Umgebung auch bereits erste Kalibrierungsaufgaben durchführen zu können, müssen die Modelle der Antriebskomponenten entsprechend genau und detail-liert sein. Im Allgemeinen widerspricht sich die Anforderung der Genauigkeit allerdings mit der Anforderung der Echtzeitfähigkeit. So ist es z. B. nicht möglich, eine hochgenaue CFD-Simulation in Echtzeit durchzuführen. Zur Lösung dieses Dilemmas wird mit Hilfe der hochgenauen, physikalischen Detailsimulation ein vereinfachtes, mathematisches und echtzeitfähiges Modell bedatet [9].

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 167

Bild 3-17: Hardware-in-the-Loop(HiL)-Prüfstand.

Die Simulation erlaubt eine sehr detaillierte, physikalische Abbildung der Antriebskom-ponenten und des Gesamtantriebstrangs. Bild 3-18 zeigt als Beispiel ein detailliertes Si-mulationsmodell eines Antriebs mit einem Doppelkupplungsgetriebe. Das Getriebe ist im Aufbau mit seinen zwei parallelen Kupplungen, den sechs über Klauenkupplungen selek-tierbaren Gangstufen und den beiden unterschiedlichen Achsübersetzungen erkennbar. Die Modellierung des Rückwärtsgangs ist für die hier untersuchten Effekte nicht ent-scheidend und daher unterblieben. Eine neben der mechanischen Funktionsstruktur mindestens genauso bedeutsame Model-lierung der Kontrollstruktur der Getriebesteuerung ist in Matlab/Simulink/Statflow er-folgt und wird direkt in das Simulationsmodell des Antriebes in Form einer Co-Simulation integriert (Model-in-the-Loop). Dies erlaubt der Getriebesteuerung – analog zu im realen Fahrzeug verwendeten Architekturen – mit Hilfe verschiedener Sensorsigna-le und der Aktuatorik die Steuerung des Schaltablaufs umzusetzen. Die Simulationsergebnisse können direkt mit Hilfe von AVL-DRIVETM analysiert und be-wertet werden (Bild 3-19, Bild 3-20). Durch Veränderung der Kontrollparameter kann be-reits in der Simulation das Schaltverhalten des Systems analysiert und die Fahrbarkeit opti-miert werden. Vergleicht man Bild 3-19 mit den Messverläufen in Bild 3-6 so erkennt man eine relativ gute qualitative Übereinstimmung der Signalverläufe. D. h. es ist also in einer sehr frühen Prozessphase möglich, Konzepte zu bewerten, sie abzusichern und wesentliche Voraussetzungen bzw. Randbedingungen für die Umsetzung abzuleiten sowie eine erste Abstimmung der Kalibrierungsparameter für bestimmte Funktionen durchzuführen. Dabei reicht eine Relativbewertung durch AVL-DRIVETM, da die absolute Übereinstimmung von DRIVE-Noten im Fahrzeug und in der Simulation durch die enorme Vielzahl der die Fahr-barkeit beeinflussenden Faktoren praktisch weder möglich noch sinnvoll ist.

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Bild 3-18: Modell eines Antriebes mit einem Doppelkupplungsgetriebe in AVL-CRUISE.

Bild 3-19: Mittelmäßig abgestimmtes Zughochschalten in der Konzeptsimulation mit DRIVE-Bewertung.

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 169

Bild 3-20: Gut abgestimmtes Zughochschalten in der Konzeptsimulation mit DRIVE-Bewertung.

Wir sind also bei einer rein virtuellen Abstimmung von Kalibrierungsparametern gelan-det, in der auch alle Funktionen der Steuergeräte virtuell, in Form eines Softwaremodules vorhanden sind (Bild 3-21).

Bild 3-21: Kalibrierung in einer reinen virtuellen Umgebung.

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3.1.7 Zusammenfassung und Ausblick

Auf Grund steigender Anforderungen an den Antrieb von morgen und der daraus resultie-renden zunehmenden Komplexität sowie der wachsenden Vernetzung der einzelnen An-triebskomponenten ist eine simulationsgestützte Entwicklung mit dem Fokus der Ge-samtsystemoptimierung unumgänglich. Für den Fahrzeughersteller und seine Zulieferer ist es von großer Bedeutung, dass an beliebiger Stelle des Entwicklungsprozesses alle Antriebsstrangkomponenten entweder real in Hardware oder virtuell in Software zur Verfügung stehen.

Auch nach Realisierung der virtuellen Antriebsstrangentwicklung wird weiterhin die Verifikation der Produkteigenschaften auf Basis physikalischer Prototypen notwendig sein. Allerdings wird diese Phase immer stärker verkürzt. Damit sich die Verkürzung der Entwicklungszeit und der dabei angestrebte Rationalisierungseffekt wirklich einstellen, ist es notwendig, dass die Durchgängigkeit der Prozesse gegeben ist.

Dabei müssen folgende fünf Voraussetzungen erfüllt sein (Bild 3-22):

� ein allgegenwärtiges Informationsmanagement, welches Daten (das sind Parameter für Simulationsmodelle, Simulationsergebnisse, Messergebnisse) ohne Verzug simultan zur Verfügung stellt und speichert

� durchgängige, aufeinander widerspruchsfrei aufbauende und anforderungsgerechte Simulationsmodelle

� die Automatisierung der Prozessketten für eine Vermeidung jeder manuellen Tätigkeit, die auch leicht von einer Maschine ausgeführt werden kann

� ein synthetisiertes menschliches Bewertungssystem, um automatisierte Prozesse auf-bauen und optimal nutzen zu können

� eine softwaregestützte Optimierung, die Automatisierungsprozesse zielgerichtet in Hinblick auf das rasche Erreichen von Zielen steuert.

Bild 3-22: Durchgängige Entwicklungsmethodik für Motor und Getriebe.

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3.1 Virtuelle Antriebsstrangentwicklung 171

Im Lichte dieser Forderungen erweist sich die Tatsache, dass bei AVL die Bereiche An-triebsstrang-Engineering, Simulationsentwicklung und Prüfstands- bzw. Messtechnik unter einem Dach vereinigt sind und dadurch die erforderlichen Werkzeuge nach dem eigenen Anforderungsprofil zur Verfügung gestellt werden können, als entscheidender Wettbewerbsvorteil. Wie am Beispiel der Kalibrierung von Steuergeräten gezeigt wurde, kann man also ab-schließend festhalten: Die virtuelle Antriebsstrangentwicklung ist längst kein Zukunftstraum mehr, sondern auf dem besten Weg zur Realität.

Literatur zu Abschnitt 3.1

[1] Fischer, R.; Hasewend, W.: Virtuelle Antriebsstrangentwicklung – Zukunftstraum oder Wirklichkeit? ATZ/MTZ Automobil und Motortechnische Konferenz Virtual Product Crea-tion 2004, 24.–25. Juni 2004, Stuttgart

[2] List, H.; Schoeggl, P.: Objective Evaluation of Vehicle Driveability. SAE 980204, Detroit, USA

[3] List, H.; Schoeggl, P.: Method for analysing the driving behaviour of motor vehicles. Europe patent EP 0846945A2, Japan Hei. 10-213524, 3332242/1997, US 53.940, 3.12.1997

[4] Pels, T.; Pfragner, S.; Kaup, C.: Methoden zur Komfortbeurteilung von Hybridfahrzeugen. 5. VDI Konferenz „Innovative Antriebe“, Dresden 09./10.11.2006

[5] Hagerodt, A.; Alvermann, G.; Böhl, J.: Automatische Getriebeapplikation. Proceedings Mo-tor & Umwelt, 3. & 4. November 2003, Graz, Austria

[6] Wagner, G.; Bek, M.; Küçükay, F.; Böhl, J.; Ellinger, R.; Fischer, R.: Efficient Calibration of Automatic Transmissions. 1st International Symposium on Development Methodology, Wiesbaden, 11/12 October 2005

[7] Pfeiffer, K.: Powertrain Testbed with Low Inertia Dynamometers and Advanced Real-time Simulation. AWD Vehicle Symposium 2006 East Liberty, USA;

[8] Martinelli, P.; Cavey, N.; Bollini, M.; Schoeggl, P.; Mundorff, F.; Dank, M.: Optimisation of Formula 1 Engine Torque Delivery with new Real Time Simulation Methods. 24th Interna-tional Vienna Motor Symposium, 15–16. Mai 2003

[9] Ellinger, R.: Integration of AVL's High-Fidelity Real-Time Engine Model into ETAS LabCar – Motivation, Experiences and First Results. ETAS Competence Exchange Symposium 2002, Stuttgart, 2002

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172 3 Motor

3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch

3.2.1 Einleitung

Im Jahre 2004 stellte AUDI komplett überarbeitete V6-4V-Ottomotoren vor, mit einem 2.4 l MPI als Einstiegsmodell und einem 3.2 l FSI als dynamisch-sportivem Modell. Eine der wesentlichen Änderungen war der Übergang auf einen Steuertrieb mit Kette. Beim aktuellen Neuzugang 2.8 l FSI lag das Hauptaugenmerk auf der Verbrauchsopti-mierung [2]. Die erzielten Verbesserungen von ca. 10 % im MVEG-Zyklus kommen in etwa zu gleichen Anteilen aus dem zweistufig schaltbaren Einlassventiltrieb mit der Be-zeichnung „AUDI valvelift system“ und aus der konsequenten Absenkung der mechani-schen Reibung (Bild 3-23). In Summe konnte etwa ein Viertel der Reibleistung des Ba-sismotors eingespart werden. Einen wesentlichen Beitrag dafür lieferte die Optimierung des dreiteiligen Steuertriebes (Bild 3-24, Triebe ABC). Bei der Entwicklung wurden Versuchs- und Simulationstools in enger Abstimmung ein-gesetzt.

Bild 3-23: Verbrauchsoptimierung beim 2.8 l FSI.

3.2.2 Entwicklungstools: Simulations- und Messtechniken

Die Simulation von Kettentrieben ist eine der jüngeren Techniken innerhalb der AUDI-Motorberechnungen; wegen der hohen Zahl von interagierenden Einzelkörpern ist die Abbildung von Ketten in MKS-Programmen vergleichsweise aufwendig. Die darstellbare Modellierungstiefe reicht von einfachen linearen Feder-Massen-Modellen ohne Spanner und ohne Kettenumlauf bis hin zu einer 3D-Abbildung der ge-samten Motordynamik einschließlich aller Wechselwirkungen, wie z. B. der zwischen

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3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch 173

Kettentrieb und Kurbelwelle und der zwischen Kettentrieb und Ventiltrieb. Die am Markt verfügbaren Tools decken normalerweise nur einen Ausschnitt der möglichen Modell-feinheiten ab.

Bild 3-24: Die Kettentriebe des 2.8 l FSI.

Die Vorstellung, dass die feinsten Modellierungen die besten Ergebnisse liefern, ent-spricht nicht den Randbedingungen der industriellen Berechnungspraxis. Für den gesam-ten Umfang der Berechnung – von der Datensammlung über Modellaufbau, Abstimmung und Variantenrechnungen bis hin zur Präsentation der Ergebnisse – steht nur ein begrenz-ter Zeitraum zur Verfügung. Jede zusätzliche Parameterabstimmung im Modell kostet einen Teil dieses Zeitraumes. Unter diesen Randbedingungen bleibt letztlich die Wahl zwischen den Alternativen � gröber auflösendes Modell, weniger Einstellmöglichkeiten, aber viele Rechenläufe für

deren optimale Abstimmung möglich � feinere Modellauflösung, mehr Effekte berücksichtigt, mehr Einstellmöglichkeiten,

aber weniger Rechenläufe für deren optimale Einstellung möglich.

Die Entscheidung fiel bei AUDI auf ein 2D-Modell mit Einzelgliedabbildung, also auf die erste Option. Im Modell sind die Ventiltriebe der vier Nockenwellen jeweils über eine Drehmomentenrandbedingung dargestellt, die aus einer MKS-Simulation der Ventiltriebe stammt. Die Kurbelwelle wird modelliert durch eine starre Scheibe mit vorgegebener Rotation und überlagerten Torsionsschwingungen. Amplitude und Phase dieser Schwin-gungen stammen aus Messung oder Rechnung an der Kurbelwelle. Diese Modellbildung setzt voraus, dass die Wechselwirkung der Einzelsysteme – also die Rückwirkung des Steuertriebes auf die Bewegungen der Kurbelwelle und der Ventiltriebe – vernachlässigt werden kann [3]. Die Einhaltung dieser Voraussetzung muss in zukünftigen Anwendun-gen sicherlich immer wieder kritisch geprüft werden.

Sekundäre Effekte wie z. B. die Schiefstellung von Kettenrädern lassen sich in diesem Modell nicht abbilden, es zeigte sich aber im Verlauf der Arbeiten, dass die Modellfein-heit für die angestrebte Dynamiksimulation ausreicht. Dass irgendwann ein größeres bzw.

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detaillierteres Modell angemessen sein könnte, bleibt unbestritten; andererseits ist bereits die Abstimmung des gewählten 2D-Modells zeitaufwendig. Das FVV-Programm KetSim (Hersteller: Lehrstuhl für Angewandte Mechanik, TU Mün-chen) erfüllte die gestellten Kriterien weitgehend. Der ursprünglich fehlende Pre- und Postprocessor ist mittlerweile kommerziell verfügbar. Die Primärdynamik lässt sich relativ gut auf Messdaten abstimmen, je nach Anspruch und Komplexität auch über Einsatz von Methoden des Design-of-Experiments; auf dieser Basis sind z. B. Spanneroptimierungen sowie Untersuchungen zum Layout und zu den Kettenparametern Steifigkeit und Masse möglich. Die Abstimmung Messung/Rechnung geschieht über die leicht messbaren Relativschwingwinkel der Räder zur Kurbelwelle und über die Spannerbewegung. Die Trumkräfte errechnen sich daraus programmintern über die Kettensteifigkeit. Während die Simulation gleichermaßen Kräfte und Winkel liefert, ist die Messung der dynamischen Kettenkräfte weit schwieriger als die der Winkel und damit als Basis für die Modellabstimmung weniger geeignet. In diesem Rahmen ist die Kettentriebssimulation mittlerweile ein etabliertes Tool im Entwicklungsprozess. Die Schwerpunkte der Anwendung sind dabei

� mit grob abgestimmten Modellen: frühe Aussagen zu Layoutkonzepten, wo mangels Hardwaremessungen Einstellungen und Erfahrungen aus früheren Modellen übernom-men werden

� mit genauer abgestimmten Modellen: Variantenrechnungen, die aussichtsreiche Va-rianten vorab selektieren und damit den Aufwand für Versuchsteile und Messungen ge-ring halten

� systematische Optimierungen z. B. der Spannerparameter oder der Winkelposition des Nockenwellenantriebs von Kraftstoffpumpen

� Einfluss der Kettenlängung auf die Dynamik

� Darstellung von schwer oder gar nicht messbaren Größen (Kettenkräfte, Stoßimpulse etc.)

� Erarbeitung von Systemverständnis z. B. über die Simulation von nicht im Versuch darstellbaren Betriebspunkten oder über die detaillierte Abbildung des Eingriffsvor-ganges.

Die parallel eingesetzte experimentelle Technik zur Kettentriebsentwicklung im Grund-motorbereich basiert auf Messungen von Schwingwinkeln an den Wellen und Zwischen-rädern sowie auf der Messung von Spannerwegen. Kettenkräfte lassen sich direkt über eine Telemetriemessung mit Dehnmessstreifen auf der umlaufenden Kette bestimmen. Sie lassen sich auch indirekt ableiten aus Kraftmessungen zwischen Spanner und Schie-ne, aus dem Spanneröldruck oder aus Dehnungsmessungen an geeigneten Führungs-schienen. Gemessen werden weiterhin Drehmomente zur Reibungserfassung sowie der Körper- und Luftschall. Die quellennahe Körperschallmessung mit Beschleunigungsauf-nehmern gewinnt dabei in den Bauteiloptimierungsschleifen immer mehr an Bedeutung.

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3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch 175

3.2.3 Zähnezahlen

Bei einem zweistufigen Steuertrieb gibt es theoretisch sehr viele Kombinationen von Zähnezahlen zur Darstellung der 1 :2 Untersetzung auf vier Kettenrädern (Bild 3-25). Dargestellt ist die Ketteneingriffsordnung der Triebe B und C über der Ketteneingriffs-ordnung des Triebes A in Bild 3-24; jeder Punkt entspricht einer möglichen Kombination von Zähnezahlen.

Bild 3-25: Mögliche Zähnezahlen für eine 1:2 Unterset-zung.

In der Praxis gelten aber etliche Limits für Zähnezahlen. Zu kleine Räder scheiden wegen Verschleiß und hoher Trumkräfte aus, außerdem verstärkt sich hier die akustische Anre-gung aufgrund des Polygoneffekts [1]. Zu große Räder sind dagegen ungünstig hinsich-tlich Bauraum, Gewicht und Kettengeschwindigkeit. Ein weiteres Qualitätsmerkmal für die Kettenakustik ist die Lage des Kettengeräuschs im Frequenzspektrum. Wenn sich die Energie des gesamten Kettengeräuschs schon nicht beliebig weit senken lässt, ist ihre gleichmäßige Verteilung auf möglichst viele separate Motorordnungen vorteilhaft, weil das Geräusch dann vor dem Hintergrund anderer Mo-torgeräusche nicht mehr so auffällig ist. Dazu werden die Zähnezahlen so gewählt, dass sich Eingriffsordnungen samt Oberwel-len in Kopf- und Basistrieb möglichst wenig überdecken. Beim Basistrieb 3.2 l mit den Zähnezahlen 25/38/19/25 (Bild 3-26) ist die Eingriffsordnung des Basistriebs A die MO (= Motorordnung) 25.0 und die der Kopftriebe B und C die MO 12.5. Die Ordnun-gen liegen damit exakt im Verhältnis 2 :1. Das führt im linken Diagramm in Bild 3-27 zu zahlreichen Überdeckungen der Oberwellen bei MO 25.0, 50.0, 75.0, usw. Gerad-zahlige Verhältnisse der Eingriffsordnungen in Kopf- und Basistrieb sollten nach Mög-lichkeit gemieden werden; die entsprechenden Punkte auf den gestrichelten Linien in Bild 3-25 sind daher mit Ausnahme der Basisauslegung weggelassen.

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176 3 Motor

Bild 3-26: Vergleich der Zäh-nezahlen für die Layouts 3.2 l Basis und 2.8 l FSI.

Das neue Layout für den 2,8 l-Motor mit den Zähnezahlen 25/40/24/30 und einem Ver-hältnis der Eingriffsordnungen von 5:3 zeigt Überdeckungen nur noch bei MO 75.0, 150.0, 225.0, usw. (Bild 3-27, rechtes Diagramm), also weit seltener und bei weniger relevanten Ordnungen. Unterschiedliche Zähnezahlen in beiden Kopftrieben könnten die Verteilung noch weiter vergleichmäßigen; eine entsprechende Variante wurde während der Entwicklung zeitweilig getestet, brachte aber keine weiteren signifikanten akusti-schen Verbesserungen.

Bild 3-27: Vorhersage der Motorordnungen für die Kettenge-räusche.

Das für die neuen Zähnezahlen konstruierte Layout gleicht sich an die veränderten Zäh-nezahlen über die Spann- und Führungsschienen an; die Lage der Spanner und die Ach-sen der Kettenräder mussten kaum verschoben werden. Durch größere Räder im Kopf-trieb (z = 30 statt 25) lassen sich tendenziell abgesenkte Kräfte in den Trieben B und C vorhersagen. Ebenso sollte die Geräuscherzeugung über den Polygoneffekt am kleinen Ritzel des Zwischenrades absinken (z = 24 statt 19).

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3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch 177

3.2.4 Kettenart

Der Ausgangstrieb war mit einer 3/8“-Hülsenkette bestückt. Dieser Kettentyp war wegen seiner Festigkeit ausgewählt worden. Eine Rollenkette hätte zwar geringere Reibung und bessere Akustik versprochen, schied aber seinerzeit aus Festigkeitsgründen aus; eine Zahnkette verträgt sich nicht mit dem teilweise von innen geführten bzw. gespannten Trieblayout. Zur Optimierung des Reibungs- und Akustikverhaltens wurden mit dem Hersteller Ver-stärkungsmöglichkeiten für die ursprünglich ausgeschlossene Rollenkette gesucht und gefunden. Die für den Motor neu entwickelte 3/8“-Rollenkette baut nicht größer als die Hülsenkette und ist dabei sogar um 10 % höher belastbar. Ihre Steifigkeit ließ sich dage-gen konzeptbedingt nicht steigern und blieb bei der Optimierung auf 60 % des Hülsenket-tenwertes, weil sich ihr Pindurchmesser nicht anheben lässt. Die geringere Steifigkeit vergrößert tendenziell die Schwingwinkel und senkt die Resonanzfrequenzen ab; das stellte ein lösbares Problem dar. Mit dem verfügbaren Programmstand war es möglich, die Dynamik für beide Kettenarten vorherzusagen. Dazu wurde die Rollenkette als Hülsenkette mit angepasster Masse und Steifigkeit modelliert. Es fehlte die geeignete Programmoption für den zusätzlichen Kör-per „Rolle“; dies ist aber die Voraussetzung für die Simulation des geänderten Stoß- und Reibverhaltens. Die Bewegungsfreiheit des Zusatzkörpers Rolle – zwischen den Eingrif-fen kann er ohne Kontakt zur Kette sein – und sein Kontaktverhalten im Stoßvorgang und im Zahneingriff dürften seine Beschreibung zu einem anspruchsvollen Thema zukünfti-ger Methodenentwicklung machen. Der experimentelle Vergleich von Reibung und Akustik beider Kettenarten fällt leichter. Das Reibmoment von Steuer- und Ventiltrieb zusammen ließ sich für beide Kettentypen im Schlepp vergleichen. Die Spannerabstimmung war dabei für beide Ketten gleich. Im Mittel spart die Umrüstung des Steuertriebes auf Rollenketten etwa 0.8 Nm Reibmoment ein (Bild 3-28). Bei einer Drehzahl von 6000 rpm sind das ca. 500 W Reibleistung, die nicht erzeugt und nicht über das Motoröl abgeführt werden müssen. Das akustische Verhalten beider Kettentypen wurde im Rahmen eines begleitenden Grundlagenprojekts näher untersucht [5]. Es zeigte sich bald, dass der Aufbau mit drei Kettentrieben, vier Nockenwellen und zusammen 24 Ventiltrieben viel zu komplex ist, um den Unterschied herauszuarbeiten. Daher wurde die Messanordnung reduziert auf den Basistrieb (Trieb A), der ohne Belastung über die Zwischenräder geführt und an der Kur-belwelle gleichförmig angetrieben wurde. In diesem Aufbau ist die Eingriffsordnung samt Oberwellen so dominant, dass sie sich auch im Zeitbereich beobachten lässt.

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Bild 3-28: Reibleistung des Steuertriebs mit Rollen- und Hül-senketten.

Der schallerzeugende Stoßvorgang ist gekennzeichnet durch sehr kurze, hohe Kraftpeaks – das verleiht dem Kettengeräusch seinen unangenehmen Reichtum an Oberwellen. Typi-sche Zeiten liegen bei einigen 10 μs, typische Amplituden im Bereich einiger 100 N; ein Stoß dieser Größenordnung lenkt das einlaufende Kettenglied von einigen Gramm Masse aus der linearen in die rotierende Bewegung um. Messen kann man die Stoßgrößen nur indirekt über die Effekte auf die beteiligten Körper. Es zeigte sich, dass das untersuchte Layout mit den Zwischenrädern eine besonders ein-fache Möglichkeit für eine Körperschallmessung nahe am Stoßort bietet, wenn man die radialen Beschleunigungen des feststehenden Zwischenradlagerzapfens aufnimmt. In diesem quellennahen Signal findet sich hauptsächlich – aber nicht nur – die Reaktion auf die Zahneingriffskraft am hier gelagerten Zwischenrad wieder; der Stoß beim Einlauf einer Hülse bzw. Rolle zeigt sich als Beschleunigungspeak. Beide Signale in Bild 3-29 enthalten deutliche stochastische Anteile, die Periodendauer (600 μs bei 4000 rpm) der MO 25.0 des Zahneingriffs ist nur mit Mühe erkennbar. Aus der Breite der höchsten Peaks kann man auf Stoßdauern von weniger als 100 μs schließen; im Frequenzbereich gehört dazu ein Signal mit deutlichen Oberwellen bis weit über 10 kHz. Die Hülsenkette erzeugt wesentlich höhere, steilere Spitzen als die Rollenkette. Ursache ist der klar definierte Einlaufstoß im Kontakt Hülse – Zahn. Die Reduktion der Peakhöhe bei der Rollenkette auf etwa ein Drittel kommt durch Verschleifen dieser Spitzen zustan-de, ein Vorgang, der mit der Zerlegung des Einlaufstoßes in mehrere kleinere Einzelstöße innerhalb des Systems Hülse – Rolle – Zahn und mit erhöhter Dämpfung zusammen hän-gen dürfte. Im Frequenzspektrum der Rollenkette drückt sich das darin aus, dass die ho-hen Oberwellen der Eingriffsordnung weit abgesenkt sind. Bild 3-30 zeigt links das Fre-quenzspektrum zum reduzierten Aufbau mit Trieb A. Auch am geschleppten Motor mit den Trieben ABCD stellt sich das Rollenkettengeräusch wesentlich unauffälliger dar (Bild 3-30, rechts).

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3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch 179

Bild 3-29: Beschleunigungssignale von Rollen- und Hülsenketten bei 4000 rpm.

Bild 3-30: Vergleich der Schleppgeräuschspektren beider Layouts.

Bei vergleichenden Untersuchungen zu Reibung und Akustik verschiedener Kettentypen zeigt sich, dass die Unterschiede stark vom Trieblayout abhängen und nicht verallgemei-nert werden dürfen. Für die Reibung ist z. B. der Anteil von schienengeführten Trumstü-cken an der Gesamtlänge des Triebs mit entscheidend, für die Akustik die Ausführung der Achslagerungen der Kettenräder; diese Einflüsse können stärker wiegen als die Wahl des Zugmittels, und insofern lassen sich Eigenschaften hinsichtlich Reibung und Akustik den verschiedenen Kettentypen teilweise nur unter Vorbehalten zuordnen.

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3.2.5 Dynamikergebnisse

Bild 3-31 verdeutlicht die Dynamik des Ausgangstriebs mit dem Verlauf der berechneten Schwingwinkel der Einlassnockenwelle des Triebs B relativ zur Kurbelwelle, Bild 3-32 zeigt die entsprechenden Messwerte. Die Diagramme zeigen eine typische Resonanzform in der MO 3.0 bei mittleren Drehzahlen, angeregt von Kurbel- und Ventiltrieb; weiterhin eine ansteigende Flanke bei höheren Drehzahlen in MO 1.5, wo die Anregung nur vom Ventiltrieb stammt. Die zugehörige Resonanzspitze wurde außerhalb des Betriebsbe-reichs des Motors bei n > 8000 rpm rechnerisch nachgewiesen, ebenso die Schwingfor-men beider Resonanzen. Aus der Entwicklung des Ausgangstriebes war bekannt, dass die beiden Maxima unter-schiedlich auf die Steifigkeit des Triebs reagieren. Die Amplitude des unteren schrumpft mit sinkender Steifigkeit – dargestellt z. B. über eine nachgiebigere Kette, weichere Schienen, einen größeren Spannerspalt oder dünnflüssigeres Motoröl –, die Amplitude des oberen steigt dagegen an mit sinkender Steifigkeit. Vermutlich begründen die unter-schiedlichen Schwingformen den auffälligen Effekt. Die Kurven für den 2.8 l FSI in den Diagrammen zeigen das vor diesem Hintergrund absehbare Dilemma mit der Rollenkette. Beide Maxima wandern zu niedrigeren Dreh-zahlen. Das untere aus MO 3.0 bleibt auf geringer Höhe und verursacht keine Probleme. Das obere aus MO 1.5 reagiert auf die weichere Kette mit einer deutlichen Anhebung. Der auftretende max. Schwingwinkel liegt zunächst klar über dem Ausgangs- und dem vorgesehenen Grenzwert und bei einer Drehzahl von ca. 6250 rpm auch noch voll im Fahrbereich des Motors bis 6800 rpm. Eine Maßnahme zur Kompensation der geringen Steifigkeit der Rollenkette war somit erforderlich, um die notwendige Steuerungspräzisi-on der Nockenwellen einzuhalten.

Bild 3-31: Berechnete Schwingwinkel (Trieb B Einlass-NW zu Kurbelwelle).

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3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch 181

Bild 3-32: Gemessene Schwingwinkel (Trieb B Einlass-NW zu Kurbelwelle).

3.2.6 Unrunde Kettenräder

Zu dem Thema gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Patentveröffentlichungen. Die ers-ten Ansätze stammen von japanischen Autoren [4], vgl. Bild 3-33.

Bild 3-33: Zahnriementrieb mit unrundem Antriebsrad [4].

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Das Konzept ist immer dasselbe: den Schwingungen des Triebes aus den Anregungen von Antrieb (aufgeprägte Winkel) und Abtrieb (aufgeprägtes Moment) wird eine zusätz-liche Schwingung überlagert, die in Ordnung, Amplitude und Phase so eingestellt ist, dass sie an kritischen Betriebspunkten die Lastspitzen kappt. Dies sind normalerweise die Betriebspunkte im Fahrbereich mit der höchsten Zugmittelbelastung. Dafür kann man, falls erforderlich, auch eine erhöhte Belastung an unkritischen Stellen in Kauf nehmen. Die Schwingungen in Steuertrieben modulieren die Winkelgeschwindigkeit an den Ket-tenrädern typischerweise nur um wenige Prozent; eine sinusförmige Radiusmodulation gleicher Größenordnung an einem der beteiligten Räder kann deutliche Wirkung zeigen, ohne dass sich der Kettenverlauf signifikant ändert. Der Effekt lässt sich unter Rückgriff auf den Drehimpulssatz und die Trägheit der angetriebenen Wellen auch analytisch be-schreiben. Nachdem beim 3.2 l-Motor die in der Kettenkraft dominante Resonanz ursprünglich in der MO 3.0 bei mittleren Drehzahlen auftrat, liegt sie beim neu entwickelten 2.8 l FSI in der MO 1.5 am oberen Ende des Drehzahlbandes. Auf der Kurbelwelle kann man sie nicht beeinflussen, weil ein Ovalritzel mit eineinhalb Spitzen grundsätzlich nicht dar-stellbar ist; Ähnliches gilt für die Zwischenräder. Als einzige Möglichkeit verbleiben somit triovale Ritzel auf den Nockenwellen (vgl. Bild 3-24). Bei AUDI wurden Berechnungen zur Auslegung von Amplitude und Phase dieser Un-rundheit durchgeführt und im Versuch überprüft. Bild 3-34 zeigt den berechneten Ein-fluss eines einzelnen Triovalrades auf einer Nockenwelle. In Optimallage senkt das Rad die Amplitude in MO 1.5 bei hohen Drehzahlen. Um 60° verdreht muss es das Gegenteil bewirken – das ist im Diagramm gut sichtbar. Die Einflüsse von vier optimal positionier-ten Triovalrädern summieren sich derart, dass die Amplitude der MO 1.5 im gesamten Drehzahlband bei geringen Werten bleibt.

Bild 3-34: Einfluss von triovalen Nockenwellenrädern auf die Schwingwinkel der MO 1.5.

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3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch 183

Die Ergebnisse der Rechnung in Bild 3-35 und der Messung in Bild 3-36 belegen, dass die Schwingwinkel wieder auf das Ausgangsniveau des 3.2 l-Motors mit Hülsenketten zurückgehen. Der neue Motor dreht nur noch bis auf eine Maximaldrehzahl von 6800 rpm, sein Kettentrieb wäre aber mit dieser Maßnahme bis hinauf zum Ausgangswert des 3.2 l Motors von 7200 rpm einsetzbar.

Bild 3-35: Berechnete Schwingwinkel (Trieb B Einlass-NW zu Kurbelwelle) für 2.8l FSI mit runden und triovalen Nocken-wellenrädern.

Bild 3-36: Gemessene Schwingwinkel (Trieb B Einlass-NW zu Kurbelwelle) für 2.8 l FSI mit runden und triovalen Nocken-wellenrädern.

Nach der Kompensation der Lastspitzen in MO 1.5 über die Triovalräder ergab sich die Möglichkeit, die Spanner weicher auszulegen und damit die Reibung im Trieb abzusen-ken. Diese Neuabstimmung sparte am dargestellten Trieb nochmals etwa 0.4 Nm Reib-moment ein (das entspricht 250 W bei 6000 rpm). Die Maximalkraft bleibt dabei immer noch um 35 % unter dem Wert bei runden Nockenwellenrädern (Bild 3-37).

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Bild 3-37: Absenkung der Maximalkräfte in Trieb A durch triovale Nockenwellenräder und Neu-abstimmung Spanner.

Die vorgenommene Beeinflussung der Triebschwingungen in MO 1.5 sollte keinen nen-nenswerten akustischen Effekt auf die Eingriffsordnungen MO 15.0/25.0 mitsamt ihren Oberwellen haben. Dies wurde so auch experimentell nachgewiesen. Vermutungen, dass die unrunden Räder über die Anregung von Transversalschwingungen Nachteile für Fes-tigkeit und Akustik einbringen – z. B. durch verstärktes Aufschlagen der Trume auf Ein- und Auslaufzonen an den Schienen – haben sich nicht bestätigt. Diese Beobachtung lässt sich aber sicher nicht für Ovalitäten beliebiger Größe verallge-meinern; die Unrundheitsamplitude an Kettenrädern ist durch diesen Effekt konzeptuell begrenzt. Möglich ist dagegen die gleichzeitige Bekämpfung mehrerer Anregungsord-nungen auf einem unrunden Rad mit entsprechend kompliziertem Radiusverlauf.

3.2.7 Aufbau und Ausbau der Simulationstechnik

Nachdem sich die Kettentriebsberechnung im Serienprozess für Dynamikaussagen gut etabliert hat, lohnt sich ein Blick auf die Erfolgsfaktoren bei ihrer Einführung, seien sie technischer Natur oder soft facts. Einige lassen sich sicherlich auch für andere Simulati-onstechniken verallgemeinern. Grundsätzlich fällt die Aufnahme eines neuen Programms in den Bestand der Motorbe-rechnung schwer – die reinen Softwarekosten sind normalerweise nur ein kleiner Anteil

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3.2 Steuertriebsentwicklung mit Simulation und Versuch 185

am Gesamtinvest bis zur sicheren Anwendungsreife. Die Entscheidung fiel dennoch in dieser Richtung, weil die Erweiterungsmöglichkeiten vorhandener Programme in einer kurzen Recherchephase zu Beginn der Einführung nicht überzeugt haben. Der Aufwand für die Modellabstimmung war auch in dem gewählten 2D-Modell mit externen Randbedingungen schon erheblich. Für die Erschließung neuer Themenfelder wie Akustik und Reibung reichen die Standardmessungen des Entwicklungsprozesses nicht aus. Erforderlich sind speziell angepasste Aufbauten und Zusatzmessungen bei Serienversuchen. Es ist keineswegs einfach, diesen Zusatzaufwand neben den Serienum-fängen zu organisieren, die Erfahrung zeigt aber, dass gerade die Zusammenarbeit in dieser Aufbauphase gegenseitiges Vertrauen beider Gebiete schaffen kann. Ziel ist es, Versuch und Berechnung gleichrangig als Datenquellen zur Bewertung des-selben Produkts in verschiedenen Entwicklungsphasen einsetzen zu können – unter Be-rücksichtigung der jeweiligen verfahrenseigenen Stärken und Schwächen und Verfügbar-keiten. Bild 3-38 zeigt die Felder, auf denen sich Messung und Rechnung im Zusammen-spiel ergänzen können.

Bild 3-38: Potenziale in der Zusammenarbeit von Messung und Rechnung.

Die Simulation wird dann in vielen Fällen nicht zum Wegfall von Hardwarebaustufen führen, sondern zu ihrer effizienteren Nutzung angesichts ständig steigender Komplexität im Entwicklungsprozess. Berechnungen auf elementarem Niveau wie in Bild 3-25 ge-zeigt sind für die Etablierung der Berechnung in neu anlaufenden Projekten sehr wertvoll, auch wenn die wesentlichen Ergebnisse erst später geliefert werden können. In vielen Fällen hängt die Einbindungsqualität in den Prozess von ganz elementaren Dingen ab – z. B. davon, dass Berechnungsingenieure in den Projektteams von Anfang an überhaupt Beiträge liefern können, oder davon, dass Aufträge aus wöchentlichen Projektrunden in einer, maximal zwei Arbeitswochen abzuarbeiten sind.

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186 3 Motor

Schwer vermarktbar sind regelmäßig Rechnungen, die für den Modellaufbau detaillierte CAD-Geometrie und zur Abstimmung Messwerte von aktueller Hardware benötigen; beides steht im Entwicklungsprozess erst spät zur Verfügung. Wenn dann eine umfang-reiche Modellabstimmung erforderlich ist, treffen die Ergebnisse der Variantenrechnun-gen zu einem Zeitpunkt ein, an denen sie nicht mehr viel ausrichten können, unabhängig von ihrer Präzision und Aussagekraft. Leider erfüllen viele inhaltlich faszinierende 3D-Verfahren diese Kriterien. Der moderne Produktentstehungsprozess kennt keine Zeiträu-me, in denen der Prototypenbau auf die Berechnung wartet. In vielen Fällen ist der Ver-zicht auf komplexe Modelle ein guter Weg, wobei die klare Kenntnis der dabei gemach-ten Näherungen und der gültigen Aussagegrenzen vorausgesetzt ist. Ein Teil der Aussa-gen muss dann weiterhin aus der Messung kommen; dies ist für die Etablierung der Be-rechnung im Entwicklungsprozess überhaupt kein Nachteil, ganz im Gegenteil. Bei der zukünftigen Programmanwendung stellt sich die Frage, ob und wie sich die Er-weiterungen der MKS-Dynamikberechnung in Richtung Akustik und Reibung sinnvoll umsetzen lassen, also bei den Themen, die bei der Entwicklung des 2.8 l FSI noch weit-gehend per Messung behandelt wurden. Bei der Vorhersage der Kettenakustik sind Modellbegrenzungen sichtbar geworden. Das bezieht sich weniger auf den geräuscherzeugenden Stoßvorgang beim Zahneingriff, son-dern mehr auf die Ausbreitung des Körperschalls ins Aggregat über Lager und Wellen hinein. Die notwendige Modelltiefe ist noch nicht klar, aber sie wird erheblich sein. Bei einem Gesamtmodell mit allen Kettengliedern, EHD-Ölfilm in den Gleitlagern und kon-densierten FE-Modellen von Block und Wellen ist weniger die Frage der grundsätzlichen Darstellbarkeit gegeben, sondern die der Abstimmung und die des Handlings in der Pra-xis. Daneben stellt sich auch die Frage nach der optimalen Solverarchitektur für ein der-artiges Modell. Um die aktuell umsetzbaren Möglichkeiten für eine Akustikvorhersage auszuloten, wurde der Messaufbau von Bild 3-29 nachmodelliert. Die im Programm errechnete Lagerkraft enthält sowohl die niedrigen Motorordnungen aus den Kettenlängskräften als auch die hohen aus dem Ketteneingriff (Bild 3-39). Die Zwischenradlagerung als Systemgrenze zum Aggregat ist dabei durch ein schwingungsfähiges Ersatzmodell dargestellt. Um das Ordnungsspektrum nicht zu sehr zu verdichten, waren die Anregungen aus MO 1.5 und 3.0 von Kurbel- und Ventiltrieb bei der Simulation ausgeschaltet; sie führen im Betrieb zum Aufspalten der gezeigten Linien. Bild 3-40 zeigt das errechnete Ordnungsspektrum der Radialbeschleunigung. Die in Bild 3-27 rechts vorhergesagten Hauptordnungen sind im Ergebnisdiagramm qualitativ richtig wiedergegeben. Daneben zeigt das Ergebnis auch die schwächeren Subharmonischen, die aus dem Unterschied zwischen Innen- und Außengliedern entstehen.

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Bild 3-39: Motorordnungen aus Ketten- und Kontaktkräften in der Lagerkraft des Zwischenrades.

Bild 3-40: Errechnete Be-schleunigungen am Zwischenradzapfen des 2.8 l FSI

Auch die Reibungsvorhersage für Kettentriebe ist ein Thema von hohem Interesse. Die Verifikation der in den Programmen hinterlegten Reibansätze ist erfahrungsgemäß nicht Sache der Programmhersteller sondern der Anwender. Man wird sich darauf einzustellen haben, dass sich immer nur unterschiedlich zusammengesetzte Summen von Reibanteilen messen lassen, nicht die Einzelanteile. Bei einem einfachen Zweiwellentrieb bestünde die Summe typischerweise bereits aus vier Lagerreibungen (zwei Achsen mit je zwei Lagern) sowie aus den Beiträgen von zwei Kettenrädern, einer Spann- und einer Führungsschiene. Dafür erscheint bei der Reibungsmodellierung die Frage der Systemgrenzen nicht so kritisch wie beim Körperschall. Die Modellierung konzentriert sich somit auf die Suche nach angemessenen Reibungsansätzen; das Thema ist momentan in Untersuchung.

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3.2.8 Zusammenfassung

Bei der Überarbeitung des Steuerkettentriebs für den neuen V6 2.8 l FSI hat AUDI Mess- und Simulationswerkzeuge so eingesetzt, dass sich die Verfahren optimal ergänzen. Im weitgehend vorgegebenen Entwicklungsprozess waren dazu Aufbau und Abstimmung der Rechenmodelle und Variantenrechnungen derart zu integrieren, dass Ergebnisse früh, mit kurzen Antwortzeiten und hoher Zuverlässigkeit geliefert werden. Diese Forderungen erzwingen einen Kompromiss bei der Modellierungstiefe. In diesem Sinne ist die Dynamiksimulation mittlerweile voll prozessintegriert; bei der Erweiterungen zur Simulation von Akustik und Reibung von Kettentrieben ist die Integ-ration eine Frage der Zeit. Die Frage nach einer vollständigen Abbildung der Motordy-namik mit allen Aspekten im Rechenmodell tritt zurück hinter der pragmatischen Überle-gung, welches Tool unter den aktuell gegebenen Bedingungen im Entwicklungsprozess schneller, kostengünstiger oder zuverlässiger die gewünschten Aussagen liefern kann – Simulation oder Messung. Mit den Techniken beider Bereiche waren substanzielle Verbesserungen in Reibung und Akustik des Steuerkettentriebs möglich.

Literatur zu Abschnitt 3.2

Allgemein: Klumpp P., Schmidt A., Schön K., Heiduk Th.: Steuertriebsentwicklung des neuen AUDI V6 2.8 l FSI mit Simulation und Versuch. Vortrag bei der ATZ/MTZ-Konferenz Virtual Powertrain Crea-tion, München, Oktober 2006

[1] Funk, W.: Zugmitteltriebe. Berlin: Springer Verlag, 1995 [2] Heiduk, Th.; Eiser, A.; Fitzen, M.; Hatz, W.; Mendle, J.: Der neue V6 2,8 l FSI mit AUDI

valvelift system. Vortrag beim 15. Aachener Kolloquium für Fahrzeug- und Motorentechnik, Oktober 2006

[3] Mendl, G.: Motordynamik und ihre Interaktion zu Festigkeit, Ladungswechsel und Akustik. Fortschritt-Berichte VDI, Reihe 12 Nr. 500, 2002

[4] Japanische Gebrauchsmusterschrift JP62-197077 Hatano Fa. Mitsubishi, 1987 [5] Schmidt, A. Ch.: Rechnergestützte Optimierung des akustischen Verhaltens von Steuerketten-

trieben. Dissertation, Lehrstuhl für Angewandte Mechanik, TU München, 2006

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3.3 Virtuelle Motorenentwicklung 189

3.3 Virtuelle Motorenentwicklung

3.3.1 Einleitung

Die Zukunft der Motorenentwicklung ist weiterhin durch stark steigende Produktanforde-rungen gekennzeichnet. Diese sind insbesondere:

� Reduzierung von Kraftstoffverbrauch / CO2-Emissionen

� Erfüllung zukünftiger Schadstoffgrenzwerte

� Erhöhter Kundennutzen:

– Cost of Ownership: Geringe Anschaffungs- und Betriebskosten

– Driveability, Fahrspaß, Leistung, Drehmoment

– Zuverlässigkeit, Dauerhaltbarkeit und Wartung.

Gleichzeitig sollen Entwicklungskosten und -zeiten reduziert werden, um ausreichend schnell auf Marktveränderungen reagieren zu können. Neue Antriebsstrangtechnologien wie:

� Hybridantriebe

� (voll) variable Ventiltriebe

� direkteinspritzende Ottomotoren

� variable Verdichtung

� Multi-Fuel Fähigkeit

� Aufladung und Downsizing, mehrstufige Aufladung

� automatisierte Schaltgetriebe und CVT

würden dabei zunächst sogar höhere Entwicklungszeiten erfordern. Deshalb sind neue Ent-wicklungsmethoden zu einem Schlüsselfaktor der modernen Motor- und Powertrain-entwicklung geworden, um die Ziele für zukünftige Entwicklungszeit und Kosten erreichen zu können. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht der Aspekt der virtuellen Motorenentwicklung zur Verkürzung der Entwicklungszeit. Dabei wird schwerpunktmäßig auf die neue Methodik der virtuellen Produktfreigabe in der frühen Entwicklungsphase eingegangen, die anhand von ausgewählten Beispielen erläutert wird.

3.3.2 Entwicklungsplan

Bild 3-41 zeigt einen typischen heutigen Entwicklungsplan für einen neuen Motor, in dem üblicherweise drei Baustufen bis zum SOP („Start of Production“) zur Entwicklung benötigt werden (je nach Bedarf und Definition findet man auch zwei oder vier Baustufen). Die Effizienz von virtuellen CAE-Methoden ist dabei in der anfänglichen, proaktiven Phase hoch und fällt in der zweiten Entwicklungshälfte, die stark reaktiv geprägt ist, schnell ab. In der Schlussphase entstehen üblicherweise die höchsten Entwicklungskosten. Korrekturen in dieser Phase sind mit hohen Entwicklungs- und Änderungskosten verbunden.

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190 3 Motor

Bild 3-41: Masterplan zur Motorentwicklung, klassische Verfahren im Ablaufplan dargestellt.

Eine signifikante Reduzierung der Entwicklungszeit lässt sich nur durch Einsparung von Baustufen erreichen. Ein Ansatzpunkt hierzu ist in Bild 3-42 dargestellt. Der Schwer-punkt der Änderungen findet sich in der frühen Phase der Entwicklung – in der Konzept- und ersten Detaillierungsphase. Durch gezielten Einsatz neuer, virtueller Entwicklungs-methoden muss die Qualität der Baustufen so erhöht werden, dass die Einsparung einer Baustufe möglich ist. Sie wird so zusagen durch eine virtuelle Baustufe mit erheblich verkürzten Zeiten ersetzt, die entsprechend eine virtuelle Freigabe beinhaltet. Die Reali-sierung der ersten „realen“ Baustufe verschiebt sich dadurch leicht nach hinten.

Bild 3-42: Masterplan zur Motorenentwicklung, neue Verfahren im Ablaufplan dargestellt.

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3.3 Virtuelle Motorenentwicklung 191

3.3.3 CAE-Unterstützung und virtuelle Produktfreigabe

Der Schlüssel für die Entwicklungszeit-verkürzende virtuelle Produktentwicklung ist eine interaktive, simultane Durchführung der Konstruktions- (CAD) und Berechnungsaktivitä-ten (CAE). Eine kontinuierliche Interaktion führt von der Voroptimierung des Konzepts schließlich zu Design-Iterationen mit dem Ziel der virtuellen Produktfreigabe, der ersten „virtuellen“ Baustufe. Der Entwicklungsablauf im Detail in Bild 3-43 verdeutlicht, wie diese virtuelle Baustufe der ersten mechanischen Baustufe vorgeschaltet ist. Der „Virtual Release“ erfolgt erst, wenn die Ergebnisse die technischen Spezifikationen erfüllen. Dabei müssen, wie in Bild 3-44 dargestellt, verschiedene Disziplinen detailliert betrachtet werden.

Bild 3-43: Virtueller Freigabeprozess.

Interaktionen zwischen den Disziplinen müssen dabei sorgfältig definiert werden. Am Ende dieser virtuellen Baustufe, nach Abschluss der detaillierten Konstruktion, liegen dann den Anforderungen entsprechende Berechnungsergebnisse und Freigaben vor, wie beispielsweise:

� Temperaturverteilung in den Komponenten

� Deformation von Lagern, Struktur und Dichtung

� mechanisches Ermüdungsverhalten

� CFD-Analyse von Kühlmittel, Ein- und Auslassströmung, Zylinderinnenströmung

� Ladungswechsel und Thermodynamik: Steuerzeiten für Ein- und Auslass, Ansaug- und Abgassystem

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192 3 Motor

Bild 3-44: Analyse der Komponenten und virtuelle Freigabe.

� Fluidsystemanalyse: Schmier- und Kühlsystem

� NVH-Analyse von Oberflächenmobilitäten und Eigenschwingverhalten, Fahrzeugin-nengeräuschsimulation

� Motordynamik: Ventiltrieb, Kurbeltrieb, Steuertrieb.

Ähnlich der mechanischen Motorerprobung müssen die Analysen sowohl auf Komponen-tenebene, als auch für Gesamt- und Teilsysteme durchgeführt werden, um die verschie-denen virtuellen Testanforderungen überprüfen zu können. Um durch die vorgeschaltete virtuelle Modellbaustufe wirklich Entwicklungszeit sparen zu können, ist dabei eine hohe Geschwindigkeit für Konstruktion, Modellerstellung und Berechnung erforderlich. Hier-zu ist eine abgestimmte Vorgehensweise dergestalt notwendig, dass sich die Berechnung an dem Konstruktionsprozess orientiert, der vom Entwurf zur Fertigteilzeichnung immer detaillierter wird. Entsprechend steigt die Qualität der CAE-Tools: Während in der Kon-zeptphase vielfach 1D-Spezial-Software zum Einsatz kommt, sind es im weiteren Ent-wicklungsverlauf mehr und mehr 3D-FEM- und CFD-Programme. In allen Phasen ist der Vergleich mit Datenbanken zur Bewertung der Ergebnisse notwendig. Bei der Konstruk-tion und Vernetzung wird dabei zunehmend auf parametrische Darstellungen zurückgeg-riffen. Im Folgenden soll beispielhaft auf Bausteine und Aspekte der virtuellen Motorentwick-lung eingegangen werden.

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3.3 Virtuelle Motorenentwicklung 193

3.3.4 Festigkeit und Kühlung

Einen Ausschnitt der konkreten Vorgehensweise beim Zylinderkopf ist in Bild 3-45 illustriert. Die Konzeptarbeit muss zunächst Kanalkonzept, Zylinderabstand und Schraubenposition ermitteln. Mit diesen Informationen werden bereits eindimensionale Kühlungs- und Schmiersystemmodelle erstellt, welche den Gesamtmotor abbilden und wichtige Fragen wie z. B. Längs- oder Querströmung im Zylinderkopf beantworten.

Bild 3-45: CAE gestütztes Konzept Layout und Design Prozess.

Wegen der engen Verzahnung von Konstruktion und CAE ist es mitunter sinnvoll, den frühen Design-Fortschritt gezielt nach den Belangen der Berechnungen auszurichten. Mit Hilfe von parametrischen 3D-Modellen bzw. abgelegten skalierbaren Standardstrukturen wird eigens hierfür ein 3D-Positiv-CAD-Modell eines Einzel-Zylinders erstellt, welches nur die für die FE-Strukturanalyse relevanten Geometrien enthält. Auf dieser frühen 3D-CAD-Basis können mit entsprechenden weiteren Randbedingungen aus der Datenbank dann bereits belastbare FEM-Vorausberechnungen und Voroptimierungen konzeptbeglei-tend vorgenommen werden. Die ersten FE-Modelle zeigen bereits die Auswirkungen der Kühlung und der Struktur auf die Bauteiltemperaturen. Im weiteren Verlauf werden CFD-Modelle des Kühlwassermantels erstellt und die kriti-schen Stellen überprüft und optimiert. Hierbei handelt es sich um ein „Fine-Tuning“ – das Konzept wird nicht mehr geändert. Das akustische Strukturverhalten wird ebenfalls in der frühen Projektphase optimiert, da es weitgehend von der Grobstruktur bestimmt ist. Am Ende der Entwicklung stehen detaillierte Festigkeitsmodelle, mit denen z. B. die Kurbel- und Ventiltriebsdynamik (MKS) und die thermomechanischen Eigenschaften auch im Kopf-Block-Verbund (FEM) optimiert werden.

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194 3 Motor

3.3.5 Ladungswechsel und Thermodynamik

Parallel dazu müssen Kanäle und Ventiltrieb in Hinblick auf Ladungswechsel und Ver-brennungsprozess entwickelt werden. Wenn irgendwie möglich, werden hier bereits in der Konzeptphase DoE (Design of Experiments) oder genetische Optimierungsalgorith-men eingesetzt. Bild 3-46 zeigt die bei FEV entwickelte, automatisierte Optimierung von Ein- und Auslasskanalgeometrien bzgl. Ladungswechselparametern. Die Geometrie des Einlasskanals wird in einem geschlossenen CAx-Loop optimiert. Die Basis dieses Pro-zesses sind parametrische CAD-Modelle, die automatisch vernetzt und mittels CFD-Berechnung auf ihre Strömungseigenschaften, hier Tumble und Durchflusszahl, hin ana-lysiert werden. Die Resultate der Strömungsanalyse werden dem genetischen Optimie-rungsalgorithmus übergeben, der daraufhin neue Parameter für die CAD-Templates defi-niert, dem CAD-Programm übergibt und damit eine optimierte Geometrievariante er-zeugt. So kann innerhalb von 20 bis 40 Iterationen eine optimale Kanalvariante, d. h. bester Kompromiss zwischen Durchfluss und Ladungsbewegung unter den vorgegebenen geometrischen Randbedingungen gefunden werden. Zur Voroptimierung von Ventiltrieben und Steuerzeiten erfolgt eine gasdynamische Aus-legung mittels kombinierten 1D- und 3D-Verfahren. Für die Verbrennung wird dabei häufig auf die Umsetzung versuchstechnischen Wissens in mathematische Modellansätze zurückgegriffen. Hierbei kommen automatische Optimierungsverfahren zum Einsatz, die eine optimierte Anpassung von Multiparameterproblemen an eine versuchstechnische Datenbasis ermöglichen.

Bild 3-46: Konzeptphase für die Motor-Thermodynamik, CAx Einlass- und Auslasskanalentwick-lung.

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3.3 Virtuelle Motorenentwicklung 195

Bild 3-47 zeigt beispielhaft den Einsatz von DoE-Verfahren zur Abbildung von Brenn-funktionen in parametrisch definierten Vibe-Brennfunktionsmodellen. Diese parametri-sierten Darstellungen erlauben die Abbildung motorischer Einflussgrößen auf das Brenn-verhalten und ermöglichen damit bereits in der Konzeptphase eine Optimierung thermo-dynamischer Basiseigenschaften.

Bild 3-47: Konzeptphase für die Motor-Thermodynamik, DOE Methode zur Vorhersage von Gas-wechsel & Drehmoment.

3.3.6 Kosten und Gewicht

Neben den technischen Zielgrößen sind natürlich auch wirtschaftliche Aspekte von dem späteren Produkt zu erfüllen. In diesem Spannungsfeld existieren in der Regel zahlreiche Lösungsansätze, welche in der Konzeptphase sorgfältig gegeneinander abzuwägen sind. In Bild 3-48 werden die funktionellen Parameter und die Kosten für einen direkteinsprit-zenden Dieselmotor mit vier Zylindern und einem Hubraum von 2,0 l für die Werkstoffe GJV, GJL und Aluminium gegenübergestellt. Für die Ausführung in GJL und GJV wird eine nominale Wanddicke von 3,5 mm und in Aluminium eine Wanddicke von 4,5 mm zugrunde gelegt. Die Kurbelgehäusekonstruktionen sind alle auf eine Tauglichkeit bei einem Spitzendruck von 200 bar ausgelegt und entsprechen dem FEV-Leichtbaukonzept. Der Vorteil eines geringeren Motorblockgewichts bei GJV gegenüber GJL wird bei nahezu identischen Abmessungen durch Mehrkosten von ca. 38 % erkauft. Die Aluminiumstruktur hat einen

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196 3 Motor

deutlichen Gewichtsvorteil von etwa 20 bis 30 %, benötigt jedoch einen größeren Bau-raum infolge der erforderlichen größeren Stegbreiten zwischen den Zylindern. Als deutli-cher Nachteil stellen sich derzeit die Kosten dar, die ca. 68 % höher liegen als bei GJL. Dies ist zum einen auf deutlich höhere Rohteilkosten des Aluminiumgusses zurückzufüh-ren, die zusätzlich durch ein aufwändiges Kernpaket erhöht werden. Hinsichtlich Bear-beitung zeigen sich die Leichtmetallblöcke jedoch vorteilhaft. Somit entscheidet letztend-lich in besonderem Maße der Zielkonflikt zwischen der Gewichtsoptimierung und den Herstellkosten über die Auswahl des Werkstoffes für das Kurbelgehäuse.

Bild 3-48: Konzeptphase: Kosten und Gewichtung, Vergleich CJV-GJL-AL 4-Cyl.2,0 L.

3.3.7 NVH und Gewicht

Bild 3-49 zeigt einige die bei FEV typischerweise verwendeten Kriterien zur Auswahl des besten Basiskonzeptes eines Kurbelgehäuses in Hinblick auf NVH. Links im Bild sind verschiedene Design-Konzepte mit deren Oberflächenschnelleverteilungen darges-tellt, rechts angeordnet ist ein Akustik-Streuband vergleichbarer Motoren. Die Oberflä-chenschnelleverteilung zeigt Schwachstellen mit hoher Schallabstrahlung (rot) auf und identifiziert erste Singularitäten. Die globale Grundsteifigkeit der Einzelkomponente erfolgt anhand des Vergleichs der ersten auftretenden Eigenfrequenzen für Torsion und Biegung. Wie hier am Beispiel des Kurbelgehäuses dargestellt, erfolgt schon in der Kon-zeptphase eine Abschätzung der Steifigkeit des Gesamtaggregates. Der Vergleich zur Datenbank ist hier ebenso wichtig, wie bei der Bewertung des Abstrahlverhaltens. Die

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3.3 Virtuelle Motorenentwicklung 197

letztendliche Auswahl des weiterverfolgten Konzeptes erfolgt dann durch Gegenüberstel-lung zum Akustik-Streuband vergleichbarer Motoren sowie der Bewertung des Optimie-rungspotenzials in Relation zur Gewichtszunahme.

Bild 3-49: Konzeptphase: NVH Design Methode mittels FEM, Grundmotor-Design.

Zum CAE-basierten virtuellen Freigabeprozess zählt auch die virtuelle Betrachtung des akustischen Gesamtsystems Motoranregung – Strukturübertragung – Schallabstrahlung bzw. Schwingungsantwort an den Aggregatlagern als Eingangsgröße für die Karosserie-anregung. Bild 3-50 zeigt die Verzahnung von Anregungsberechnung auf Basis von Mehrkörpersimulationen und der Strukturübertragungsberechnung mittels Finite Elemen-te Berechnung. Endergebnis ist die Oberflächenschnelle des Gesamtaggregats. Teilergebnisse sind die Anregungskräfte im Zeit- oder Frequenzbereich und Oberflächenschnellen an Einzel-komponenten. Bild 3-51 zeigt die für die Geräuschemission relevante Oberflächenschnel-le in räumlicher Darstellung und als Campbell Diagramm, sowie die Beschleunigungen an den Nebenaggregaten und Motortragarmen für den kompletten Motorhochlauf. Diese Art der Bewertung ermöglicht somit die Freigabe des Gesamtsystems oder aber nur ein-zelner Komponenten.

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Bild 3-50: Systemanalyse (1).

Bild 3-51: Systemanalyse (2).

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3.3 Virtuelle Motorenentwicklung 199

3.3.8 Dokumentation und Projektmanagement

Den gesteuerten Ablauf des CAE-basierten virtuellen Freigabeprozess sichert das CAE-Projektmanagementsystem. Den gesamten Aufgabenumfang des CAE-Projektmanagement-systems zeigt Bild 3-52. Er umfasst die Schritte der initialen Definition der CAE-Entwicklungsstrategie, der Festlegung des zeitlichen CAE-Berechnungsablaufs, der Vali-dierung der CAE-Modelle, der Definition der CAE-Interaktionen bis hin zur integrierten Analyse- und Dokumentationsdatenbank, in der die Ergebnisse des virtuellen Freigabepro-zesses dokumentiert sind. Der komplette Prozess ist in das Qualitätsmanagementsystem, z. B. „Design for Six Sigma“ integriert.

Bild 3-52: Komponenten- und Systemanalyse: Dokumentation und Projektmanagement.

3.3.9 Motormanagement, Software und Applikation

Auch dem Motormanagement kommt in der virtuellen Baustufe eine wichtige Bedeutung zu. Je nach Konzept sind hier durch virtuelle Funktionsentwicklung und virtuelle Appli-kation Vorfreigaben von Softwarestrukturen, Funktionen und Datensätzen durchzufüh-ren, um den für die verkürzte Entwicklungszeit erhöhten Reifegrad der ersten Baustufe zu erreichen. Echtzeitfähige Motormodelle, die schon auf Grund von CAE-Ergebnissen der virtuellen Prototypstufe erstellt werden, können hier in Zukunft eine zunehmend wichti-gere Rolle spielen. Aktuelle Ansätze, wie z. B. die Simulation des Kaltstartverhaltens eines Ottomotors, zeigen hier bereits viel versprechende Ergebnisse zur Unterstützung der Applikationsarbeiten, Bild 3-53, [5].

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Bild 3-53: Virtuelle Kalibrierung von Kaltstart und Warmlauf (mittels HIL).

3.3.10 Zusammenfassung

Durch die Einführung einer virtuellen Motorbaustufe mit einer virtuellen Freigabe kann unter Verwendung spezieller Entwicklungswerkzeuge die Entwicklungszeit für neue Motoren deutlich reduziert werden. Dies wird insbesondere durch Einsparung einer Mo-torbaustufe realisiert. Um dies zu verwirklichen, sind eine Vielzahl neuer und weiterent-wickelter CAE-Werkzeuge notwendig, sowie insbesondere eine stark interaktive Kons-truktion und Berechnung, die virtuelle Schleifen schon in der ersten Baustufe realisiert. Virtuelle Schleifen können durch Verwendung von Optimierungsalgorithmen, wie z. B. durch genetische Algorithmen für die Einlasskanaloptimierung, auch automatisiert ablau-fen. Die neuen Entwicklungsmethoden erweisen sich zudem als Voraussetzung für mo-derne Motorkonzepte, die immer höheren Anforderungen genügen müssen und eine zu-nehmende Anzahl von Variabilitäten beinhalten.

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3.3 Virtuelle Motorenentwicklung 201

3.3.11 Fazit

Mit neuen und weiterentwickelten Methoden der virtuellen Produktentwicklung lassen sich Entwicklungszeiten für Motor und Antriebstrang deutlich reduzieren. Dies wird im Wesentlichen durch die Einführung einer zusätzlichen virtuellen Motorbaustufe erreicht. Diese führt zu einer leicht verzögerten ersten „Hardware“-Baustufe, aber zu einer ver-kürzten Gesamtentwicklungszeit. Virtuelle Methoden werden weiter auf Funktions- und Softwareentwicklung ausgedehnt, um den zunehmenden Variabilitäten zukünftiger Ant-riebskonzepte gerecht zu werden.

Literatur zu Abschnitt 3.3

[1] Schwaderlapp, M.; Pischinger, S.; Maassen, F.: CAE in der Produktentstehung – Zylinder-kopfentwicklung. ATZ/MTZ, 5. Automobiltechnische Konferenz, 17.–18.05.2001, Wiesba-den

[2] Kley, P.; Pischinger, S.; Alt, N.; Lahey, H.-P.: Motormechanik NVH Simulation – Ein Baus-tein in der virtuellen Fahrzeugentwicklung. ATZ/MTZ, 6. Automobiltechnische Konferenz, 03.–04.07.2002, Berlin

[3] Alt, N.: Virtuelles Sound Design. ATZ/MTZ, Virtual Product Creation Conference, 30.06.–01.07.2003, Stuttgart

[4] Scheid, E.: Der Faktor Zeit in der Motorenentwicklung. Titelthema 25 Jahre FEV, MTZ, Ausgabe 10/2003

[5] Schernus, C.; Lütkemeyer, G.; Pischinger, S.; Winsel, T.; Ayeb, M.; Theuerkauf, H.-J.: Inves-tigation of Predictive Models for Application in Engine Cold-Start Behavior. SAE Interna-tional Congress, 08.–11.03.2004, Detroit (USA)

[6] Schwaderlapp, M.; Walzer, P.: Comprehensive Methods Empower Powertrain Development. FISTIA Congress, 23.–27.05.2004, Barcelona

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202 3 Motor

3.4 Zuverlässigkeitsmethoden in der Motorentwicklung

3.4.1 Einleitung

Neben Leistung, Verbrauch und Emissionen ist Zuverlässigkeit ein zentrales Entwick-lungsziel in der Motorentwicklung. Komplexere Fahrzeugsysteme, stärkerer Einsatz von Elektronik und Software sowie die Erweiterung von Garantiezeiten und -umfängen sind die Randbedingungen in der Antriebssystem-Entwicklung. Extreme Lebensdauerforde-rungen bei Nutzfahrzeug-Motoren, die bis zu einem B10-Wert von einer Million Meilen reichen, stellen Entwicklung und Versuch vor enorme Herausforderungen. Einige neue Teilsysteme, wie zum Beispiel Abgasnachbehandlungssysteme, haben zusätzlich einen hohen Innovationsgrad. Daher kann bei der Absicherung der Zuverlässigkeit nicht oder nur sehr eingeschränkt auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden. Ein umfassender Zuverlässigkeitsprozess hilft, das Endprodukt zielkonform bezüglich Zuverlässigkeit zu entwickeln. Dieser Prozess enthält neben einer Reihe von Methoden zum Management von Risiken verschiedene Verfahren zum Monitoring der Produktreife und Optimierung der Absicherung. In diesem Kapitel wird der Prozess vorgestellt, wie er bei AVL List GmbH in der Antriebssystem-Entwicklung angewandt wird. Einige der bekannteren Me-thoden werden dabei nur kurz skizziert, andere, innovative Methoden werden im Detail vorgestellt.

3.4.2 Der Zuverlässigkeitsprozess

Bild 3-54 zeigt den Reliability Engineering Prozess mit seinen wichtigsten Elementen und der Verbindungen zu den Phasen der Produktentwicklung. Bild 3-55 zeigt die Verbindung und Interaktion von Reliability Engineering zu anderen Disziplinen. Konstruktions-, Entwicklungs- und Versuchsteams werden unter anderem mit Risikomanagement-Instrumenten, Monitoring, Toleranzrechnung und Optimierungs-verfahren unterstützt. Die (normalerweise in der Organisation des OEM liegenden) Be-reiche Qualitätssicherung, Produktion und After Sales werden hauptsächlich mit FMEAs (Fehlermöglichkeits- und Einflussanalysen) und statistischen Methoden unterstützt.

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3.4 Zuverlässigkeitsmethoden in der Motorentwicklung 203

Bild 3-54: Der Reliability Engineering Prozess.

Bild 3-55: Reliability Engineering und die Verbindung zu anderen Funktionen.

Prototyp-Entwicklung Gen 2

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204 3 Motor

3.4.2.1 Statistische Analysen

Statistische Analysen werden zu Beginn des Entwicklungsprozesses eingesetzt, um Feld-daten von Vorläuferprodukten zu analysieren. Ziel dieser Analysen ist die Gewinnung von Ausfallscharakteristiken sowie von Einflüssen bestimmter Betriebsarten und Parame-ter auf Ausfallsraten und -charakteristiken. Dabei kommen neben der Weibullanalyse eine Reihe weiterer Verfahren wie Regressionsanalyse, Korrelationsanalyse und Faktor-analyse zum Einsatz [1, 2]. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden beim Herunter-brechen von Zuverlässigkeitsgesamtzielen sowie im Load Matrix Prozess benötigt. Dar-über hinaus werden zu diesem Zeitpunkt statistische Berechnungen durchgeführt, um eine grobe Bestimmung der Probandenzahl für den Nachweis des Lebensdauerziels zu erhalten.

Statistische Analysen sind ebenfalls von besonderer Bedeutung während der Serienpro-duktion. Hier hilft die Statistik, bei Auftreten vereinzelter Ausfälle das Serienschadenri-siko zu beurteilen und Ausfall-relevante Faktoren zu identifizieren. Bei Daten aus der Serienproduktion kommt der korrekten Behandlung nicht ausgefallener Einheiten (zen-sierte Daten) eine besondere Bedeutung zu. Beispielsweise ist es in vielen Fällen erfor-derlich, die Laufzeitenverteilung der gesamten Flotte zu schätzten, um Lebensdauerana-lysen korrekt durchführen zu können. Eine ausführliche Behandlung dieser Methoden findet man in [2].

3.4.2.2 Projekt-Risikomanagement

Ein umfassender Projekt-Risikomanagement-Prozess wird eingesetzt, um Projektrisiken systematisch zu detektieren und zu reduzieren. Dies umfasst nicht nur technische Risiken, die auch mit Hilfe von FMEAs bearbeitet werden können, sondern auch nicht-technische Risiken wie z. B. organisatorische, rechtliche (z. B. Patente) und finanzielle Projektrisi-ken sowie Risiken betreffend Ressourcen und Kommunikation in komplexen Projekt-teams.

Ein optimierter Risikomanagement-Prozess ist in Bild 3-56 skizziert. Risikomanagement-Sessions werden in moderierter Form in interdisziplinären Teams durchgeführt, die auch „projektfremde“ Teilnehmer beinhalten. Dies sichert eine möglichst objektive und distan-zierte Betrachtung.

Die Bewertung der Risiken erfolgt dabei ähnlich wie bei FMEAs auf einer Skala von 1 bis 10, wobei die Bewertung jedoch auf die Kriterien Schwere (Severity) und Auftre-tenswahrscheinlichkeit (Probability) beschränkt wird. Von einer Bewertung der Detekti-onswahrscheinlichkeit wird abgesehen. Für jedes Risiko werden danach eine Risikoprio-ritätszahl als Produkt berechnet und Abhilfemaßnahmen definiert, desweiteren werden die Kosten der Abhilfemaßnahmen geschätzt. Regelmäßige Reviews stellen sicher, dass die Maßnahmenverfolgung in effizienter Weise stattfindet und später auftretende Risiken Eingang in den Risikomanagement-Prozess finden.

Ein übergeordneter „Lessons Learned“ Prozess hilft, über alle Projekte hinweg typische kritische Themen zu erkennen um effektiver gegensteuern zu können (vgl. [3]).

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3.4 Zuverlässigkeitsmethoden in der Motorentwicklung 205

Bild 3-56: Risikomanagement-Prozess.

3.4.2.3 FMEA – Fehler-Möglichkeits- und Einflussanalyse

FMEAs werden eingesetzt, um frühzeitig potenzielle Fehlerquellen zu detektieren und rechtzeitig gegensteuern zu können. Dabei werden sowohl Funktionsthemen als auch Zuverlässigkeits- und Dauerhaltbarkeitsthemen behandelt. Im Zuverlässigkeitsprozess wird zuerst eine Konzept-FMEA des Gesamtmotors durchgeführt. Dabei liegt der Fokus auf einer groben Übersichtsbewertung auf Subsystemebene. Besonders kritische Subsys-teme oder Schnittstellen werden für Detail-FMEAs ausgewählt, die dann im Anschluss stattfinden. Diese FMEAs werden typischerweise in zwei Stufen durchgeführt – die erste Stufe vor Beendigung der Layout-Konstruktion, die 2. Stufe gegen Ende der Detailkon-struktion. Diese Vorgangsweise sichert einerseits eine gute Abdeckung des Gesamtsys-tems und garantiert andererseits den gezielten Einsatz dieser nützlichen, aber zeitaufwen-digen Methode. Prozess-FMEAs folgen in Abstimmung mit dem Motorproduzenten und den relevanten Zulieferern. Reviews aller FMEAs werden in regelmäßigen Abständen durchgeführt.

3.4.2.4 Concern-System

Ein Concern-System (Korrektur- und Vorbeugungsmaßnahmen) wird zur Analyse und zum Monitoring von Fehlern und deren Korrekturprozess verwendet. Sicherheits- und lebensdauerrelevante Defekte werden besonders gekennzeichnet und verfolgt. Das Con-cern System ist nicht nur Basis für die systematische Verbesserung des Motors während der Entwicklung, sondern liefert auch die Daten für mehrere Zuverlässigkeitsmethoden, wie z. B. Reliability Charts und Load Matrix (siehe die Abschnitte 3.4.2.7 und 3.4.2.8).

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3.4.2.5 Design of Experiments (DoE) und Robustheit

Robustheitsanalysen werden für jene Merkmale eingesetzt, die in FMEAs als besonders kritisch identifiziert wurden. Ein Beispiel für eine Robustheitsanalyse beim Verbren-nungsmotor ist die Berechnung der Wahrscheinlichkeit für eine Überschreitung des Spit-zendrucklimits unter Variation von relevanten Designmerkmalen und Produktionspara-metern. Statistische Versuchspläne erlauben dabei eine effiziente Nutzung von Varian-tenversuchen bei gleichzeitigem Gewinn an Wissen über Wirkzusammenhänge. Details und statistische Methodik zur Anwendung von DoE in der Motorentwicklung sind in [5] dargestellt.

3.4.2.6 Zuverlässigkeitsblockdiagramme (Reliability Allocation)

Der Einsatz von Reliability Allocation dient zum Herunterbrechen von Zuverlässigkeits- und Lebensdauerzielwerten auf Subsystem- und Komponentenebene. Sinnvollerweise werden dafür zwei getrennte Modelle verwendet. Das erste Modell betrifft Zuverlässig-keit während einer beschränkten Nutzungszeit (z. B. der Garantiezeit) und inkludiert sämtliche Motor-Subsysteme. Die Modellierung der Subsystem-Zuverlässigkeiten erfolgt dabei näherungsweise mit konstanten Ausfallsraten. Das zweite Modell umfasst die Le-bensdauerziele der Motorkernkomponenten wie Kurbelgehäuse, Zylinderkopf, etc. Da im zweiten Modell große Laufzeiten bzw. -strecken betrachtet werden, kann hier im Allge-meinen nicht mit konstanten Ausfallsraten gerechnet werden. Hier sind Verteilungsmo-delle wie die Weibull- oder LogNormal-Verteilung erforderlich. Die Berechnung der Überlagerung von Subsystem-Zuverlässigkeiten ist im Allgemeinen nicht mehr geschlos-sen möglich. Daher werden statistische Werkzeuge wie die Monte-Carlo Simulation ein-gesetzt.

3.4.2.7 Intelligente Validierung – Die Load Matrix Methodik

Entwicklung und der Nachweis der Einhaltung von Lebensdauer- und Zuverlässigkeits-zielen machen einen beachtlichen Teil eines Motorentwicklungsbudgets aus und haben daher einen besonderen Stellenwert. Der Forderung, bei der Validierung Zeit und Kosten zu reduzieren, steht das Risiko von Feldproblemen und Rückholaktionen mit extrem ho-hen Kosten gegenüber. Die Load Matrix ist eine Methodik zur Optimierung von Validierungsprogrammen für Dauerhaltbarkeit und Zuverlässigkeit. Sie kombiniert Beiträge aller Validierungsschritte wie Simulation, Komponenten- und Subsystemtests, Prüfstandstests des Gesamtmotors sowie der Fahrzeugerprobung. Ebenso werden Beiträge von Zulieferern in systematischer Weise berücksichtigt. Ein zentraler Punkt dieser Methodik ist die Verwendung von Raffungsfaktoren. Anstelle der vielfach verwendeten “globalen” Raffungsfaktoren (d. h. ein Raffungsfaktor für jeden Test) wird für jeden Test ein Vektor von Raffungsfaktoren verwendet, der die komponen-

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3.4 Zuverlässigkeitsmethoden in der Motorentwicklung 207

ten- und schadensmodeabhängige Raffung berücksichtigt. Um zu diesen Raffungsfakto-ren zu gelangen, wird die klassische FMEA-Methodik erweitert und eine so genannte Ausfallsart-Parameter-Blatt Analyse durchgeführt. Dies erlaubt es, eine Verbindung zu Schädigungsparametern und schädigenden Betriebsbedingungen herzustellen.

3.4.2.7.1 Prozess der Load Matrix Erstellung

Eine vereinfachte Form des Load Matrix Prozesses ist in Bild 3-57 dargestellt. Zuerst werden kritische Komponenten und Schadensmodi identifiziert. Dies erfolgt auf Basis von FMEAs und – sofern vorhanden – auf Felddaten von Vorgängersystemen. Eine Aus-fallsart-Parameter-Blatt Analyse wird durchgeführt, um die für die kritischen Schadens-modi schädigungsrelevante Parameter (wie z. B. Temperaturen, Drücke, Vibrationsampli-tuden) und Schädigungsmodelle (z. B. Wöhlermodell) zu identifizieren und schädigende Betriebsbedingungen zu definieren. Auf dieser Basis werden die Raffungsfaktoren ent-weder geschätzt oder mit Hilfe von Schädigungsrechnung bestimmt (siehe [4] für weitere Details). In einem weiteren Schritt werden Zuverlässigkeitsziele auf Komponenten-Schadensmode-Ebene festgelegt bzw. aus dem Reliability Allocation Modell übernommen. Dann werden alle bisher geplanten Validierungsschritte zusammengetragen, damit die Load Matrix auf-gebaut und die Raffungsfaktoren bestimmt. Mit Hilfe der Raffungsfaktoren werden soge-nannte Äquivalent-Kilometer berechnet. Das entspricht der schädigungsäquivalenten Lauf-strecke bei Betrieb des Fahrzeugs im Kunden-Referenzkollektiv.

Bild 3-57: Der Load Matrix Kernprozess.

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Im letzten Schritt findet eine Analyse statt, in der potenzielle Schwachstellen des Validie-rungsprogramms hinsichtlich nachweisbarer Zuverlässigkeit und Lebensdauer detektiert werden. Sind Schwachstellen vorhanden, versucht man diese durch geeignete Maßnah-men zu eliminieren. Eine detailliertere Beschreibung dieser Methodik ist in [4] zu finden. Bild 3-58 zeigt ein (vereinfachtes) Übersichtsblatt einer Load Matrix.

Bild 3-58: Load Matrix Übersichtsblatt für fünf kritische Komponenten-Schadensmode-Kombinationen. Die farbig hinterlegten Werte in der rechten Spalte geben die jeweiligen nachweisba-ren Zuverlässigkeiten unter Null-Fehler-Hypothese an.

3.4.2.7.2 Maßnahmen zur Verbesserung der Validierung

Typische Maßnahmen, abgeleitet aus einer Load Matrix Analyse, können sein:

� Festlegung einer (zusätzlichen) simulatorischen Absicherung (z. B. FE-Rechnung)

� Anpassung von Testlängen (Verlängerung oder Verkürzung)

� Modifikation einer Testprozedur, um die Raffung bezüglich bestimmter Schadensmodi zu erhöhen

� Definition von neuen Tests. Insbesondere sind dabei Komponententests zu erwähnen, die oft kostengünstig bestimmte Schadensarten stark raffen können

� Streichung bestimmter Tests, die einen geringen Beitrag liefern

� Extrapolation von Schädigungsverläufen (z. B. Verschleißraten), um prognostische Aus-sagen für höhere Laufzeiten zu gewinnen.

3.4.2.7.3 Nutzen der Load Matrix

Die Load Matrix ...

� ist eine bewährte Methodik, um möglichst vollständige und balancierte Validierungs-pläne zu bekommen.

� zeigt, inwieweit Dauerhaltbarkeit und Zuverlässigkeit auf Basis eines Validierungs-programms nachgewiesen werden können.

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3.4 Zuverlässigkeitsmethoden in der Motorentwicklung 209

� erlaubt die systematische Optimierung eines Validierungsprogramms, wobei sowohl simulatorische, als auch Lebensdauer- und Zuverlässigkeitstests berücksichtigt werden.

� ermöglicht Monitoring von Zuverlässigkeit und Dauerhaltbarkeit für kritische Kompo-nenten und Schadensmodi.

� unterstützt die systematische Einbindung von Zulieferer-Beiträgen zur Validierung und ermöglicht dadurch ein umfassendes Gesamtbild.

Bild 3-59 zeigt ein konkretes Beispiel einer Load Matrix Anwendung. Die beiden oberen Grafiken zeigen die Mächtigkeit des Validierungsprogramms vor, die beiden unteren Grafiken nach der Optimierung. Jeder Balken repräsentiert eine Komponente-Schadensmode-Kombination. Die horizontalen roten Linien repräsentieren die jeweiligen Zielwerte.

Bild 3-59: Grafische Darstellung einer Load Matrix Optimierung.

3.4.7.8 Reliability Charts

Reliability Charts werden während der Entwicklung zum Monitoring der aktuellen Zu-verlässigkeit und Dauerhaltbarkeit des gesamten Motors eingesetzt. Basis für die Aus-wertung sind akkumulierte Teststunden und relevante Beanstandungen von Prototypen, die in einem fixierten Zeitraum (z. B. ein Monat oder ein Quartal) gezählt werden, wobei näherungsweise mit „globalen“ Raffungsfaktoren für die Tests mit Raffung gearbeitet wird.

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210 3 Motor

Daneben werden lebensdauerrelevante Defekte der Motorkernkomponenten (Kurbelge-häuse, Zylinderkopf, etc.) separat bewertet. Daraus wird ein Schätzwert für die aktuelle B10-Lebensdauer des Motors gewonnen. Üblicherweise ist das erst zu einem fortge-schrittenen Zeitpunkt der Entwicklung durch Weibullschätzung möglich. Bis dahin arbei-tet man mit einer Näherungsformel. In Bild 3-60 ist ein Beispiel einer Reliability Chart Auswertung angeführt. Das Monito-ring der Zuverlässigkeit gemessen in Reparaturfrequenz oder Mean Time Between Failu-res (MTBF) entspricht im Wesentlichen dem klassischen Reliability Growth Testing (oberes Bild). Das untere Bild zeigt die Entwicklung der aus Prototypen geschätzten B10-Lebensdauer. Der Zielwert bei Produktionsstart ist in beiden Bildern durch einen Pfeil gekennzeichnet. Die fetten Linien repräsentieren beobachtete Werte, die gestrichelten Linien sind Prognosen. Reliability Charts ermöglichen

� einen Überblick über den aktuellen Stand der Zuverlässigkeit und Lebensdauer des Motors im Prototypstadium

� die Abschätzung der Verbesserungsrate über die Entwicklungszeit und

� damit verbunden eine Prognose, ob bei gleich bleibender „Entwicklungsgeschwindigkeit“ die Lebensdauer- und Zuverlässigkeitszielwerte bei Produktionsstart erreicht werden können.

Bild 3-60: Beispiel für Reliability Charts.

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3.4 Zuverlässigkeitsmethoden in der Motorentwicklung 211

Im Gegensatz zur Load Matrix, die die Zuverlässigkeit auf Komponenten-/Schadensmode-Ebene bewertet, liefern die Reliability Charts die Gesamtsystem-Sicht.

3.4.2.9 Garantiekostenprognose

Prognosemodelle für Garantie- und Kulanzkosten werden eingesetzt, um den Zusammen-hang zwischen Zuverlässigkeit, Motorlebensdauer und Garantie- bzw. Kulanzkosten transparent zu machen. Neben Zuverlässigkeitsschätzungen für die einzelnen Motor-Subsysteme sowie den Teile- und Arbeitskosten gehen auch Garantie- und Kulanzrege-lungen in das Berechnungsmodell ein, Die Erstellung eines solchen mathematischen Mo-dells unterliegt naturgemäß gewissen Einschränkungen hinsichtlich seiner Prognosege-nauigkeit. So werden beispielsweise produktionsbedingte Abweichungen nicht berück-sichtigt. Bild 3-61 zeigt ein Beispiel eines Garantiekostenprognosemodells. Die dreidimensionale Fläche repräsentiert die geschätzten Garantie- und Kulanzkosten der Produktion des ers-ten Serienjahres in Abhängigkeit von Zuverlässigkeits- und Dauerhaltbarkeitswerten. Die 3 Punkte auf der Fläche repräsentieren den Entwicklungsstand vor bzw. eine Prognose für den zum Zeitpunkt des Serienanlaufs (SOP – Start of Production). Der steile Anstieg der zu erwartenden Kosten bei niedrigen B10-Lebensdauerwerten spiegelt die Kosten einer 100 %-Rückholaktion wieder.

Bild 3-61: Beispiel für Garantiekostenprognosemodell.

109

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15,0

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30,0

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costs(

million

currency

units)

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B10

30,0-35,025,0-30,020,0-25,015,0-20,010,0-15,05,0-10,00,0-5,0

2 yrs to SOP:RF = 10

B10 = 2000 h

SOPRF = 2,5B10 = 6500 h

million currency

units

1 yr to SOP: RF = 7,5 B10 = 4500 h

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2 yrs to SOP:RF = 10B10 = 2000 h

SOPRF = 2,5B10 = 6500 h

million currency

units

1 yr to SOP: RF = 7,5B10 = 4500 h

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212 3 Motor

3.4.3 Zusammenfassung

Der hier vorgestellte Reliability Engineering Prozess verbindet als Querschnittsfunktion die im Entwicklungsprozess agierenden Teams. Der Prozess beinhaltet neben einer Reihe von klassischen Methoden mehrere innovative Elemente, die sich in einer Reihe von Projekten bereits sehr gut bewährt haben. In komplexen Motorentwicklungsprojekten werden sämtliche beschriebenen Methoden eingesetzt. Bei Projekten geringerer Komple-xität kommt lediglich eine Auswahl der Methoden zum Einsatz.

Literatur zu Abschnitt 3.4

[1] Abernethy, Robert B.: The new Weibull Handbook. 4th edition, 2000. Published by Robert B. Abernethy

[2] Meeker, W. Q.; Escobar, L. A.: Statistical Methods for Reliability Data. New York: Wiley & Sons, 1998

[3] Rettenbacher, C.; Denkmayr, K.; Herschmann, O.: FMEA als Wissensmanagement-Instrument. Entwicklung auf Hochtouren. Qualität & Zuverlässigkeit 50/1, Jan 2005

[4] Denkmayr, K.; Hick, H.; Sauerwein, U.: Die Load Matrix – Der Schlüssel zum „intelligen-ten“ Dauerlauf. In: MTZ 11/2003

[5] Haselgruber, N.: Sampling and Design of large-scale lifetime experiments. Dissertation, Graz 2007

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3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe 213

3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe

3.5.1 Einleitung

Steigende Motorleistungen bei gleich bleibenden oder sogar weiter eingeschränkten Bau-raum-Randbedingungen führen zwangsläufig zu deutlich gesteigerten spezifischen me-chanischen Belastungen nahezu aller Komponenten im Verbrennungsmotor. Im Bereich des Zylinderkopfes und der Ventile sind es im Wesentlichen die härteren thermomecha-nischen Randbedingungen, die neuartige Strukturkonstruktionen und Kühlungskonzepte notwendig machen. Im Bereich des Grundmotors stellen zum einen gesteigerte Zylinder-drücke, zum anderen aber auch die Tendenz zu höheren maximalen Motordrehzahlen die verantwortlichen Entwicklungsingenieure vor neue Aufgaben. Die Besonderheit bei der Entwicklung der Kolbengruppe besteht darin, dass sich hier so-wohl die thermomechanischen als auch die dynamischen Belastungen auf die Haltbarkeit der Bauteile auswirken. Hinzu kommt der Einfluss der tribologischen Systeme: Zylinder-rohr-Kolben, Zylinderrohr-Kolbenringe.

Bild 3-62: Einflüsse und Auswirkungen der Kolbengruppe.

Die Randbedingungen für die Physik der Kolbengruppe kommen somit im Wesentlichen aus: � den thermodynamischen Zustandsgrößen der motorischen Verbrennung und der Wär-

meübertragung auf die Komponenten

� der Thermomechanik und der Strukturdynamik des Zylinderkurbelgehäuses

� der Dynamik des Kurbeltriebs und

� den Eigenschaften des Schmiermittels.

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214 3 Motor

Die Simulation der Kolbengruppe stellt somit eine komplexe multidisziplinäre Aufgabe in der Entwicklung des Verbrennungsmotors dar. Der oben beschriebene starke Anstieg der Belastungen ist vor diesem Hintergrund noch eine weitere Herausforderung an die Auswahl geeigneter Berechnungsverfahren. Empirische und semi-empirische Verfahren, deren sichere Gültigkeit naturgemäß auf die Region bereits bekannter Randbedingungen beschränkt ist, sind im Falle signifikanter Veränderungen in den äußeren Randbedingun-gen nicht uneingeschränkt einsetzbar. Betrachtet man des Weiteren die Auswirkungen der Kolbengruppe auf die Eigenschaften des Gesamtaggregates wird die zentrale Rolle dieser Baugruppe, wie in Bild 3-62 sche-matisch dargestellt, noch deutlicher: Neben Bauteilhaltbarkeit und -verschleiß, werden Reibung, Blow By, Ölverbrauch und ggf. auch Geräuschentstehung wesentlich durch die Komponenten der Kolbengruppe und deren Zusammenspiel beeinflusst. Für die Entwicklung und Auswahl geeigneter Simulationswerkzeuge ist ein rein akade-mischer Ansatz nicht zielführend, da neben den Anforderungen an Genauigkeit und All-gemeingültigkeit auch die Anwendbarkeit im Entwicklungsprozess eine unabdingbare Nebenbedingung darstellt. Zur effektiven Unterstützung der Motorenentwicklung sind vielmehr Werkzeuge mit flexibler Modellierungstiefe notwendig, die neben der hochge-nauen detaillierten Analyse auch vereinfachte Abschätzungen erlauben, um besonders in der frühen Konzeptphase bereits Tendenzaussagen liefern zu können, sich dabei aber durch kurze Rechenzeiten und eine begrenzte Abhängigkeit von detaillierten Eingabeda-ten hervorheben. Der vorliegende Beitrag beschreibt die 3D-Simulation der Kolbengruppe zur Unterstüt-zung des Motorenentwicklungsprozesses als Interaktion mehrerer, ineinander verzahnter Werkzeuge zum Erreichen hochgenauer, aussagefähiger Ergebnisse in kürzester Zeit.

3.5.2 Simulation der Kolbengruppe in Bausteinen

Um den Motorenentwicklungsprozess optimal zu unterstützen, werden verschiedene Simulationsverfahren miteinander kombiniert. So wird sichergestellt, dass ein Optimum aus Ergebnisqualität einerseits und Minimierung von Berechnungsaufwand und somit auch Berechnungsdauer andererseits gewährleistet ist. Im Folgenden werden die wich-tigsten Bausteine zur 3D-Simulation der Kolbengruppe erläutert.

3.5.2.1 Thermische Strukturanalyse des Kolbens

Sowohl zur Bewertung der Dauerhaltbarkeit der Kolbenstruktur selbst als auch zur Gene-rierung der wesentlichen Eingabegrößen für weiterführende Berechnungen stellt die thermische Strukturanalyse des Kolbens mit der Finite-Elemente-Methode (FEM) einen Kernpunkt dar. Der gesamte Prozess ist schematisch in Bild 3-63 dargestellt.

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3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe 215

Bild 3-63: Thermische Strukturanalyse des Kolbens.

Zunächst ist es wichtig, die Temperaturverteilung im Kolben möglichst genau zu be-stimmen. Dies geschieht in einer thermischen FEM-Analyse. Wesentliche Randbedin-gungen sind die Wärmeübergänge zum Brennraum, zum Zylinderrohr (direkt und über die Kolbenringe) sowie durch Spritzöl im Falle der Verwendung von Kolbenspritzdüsen. Im Gegensatz zu den tribologischen Analysen der Kolbensekundärbewegung und der Kolbenringdynamik bedarf die Berechnung der Temperaturverteilung des Kolbens mitun-ter dem Abgleich mit entsprechenden Messergebnissen. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Wärmeeintrag vom Brennraum sowie die Wärmeabfuhr über das Spritzöl nur schwierig durch mathematische Modelle beschrieben werden können, diese Wärmeströ-me aber für die Temperaturverteilung wesentlich sind. Bei ähnlichen Verhältnissen (z. B. gleiches Brennverfahren, ähnlicher Hubraum, gleiches Kühlkonzept) ist aber eine Übertragbarkeit der Annahmen durchaus gegeben, so dass, in Kombination mit einer entsprechenden Datenbank vermessener Kolbentemperaturen, eine Vorausberechnung der thermomechanischen Verhältnisse am Kolben durchaus mög-lich ist und auch durchgeführt wird. Unter Berücksichtigung der mechanischen Randbedingungen sowie der entsprechenden Materialeigenschaften wird nun in einem weiteren Schritt die Strukturbelastung infolge Temperatur per FEM berechnet. Wesentliche Ergebnisse hierbei sind die Eigenspannun-gen in der Struktur, aus denen sich, kombiniert mit den später zu berechnenden dynami-schen Lastkollektiven, eine Dauerhaltbarkeitsanalyse ableiten lässt. Darüber hinaus ergibt

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216 3 Motor

sich als weiterer Ergebnisdatensatz die thermische Deformation der Kolbenstruktur. Die-se ist besonders wichtig für die Berücksichtigung der Kolbenhemd-Warmkontur bei der Simulation der Kolbensekundärbewegung wie sie im nachfolgenden Abschnitt detaillier-ter beschrieben wird. Bild 3-64 zeigt als Ergebnis der thermischen Analyse die Temperaturverteilung im Kol-ben sowie, als Ergebnis der mechanischen Analyse, die thermische Deformation der Kol-benstruktur. Wie bereits erläutert, ist eine Validierung besonders der Temperaturergeb-nisse für das Gesamtberechnungsverfahren von herausragender Bedeutung. Diese wurden im vorliegenden Fall unter Volllast gemessen und für eine entsprechende Validierung der entsprechenden FEM-Berechnung genutzt. Der resultierende relative Fehler liegt an allen Messpositionen unterhalb von 5 %, was in Anbetracht der statistischen Streubreite und der Messgenauigkeit als hinreichende Übereinstimmung bewertet wird.

Bild 3-64: Ergebnisvergleich der Thermischen Strukturanalyse des Kolbens mit Messungen.

3.5.2.2 Simulation der Kolbensekundärbewegung

Zum besseren Verständnis der genauen Bewegungsverhältnisse an der Kolbengruppe müssen die Wechselwirkungen zwischen Kolben und Zylinderrohr detailliert untersucht werden. Neben der Kolbenprimärbewegung, die sich ja bereits aus der Kinematik des Kurbeltriebs ergibt, bezeichnet die Kolbensekundärbewegung die Kolbenverlagerung in Motor-Querrichtung sowie die Kolbenkippbewegung um die Kolbenbolzenachse.

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3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe 217

Da sich diese Bewegungen in einer Ebene vollziehen, wurde diese Art der Analyse in ihren Ursprüngen häufig als rein zweidimensionales Problem analysiert. Die Tatsache jedoch, dass die für die Sekundärbewegung wesentlichen Wechselwirkungen zwischen Kolbenhemd und Zylinderrohr auf dem Aufbau eines hydrodynamischen Schmierfilms basieren, welcher nach der Reynoldsgleichung von den Gradienten der Schmierspalthöhe sowohl in axialer Richtung als auch in Umfangsrichtung beeinflusst wird, macht eine dreidimensionale Betrachtung für eine genaue Analyse unumgänglich [1, 2]. Allerdings kompensieren sich in der Regel die Belastungen in Motorlängsrichtung, so dass letztend-lich meist die Querverschiebung und Verkippung als Ergebnis bleiben. Bild 3-65 zeigt einen typischen Ablaufplan eines frühen Berechnungsprogramms zur Berechnung der Kolbensekundärbewegung auf Basis von Fortran 90. Die Inputdaten werden, wie bei Programmen dieser Generation üblich, in einem Inputdeck zusammenge-fasst und bei Programmstart in den Speicher eingelesen. In der Hauptschleife bildet die numerische Lösung der Reynoldsgleichung das Kernstück des Programms. Der resultie-rende Schmierfilmdruck lässt sich über die Kolbenhemdoberfläche zu Kräften und Kraft-angriffskoordinaten integrieren, welche als äußere Kräfte in die Newtonsche Bewegungs-gleichung für den Kolben eingehen und über Beschleunigungen durch zweifache Integra-tion über die Zeit die dynamischen Koordinaten des Kolbens bestimmen. Diese ergeben wiederum gemeinsam mit Kolbenwarmkontur und Zylinderrohrdeformation die für die Reynoldsgleichung wesentliche dynamische Spaltgeometrie.

Bild 3-65: Ablaufplan zur Simulation der Kolbensekundärbewegung mit einem „single purpose“ Programm (F90).

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218 3 Motor

Die Tatsache, dass die Kolbenprimärbewegung über die einfache Kinematik des Kurbel-triebs bei konstanter Motordrehzahl regelrecht „hard-gecoded“ ist, führt bei der Anwen-dung in einigen besonderen Fällen dazu, dass gewisse Effekte nicht oder nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand abgebildet werden können. Typische Beispiele sind:

� Berücksichtigung der Kurbelwellen-Drehungleichförmigkeit

� Berücksichtigung einer Kabelschwinge bei der Vermessung der Kolbensekundärbewe-gung

� Berücksichtigung einer veränderten Kurbeltriebskinematik durch ein Anlenkpleuel zur Darstellung eines variablen Verdichtungsverhältnisses.

Aufgrund dieser Einschränkungen wurde bei FEV Motorentechnik frühzeitig die Weiter-entwicklung dieses Standalone-Werkzeuges eingestellt und durch die Einbindung in das Mehrkörpersimulationsprogramm ADAMS ersetzt. Darüber hinaus wurde die Methode in die kommerzielle Softwareproduktfamilie ADAMS/Engine eingebunden, wie in Bild 3-66 dargestellt.

Bild 3-66: Integration der Kolbensekundärbewegungsberechnung in eine kommerzielle MKS Appli-kation.

Für den Anwender dieser Software bedeutet dies, dass für eine Analyse der Kolbense-kundärbewegung kein eigenes Input-Deck generiert wird, sondern auf das Datenmodell des Gesamtmotors zurückgegriffen wird. Ferner sind vollständig gekoppelte Analysen mit anderen Subsystem-Berechnungen, wie Gesamtkurbeltrieb, möglich, da die detaillier-te Kolben-Zylinderrohr-Interaktion vielmehr eine lokale Modellverfeinerung eines Kur-beltriebes darstellt als ein autarkes Modell. So fällt die Berücksichtigung beispielsweise

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3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe 219

der Kurbelwellen-Drehungleichförmigkeit auf Wunsch einfach ab und muss nicht auf-geprägt werden. Modellerweiterungen, wie Kabelschwingen etc. können einfach im ADAMS/Engine Template benutzerfreundlich modelliert werden anstatt „einprogram-miert“ werden zu müssen.

Bild 3-67: Kolbensekundärbewegungsberechnung integriert in MKS.

Software-architektonisch gestaltet sich dieser Integrationsschritt wie in Bild 3-67 darges-tellt. Vom eigentlichen Berechnungscode bleibt nur die Hydrodynamikanalyse übrig. Die Lösung der Newtonschen Bewegungsgleichungen übernimmt der MKS-Solver und das Handling der Input-Daten wird in die relationäre Datenstruktur von ADAMS/Engine integriert. Die Postprocessing Features von ADAMS/Engine können ebenfalls ohne Prob-leme mitbenutzt werden. Bei dieser Gelegenheit wurde der Code direkt um die Berücksichtigung der Mischreibung erweitert. Die Oberflächenrauhigkeit wird an dieser Stelle genutzt, um den Übergang von Coloumbscher Reibung über Mischreibung bis hin zum reinen hydrodynamischen Tragen zu erfassen. Durch die Möglichkeit, den Einfluss einer Kabelschwinge und deren Rückwirkung auf die Kolbensekundärdynamik zu berücksichtigen, ist es nunmehr möglich, einen realisti-schen Vergleich zwischen gemessenen und berechneten Kolbensekundärbewegungen durchzuführen.

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220 3 Motor

Bei dem betrachteten Versuchsträger waren die Möglichkeiten einer Signalübertragung mittels Telemetrie derart eingeschränkt, dass sich aus wirtschaftlichen Gründen die Ver-wendung einer Kabelschwinge als unumgänglich erwies. Allerdings konnte mit dieser Lösung nicht das vollständige Drehzahlband des Motors erfasst werden, da die mechani-sche Haltbarkeit der Schwinge nur bei verhältnismäßig niedrigen Motordrehzahlen ge-währleistet ist. Es wurden also niedrige Drehzahlen genutzt, um das Simulationsmodell zu verifizieren. Im Simulationsmodell wurde anschließend die Schwinge deaktiviert und der komplette Arbeitsbereich des Motors durchfahren. Bild 3-68 zeigt den entsprechenden Messungs-Berechnungsvergleich für die Kolbense-kundärbewegung.

Bild 3-68: Ergebnisvergleich der Kolbensekundärbewegungsberechnung mit Messungen.

3.5.2.3 Simulation der Kolbenringdynamik

Die Kolbenring-Dynamiksimulation stellt im Zusammenspiel der Simulationswerkzeuge der Kolbengruppe das mit Abstand genaueste und am höchsten aufgelöste Verfahren dar. Bild 3-69 zeigt die Rolle der Kolbenringdynamik im Gesamtanalyseprozess der Kolben-gruppe. Im Wesentlichen werden für die Simulation der Kolbenringdynamik die Kolben-sekundärbewegung aus der MKS-Analyse sowie die Zylinderrohrdeformation und Tem-peraturen aus einer entsprechenden Strukturanalyse des Zylinderkurbelgehäuses als Ein-gabedaten benötigt.

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3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe 221

Bild 3-69: Überblick Kolbenring-Dynamiksimulation.

Ähnlich wie bei der Berechnung der Kolbensekundärbewegung wird auch hier auf die Programmierung eines eigenen numerischen Lösers verzichtet und auf kommerzielle Multi-Purpose-Berechnungsverfahren, in diesem Falle explizite FEM, aufgesetzt, die um entsprechende Benutzer-Subroutinen erweitert werden [3]. Diese sind im Wesentlichen:

� die Hydrodynamik zwischen Kolbenringen und Zylinderrohr sowie

� und der Gasfluss vom Brennraum durch die Ring-Zwischenräume ins Kurbelgehäuse und die damit verbundenen dynamischen Drücke in den verschiedenen Räumen.

Im Falle der Hydrodynamik steht wieder die Reynolds’sche Differentialgleichung im Vordergrund. Für deren Lösung muss die Schmierspaltgeometrie aus der Zylinderrohrde-formation und dem Profil des entsprechenden Kolbenringes bestimmt werden. Dies ge-schieht in jedem Simulationsschritt erneut, so dass auch die lokalen elastischen Deforma-tionen mit in die Spaltfunktion übernommen werden und somit bei der Berechnung der Druckprofile berücksichtigt sind. Allerdings ist das Hydrodynamik-Netz deutlich feiner gewählt als das FEM-Netz. Ferner werden auch hier Mischreibungseffekte berücksich-tigt, wobei auch Einflüsse der Hohn-Struktur des Zylinderrohrs betrachtet werden. Das Zusammenspiel der Hydrodynamik-Subroutine mit dem explizitem FEM Solver ist in Bild 3-70 dargestellt.

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222 3 Motor

Bild 3-70: Integration der Hydrodynamik in die Kolbenringdynamikanalyse [3].

Eine Besonderheit bei der Ringdynamik besteht noch in der Tatsache, dass Mischreibung nicht nur anzusetzen ist, wenn der Schmierfilm alleine keine hinreichende Tragfähigkeit aufbringt, sondern auch, wenn durch Abschaben des Ölfilms durch die Ringe selbst eine Unterversorgung mit Öl dazu führt, dass die Schmierfilmdicke geringer ausfällt, als sie aus Sicht der Reynoldsgleichung sein könnte. Bild 3-71 zeigt schematisch das Zusammenspiel der Gasfluss-Subroutine mit dem FEM-Löser. Zwischen dem Brennraumdruck und dem Kurbelgehäusedruck entwickeln sich in den Räumen zwischen den Ringen dynamische Drücke, die sich durch die allgemeine Gasgleichung und die Durchfluss-Gleichung erfassen lassen. Diese sind nunmehr ge-schlossen zu lösen in einem Gleichgewicht der inneren und äußeren Lasten an jedem Kolbenring unter Berücksichtigung der Strukturelastizitäten. Primärergebnis einer Kolbenringanalyse sind die dynamischen Bewegungen und Verfor-mungen der Ringe selbst. Die Tatsache, dass diese Ergebnisse im FEM-Programm vor-liegen, führt dazu, dass Bauteilspannungen ebenfalls einfach ausgewertet werden können. Die wesentlichen Bewertungskriterien für ein Ringpaket, die durch diese Simulation erfasst werden können, sind Reibung, Verschleiß, Blow-By und Ölverbrauch. Erfahrun-gen mit diesem Simulationswerkzeug haben gezeigt, dass selbst hochkomplexe dynami-sche Effekte wie plötzliche Ring-Instabilität (Ringflattern) erfasst werden können. Insbesondere im Falle von „Trouble-Shooting“-Aufgabenstellungen stellt die Simulation der Kolbenringdynamik mittels expliziter FEM ein besonders geeignetes Werkzeug zur effizienten Problemlösung dar.

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3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe 223

Bild 3-71: Integration des Gasflussmodells in die Kolbenringdynamikanalyse [3].

3.5.3 Anwendungsbeispiel: Reibungsanalyse

Ein Beispiel, wie die verschiedenen oben beschriebenen Simulationsverfahren Hand in Hand zu einer effizienten, vollständigen Lösung kommen können, findet sich in der Ana-lyse der Reibung der Kolbengruppe. Reibungsmessungen von Kolben und Ringen am gefeuerten Motor sind durch Freischnitt der Zylinderrohre und einer Kraftmessung zwischen Zylinderrohr und Kurbelgehäuse möglich. Allerdings ist dieses Verfahren durch Eigendynamik am Prüfstandsaufbau bzgl. der maximalen Drehzahl begrenzt. Die Aufgabenstellung an dieser Stelle lautet, den Einfluss einer Kurbelwellenschränkung auf die Reibung der Kolbengruppe zu analysieren und eine optimale Schränkung für den späteren Fahrzeugbetrieb zu definieren. Zur Lösung werden folgende Schritte durchge-führt:

� Simulation der Kolbensekundärbewegung und Kolbenringdynamik mit den o. g. Werk-zeugen

� Aufbau eines einfachen MKS-Parametermodells auf Basis von Stribeck-Kurven

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224 3 Motor

� Abgleich des Parameter-Modelles an den Detailmodellen für verschiedene Drehzahlen und Lasten

� Verifikation der Simulationsergebnisse durch Vergleich mit Messungen bei niedrigen Drehzahlen

� Berechnung eines kompletten Kennfeldes: Reibmitteldruck aus der Kolbengruppe als Funktion von Last und Drehzahl

� Bewertung der Schränkungsvarianten in einem Fahrzyklus.

Bild 3-72 zeigt den Vergleich der Ergebnisse des einfachen Berechnungsmodells mit entsprechenden Messungen. Die Reibkräfte jeweils eines kompletten Arbeitsspiels wur-den hierzu auf Reibmitteldrücke reduziert. Ein Abgleich der Simulationsergebnisse mit den dargestellten Messungen hat nicht stattgefunden, d. h. die gezeigten Ergebnisse ha-ben Vorausberechnungscharakter. Es ist deutlich zu erkennen, dass sowohl Last- als auch Drehzahlabhängigkeit der verschiedenen Schränkungsvarianten die gleichen Tendenzen aufweisen und auch quantitativ recht gut übereinstimmen.

Bild 3-72: Einfluss der Kurbelwellenschränkung auf den Reibmitteldruck für verschiedene Lasten und Drehzahlen, Vergleich mit Messungen.

Da das vereinfachte Simulationsmodell Rechenzeiten von nur wenigen Minuten pro Ar-beitspunkt aufweist, ist es nun in einem weiteren Schritt möglich, ein engmaschiges Kennfeld verschiedener Lasten und Motordrehzahlen für jede Variante zu erzeugen, in dem Reibmitteldrücke als Funktion von Last und Drehzahl abgelegt sind.

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3.5 3D-Simulation der Kolbengruppe 225

Die den Motorenentwickler letztendlich interessierende Frage ist, welche Variante sich im späteren Leben des Motors im Fahrzeug als günstigste erweisen wird. Aus diesem Grunde wird als letzter Schritt das Kennfeld mit Ergebnissen einer Fahrsimulation durch-fahren. Dieser Datensatz enthält Motordrehzahlen und indizierte Mitteldrücke als Funkti-on der Zeit. Ein Kennfeldzugriff mit diesen Größen und eine abschließende Integration der resultie-renden Reibmitteldrücke über die Zeit liefert schließlich die kumulative Verlustenergie der Kolbengruppe [4]. Die Vorgehensweise für eine solche Auswertung ist in Bild 3-73 schematisch dargestellt. Ein Vergleich der resultierenden Verlustenergien liefert sowohl die günstigste Variante als auch eine Abschätzung über deren potentielle Kraftstoffein-sparung bei optimaler Schränkung.

Bild 3-73: Bewertung der Simulationsergebnisse im Fahrzyklus [4].

3.5.4 Zusammenfassung

Die Simulation der Kolbengruppe stellt innerhalb der Berechnungsverfahren zur Ent-wicklungsunterstützung von Verbrennungsmotoren eine Sonderrolle dar. Dies gilt sowohl in Bezug auf die hohe Anzahl von Wechselwirkungen mit benachbarten Systemen als auch in Bezug auf die Komplexität des Zusammenspiels aus Thermomechanik, Struktur-dynamik, Dynamik und Tribologie.

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Um dieses Sachgebiet umfassend und gleichzeitig effizient zu erfassen, bedarf es mehr als eines einfachen Werkzeuges. Verschiedene Simulationsmethoden, basierend auf FEM, MKS und diverse Spezialverfahren, sind erforderlich, um der Komplexität der Physik der Kolbengruppe gebührend Rechnung zu tragen. Mit Einflüssen auf den Ölverbrauch, das Blow By, die Reibleistung, den Verschleiß und das Geräuschverhalten sind gezielte Design-Modifikationen an der Kolbengruppe ein wertvolles Werkzeug zur Verbesserung der Produktqualität des gesamten Antriebsaggre-gates.

Literatur zu Abschnitt 3.5

[1] Duesmann, M.; Maassen, F.; Rebbert, M.; Haubner, F.; Dohmen, J.; Orlowsky, K.; Ortjo-hann, T.: Requirements to the Crank Train System. VDI Werkstofftechnik, 2003, München

[2] Jang, S.; Cho, J.: Effects of Skirt Profiles on the Piston Secondary Movements by the lubri-cation Behaviors. In: International Journal of Automotive Technology, Vol. 5, 2004

[3] Ortjohann, T.: Simulation der Kolbenringdynamik auf Basis expliziter FEM-Software. Dis-sertation, RWTH Aachen, 2006

[4] Ragot, P.; Rebbert, M.: Investigations of crank offset and it’s influence on piston & piston ring friction behavior based on simulation and testing. SAE 2007-01-1248

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 227

3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation zur Bedatung von Motorsteuergeräten

3.6.1 Einleitung

Steigende Anforderungen hinsichtlich Verbrauchswirtschaftlichkeit, Emissionen und Fahrkomfort machen den Einsatz neuer Technologien in der Serie erforderlich. Moderne Motorkonzepte wie Aufladung kombiniert mit Direkteinspritzung oder vollvariabler Ven-tilsteuerung sowie die Erfüllung strenger gesetzlicher Vorschriften stellen neue Heraus-forderungen an den Applikationsprozess. Einerseits bestehen hohe Qualitätsansprüche bei der Bedatung des Systems – andererseits sind die Applikationsprozesse in immer kürze-rer Zeit bei gleichzeitig steigender Komplexität der Prozesse zu realisieren. Die Lösung dieses Zielkonflikts erfordert den Einsatz effektiver Methoden bei der Bedatung der Mo-torsteuersysteme. In der IAV werden aus diesem Grund zunehmend Simulationsrechnungen im Applikati-onsprozess sowohl von Saug- als auch von aufgeladenen Motoren eingesetzt. Dabei wird ein nicht unbedeutender Anteil von Messungen durch Berechnungen ersetzt. Der Komp-lex der effektiven Bedatung von Motorsteuersystemen auf der Basis der Kombination von thermodynamischer Simulation und Messung wird mit einer gesamten Toolkette abgedeckt.

3.6.2 Motivation

Aufgrund der komplexen Funktionsstruktur vor allem von aufgeladenen Motoren sind die bei der Applikation einzustellenden Parameter, Kennlinien, Kennfelder und auch Neuro-nale Netze mittlerweile auf über 20.000 angestiegen. Somit ergeben sich große Parame-terräume, die mit herkömmlichen Methoden (rasterförmige Messung der Zusammenhän-ge zwischen Einfluss- und Zielgrößen) nicht mehr zu beherrschen sind. Zur Erfüllung der z. T. gegenläufigen Anforderungen müssen deshalb in der Applikation neue Wege be-schritten werden. Design of Experiments (DoE) gilt als ein anerkanntes Werkzeug, um derart umfassende Variationen mit erträglichem Aufwand zu bewältigen. Alternativ kann die Vorausberechnung auf der Basis physikalischer Modelle Freiheits-grade reduzieren, indem sie unbekannte Größen berechnet und damit durch bekannte ersetzt. Dies ermöglicht, erforderliche Zusammenhänge für die stationäre Grundbedatung mit Hilfe von Motormodellen in Kombination mit nur wenigen Messungen zur Modellka-librierung bezüglich Füllung, Drehmoment, Abgastemperaturen bis hin zur Klopfgrenze vorauszuberechnen. 3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation

Page 244: Virtuelle Produktentstehung fur Fahrzeug und Antrieb im Kfz. Prozesse, Komponenten, Beispiele aus der Praxis, 1. Auflage  GERMAN

228 3 Motor

Besonders große Vorteile ergeben sich beim Einsatz der Prozesssimulation, wenn hard-wareseitige Änderungen (z. B. an Aufladeeinheit bzw. Saug- oder Abgasanlage) die Neu-bedatung zugehöriger Funktionen erforderlich machen. In diesem Fall wird eine „echte“ Vorausberechnung der Bedatungsgrößen durchgeführt, ohne dass nochmals ein vollstän-diges Messprogramm zur Modellkalibrierung notwendig wird.

3.6.3 Grundlagen zur Einbeziehung der Vorausberechnung in den Applikationsprozess

Basis für die Realisierung der stationären Grundbedatung ist die Kenntnis der Zusam-menhänge zwischen Einfluss- und Zielgrößen. Der Bedatungsprozess läuft darauf hinaus, Parameter, Kennlinien, Kennfelder und Neuronale Netze im Motorsteuersystem so zu besetzen, dass die implementierte Funktionsstruktur die bestehenden Abhängigkeiten mit einem minimalen Fehler abbilden kann. Die wichtigsten Umfänge der Grundbedatung sind im Bild 3-74 dargestellt.

Bild 3-74: Umfänge der Grund-bedatung.

Beim Grundbedatungsprozess sind folgende wesentliche Einflussgrößen zu berücksichti-gen: Drehzahl, Saugrohrdruck (Last), Luftverhältnis, Zündwinkel, Stellung der Nocken-welle(n), Ventilhub, Position Ladungsbewegungsklappe, Position Saugrohrumschaltung sowie bei aufgeladenen Motoren die Temperatur nach Ladeluftkühler und die Wastegate-stellung. Nachfolgend aufgeführte Zielgrößen sind in Abhängigkeit von o. a. bzw. auch von weite-ren, im Steuergerät berechneten Einflussgrößen darzustellen: Luft- und Restgasmasse im Zylinder, indiziertes und effektives Drehmoment, Ladungstemperatur vor/nach Verdich-ter (aufgeladener Motor), vor dem Einlassventil, Abgastemperaturen und -drücke nach Auslassventil und vor Turbine bzw. vor Katalysator, Massenstrom über Wastegate und Turbine.

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 229

Zur Grundbedatung gehören außerdem die Festlegung der Grundzündwinkel für wir-kungsgradoptimale Verbrennungslage bzw. für den Motorbetrieb an der Klopfgrenze sowie des Luftverhältnisses vor allem im Bereich kritischer Abgastemperaturen (Bauteil-schutz). Die Ermittlung der erforderlichen Daten kann durch Rastermessung erfolgen, was aber einen erheblichen Aufwand bedeutet, der sich mit der Anzahl der Variabilitäten poten-ziert. Mit physikalischen Simulationsverfahren unterschiedlicher Modelltiefe lassen sich Abhängigkeiten vorausberechnen. CFD-Verfahren für die Füllungs- oder Momentenberechnung sind im Zusammenhang mit dem Applikationsprozess zur Zeit noch als ungeeignet zu bewerten, da der Aufwand zur Modellerstellung sehr groß ist und die Rechenzeiten sehr lang sind. Die 0D- bzw. 1D-Ladungswechselsimulation bzw. die 0D-Arbeitsprozessrechnung können dagegen die Anforderungen:

� Abbildung der Abhängigkeiten mit der geforderten Genauigkeit (Abweichung kleiner als 3 % hinsichtlich der Füllung bzw. kleiner als 5 % bzw. 5 Nm im Schwachlastbe-reich bzgl. des Drehmoments)

� überschaubarer Aufwand zur Modellerstellung und -kalibrierung

� erhebliche Reduzierung des Messaufwandes

� vertretbare Rechenzeiten

bei der Berechnung von Größen wie Füllung, Drehmoment oder Temperaturen für die Applikation der Basisfunktionen erfüllen. Die berechneten Abgastemperaturen sind für eine Erstbedatung im Hinblick auf eine spätere Korrektur im realen Fahrzeugbetrieb ebenfalls genau genug. Die zur Berechnung von Kenngrößen erforderlichen physikalischen Zusammenhänge (z. B. instationäre Rohrströmungsvorgänge, Ein- und Ausströmvorgänge) und benötigte Teilmodelle (z. B. Verbrennungsablauf, Wärmeübergang, z. T. auch Reibung) sind in kommerzielle Ladungswechsel-Simulationsprogramme implementiert, so dass es nahe liegt, vorhandene Programme in die Serienapplikation einzubeziehen. Eigenentwickelte, auf die jeweilige Applikationsaufgabe zugeschnittene Software ergänzt diese zu einer gesamten Toolkette. Auf Prüfstandsuntersuchungen kann nicht völlig verzichtet werden, da eine sorgfältige Modellkalibrierung unter Einbeziehung einiger (weniger) Messungen wesentliche Vor-aussetzung für brauchbare Berechnungsergebnisse ist. Bei der Berechnung von Bedatungsgrößen aufgeladener Motoren sind gegenüber dem Saugmotor spezifische Besonderheiten zu beachten: Die Füllungsberechnung von abgas-turboaufgeladenen Motoren bis in den Schwachlastbetrieb erfordert Turboladerkennfel-der auch für extrem niedrige Drehzahlen und inverse Verdichterdruckverhältnisse. Die Diabatheit des Turboladers ist zu berücksichtigen. Entweder werden Kennfelder am Tur-boladerprüfstand im erweiterten Betriebsbereich vermessen oder es sind die Kennfelder

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230 3 Motor

mit entsprechenden Programmen zu extrapolieren. Alternativ können bei der Füllungsbe-rechnung im Saugbetrieb die Strömungsmaschinen durch geeignete Ersatzmodelle substi-tuiert werden. Für eine genaue Berechnung des Druckes vor der Turbine sind sowohl der effektive Wastegatequerschnitt als auch der von der Drehzahl des Laufzeugs abhängige äquivalente Turbinenquerschnitt exakt zu parametrieren. In der Regel werden weiterhin die Ladeluftkühlerkennfelder für die Kühlleistung und den Druckverlust benötigt. Die für den Modellabgleich erforderlichen Messungen beinhalten gegenüber dem Saug-motor zusätzliche Messgrößen wie z. B. Turboladerdrehzahl oder Druck- und Tempera-turmessstellen in jeder Flut bei Twinscroll-Turbinen. Bei der Festlegung der Klopfgrenzen für die Anwendung eines Klopfmodells anhand der Zylinderdruckverläufe ist sorgfältig zwischen wirklichem Klopfen und durch den großen Druckanstieg bei aufgeladenen Motoren bedingte Schwingungsanregung zu unterschei-den.

3.6.4 Werkzeuge zur effektiven Grundbedatung mit Vorausberechnung

Der Ersatz von Messungen durch die Vorausberechnung erfordert geeignete Werkzeuge. In der IAV ist für den Einsatz der Prozesssimulation im Applikationsprozess die gesamte Toolkette für unterschiedliche Anforderungen vorhanden (Bild 3-75). Die Werkzeuge sind gleichermaßen für die Bedatung von Saug- und aufgeladenen Motoren einsetzbar. Die Tools lassen sich im Wesentlichen in zwei große Gruppen einteilen: die Prozessana-lyse und die Prozesssimulation. Die Prozessanalyse liefert auf der Basis von Messungen die für die Modellkalibrierung erforderlichen Daten. Mit der Prozesssimulation erfolgt anschließend die Berechnung von Kenngrößen, die im konventionellen Applikationspro-zess messtechnisch ermittelt werden. Darüber hinaus erfordert die effektive Nutzung der Simulationsprogramme im Applikationsprozess eine Reihe von zusätzlichen Automati-sierungstools. Die Berechnung des Ladungswechsels kann je nach Randbedingungen sowohl mit der 0D- (Füll- und Entleermethode) als auch mit der 1D-Ladungswechselsimulation erfolgen. Für die 0D-Ladungswechselberechnung existiert eine Eigenentwicklung und als Prog-ramm für die 1D-Ladungswechselsimulation wird für diesen speziellen Anwendungsfall PROMO angewendet, welches um wichtige Zusatzmodule wie Rohrwand-Temperatur-modell, Ladedruck- und Klopfregelung erweitert wurde.

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 231

Bild 3-75: Übersicht zu den Werkzeugen.

Der Einsatz von 1D-Ladungswechsel-Simulationsprogrammen zur Vorausberechnung von Daten für die Applikation ist aber nur dann effektiv, wenn sowohl der zumeist sehr aufwändige Modellabgleich automatisiert wird als auch eine schnelle und effiziente Auswertung der Berechnungen erfolgt. Werden Saug- bzw. Turbomotoren mit Direkteinspritzung kalibriert, ergeben sich zusätz-liche Freiheitsgrade bzgl. der optimalen Parametrierung des Einspritztimings z. B. hin-sichtlich des Klopfverhaltens. Der zugehörige Füllungseinfluss (vgl. [1]) wird durch die Kopplung zwischen 1D- und 0D-Ladungswechselsimulation ermittelt, da das eigene 0D-Simulationsprogramm ein geeignetes Kraftstoffverdampfungsmodell enthält. Die Berechnung der indizierten Momente des Hochdruckteils erfolgt auf der Basis der 0D-Arbeitsprozessrechnung (APR) mit einer ebenfalls selbst entwickelten Software. Vorteil der APR ist die hohe Rechengeschwindigkeit. Dies spielt im Zusammenhang mit dem Applikationsprozess eine große Rolle, da in Anbetracht der großen Anzahl von Pa-rametern, die auf das indizierte Moment wirken, eine Vielzahl von Kombinationen zu berechnen sind. Es kann wahlweise das Ein-, Zwei- oder für Sonderanwendungen auch ein Dreizonenmo-dell angewendet werden. Das APR-Programm beinhaltet weiterhin ein Klopf-, Anfet-tungs-(Bauteilschutz) und Extremwertregelungsmodul (Brennlagenregelung zur Erzie-lung des maximalen Mitteldrucks) sowie die Berechnung des OHC-Modells (CO, CO2, H2, H, O, OH) und der NO-Bildung nach dem erweiterten Zeldovich-Mechanismus. Der Arbeitsverlust infolge frühen Öffnens des Auslassventils wird bei Bedarf mit einer im

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232 3 Motor

Programm integrierten, partiellen Ladungswechselsimulation berechnet. Ein weiterer Bestandteil des APR-Programms ist die Berechnung der Abkühlung des Abgases bis zur Turbine bzw. zum Katalysator. Bei der 0D-Arbeitsprozessrechnung wird die Verbrennung mit einem Ersatzbrennverlauf beschrieben. Form und Lage des Ersatzbrennverlaufs hängen von einer Vielzahl von Einflussfaktoren wie Drehzahl, Füllung, Zündwinkel, Luftverhältnis, Ladungsbewegung und Restgasanteil (Nockenwellenposition) ab. Zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Brennverlauf und den verbrennungsrelevanten Einflussgrößen wird ein so ge-nanntes Verbrennungsmodell verwendet. Die Kalibrierung des Verbrennungsmodells erfolgt softwareunterstützt auf der Basis von Messungen. Die Berechnung des effektiven Drehmomentes im Motorsteuergerät erfordert die Beda-tung von Kennfeldern und Kennlinien für die Verluste (Ladungswechselarbeit und me-chanische Verluste). Zur Berechnung der mechanischen Verluste für die Bedatung kann je nach vorliegenden Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Modellansätzen ge-wählt werden, die Kalibrierung erfolgt in der Regel parallel zum Verbrennungsmodell. Mit dem Prozessanalysetool werden aus den Indizierdaten die für die Beschreibung des Verbrennungsablaufes relevanten Parameter berechnet und dem Programmteil zur Erstel-lung des Verbrennungsmodells zur Verfügung gestellt. Neben der Ermittlung der Ver-brennungskenngrößen wird automatisch eine detaillierte Verlustteilung durchgeführt, deren Ergebnisse bei Bedarf für eine umfassendere Bewertung der Baustufe anhand der auftretenden Einzelverluste herangezogen werden können. An die (Hochdruck)-Prozessanalyse ist eine Ladungswechselanalyse gekoppelt, die auf der Basis der gemessenen Niederdruckverläufe vor Einlass-/ nach Auslassventil die in den Zylinder ein- und austretenden Massen berechnet. Die so ermittelten Massenstrom-verläufe gestatten einerseits eine Bewertung des Ablaufs des Ladungswechsels – anderer-seits werden Größen berechnet, die einer einfachen Messung nicht zugänglich sind, wie Restgas- und Frischluftmasse nach Einlass schließt. Die Restgasmasse geht in die gesam-te Arbeitsstoffmasse ein und wird für die exakte thermodynamische Analyse des Hoch-druckprozesses (Brennverlaufsberechnung) benötigt. Mit einem Tool zur Frequenzanalyse werden Brennraumfrequenzen ermittelt, um auf dieser Basis die Filtercharakteristik für die Klopfregelfunktion festzulegen.

3.6.5 Anwendung für Füllungserfassung, Momentenstruktur und Zündwinkelvorgabe

Füllungserfassung:

Wesentlicher Bestandteil der Grundbedatung ist die Füllungserfassung. Die genaue Er-fassung der im Zylinder des Ottomotors befindlichen Frischluftmasse ist eine grundle-

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 233

gende Aufgabe des Motorsteuersystems. Hierzu gibt es unterschiedliche Mess- bzw. Be-rechnungsverfahren. Am häufigsten erfolgt die Berechnung der Füllung im Steuergerät auf der Basis des Saugrohrdrucks. Abgasgegendruck und -temperatur beeinflussen eben-falls die Füllung und werden deshalb in Form von Modellen berücksichtigt. Für die Beda-tung der Füllungserfassung ist der Zusammenhang zwischen der Zylinderladung und den relevanten Größen, wie Drehzahl, Saugrohrdruck, Wastegatestellung, Nockenwellenposi-tion, Saugrohrumschaltung, Ladungsbewegungsklappe u. a. m. zu ermitteln. Im Zusammenhang mit der Füllungserfassung sind die optimalen Nockenwellenpositio-nen für die unterschiedlichen Betriebsbereiche des Motors festzulegen, wobei je nach Betriebsbereich unterschiedliche Zielgrößen zu berücksichtigen sind. Im Bild 3-76 sind beide Möglichkeiten zur Vorausberechnung der Füllung im Zusam-menhang mit der Applikation gegenüber gestellt.

Bild 3-76: Modellansätze zur Füllungsberechnung.

Für die 0D-Ladungswechselberechnung, welche die Wellenvorgänge nicht berücksich-tigt, müssen zur Modellerstellung nur vergleichsweise wenige Daten vom Motor vorlie-gen. Parameter des Modells sind aber in praktisch fast jedem Betriebspunkt neu zu kalib-rieren. Dazu ist insgesamt eine relativ große Anzahl von Messungen erforderlich. Ein-sparpotenzial gegenüber der reinen Messung ergibt sich hauptsächlich dadurch, dass bei Variation der Nockenwellenstellung nur wenige Punkte gemessen und die übrigen Punkte

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vorausberechnet werden. Die Einsparung an Messungen ist somit kleiner. Der Aufwand zur Modellkalibrierung selbst ist als gering einzuschätzen. Erhebliche Zeiteinsparungen ergeben sich durch Automatisierung des Abgleichs. Werden jedoch füllungsrelevante Änderungen an der Ansaug- oder Abgasanlage des Motors vorgenommen, dann ist das Modell komplett neu zu kalibrieren, was mit einem entsprechend großen Messaufwand verbunden ist. Die 1D-Ladungswechselsimulation kommt dagegen mit weniger Messpunkten für die Modellkalibrierung aus. Dafür ist aber der Aufwand für den Modellabgleich deutlich größer. Einerseits ist dazu eine große Anzahl von Parametern zu variieren, andererseits erfordert die Berechnung von Daten für die Applikation eine hohe Modellgenauigkeit sowohl in der Voll- als auch in der Teillast. Eine wesentliche Voraussetzung für den effi-zienten Modellabgleich im gesamten Motorkennfeld ist ein geeignetes Automatisie-rungswerkzeug. Wesentlichster Vorteil des 1D-Modells ist die Weiterverwendbarkeit bei Änderungen an der Hardware des Motors. Wird z. B. die Saugrohrgeometrie geändert, dann kann sofort nach der entsprechenden Modelländerung die Berechnung neuer Füllungsdaten für den geänderten Baustand erfolgen. Aus den genannten Gründen wird die 1D-Ladungs-wechselsimulation favorisiert. Der schematische Ablauf der Füllungsberechnung mit der 1D-Ladungswechselberechnung ist im Bild 3-77 dargestellt.

Bild 3-77: Schematischer Ablauf der Applikation der Füllungserfassung.

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 235

Ausgangspunkt ist die für die Modellkalibrierung erforderliche Basismessung. In wenigen ausgewählten Betriebspunkten wird der Einfluss füllungsrelevanter Größen auf die Nie-derdruckverläufe vor Einlass-/ nach Auslassventil, den Zylinderdruckverlauf und die durchgesetzte Luftmasse ermittelt, um danach den Modellabgleich vorzunehmen. Dazu werden im ersten Schritt bestimmte Geometrien und Durchflusszahlen innerhalb sinnvoller Grenzen so variiert, dass berechnete Niederdruckverläufe mit gemessenen bestmöglich übereinstimmen (s. a. Bild 3-78). Im zweiten Schritt erfolgt der Abgleich auf die gemessene Füllung mit Größen, wie z. B. Wandtemperaturen. Zum automatisierten Modellabgleich wird ein selbstentwickeltes Tool eingesetzt. Wesentliche Merkmale des Tools sind:

� einfache Parametrierung beliebiger, zu berücksichtigender Größen und ihrer Variati-onsbereiche

� Aufbereiten gemessener (aus Indizier-Rohdaten) und berechneter Druckverläufe

� Festlegung neuer Parameter nach vorgebbaren Strategien

� Automatisierte Erstellung von modifizierten Parameterdatensätzen

� Automatisierter Aufruf der modifizierten Varianten.

Die Anwendung eines solchen Werkzeuges befreit den Berechnungsingenieur von Routi-nearbeiten. Die Abgleichschleife läuft, ohne dass Bedienungseingriffe oder Auswertun-gen vorgenommen werden müssen, rund um die Uhr und senkt dadurch die Zeit für die Modellkalibrierung.

Bild 3-78: Vergleich gemessener Druckverlauf vor Einlassventil mit berechneten Verläufen vor bzw. nach Modellabgleich.

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236 3 Motor

Mit dem abgeglichenen Modell erfolgt die Berechnung des gesamten Kennfeldes, d. h. die Füllung wird in Abhängigkeit von den zu berücksichtigenden Einflussgrößen in den für die Bedatung wesentlichen Kennfeldpunkten vorausberechnet. Verifikationsmessun-gen an unterschiedlichsten Motoren haben gezeigt, dass Abweichungen ≤ 3 % bei der Füllung erreichbar sind (Bild 3-79).

Bild 3-79: Gütebewertung der Füllungsberechnung.

Die berechneten Daten bilden letztendlich die Voraussetzung für die Datensatzerstellung mit dem IAV-Tool „ECU Rapid Prototyping Calibration“ (RPC), welches die Schnittstel-le zwischen physikalischen Daten und der Steuergeräte-Funktionsstruktur bildet. Bei der Offline-Optimierung mit dem RPC-Tool werden Parameter, Kennlinien und Kennfelder im Motorsteuersystem so besetzt bzw. auch Neuronale Netze so trainiert, dass mit der bestehenden Funktionsstruktur die Abhängigkeiten mit einem minimalen Fehler reprodu-ziert werden (Bild 3-80).

Im Zusammenhang mit der Grundbedatung sind ladungswechselrelevante Einstellgrößen, wie z. B. die Nockenwellenpositionen oder Umschaltpunkte bei einer Saugrohrumschal-tung zu definieren. Im Ergebnis der Ladungswechselberechnung liegen die dafür benötig-ten Abhängigkeiten vor. Damit kann auch die Festlegung optimaler Einstellgrößen erfol-gen. Die erforderlichen Optimierungsschritte werden nach der Füllungsberechnung mit Hilfe im Auswertesoftwarepaket enthaltener Module durchgeführt. Die Zielfunktion kann ein oder mehrere, ggf. unterschiedlich gewichtete Kriterien, wie z. B. spezifischer Ver-brauch, Ladungswechselarbeit, Füllung beinhalten.

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 237

Bild 3-80: Schema der ECU Rapid Prototyping Calibration.

Zu beachten ist, dass im Ergebnis der Optimierung der Nockenwellenposition Brenn-grenzen nicht überschritten werden. Beispielsweise wird eine Optimierung mit dem Ziel der Minimierung der Ladungswechselarbeit zum Frühanschlag der Einlass-Nockenwelle und damit zu großen Restgasanteilen führen. Aus diesem Grund ist das Optimierungs-problem mit der Randbedingung „Restgasgrenze“ zu formulieren (Bild 3-81). Die Rest-gasgrenze wird auf der Basis eines (empirischen) Restgasverträglichkeitsmodells defi-niert. Mit Festlegung der Nockenwellenpositionen werden die Ausspülvorgänge und die mit diesen im Zusammenhang stehenden Effekte wie Klopfen oder Ladedruckaufbau bei abgasturboaufgeladenen Motoren definiert. Beispielsweise führt die Forderung nach ho-hem Moment in der Volllast zu einem multivariablen Optimierungsproblem: Auf der einen Seite ergibt sich eine Füllungserhöhung infolge Ausspülens. Außerdem kann auf der anderen Seite die Möglichkeit der Frühverstellung des Zündwinkels infolge verrin-gerter Klopfgefahr wegen der Abnahme des Restgasanteils (Temperaturabsenkung) ge-nutzt werden. Es kann unter Anwendung der Ladungswechselsimulation auch die Stel-lung der Nockenwellen ermittelt werden, bei der Restgasausspülen ohne nennenswerte Frischgas-Spülverluste auftritt.

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238 3 Motor

Bild 3-81: Ermittlung der optimalen NW-Position in der Teillast unter Beachtung der Restgas-Restriktion.

Drehmomentstruktur:

Diese Funktion berechnet das indizierte sowie unter Einbeziehung der mechanischen Verluste und der Ladungswechselarbeit das effektive Motormoment. Wesentliche Aufgabe der Funktion ist die Berechnung des indizierten Drehmoments in Abhängigkeit von Drehzahl, Füllung der Zylinder mit Frischladung, Luftverhältnis und Zündwinkel sowie von anderen verbrennungsrelevanten Parametern, wie z. B. Nocken-wellenstellung oder Position der Ladungsbewegungsklappe. In der Umkehrung wird im Steuergerät die für ein bestimmtes Drehmoment erforderliche Füllung berechnet und weiterhin auch die benötigte Verstellung des Zündwinkels ermittelt, um schnell eine be-stimmte, z. B. aus Gründen der Fahrstabilität geforderte Drehmomentabsenkung zu reali-sieren. Analog zur Füllungserfassung sind für die Bedatung dieser Funktion die Zusammenhänge zwischen Drehmoment und den zu berücksichtigenden Freiheitsgraden zu ermitteln. Die Vorausberechnung des indizierten Hochdruckteil-Drehmomentes für die Applikation erfolgt mit der 0D-Arbeitsprozessrechnung. Der Verlauf der Energieumsetzung, der maß-geblich bestimmt, wie viel von der im Kraftstoff enthaltenen Energie in Kreisprozessarbeit

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 239

umgewandelt wird, wird mit einem Ersatzbrennverlauf beschrieben. Deshalb nimmt die modellhafte Beschreibung der Abhängigkeiten des Verbrennungsablaufes (Verbrennungs-modell) eine zentrale Stellung ein. Unter Verbrennungsmodell wird im speziellen Fall ein Satz von Polynomgleichungen verstanden, der die Abhängigkeiten der charakteristischen Umsatzpunkte von den rele-vanten Einflussgrößen beschreibt (Bild 3-82). Auch bei der Momentenberechnung ist die für die Modellkalibrierung notwendige Ba-sismessung Startpunkt der Prozedur (Bild 3-83). In wenigen, durch Drehzahl und Füllung festgelegten Betriebspunkten werden die den Verbrennungsablauf beeinflussenden Größen variiert und im Wesentlichen die Druckver-läufe in allen Zylindern gemessen. Die Zylinderdruckverläufe werden hinsichtlich des Verbrennungsablaufs analysiert. Die Ergebnisse der Brennverlaufsanalyse bilden die Grundlage für das Aufstellen des Verbrennungsmodells. Das Verbrennungsmodell ermöglicht, für beliebige Kombinationen von Einflussgrößen die charakteristischen Umsatzpunkte vorauszuberechnen und daraus wieder einen Ersatz-brennverlauf für die Arbeitsprozessrechnung zu bilden. Im einfachsten Fall ist das eine Vibefunktion. Die bisherigen Anwendungsfälle haben gezeigt, dass mit der Vibefunktion als Ersatzbrennverlauf für homogenen Motorbetrieb die Genauigkeitsanforderungen bzgl. des indizierten Momentes erfüllt werden.

Bild 3-82: Verbrennungsmodell.

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240 3 Motor

Bild 3-83: Ablauf der Momentenberechnung.

Bild 3-84: Bewertung der Güte des Verbrennungsmodells am Beispiel des Umsatzschwerpunktes.

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 241

Bei ausreichender Genauigkeit des Verbrennungsmodells (vgl. Abweichungen αQ50 mo-delliert – gemessen, Bild 3-84) werden die Zusammenhänge zwischen Einflussgrößen und Drehmoment (Mitteldruck) mit der Prozesssimulation ausreichend genau abgebildet – die erreichbaren Abweichungen liegen bei ca. 5 % (Bild 3-85). Eine nochmalige Ver-ringerung der Abweichungen wird erreicht, wenn die bei der Verifikationsmessung ge-wonnenen Ergebnisse zur Korrektur herangezogen werden. Die Berechnungsergebnisse werden dem RPC-Tool zur Datensatzerstellung übergeben. RPC optimiert analog zur Füllungserfassung die betreffenden Parameter, Kennlinien und Kennfelder des Motorsteuersystems so, dass mit der in der Motorsteuerung abgelegten Funktionsstruktur die vorgegebenen Zusammenhänge zwischen Einflussgrößen und Drehmoment mit dem geringsten Fehler reproduziert werden.

Bild 3-85: Bewertung der Güte der Drehmomentberechnung.

Zur Berechnung der Effektivwerte aus dem indizierten Hochdruckteil-Drehmoment ist die Kenntnis der Ladungswechselarbeit und des mechanischen Verlustes erforderlich. Die Ladungswechselarbeit ist ein Nebenprodukt der Füllungsberechnungen und steht in Kennfeldform für die Berechnung des indizierten Momentes zur Verfügung.

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242 3 Motor

Die mechanischen Verlustmomente werden mit Hilfe von Modellen beschrieben, wobei zwischen rein empirischen Polynommodellen

= a bVmech ( , , )M f n n pmi (1)

und Ansätzen, die auf der Berücksichtigung einzelner Tribosysteme beruhen

Vmech ZylWÖl( , , , , , )M f n pme D H T T= (2)

(z. B. Modell nach Schwarzmeier [2] oder Fischer [3]) gewählt werden kann. Zur Kalibrierung des Reibmodells werden üblicherweise die bei der Basismessung zur Momenten- bzw. Füllungsberechnung gewonnenen Ergebnisse genutzt. Es sind demzu-folge keine zusätzlichen Messungen notwendig.

Zündwinkel:

Der vom Steuergerät ausgegebene Zündzeitpunkt wird im realen Betrieb auf der Basis des zu bedatenden Grundzündwinkels berechnet. Dieser kann bei der simulationsgestütz-ten Applikation aus dem Verbrennungsmodell, welches u. a. auch die Abhängigkeit des Umsetzungsschwerpunktes αQ50 vom Zündwinkel beschreibt, bestimmt werden. Bei Vorgabe der gewünschten Lage des Verbrennungsschwerpunktes αQ50 kann mit Hilfe des invertierten Verbrennungsmodells der dazugehörige Zündwinkel für unterschiedliche Betriebspunkte (Drehzahl, Füllung) und Bedingungen (Luftverhältnis, Nockenwellenpo-sitionen usw.) ermittelt werden (Bild 3-86). Besonders bei aufgeladenen Motoren ist der klopfbegrenzte Bereich, in dem der Zünd-winkel nicht wirkungsgradoptimal parametriert werden kann, sehr groß. Zur Ermittlung der zum Einhalten der Klopfgrenze erforderlichen Verbrennungslage kann ebenfalls die Arbeitsprozessrechnung herangezogen werden. Dazu wird unter Anwendung des Zwei-zonenmodells das Vorreaktionsintegral in der Zone des Unverbrannten nach Franzke [4] bzw. mit dem darauf aufbauenden Verfahren nach Spicher/Worret [5] berechnet.

α= ⋅π �

pmaxZ

uvEs

1d

2 e

a a

b/Ta

pI

n (3)

Betrieb an der Klopfgrenze ist so definiert, dass genau bei Vorliegen des maximalen Brennraumdruckes das Vorreaktionsintegral I den kritischen Wert IK erreicht (Bild 3-87). Bei Überschreiten von IK vor dem Auftreten des Maximaldrucks tritt Klopfen auf. IK wird in unterschiedlichen Kennfeldbereichen durch Einstellen einer exakt definierten Klopfgrenze ermittelt. Ist die Verbrennungslage an der Klopfgrenze bekannt, kann eben-so wie bei wirkungsgradoptimaler Verbrennungslage der Zündwinkel aus dem invertier-ten Verbrennungsmodell abgeleitet werden.

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 243

Bild 3-86: Berechnung wirkungsgradoptimaler und klopfbegrenzter Zündwinkel.

Bild 3-87: Erklärung des Klopfkriteriums.

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244 3 Motor

Abgastemperatur und Bauteilschutz:

Für mehrere Funktionen im Steuergerät wird die Abgastemperatur benötigt. Beispiels-weise nimmt diese über das Restgas Einfluss auf die Füllung. Darüber hinaus sind Tem-peraturgrenzen vor Turbine bzw. Katalysator einzuhalten (Bauteilschutz). In der Regel wird die Temperatur nicht gemessen, sondern im Steuergerät berechnet. Dazu ist das Abgastemperaturmodell zu applizieren, wobei die Zusammenhänge zwischen Abgastem-peratur und Größen wie Abgasmassenstrom (bei aufgeladenen Motoren getrennt über Turbine und Wastegate), Zündwinkel, Luftverhältnis und Turbinendruckverhältnis be-kannt sein müssen. Für die Stationärbedatung liefert die Prozesssimulation diesbezüglich brauchbare Werte. Bei den Arbeitsprozessrechnungen zur Bedatung der Momentenstruktur wird ohnehin die Temperatur des Arbeitsstoffes im Zylinder bei „Auslass öffnet“ für eine Vielzahl von Parameterkombinationen berechnet. Ausgehend von dieser Temperatur wird mit geeigne-ten Wärmeübergangsmodellen (Wärmestrombilanzen mit Untermodellen für den konvek-tiven Wärmeübergang und Wärmestrahlung) die weitere Abkühlung bis zur Turbine bzw. zum Katalysator beschrieben. Bei abgasturboaufgeladenen Motoren wird die Tempera-turabsenkung des Abgases über die Turbine mit Hilfe der Energiebilanz und der Massen-stromaufteilung berechnet.

Bild 3-88: Berechnung des Anfettungsbedarfs zur Temperaturabsenkung.

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 245

Im Zusammenhang mit Abgastemperaturberechnungen kann auch der für den Bauteil-schutz erforderliche Anfettungsbedarf ermittelt werden. Dazu wird ebenfalls die Arbeits-prozessrechnung eingesetzt. Unter Anwendung einer geeigneten Suchstrategie wird das Luftverhältnis solange in Richtung „fett“ verstellt und der Arbeitsprozess sowie der aus-puffseitige Wärmeübergang berechnet, bis die Grenze für die Temperatur vor Turbine bzw. vor Katalysator gerade eingehalten wird. Gleichzeitig kann bzw. muss der Einfluss der geänderten Gemischzusammensetzung auf das Klopfverhalten berücksichtigt werden. Dazu ist parallel zur Anfettung auf der Basis des kritischen Vorreaktionsintegrals eine ebenfalls die Abgastemperatur beeinflussende Verstellung der Verbrennungslage vorzu-nehmen (Bild 3-88). Eine Anfettung gestattet eine Einstellung früherer Verbrennungsla-gen an der Klopfgrenze, was zu einer weiteren Absenkung der Abgastemperatur führt und den Verbrauchsnachteil kleinerer Luftverhältnisse etwas mildert.

3.6.6 Weitere Einsatzmöglichkeiten der Simulation im Applikationsprozess

Die Vorausberechnung kann über die betrachteten Beispiele hinaus für die Bedatung weiterer Funktionen eingesetzt werden.

Festlegung der Filtermittenfrequenzen für Klopfregelung:

Zur Festlegung der Filtermittenfrequenzen werden theoretische Betrachtungen zu dem beim Klopfen auftretenden Schwingverhalten einbezogen: Die Eigenfrequenzen bei Anregung des Arbeitsstoffes bei klopfender Verbrennung lassen sich mit der Gleichung (4) berechnen:

γ ν⋅=

n,n

cf

D (für runden Flachraum mit starren Wänden nach [6]) (4)

mit

κ= ⋅ ⋅ vc R T (5)

Die detaillierte thermodynamische Analyse des Arbeitsprozesses klopfender Arbeitsspie-le liefert die Information über die mittlere Arbeitsstofftemperatur. Damit kann auf eine mittlere Schallgeschwindigkeit und mit dieser Größe auf die typischen Brennraumeigen-frequenzen geschlossen werden. Die Kenntnis der Zylinderbohrung D vorausgesetzt, liegen damit die Informationen zur Vorauswahl der Filtermittenfrequenzen vor.

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246 3 Motor

Höhenkorrektur:

Der Einfluss des mit steigender Höhe abnehmenden Umgebungsdruckes auf Ladedruck bzw. Füllung kann mit Hilfe der 1D-Ladungswechselsimulation rein rechnerisch ermittelt werden. Damit können aufwändige Untersuchungen in Höhenkammern reduziert werden. Auf der Basis von Simulationsrechnungen kann für abgasturboaufgeladene Motoren auch die Höhe ermittelt werden, bis zu der eine Einhaltung des Ladedrucks ohne Überschreiten der zulässigen Laufzeugdrehzahl möglich ist.

Temperaturkompensation:

Die Temperaturkompensation im Motorsteuersystem berechnet die Temperaturen vor, in und nach dem Saugrohr, um die ins bzw. aus dem Saugrohr strömenden Massen darzus-tellen. Die Temperaturen der Ladung werden für beliebig zu definierende Stellen bei der Ladungswechselsimulation berechnet und in die Applikation einbezogen.

Umschaltpunkte variabler Steller zur Füllungssteuerung:

Die Ladungswechselsimulation ermöglicht die Festlegung momenten- bzw. füllungsneut-raler Umschaltpunkte an Ventiltrieb bzw. Saugrohr. Die Saugrohrumschaltung erfolgt in der Regel so, dass maximale Füllung entlang der Volllast erreicht wird. Die Umschaltung zwischen Ventilhüben (2-Punkt-Verstellung) muss nahezu Momenten neutral (ruckarm) vorgenommen werden. Dazu sind Nockenwellenposition und Androsselungszustand (Saugrohrdruck) für den Umschaltvorgang drehzahlabhängig so zu wählen, dass bei Um-schaltung nur eine solche Füllungsänderung vorliegt, die Änderungen der inneren Verlus-te (z. B. Ladungswechselarbeit) kompensiert. Mit Hilfe des Verbrennungsmodells und der bei der Momentenberechnung ermittelten Zusammenhänge kann weiterhin die für eine gewünschte Momentenänderung erforderliche Zündwinkelverstellung berechnet werden.

Simulation des Streckenverhaltens zur Abstimmung der Ladedruckregelung aufge-ladener Motoren:

Die in Ladungswechselprogramme implementierten Module zur Berechnung der Motor-dynamik gestatten die Berechnung des Ladedruckauf- bzw. -abbaus bei z. B. sprungför-miger Verstellung der Drosselklappe. Die für verschiedene Betriebsbedingungen berech-neten Verstell- und Ladedruckverläufe werden einem Modul des RPC-Tools (RPC-Control) übergeben, um zunächst das Streckenverhalten zu beschreiben und dann im Weiteren die optimalen Parameter für die Reglereinstellung zu ermitteln.

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3.6 Einsatz der Prozess- und Ladungswechselsimulation 247

3.6.7 Fazit

Im Applikationsprozess kann ein erheblicher Teil der Bedatung von wichtigen Basisfunk-tionen, wie z. B. Füllungserfassung, Momentenstruktur, Temperaturmodelle für sowohl Saug- als auch aufgeladene Motoren durch die Anwendung physikalischer Modelle un-terstützt werden. Dabei ergeben sich deutliche Zeit- und Kosteneinsparungen. Gegenüber herkömmlichen Methoden ist eine Verringerung des Messaufwands um ca. 80...90 % bei ausreichender Qualität erreichbar. Das Verfahren der Kombination von Messung und thermodynamischer Simulation wurde in der IAV bereits an den unterschiedlichen Motorkonzepten:

� Saugmotoren mit Kanaleinspritzung

� Saugmotoren mit Direkteinspritzung

� Aufgeladene Motoren mit Kanaleinspritzung

� Aufgeladene Motoren mit Direkteinspritzung

erfolgreich angewendet und das Einsparpotenzial nachgewiesen. Der Einsatz derartiger Modelle hat vor allem in der Konzeptphase, die oftmals durch Änderungen an der Hardware des Motors geprägt ist, einen wesentlichen Vorteil: Die physikalischen Modelle weisen einen hohen Grad der Wiederverwendbarkeit auf und gestatten nach Änderungen der Motorhardware eine Vorausberechnung von Daten für die Applikation – je nach Genauigkeitsanspruch auch ohne Messungen. Die Anwendung physikalischer Modelle erlaubt innerhalb gewisser Genauigkeitsgrenzen auch eine Vorhersage von Kenngrößen von zukünftigen Motorkonzepten bzw. es ist die Erstellung von Datensätzen für Vergleichsfahrten mit Konzeptmotoren möglich. Damit wird die Flexibilisierung des Ablaufs von der Konzeptbewertung bis hin zur Serienbedatung erreicht. Die Methoden und Tools bilden eine durchgängige Gesamtprozesskette, angefangen von standardisierten Messabläufen, über Modellkalibrierung und Berechnung von Daten bis hin zur automatisierten Datensatzerstellung (dcm-File) mittels RPC für unterschiedlichste Anforderungsprofile.

Literatur zu Abschnitt 3.6

[1] Eichert, H.; Günther, M.; Zwahr, St.: Simulationsrechnungen zur Ermittlung optimaler Ein-spritzparameter an DI-Ottomotoren. Automotive Engineering Partners 9-10/2005, S. 30-35

[2] Schwarzmeier, M.: Der Einfluß des Arbeitsprozessverlaufs auf den Reibmitteldruck von Dieselmotoren. Dissertation, TU München, 1992

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248 3 Motor

[3] Fischer, G.: Expertenmodell zur Berechnung der Reibungsverluste von Ottomotoren. Disser-tation, TU Darmstadt, 2000

[4] Franzke, D. E.: Beitrag zur Ermittlung eines Klopfkriteriums der ottomotorischen Verbren-nung und zur Vorausberechnung der Klopfgrenze. Dissertation, TU München, 1981

[5] Spicher, U.; Worret, R.:Entwicklung eines Kriteriums zur Vorausberechnung der Klopfgren-ze. FVV-Forschungsbericht Nr. 700/2002

[6] Heckl, M.; Müller, H. A.: Taschenbuch der technischen Akustik, 2. Auflage, S. 22, S. 38. Springer Verlag

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249

4 Getriebe

4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik

4.1.1 Einleitung

Mit Optimieren ist jeder Mensch beschäftigt, und das sicherlich schon seit Menschenge-denken. Jeder von uns optimiert Bereiche seines Lebens und stößt dabei ganz von selbst, wenn auch vielleicht unbewusst, auf den Kern der Optimierung. Kinder fangen spätestens im Grundschulalter an zu optimieren, denn alle möchten gute Noten haben, aber ohne viel dafür tun zu müssen. Das Ziel ist klar, der Einsatz begrenzt. Eltern können das an ihren Kindern schön beobachten und mancher wird dabei sicherlich an seine eigenen Kindertage erinnert. Es können dabei gute und sogar auch sehr gute Noten mit überschaubarem Aufwand erzielt werden. Sicherlich eine gute Sache, da Kinder für eine gesunde Entwicklung auch noch ausreichend Zeit zum Spielen und zur Sozialisation brauchen. Mit begrenzten Mit-teln das Bestmögliche herauszuholen, das ist das Wesen der Optimierung. Unter einem Optimum (optimum [lat.]: „das Beste“) [1] versteht man das beste erreichba-re Resultat im Sinne eines Kompromisses zwischen verschiedenen Eigenschaften unter dem Aspekt einer Anwendung oder Nutzung. Optimieren beschäftigt sich also nicht nur mit dem eigentlichen Ziel, sondern hat auch vorhandene Restriktionen im Blickfeld. Op-timal ist nicht zu verwechseln mit ideal, das das absolut beste Denkbare meint („Koste es, was es wolle“). Das zeigt schon auf, dass ein beispielsweise auf Steifigkeit hin optimier-tes Bauteil nicht die tatsächlich größtmögliche Steifigkeit besitzt. Es besitzt aber unter bestimmten Randbedingungen, wie z. B. ein begrenztes Gewicht, die maximal mögliche Steifigkeit. Technologieführerschaft ist für ZF ein wesentlicher Eckpfeiler der Unternehmensstrate-gie. Nur durch innovative Lösungen können Produkte mit hohem Kundennutzen angebo-ten werden. Sie leisten durch Verbrauchs- und Emissionsreduzierung, durch mehr Si-cherheit, Fahrdynamik und Komfort wichtige Beiträge zur Verbesserung der Fahrzeuge der Kunden und ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Potentielle innovative Lösungen stecken in jedem Detail. Diese auf einer wirtschaftlichen Basis zu erschließen, steht im Focus der ZF-Entwicklungsaktivitäten [2]. Die numerische Strukturoptimierung, die seit 1999 erfolgreich im Unternehmen einge-setzt wird und heute längst in den ZF-Entwicklungsprozess integriert ist, bildet darin einen wichtigen Baustein. Dieser Beitrag zeigt auf, welchen Nutzen die numerische

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250 4 Getriebe

Strukturoptimierung bietet, dass allein die Anwendung eines Optimierungsprogramms noch keinen Erfolg garantiert, wie die Güte einer Optimierung beurteilt werden kann und wie wichtig die frühe Einbindung der Strukturoptimierung in den Entwicklungsprozess ist.

4.1.2 Gliederung der Optimierungsverfahren

Die numerische Strukturoptimierung gliedert sich in die drei großen Hauptoptimierungs-verfahren Topologie-, Form- und Parameteroptimierung [3]. Die Anwendungsgebiete der einzelnen Verfahren sind sehr vielschichtig und überschneiden sich auch teilweise. In diesem Kapitel werden die einzelnen Verfahren und ihre Anwendungsgebiete anhand dem Beispiel einer Brücke kurz vorgestellt. Eine Übersicht ist in Bild 4-1 dargestellt. Die Topologieoptimierung liefert einen Designvorschlag innerhalb eines definierten Bauraumes, der unter den gegebenen Randbedingungen und des Optimierungsziels opti-mal ist. Benötigt werden zur vollständigen Beschreibung der Ausgangsbasis der Bau-raum, in dem sich das Bauteil ausdehnen darf, die Belastungen und die möglichen Lager-stellen. Mit diesen Angaben und der Definition des Optimierungsproblems kann die Op-timierung durchgeführt werden. Diese wenigen notwendigen Angaben prädestinieren die Topologieoptimierung für den Einsatz in der frühen Produktentwicklungsphase, bevor überhaupt ein erster Entwurf vorliegt. Als Ergebnisse können sich topologisch völlig unterschiedliche Strukturen ergeben, je nachdem, wie die Randbedingungen, das Opti-mierungsziel und die Optimierungsrestriktionen definiert sind. Am Beispiel der Brücke in Bild 4-1, linke Spalte, können Gestaltungsvorschläge entstehen, die zwei oder vier La-gerpunkte verwenden. Ist die Lage der Fahrbahn vordefiniert, so ergeben sich auch da-durch unterschiedliche Strukturen. Die Topologieoptimierung ist völlig frei in der Gestal-tung, Anordnung und Lage der Strukturen innerhalb des Bauraumes. Das Optimierungsziel bei der Topologieoptimierung ist typischerweise die Maximierung der Steifigkeit und die Einstellung von gezielten Verschiebungen und Reaktionskräften. Die Topographieoptimierung, die sich schon nicht mehr so richtig in die drei Hauptop-timierungsverfahren einordnen lässt, wird zur optimalen Anordnung von Sickenmustern oder besser Verprägungsmustern in einem dünnwandigen Bauteil verwendet. Das Ziel dabei sind maximale Steifigkeit oder bestimmte Eigenfrequenzen der Bauteile. Der oft anstelle von Topografieoptimierung gebrauchte Begriff Sickenoptimierung ist eher irre-führend, da es nicht nur um Sicken im klassischen Sinn geht, sondern ganz allgemein um Verprägungsmuster. Die Formoptimierung wird hauptsächlich zur Spannungsreduktion an bestehenden Bau-teilen eingesetzt. Es werden damit aber auch bestimmte Verschiebungen an definierten Stellen eingestellt oder weiter minimiert. Im Gegensatz zur Topologieoptimierung setzt die Formoptimierung auf einem ersten Entwurf auf, der die Ausgangsbasis der Formop-

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timierung ist. Es muss also bereits ein erster Entwurf vorliegen, bevor man mit der Form-optimierung beginnen kann. Dieser Entwurf legt die Gestalt, die Topologie des Bauteils fest und somit werden wichtige Eigenschaften schon vor der Formoptimierung festgelegt. Am Beispiel der Brücke entscheidet man sich also vor der Formoptimierung für eine Hängebrücke oder Bogenbrücke etc. Eine Bogenbrücke mit 6 senkrechten Stäben (Ste-her) wie in Bild 4-1, mittlere Spalte, wird nach der Formoptimierung auch wieder 6 Stäbe haben. Was sich ändern kann, sind die Lage der einzelnen Stäbe, die Krümmung des Bogens etc. Es können also die schon vorhandenen Strukturelemente verschoben und variiert werden.

Bild 4-1: Einteilung der Optimierungsverfahren mit Ausgangsbasis und möglichen Ergebnissen.

Ziel der Formoptimierung ist die Spannungsreduktion am Bauteil, die Feinabstimmung von Verschiebungen, Reaktionskräften oder Massen. Bei vielen Bauteilen ist eine Topo-logieoptimierung vor der Formoptimierung sinnvoll, so dass die Ausgangsbasis schon eine möglichst optimale Gestalt hat. Die Parameteroptimierung dient der Ermittlung optimaler Werte für Bauteilparameter wie Wandstärken, Faserausrichtungen in Laminaten, Feder-, Balken- und Querschnittsgrößen von Balkenelementen hinsichtlich maximaler Steifigkeit, minimaler Spannungen oder mi-

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nimalem Gewicht. Wie die Formoptimierung setzt die Parameteroptimierung auf einen bestehenden Entwurf auf, dessen Topologie nicht verändert wird. Im Beispiel der Brücke kann die Dimensionierung der Balkenquerschnitte mit der Parameteroptimierung erfolgen. (Bild 4-1, rechte Spalte). Im diesem Beitrag wird hauptsächlich auf die Topologieoptimierung weiter eingegangen, da sie das größte Optimierungspotenzial bietet und auch durch den möglichen Einsatz in der frühen Entwicklungsphase von großer Bedeutung ist.

4.1.3 Topologieoptimierung: Begriffsklärung und Analogie

Was ist eigentlich Topologie? Die Topologie ist zunächst einmal die Lehre von der Anordnung und der Lage geometrischer Gebilde im Raum. Was bedeutet das? Die ZF feierte 2005 ihr 90-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass wurde ein Besuchertag organisiert, der es den Familien der Beschäftigten ermöglichte, die Werke in Friedrichs-hafen von innen zu sehen und vieles über die Arbeit der unterschiedlichen Bereiche zu erfahren. Hierfür wurden verschiedene Besucherrundgänge eingerichtet, entlang denen Informationsinseln mit Vorführungen aus den betreffenden Bereichen stattfanden. Um zu erklären, wie Bauteile in der ZF optimiert werden, wurde auch hier eine solche Insel ein-gerichtet. Als Einleitung in die Thematik wurde das Beispiel Tauziehen herangezogen. Damit konnte die Topologieoptimierung schön veranschaulicht und auch gleich praktisch erfahren werden.

Bild 4-2: Topologieoptimierung im allgemeinen Erfah-rungsbereich.

Die geometrischen Gebilde bestehen aus 4 Personen, 3 Erwachsenen, also großen und kräftigen Strukturelementen, und einem Kind, einem kleinen und zierlichen Strukturele-ment. Die Anordnung ist derart gestaltet, dass die drei Erwachsenen auf der einen Seite stehen, das Kind auf der anderen (Bild 4-2). Die Lage der Gebilde im Raum ist so, dass die Großen nur senkrecht stehen dürfen, das Kind aber jede beliebige Lage einnehmen darf.

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 253

Bild 4-3: Die optimale Lage ist entscheidend, nicht die Masse.

Wer wird beim Tauziehen gewinnen? Wir haben es mehrfach am Familientag auspro-biert: natürlich das Kind. Und nicht etwa deshalb, weil die Großen so nett waren und das Kind haben gewinnen lassen, nein, sondern weil das Kind im Gegensatz zu den Erwach-senen eine günstige Lage im Raum einnehmen und dadurch seine Möglichkeiten optimal einsetzen konnte (Bild 4-3).

4.1.4 Prinzipielle Vorgehensweise bei einer Topologieoptimierung

Das prinzipielle Vorgehen bei einer Topologieoptimierung soll wieder am Beispiel einer Brücke veranschaulicht werden. Zunächst wird der Bauraum definiert, in dem sich die Brücke befinden kann. Im Beispiel ist das ein einfaches Rechteck (Bild 4-4, oben). Es werden an diesem Bauraum noch die möglichen Auflagerpunkte und die Belastung defi-niert.

Bild 4-4: Prinzipielle Vorgehens-weise bei einer Topolo-gieoptimierung.

Der Bauraum besteht aus dem Optimierungsraum oder design space und dem non-design space. Bereiche der Brücke, die unabhängig vom Optimierungsergebnis auf jeden Fall gebraucht werden, können vor der Optimierung festgelegt und als non-design space defi-

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niert werden. Bei einer Brücke ist es beispielsweise die Fahrbahn, die durchgängig vor-handen sein soll, damit man sie problemlos überqueren kann. Der Bereich der Fahrbahn wird also aus dem Optimierungsraum herausgenommen und steht nicht zur Disposition. Egal wie die Optimierung aussieht, der non-design space wird immer im Optimierungs-ergebnis enthalten sein und seine Eigenschaften werden während der Optimierung be-rücksichtigt. Was soll denn eigentlich optimiert werden? Diese Frage beantwortet die Definition des Optimierungsproblems, in dem die Zielfunktion und Restriktionen beschrieben werden. Die Zielfunktion ist in diesem Beispiel die Maximierung der Steifigkeit bei einer gleich-zeitigen Restriktion der Masse. Die Maximierung der Steifigkeit impliziert neben dem eigentlichen Aspekt von möglichst geringen Verschiebungen auch noch möglichst gerin-ge Beanspruchungen in der Struktur. Eine Struktur von hoher Steifigkeit bietet im Nor-malfall die besten Voraussetzungen für geringe Beanspruchungen. Die Restriktionen sind für die Optimierung sehr wichtig. Mit ihnen können unerwünschte Eigenschaften be-grenzt werden. Dies sind zum Beispiel der Materialeinsatz oder Verschiebungen und Reaktionskräfte an bestimmten Stellen. Die Spannungen selbst können im Optimierungs-gebiet heute noch nicht sinnvoll explizit als Restriktion berücksichtigt werden. Nach dem Optimierungslauf erhält man eine Dichteverteilung über den gesamten Bau-raum (Bild 4-4, unten). Die Dichte variiert zwischen null und dem Wert 1. Die Bereiche mit hoher Dichte markieren die Bereiche, die für das Optimierungsziel wichtig sind, wo also Material vorhanden sein soll. Betrachtet man das Optimierungsergebnis, so erkennt man recht gut die Gestalt einer Brücke. Dieser Gestaltungsvorschlag, den ein Topolo-gieoptimierungsprogramm liefert, muss jetzt in eine gut zu fertigende, kostengünstige und montagefreundliche Konstruktion umgesetzt werden. Dieser Schritt ist sehr wichtig und im vorliegenden Beispiel scheint die Umsetzung relativ klar und einfach zu sein. Normalerweise ist das aber schwieriger. In den folgenden Anwendungsbeispielen wird darauf näher eingegangen.

4.1.5 Grundlegende Erfahrungen bei der Topologieoptimierung eines Differenzialdeckels

In den 90er Jahren wurde in der ZF die Entwicklung der kommerziellen Optimierungs-programme beobachtet und immer wieder einzelne Programmtests durchgeführt, bis man sich 1999 für ein Programmpaket entschied, das nach intensiver Testphase überzeugte. In diesem Kapitel wird beschrieben, wie dieser Test an einem praktischen Beispiel durchge-führt wurde. Die Erfahrungen daraus sind heute noch grundlegend für den Optimierungs-prozess bei ZF und werden in diesem Buch jetzt zum ersten Mal veröffentlicht. In den Jahren 1998 und 1999 war die intensive Entwicklungsphase der 6-Gang Pkw-Automatgetriebe. Ein unscheinbares Bauteil wie der Differenzialdeckel, der aber einen wesentlichen Beitrag für die Gesamtfunktion des Getriebes leistet, war in dem halben

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Jahr vor dem Test auf herkömmliche Weise in sehr vielen Schleifen optimiert worden. Angefangen von dem klassischen Bild der vom Lagermittelpunkt aus radial um den La-gersitz herum angeordneten Rippen, wurde in dieser Zeit ein Deckel entwickelt, von dem dann einige Prototypen für umfangreiche Funktions- und Belastungstests hergestellt wur-den (Bild 4-5).

Bild 4-5: Auf herkömmliche Weise optimierter Differenzialdeckel, Referenzmodell für die Optimierung.

Genau zu dieser Zeit wurde die Optimierungssoftware OptiStruct (Altair) getestet und man war auf der Suche nach einem Testbeispiel. Der Differenzialdeckel war in mehrfa-cher Hinsicht ideal. Zunächst war er klein und kleine Testmodelle sind zum Ausprobieren und Untersuchen von Auswirkungen verschiedener Einstellungen und Parameter gut geeignet, da die Rechenläufe kurz sind und so relativ schnell der Einfluss verschiedener Parameter und Einstellungen untersucht werden kann. Um die Entscheidung treffen zu können, ob eine bestimmte Optimierungssoftware be-schafft wird oder nicht, ist es notwendig zu wissen, welchen Nutzen der Einsatz für das Unternehmen hat. Der kurz davor von Spezialisten auf damals noch herkömmliche Weise optimierte Deckel markiert und dokumentiert eine Art Optimum der bis dahin üblichen Vorgehensweise. Auch der Prototypstatus untermauert das ausgereifte Design und ein Ende der Leistungsfähigkeit dieser Vorgehensweise. Der dritte Punkt für die Auswahl dieses Testmodells war, dass eine weitere Verbesserung des Deckels weitere Performancesteigerungen des Gesamtgetriebes bringen würde. Falls weitere signifikante Verbesserungen erzielt würden, könnten diese bis zum Serienstart noch mit einfließen. Um den Optimierungshintergrund besser zu verstehen, wird zunächst erklärt, warum der Differenzialdeckel für die Funktion und Leistungsfähigkeit des Gesamtgetriebes von großer Bedeutung ist. Das Automatgetriebe gibt es in verschiedenen Varianten. Das Standardgetriebe wird hauptsächlich in heckgetriebenen Fahrzeugen verwendet. Auf

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diesem Standardgetriebe aufbauend wurden die Varianten für Allradantriebe und für frontgetriebene Fahrzeuge mit längs eingebautem Motor abgeleitet. Alle Varianten außer der Standardanwendung leiten das Moment ganz oder teilweise seitlich rechts am Getrie-be nach vorn zum integrierten Differenzial.

Bild 4-6: Kraftfluss im 6-Gang Pkw-Automatgetriebe.

Über eine Hypoid-Kegelradstufe wird das Moment auf die beiden Vorderräder übertra-gen. Da man sich hier bereits am Ende der Übersetzungskette befindet, sind die Momente dort sehr hoch (Bild 4-6). Diese Momente führen zu hohen Kräften im Hypoid-Kegeltrieb, da die Kegelraddurchmesser durch Einbaubedingungen begrenzt sind. Die Zahnkräfte drücken das Ritzel und das Tellerrad auseinander und führen zu entsprechend hohen Lagerkräften an der Ritzelkopflagerung wie auch an der Lagerung des Differen-zials. Das durch die Axialkraft des Hypoidkegelrades zusätzlich beanspruchte Lager des Differenzials befindet sich im Differenzialdeckel, der diese hohen Kräfte aufnehmen und zum Hauptgehäuse leiten muss. Der Deckel hat zwei wesentliche Anforderungen. Zunächst ist die Festigkeit zu gewähr-leisten. Es darf bei Missbrauchs- oder Sonderlasten nicht zum Bruch kommen, das Ge-triebe würde ausfallen und Öl könnte auslaufen. Der Deckel muss zudem unter maxima-len Betriebslasten und unter extremen Temperaturen durch den in manchen Fahrzeugen nahe vorbeigeführten Abgaskrümmer dauerfest sein. Der Deckel ist wie alle anderen Gehäuseteile in Aluminium-Druckguss ausgeführt. Die zentrale Funktion des Differenzialdeckels ist es, das Tellerrad unter Last möglichst nahe seiner ursprünglichen, unbelasteten Lage zu halten. Jede kleine Verschiebung führt

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 257

in einem Hypoid-Kegeltrieb schnell zu schlechten Tragbildern, die Zähne tragen nicht mehr über ihre volle Breite und es kommt zu Überlastungen an den Randbereichen der Zähne. Dies kann bei hohen Momenten zu Zahnbruch oder im Teillastbereich zu Geräu-schen führen. Bei der Fertigung der Zahnräder erfolgt eine Korrektur der Zähne auf den unter Last ver-formten Zustand. Nur ergibt sich bei stark lastabhängigem Tragbild folgendes Problem: diese Korrektur kann nur auf einen bestimmten Momentenbereich erfolgen. Korrigiert man die Zähne auf Volllast, um Zahnbruch zu vermeiden, ergeben sich Geräuschproble-me im akustisch sensiblen Teillastbereich. Korrigiert man auf Geräusch im Teillastbe-reich, hat man ein Festigkeitsproblem bei Volllast. Die Konsequenz daraus ist, alles zu tun um die Relativverschiebung zwischen Ritzel und Tellerrad unter Last so klein wie möglich zu halten, also die Lastabhängigkeit des Trag-bildes in der Verzahnung zu minimieren. Daraus ergibt sich die zentrale Forderung nach maximaler Steifigkeit der Gehäuse im Gebiet des Differenzials und somit des Differenzi-aldeckels. Dies allein wäre aber noch keine Optimierungsaufgabe, denn wie schon eingangs er-wähnt, benötigt man hierzu noch Restriktionen. Und solche sind auch hier vorhanden. Ohne Restriktionen wäre die Forderung nach maximaler Steifigkeit schnell erfüllt. Man müsste, was die Gehäuseteile und den Differenzialdeckel angeht, nur den Bauraum voll mit Material ausfüllen und das Aluminium mit einem Werkstoff höheren E-Moduls erset-zen. Schon hätte man die mit Sicherheit steifste Lösung. Die Restriktionen ergeben sich zum einen aus der Forderung nach Leichtbau, zum ande-ren durch notwendige Kosteneinsparungen in der Herstellung wie auch im Materialein-satz. Die neuen 6-Gang Pkw-Automatgetriebe sind im Schnitt, je nach Anwendung, bei einer gleichzeitigen Steigerung des übertragbaren Drehmoments von 15 % um fast 10 % leichter als ihre Vorgänger mit 5 Gangstufen. Mit über 1.000.000 ausgelieferten Pkw-Automatgetrieben allein in 2006 ergibt das eine beeindruckende Materialeinsparung, die ein Teil der stark gestiegenen Rohstoffpreise ausgleichen konnte. Für die Optimierung des Differenzialdeckels wurde zunächst der zur Verfügung stehende Bauraum ermittelt (Bild 4-7). Nach innen ist der Bauraum durch das Differenzial mit dem Tellerrad, nach außen durch den Schraubflansch zur Seitenwelle des angetriebenen Fahrzeugrades und andere Teile wie den Abgaskrümmer begrenzt. Festgelegt und somit nicht zum Optimierungsraum gehörend sind der kreisrunde Flansch mit Zentrierbund und der Lagersitz. Mit diesem mit Finiten-Elementen vernetzten Modell wurden nun verschiedene Optimie-rungsläufe gemacht und die Auswirkungen untersucht. Optimierungsziel ist die Maximie-rung der Steifigkeit mit einer Restriktion der Masse. Hierbei wird über den Füllungsgrad der Materialeinsatz begrenzt.

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Bild 4-7: Modell des Bauraums mit Flansch und Lager-sitz.

Das Optimierungsergebnis des Differenzialdeckels ist in Bild 4-8 zu sehen. Man erkennt den Flansch und den Lagersitz, die beide Nicht-Optimierungsraum und somit im Ergeb-nis auch vollständig enthalten sind. Dazwischen haben sich fünf Streben ausgebildet. Die Streben laufen von Verschraubungspunkten aus zum Lagersitz. Drei der Streben liegen auf der lastzonenabgewandten Seite des Lagers, zwei im Bereich der Lastzone. Mit der Lastzone eines Lagers ist der Bereich gemeint, der durch die Lagerkraft belastet wird.

Bild 4-8: Erstes Optimierungs-ergebnis des Differen-zialdeckels.

Was fängt man mit so einem Ergebnis an? Öldicht ist dieser Designvorschlag sicherlich nicht. Also benötigt man zunächst einmal eine geschlossene Wand. Mehr als die Hälfte des Materials steckt bei einem Gussgehäuse in der Wand. Der Rest befindet sich in Flan-schen, Lagersitzen, Schraubenaugen und Rippen. Es ist wichtig und notwendig, dieses Material so gut wie möglich zu platzieren. Gedanklich kann man sich den mit Material gefüllten Bauraum als einen Raum vorstellen, durch den von der Lasteinleitung zur Last-ausleitung Kräfte fließen. Diese suchen sich den günstigsten Weg. Diese räumlichen Wege gilt es mit Material zu besetzen, will man eine möglichst steife Struktur haben. Im

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 259

Beispiel ist es für die Steifigkeit scheinbar nicht notwendig, zwischen den Streben Mate-rial anzulagern, doch ist es aus der Forderung nach Öldichtigkeit notwendig. Also führt man doch die Wand zumindest durch den Raum, in dem sich die Streben befinden. So wird gewährleistet, dass möglichst viel des Materials der Wand in Bereichen liegt, die für die Steifigkeit wichtig sind. So hat das Material in der Wand nicht nur die Aufgabe Öl im Getriebe zu halten, sondern kann sich auch gleichzeitig bestmöglich an der Gesamtstei-figkeit und dem Halten des Differenziallagers beteiligen.

Bild 4-9: Schnitt durch die Streben.

Bei näherem Betrachten der Streben und durch Erzeugen von Schnitten sind Unterschiede zu erkennen (Bild 4-9). Die Streben auf der lastzonenabgewandten Seite verlaufen vom Lager aus entlang der inneren Bauraumgrenze und lösen sich dann in der Nähe des Flan-sches von der inneren Bauraumgrenze ab und gehen geradlinig zum Flansch. Sie verbinden also den Lagersitz mit dem Flansch so gut wie möglich geradlinig. Die beiden Streben in der Lastzone verlaufen dagegen über den ganzen Bereich entlang der inneren Bauraum-grenze und bilden einen Knick nach außen, der fast bis zur äußeren Bauraumgrenze reicht. Diese Information wurde genutzt und ein nicht rotationssymmetrischer Wandverlauf gene-riert, der im Bereich der Lastzone eine steil angestellte Wand aufweist, während die Wand auf der lastzonenabgewandten Seite sehr flach verläuft (siehe Bild 4-10).

Bild 4-10: Unsymmetrischer, auf die Lagerkraft hin ausgerichteter Wandverlauf.

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Beim Betrachten der generierten Wand und beim Darüberlegen des eigentlichen Optimie-rungsergebnisses (Bild 4-11, links) kann man fast nicht anders als hier noch 5 Rippen anzubringen, die genau in Richtung der Streben liegen und deren Form abbilden. Auch hier ist beim genaueren Hinsehen etwas Besonderes festzustellen. Verlängert man die Streben in der Draufsicht über das Lager hinweg (Bild 4-11, rechts), stellt man fest, dass sich die Linien nicht im Lagermittelpunkt schneiden, sondern im Bereich des Flächen-schwerpunkts der Lastzone. Lager sind fast immer mit einer Radial und Axialkraft beauf-schlagt. Kegelrollenlager induzieren selbst durch den Kegelwinkel eine Axialkraft. So entsteht auch bei reiner äußerer Radiallast auch hier eine Axialkraft. Die Radialkräfte verlagern die Axialkräfte im Lager in die Richtung, in die sie wirken. Dadurch werden die eigentlich zentrisch wirkenden Axialkräfte mitverlagert und wirken exzentrisch. Die fünf radialen Rippen sind also nicht wie es oft anzutreffen ist vom Lagermittelpunkt aus sternförmig angeordnet, sondern auf die Lastzone des Lagers hin ausgerichtet.

Bild 4-11: Ableitung einer auf die Lastzone hin ausgerichteten Verrippung.

Es wurde an dieser Stelle bewusst darauf verzichtet, zusätzliche Versteifungsmaßnahmen aus der Erfahrung heraus einzubringen. Es sollten nur Strukturen in das neue Design einfließen, die auch dem Optimierungsergebnis zu entnehmen sind. Für den neuen Entwurf (Bild 4-12) wurde mit einem etwas komischen Gefühl im Bauch eine Berechnung gestartet. Einerseits wurden ja mit viel Mühe und Neugier aus dem et-was kryptischen Optimierungsergebnis alle möglichen Informationen herausgeholt – der Wandverlauf und die Ausrichtung, Form und Lage der Rippen. Aber allein der Anblick des neuen Designs führt zu einem sehr skeptischen Gefühl. Die Intuition und Erfahrung, im Besonderen auch die mit den vielen berechneten Varianten im Vorfeld des Tests, sa-gen, dass dieses Design keinesfalls steifer als der Prototyp, das Referenzmodell sein kann. Für den neuen Entwurf wurde 20 % weniger Material verwendet als beim Prototyp. Aber erreicht er seine Steifigkeit oder übertrifft er diese sogar? Der Vergleich der beiden Bauteile unter identischen Randbedingungen in der FE-Analyse wird es zeigen.

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Bild 4-12: Optimierter Deckel nach dem 1. Optimie-rungsschritt.

Bild 4-13: Vergleich des Deckels nach der 1. Optimierung mit dem Referenzmodell.

Der Vergleich zwischen dem optimierten Deckel und dem Referenzmodell zeigt, dass der optimierte Deckel nicht nur 20 % leichter ist, sondern auch 40 % an Steifigkeit verloren hat (Bild 4-13). Und das war ja nun überhaupt nicht das Optimierungsziel. Die Steifigkeit sollte doch weiter gesteigert werden, um eine stärkere Lastunabhängigkeit der Flankenli-nie im Zahneingriff zu bekommen. Das Ergebnis war ziemlich ernüchternd. Die Überprüfung der Eingabedaten, Rückspra-che mit dem Softwarehersteller, Diskussionen mit Kollegen, all das brachte keine neuen Erkenntnisse, außer der, dass eigentlich nichts falsch gemacht wurde. Vielleicht hätte

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man sich gefreut, ein Ergebnis mit einem Optimierungsprogramm erzielt zu haben und ein neuartiges Design mit unsymmetrischer Wand und nicht auf den Lagermittelpunkt hin ausgerichteten Rippen gefunden zu haben. Und vielleicht hätte man den Deckel sogar so gebaut, hätte man da nicht diesen Vergleich mit dem zuvor auf die alte, herkömmliche Weise optimierten Deckel gehabt. Wenn aber alles richtig gemacht wurde, vielleicht fehlte noch etwas? Vielleicht war man den Weg noch nicht ganz zu Ende gegangen? Dies war die entscheidende Überlegung. Die Erkenntnis daraus zieht sich bis heute in den Optimierungsaktivitäten der ZF durch. Zwischen dem Deckel und dem Optimierungsergebnis bestehen erhebliche Unterschiede. Aus einem Fachwerk mit gerade mal 5 Streben wurde eine geschlossene, öldichte Struk-tur gemacht. Diese notwendige Ergänzung verändert die ganze Situation. Also war die Überlegung, eine Optimierung auf Basis dieser veränderten Ausgangssituation erneut durchzuführen. In diesem zweiten Optimierungsschritt wurde der neue Deckel in den verbleibenden Op-timierungsraum eingepackt. Der Bauraum wird dabei mit dem Deckel partitioniert. Da-durch entstehen zwei getrennte Volumenbereiche. Der non-design space, der jetzt den ganzen aktuellen Stand des Deckels umfasst, und der Optimierungsraum mit dem Rest des noch zur Verfügung stehenden Bauraums. Die Basis für einen weiteren Optimierungsschritt ist jetzt deutlich anders. Die zweite Optimierungsschleife wird ein ganz anderes Ergebnis zeigen, da jetzt mit der Steifigkeit der Wand und der Rippen gerechnet und optimiert wird, ganz gleich, ob die Struktur nun für das definierte Optimierungsziel optimal ist oder nicht. Die Fragestellung ist jetzt, wie muss das bis hierher entwickelte neue Design des Deckels weiter versteift werden?

Bild 4-14: Optimierungsergebnis nach der 2. Optimierung.

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Das Ergebnis sieht jetzt wie erwartet deutlich anders aus. Über der geschlossenen Wand baut sich in der Lastzone eine Materialansammlung auf, die die Höhe des ganzen Bau-raumes ausnützt. Links und rechts der Lastzone legt sich Material wie eine Spange um den Lagersitz, deren Höhe mit zunehmender Entfernung zur Lastzone abnimmt und schließlich unten an der Wandung ausläuft. Weiter sind noch zwei zusätzliche Anbindun-gen an Verschraubungspunkten ausgebildet worden. Das neue Modell wird nun um diese neuen Ergebnisse ergänzt und aufgebaut. Der Wandverlauf aus der ersten Berechnungsschleife wird übernommen, die 5 Rippen auf Basis der 5 Streben der ersten Berechnungsschleife um die zwei dazugekommenen Rip-pen der zweiten Berechnungsschleife ergänzt und die Spange – ja, was ist mit der Span-ge? Das direkte Ergebnis lässt sich aus gusstechnischen Gründen so nicht fertigen. Wie ist diese massive Materialansammlung dort zu interpretieren und umzusetzen? Da es keine eindeutige Interpretation gibt, wurde aus dem Ergebnis eine Variante nach der an-deren abgeleitet und berechnet. Aber keines dieser Modelle war besser als der Prototyp. Zu dieser Zeit fand ein Treffen im kleinen Rahmen zum Erfahrungsaustausch beim Soft-warehersteller statt. Dies war eine gute Gelegenheit, die Ergebnisse der Optimierung und aller daraus abgeleiteten Varianten mitzunehmen und sie mit den Experten vor Ort zu diskutieren. Alle Anwesenden waren ziemlich ratlos, dass keine der aus der Optimierung abgeleiteten Varianten besser war wie das Referenzteil. Zum Schluss der Diskussion sagte dann noch ein sehr erfahrener Teilnehmer wörtlich: „Manchmal muss man Dinge tun, von denen man denkt, das kann doch gar nicht sein.“ Er meinte damit, das Optimie-rungsergebnis einmal ganz frei zu interpretieren, die Welt von bislang bewährten und etablierten Lösungen zu verlassen und ganz ungewöhnliche Konzepte auszuprobieren. Mit dieser Ermutigung wurden die Ergebnisse danach nochmals angeschaut und dann mit der Modellierung einer gekrümmten doppelreihigen Rippe begonnen, die innerhalb der äußeren umlaufenden Berandung der Spange verläuft. Dies wurde mit der Gewissheit getan, dass dies der letzte Versuch sein würde (Bild 4-15).

Bild 4-15: Optimierter Deckel nach dem 2. Optimierungsschritt.

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264 4 Getriebe

Dieses Modell wurde erneut berechnet und der Blick auf die Verschiebung zeigte, dass jetzt endlich der Differenzialdeckel um 10 % steifer geworden ist! Und das im Vergleich zu einem im Vorfeld in vielen Optimierungsschleifen intensiv auf Steifigkeit getrimmten Deckel – eine ganz neue Dimension (Bild 4-16).

Bild 4-16: Vergleich des Deckels nach der 2. Optimierung mit dem Referenzmodell.

Am Anfang einer Optimierung kann mit wenig Aufwand viel erreicht werden. Je weiter man aber in der Optimierung vorankommt, umso größer wird der Aufwand für immer kleinere Fortschritte. Man nähert sich mehr oder weniger asymptotisch einem Optimum. In diesem Stadium noch 10 % Steifigkeitszuwachs herauszuholen, das ist ein richtiger Sprung. Mit 15 % weniger Gewicht und Materialeinsatz wird dazu noch fast beiläufig ein deutlicher Beitrag zum Leichtbau und zur Kostenersparnis beigesteuert. Es gibt auch noch einen sekundären Effekt. Der Prototyp ist durch einen durchgängigen hohen Bund über dem Flansch gekennzeichnet. Die Optimierung zeigte aber, dass die vorgeschlagene Struktur auch ohne diesen Bund auskommt. Die Schraubenlänge konnte dadurch um mehr als die Hälfte reduziert werden, was zusätzlich Gewicht und Kosten spart. Der Differenzialdeckel ist heute in mehreren Anwendungen bei den Pkw-Automatgetrieben im Serieneinsatz (Bild 4-17).

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 265

Bild 4-17: Serienstand 6-Gang Pkw-Automatgetriebe.

Hohe Steifigkeit bei geringem Gewicht ist für alle Getriebegehäuse eine der Hauptanfor-derungen. Der Differenzialdeckel ist von der Funktion her im Wesentlichen ein Lagersitz und von denen gibt es im Maschinenbau und der Antriebstechnik jede Menge. Das Po-tenzial dieser Lösung, die in den für die ZF relevanten Ländern durch bereits erteilte Pa-tente geschützt ist, wird heute schon in vielen anderen in Serie befindlichen ZF-Produkten genutzt. So ist sie auch in den 6-Gang Pkw-Handschaltgetrieben in Serie, die dort eine Halbierung der Beanspruchungen und Verschiebungen der Gehäuse bewirkt hat (Bild 4-18). Die Gehäuse sind heute dadurch leichter und können dabei noch viel höhere Momente übertragen. In vielen weiteren ZF-Produkten aus den Bereichen Pkw, Nkw, Van, Bahn, und Marine ist diese Lösung in Serie und ist auch Bestandteil aktueller Ent-wicklungsprojekte wie der Doppelkupplungsgetriebe und 8-Gang Automatgetriebe.

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266 4 Getriebe

Bild 4-18: Übertragung auf andere Produkte: Serienstand 6-Gang Pkw-Handschaltgetriebe.

Was kann man aus diesem Beispiel lernen? Zunächst ist es einmal ganz wichtig zu er-kennen, dass allein die Anwendung eines Optimierungsprogramms noch lange kein opti-males Bauteil garantiert. Stellen Sie sich vor, man hätte im vorliegenden Beispiel kein Referenzmodell gehabt, an dem man das Ergebnis hätte messen können und man wäre mit dem Ergebnis nach der ersten Optimierung zufrieden gewesen. Man hätte mit einem Optimierungswerkzeug ein wesentlich schlechteres Bauteil zustande gebracht als ein auf herkömmliche Weise mit Erfahrung entwickeltes Bauteil. Es war auch entscheidend, dass auf Basis des Optimierungsergebnisses mehrere Varian-ten abgeleitet und diese miteinander rechnerisch verglichen wurden. Ein Optimierungser-gebnis lässt sich auf ganz viele verschiedene Weisen interpretieren. Für diese Phase sollte man Zeit einplanen und verschiedene Interpretationen untersuchen. Es ist sicherlich hilf-reich, wenn man selbst ein Modellierungswerkzeug zur einfachen Modellierung von 3D-Modellen zur Verfügung hat. So können schnell Konzepte umgesetzt und analysiert wer-den. Die Vermittlung von gestalterischen Vorstellungen anhand von direkten Optimie-rungsergebnissen ist ein schwieriger Prozess. Mit daraus abgeleiteten, bereits analysierten Konzepten wird dieser Prozess deutlich vereinfacht. Die allerwichtigste Aussage ist aber die: Mit Hilfe der numerischen Strukturoptimierung ist es möglich, sehr viel bessere Strukturen zu finden, auf die man sonst wohl nie ge-

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 267

kommen wäre. Dieses bislang ungenutzte Optimierungspotenzial kann mit der numeri-schen Strukturoptimierung erschlossen und genutzt werden.

4.1.6 Topografieoptimierung einer Ölwanne

Im Rahmen des Programmtests wurde noch ein zweites Beispiel ausgewählt, mit dem die Optimierung der Eigenfrequenzen getestet werden sollte. Auch hier war die Situation ähnlich wie beim Differenzialdeckel. Ebenfalls für das 6-Gang Pkw-Automatgetriebe war bereits eine Blechölwanne optimiert worden – auf herkömmliche Weise in mehreren Optimierungsschleifen (Bild 4-19). Dieses Modell dient als Referenzmodell für die Op-timierung, mit dem das Optimierungsergebnis verglichen wird. Mit der Versickung der Ölwanne wird das Ziel angestrebt, die erste Eigenfrequenz der Ölwanne über die Anregung des Motors zu bekommen. Dadurch wird vermieden, dass die Ölwanne beim Hochlaufen des Motors in Resonanz gerät.

Bild 4-19: Referenzmodell: auf herkömmliche Weise optimierte Ölwanne.

Der erste Optimierungsschritt setzt auf dem unversickten Modell der Ölwanne auf (Bild 4-20). Dieses wurde vernetzt und in drei Bereiche eingeteilt. Der Flanschbereich soll nicht verändert werden und ist als non-design space definiert. Der Optimierungsraum ist in zwei Bereiche unterteilt. Der hintere Teil der Ölwanne befindet sich in der Nähe des Ölfilters. Dort ist die Verschiebung der Ausgangsgeometrie stärker eingeschränkt als in dem Bereich außerhalb davon. Den beiden Bereichen wird daher eine unterschiedliche,

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maximal zulässige Verschiebung zugewiesen, die bei der Optimierung berücksichtigt werden muss. Die Verschiebung des Materials darf wegen der Bodenfreiheit nur nach innen erfolgen.

Bild 4-20: Optimierungsbasis: unversickte Ölwanne mit non-design space (rot).

Bild 4-21 zeigt das Optimierungsergebnis. Die unterschiedlichen Farben zeigen die Grö-ße der Materialverschiebung ausgehend von der Ausgangsgeometrie an. Die roten Berei-che sind am weitesten bezüglich ihrer Ausgangslage verschoben worden. Im Bereich des Ölfilters sind nur kleinere Verschiebungen zu erkennen, so wie es als Restriktion vorge-geben wurde.

Bild 4-21: Ergebnisse nach dem 1. Optimierungsschritt.

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 269

Aus dem Ergebnis wurden die Hauptaussagen herausgezogen und in ein neues Modell umgesetzt. Um die Details im Optimierungsergebnis kümmert man sich in diesem Sta-dium besser nicht, denn man wird feststellen, dass diese Details so gut wie immer nach der Umsetzung der Hauptaussagen in ein neues Modell und nach einem weiteren Opti-mierungsschritt so nicht mehr auftauchen und sich andere neue Aussagen zur Verbesse-rung des Bauteils ergeben. Bei der Umsetzung weicht man immer etwas von dem direk-ten Optimierungsergebnis ab, sei es durch zusätzliche Restriktionen, die in der Optimie-rung nicht richtig abgebildet werden können oder durch Vereinfachungen der optimierten Geometrie, um die Modellierung und Herstellung zu erleichtern. Durch das Verziehen des Netzes während der Optimierung werden die Elemente zum Teil stark verzerrt. Dadurch erhalten sie andere Steifigkeitseigenschaften und verfälschen das Ergebnis. Bei größeren Verschiebungen muss zwischendurch eine Netzrelaxation durchgeführt werden. Eine erste Umsetzung der Ergebnisse in ein einfaches Modell bietet zusätzlich Vorteile, da hier schon die Art der möglichen Umsetzung berücksichtigt wer-den kann. Die folgenden Optimierungsschritte beziehen sich dann auf diese neue Basis und sind damit näher am realen Bauteil. Für die Ölwanne wurde ein solches Zwischenmodell erstellt, mit dem der zweite Opti-mierungsschritt durchgeführt wurde (Bild 4-22). Die Erfahrung vom Differenzialdeckel führte auch hier zu dieser mehrstufigen Vorgehensweise. Am Zwischenmodell ist zu erkennen, dass es hier nicht auf ein fertig ausdetailliertes Modell ankommt. Es muss nur die grundlegende Struktur abgebildet sein.

Bild 4-22: Erste Umsetzung der Hauptaussagen der Optimierung.

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Das zweite Optimierungsergebnis zeigt jetzt weitere Vertiefungen auf, die in dem ersten Optimierungsergebnis nicht zu sehen sind (Bild 4-23). Weiter kann man erkennen, dass im Bereich des Ölfilters nur noch für wenige kleinere Bereiche eine Verschiebung vorge-schlagen wird, was schon eine Aussage zur Güte der in Teilen erfolgten Umsetzung ist.

Bild 4-23: Ergebnisse nach dem 2. Optimierungsschritt mit Interpretation.

Die Erkenntnisse aus dem zweiten Optimierungsschritt wurden noch in das Zwischenmo-dell eingebracht und dann als Vorlage zum Detaillieren gegeben. Das ausdetaillierte Mo-dell der optimierten Ölwanne ist in Bild 4-24 zu sehen.

Bild 4-24: Optimierte Ölwanne.

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 271

Die optimierte Ölwanne wurde abschließend berechnet und mit dem Referenzmodell ver-glichen (Bild 4-25). Die erste Eigenfrequenz der unversickte Ölwanne liegt bei 140 Hz. Die Einbringung des auf herkömmliche Weise entwickelten Versickungsbildes hebt die erste Eigenfrequenz um 60 Hz auf 200 Hz an. Die optimierte Topografie hebt die erste Eigenfre-quenz um 100 Hz auf 240 Hz an und übertrifft das Referenzmodell auch hier sehr deutlich. In Bild 4-26 ist die optimierte Ölwanne in der Serienausführung abgebildet.

Bild 4-25: Vergleich zwischen Referenzmodell und optimierter Ölwanne.

Bild 4-26: Serienstand der optimierten Ölwanne.

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Auf einer Konferenz für Optimierung wurde im Rahmen eines Topografieoptimierungs-beispiels die Problematik mit der nicht eindeutigen Interpretierbarkeit von Optimierungs-ergebnissen vorgestellt. In dem Beitrag wurde das Optimierungsergebnis, die Interpreta-tion und Umsetzung in ein neues Modell gezeigt. Die Berechnung des optimierten Mo-dells zeigte aber nicht die gewünschte Verbesserung zur Ausgangssituation. Das erste Optimierungsergebnis wurde daraufhin erneut interpretiert, umgesetzt und berechnet. Auch dies führte nicht zu der erwarteten Verbesserung. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals, wobei immer wieder das gleiche Optimierungsergebnis neu interpretiert wur-de. Über die Varianten hinweg wurden aber die im Optimierungsergebnis am deutlichsten angezeigten Strukturmerkmale, die vielleicht nur noch einen anschließenden weiteren Optimierungsschritt benötigt hätten, von Interpretation zu Interpretation immer mehr durch Erfahrungswerte ersetzt, die dem Optimierungsergebnis gar nicht zu entnehmen waren. Von den Informationen aus der Optimierung ist im fertigen Bauteil kaum etwas übrig geblieben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dadurch Optimierungspotenzial ver-schenkt wurde. Es ist absolut sinnvoll, ein Optimierungsergebnis auf unterschiedliche Weise zu interpre-tieren, vereinfacht umzusetzen, zu berechnen und dann die Varianten zu vergleichen. Bei manchen Optimierungsproblemen kommt man selbst durch die Definition ausgefeilter Fertigungsrestriktionen mit dem Ergebnis nicht in die Nähe einer direkten Realisierbar-keit. Die Interpretation ist dann manchmal schwierig. Entspricht keine der abgeleiteten Varianten den Erwartungen, sollte eine weitere Optimierung auf Basis des besten Kon-zepts erfolgen, bevor man sich mehr und mehr von dem Optimierungsergebnis entfernt.

4.1.7 Topologieoptimierung eines Getriebegehäuses

Nach der Integration der numerischen Strukturoptimierung in den Entwicklungsprozess wurde von einem bestehenden Getriebe für Schnellfähren eine Applikation für Katama-rane mit Schubaufnahme entwickelt. Die Großkatamarane sind bis zu 98 m lang, 27 m breit und haben eine Verdrängung von knapp 2000 Tonnen. Sie können bis zu 900 Passa-giere und 260 Autos mit einer Geschwindigkeit von 40 Knoten transportieren. Eine Aus-führung eines solchen Großkatamarans ist in Bild 4-27 zu sehen. In diesem Kapitel wird die Optimierung eines Schiffsgetriebegehäuses hinsichtlich einer gewünschten Verschiebungscharakteristik dargestellt. Die anhand dieses Beispiels vor-gestellte Optimalitätsbetrachtung zur Beurteilung der Güte eines optimierten Bauteils wurde an diesem Getriebe entwickelt und kommt heute bei ZF produktübergreifend, also auch in der Kfz-Antriebstechnik, zur Anwendung. Daher ist es naheliegend, diese Opti-mierung des Schiffsgetriebes hier vorzustellen. Das Vorgehen bei der Optimierung des Gehäuses lässt sich ohne Schwierigkeiten auf Optimierungen im Automobil- und Ma-schinenbau übertragen.

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 273

Bild 4-27: Einsatzbeispiel der neuen ZF-Getriebe für Katamarane.

Für den neuen Einsatzfall sollte das Getriebe adaptiert werden. Veränderungen konnten nur an der Innenseite des Gehäuses vorgenommen werden, da durch verschiedene beste-hende Anbauteile und andere Randbedingungen die äußere Gestalt nicht verändert wer-den konnte. Der bisherige Einsatz in den Schnellfähren ist durch ein separates im Rumpf befestigtes Axiallager gekennzeichnet, das den Propellerschub aufnimmt (Bild 4-28). Der Katamaran wird durch vier Waterjet-Antriebe mit je 7200 kW angetrieben. In jedem Rumpf sind zwei hintereinander angeordnete Antriebe untergebracht (Bild 4-29). Das Getriebe wird in einer linken und in einer gespiegelten rechten Ausführung gebaut. Zwi-schen Antriebs- und Abtriebswelle des Getriebes ist ein Versatz vorhanden, mit dem die Anordnung der Motoren hintereinander im schlanken Rumpf realisiert werden kann. Dieser Versatz führt dazu, dass sich das Schublager nicht in Gehäusemitte und auch nicht mittig zu den beiden Getriebelagern befindet.

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Bild 4-28: Schematische Einbausituation in Schnellfähren mit separatem Axiallager.

Bild 4-29: Anordnung der Motoren und Getriebe im Rumpf [mit freundlicher Genehmigung von INCAT Australia].

Bei dieser Anwendung wird im Katamaran auf die üblicherweise in Schnellfähren ver-wendeten separaten Axiallager verzichtet. Der Propellerschub (eigentlich Impellerschub bei Waterjet-Antrieben) von je 70 Tonnen wird hier direkt über das Getriebe in den Rumpf eingeleitet. Daraus ergibt sich eine völlig neue Belastungssituation, die schema-tisch in Bild 4-30 dargestellt ist.

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 275

Bild 4-30: Neue Belastungssituation in Katamaranen ohne separates Axiallager.

Der Schub geht über die Getriebeabtriebswelle direkt auf das nun ins Getriebe integrierte Axiallager (Schublager genannt) und muss von der Schublagerwand des Gehäuses aufge-nommen werden. Die außermittige Einleitung des Schubes in die Schublagerwand würde ohne besondere Maßnahmen zu einer erheblichen Schrägstellung des Schublagersitzes im Gehäuse führen (Bild 4-31, oben). Die Schrägstellung des Lagersitzes würde zu einer ungleichmäßigen Lastverteilung und zu einer lokalen Überbeanspruchung im Schublager führen. Diese Problematik führt zu der besonderen Anforderung an die Optimierung und Gestaltung des Gehäuses, eine möglichst parallele Verschiebung des Schublagersitzes unter Last zu erzielen (Bild 4-31, unten). In der schematischen Darstellung ist auch die Umsetzung der gewünschten Parallelverschiebung über eine Restriktion mit oberer und unterer Verschiebungsgrenze bei der Optimierung dargestellt. Die obere und untere Ver-schiebungsgrenze liegen dabei dicht beieinander.

Bild 4-31: Zu erwartendes Verfor-mungsverhalten (oben) und gewünschtes Ver-formungsverhalten der Schublagerwand (unten).

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Das Optimierungsergebnis zeigt eine ausgeprägte Spange um den Schublagersitz herum, die durch zwei Anbindungen an nahe gelegene steifere Gehäusebereiche und durch eine weitere Anbindung im Bereich des rechten Getriebelagers angebunden ist (Bild 4-32).

Bild 4-32: Optimierungsergebnis mit Interpretation.

Aus diesem Optimierungsergebnis wurde ein neuer Gehäuseentwurf abgeleitet. Die Struktur wurde während der Entwicklung noch mit anderen notwendigen, aus weiteren Anforderungen herrührenden Strukturelementen ergänzt. Mit dem optimierten Gehäuse wurde erneut eine FE-Analyse durchgeführt. Die absoluten Verschiebungen des Gehäu-ses sind in Bild 4-33 zu sehen. Die stark überhöhte Verformungsdarstellung macht deut-lich, dass der Lagersitz des Schublagers für diese außermittige Lage und Lasteinleitung eine äußerst geringe Schrägstellung aufweist.

Bild 4-33: Überhöhte Verschiebungsdarstellung der optimierten Schublagerwand.

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 277

Das Spannungsbild (Bild 4-34) zeigt, dass die Spange über ihre gesamte Länge unter Zugspannung steht, was die Wirksamkeit dieser Struktur belegt. Sie ist in allen für ZF relevanten Ländern durch bereits erteilte Patente geschützt.

Bild 4-34: Minimierung der Schrägstellung durch unter Zug stehende umlaufende Spange.

Wie nahe ist man nun einem Optimum mit diesem Ergebnis? Wie kann die Güte der Ge-häuseoptimierung insgesamt bewertet werden? Mit den Gehäusen aus den Schnellfähren kann das neue Gehäuse sicherlich nicht verglichen werden, denn die Anforderungen an die Gehäuse sind in beiden Einsatzfällen völlig unterschiedlich. Der Schub ist die absolut dominierende Belastung für das Gehäuse, der nur in der Katamarananwendung auf das Gehäuse wirkt.

Für dieses Problem wurde bei ZF die folgende Betrachtung entwickelt. Für die Optimie-rung wird zunächst ein FE-Modell mit einem vollständig beschriebenen und vernetzten Bauraum benötigt. Vor der rechenzeitintensiven Optimierung ist es sinnvoll, dieses Bau-raum-Modell einer Finite Elemente Analyse zu unterziehen, um zu sehen, ob das FE-Modell überhaupt rechenfähig ist und konvergiert. Aus diesem Ergebnis können die Ver-schiebungen ausgewertet werden und man erhält für das Bauraum-Modell einen Ver-schiebungswert für einen bestimmten interessierenden Bereich. Selbstverständlich ist dieses Ergebnis für die praktische Anwendung nicht relevant, da derart massiv und teuer nicht gebaut werden kann. Aber neben dem maximalen Gewicht ist auch schon jetzt die minimale Verschiebung bekannt, mit der auch beim optimierten Bauteil mindestens zu rechnen ist. Dies ist im Vorfeld oft schon eine wertvolle Information.

Überträgt man die Werte in ein Diagramm (Bild 4-35), in der die Masse über den Ver-schiebungen aufgetragen ist, so erhält man zunächst den Punkt A, der zwei Grenzen auf-zeigt. Die Masse des Bauraum-Modells markiert die obere Grenze, denn schwerer kann man mit dem vorgesehenen Material nicht bauen. Die Verschiebung des Bauraum-Modells markiert die untere Grenze der Verschiebungen, denn steifer wie der voll ausge-füllte Bauraum kann auch ein optimiertes Gehäuse nicht werden.

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Bild 4-35: Optimalitätsbetrachtung: Bewertung der Güte einer Optimierung.

Man benötigt jetzt noch einen zweiten Punkt: idealerweise wäre dieser definiert durch die Masse und Verschiebung eines Referenzmodells. Diese werden aber mit einer in den Produktentwicklungsprozess etablierten Optimierung immer seltener. Die äußere Gestalt des Gehäuses ist in diesem Fall definiert und nicht veränderbar. Der Bauraum für die Optimierung der Schublagerwand ist ebenfalls definiert. Nur in diesem Raum können Änderungen erfolgen und eine optimale Struktur gefunden werden. Es ist daher naheliegend, die Ausgangsbasis für die Optimierung als Referenz heranzuziehen und den non-design space ohne den Optimierungsraum zu berechnen. Die Masse und die Verschiebung dieses Basis-Modells definieren jetzt den Punkt B im Diagramm. Auch dieses Modell mit der unversteiften Schublagerwand ist nicht praxisrelevant. Dieses Mo-dell liefert aber die untere Grenze für die Masse und die obere Grenze für die Verschie-bung. Damit wird jetzt in dem Diagramm ein Fenster aufgespannt, in dem das optimierte Bauteil liegen muss. Das theoretische Optimum (gelber Punkt im Diagramm) liegt links unten in diesem Fens-ter. Erreicht werden kann dieser Punkt nicht, denn ohne zusätzliches Material aus dem Optimierungsraum ist auch kein Zugewinn an Steifigkeit zu erzielen. Die FE-Berechnung des optimierten Bauteils liefert jetzt den letzten Punkt C, der zur Beurteilung der Güte notwendig ist. Es geht darum, mit wenig zusätzlichem Material eine möglichst hohe Reduktion der Verschiebung zu erhalten, die im vorliegenden Fall auch noch möglichst parallel sein soll. Eine Trendlinie im Diagramm liefert einen optisch deutlicheren Gesamteindruck vom Ergebnis.

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 279

Das Resultat der Optimalitätsbetrachtung ist, dass mit der optimierten Struktur der Schublagerwand, für die 30 % des Bauraumvolumens verwendet wird, 92 % der maximal möglichen Verschiebungsreduktion erzielt werden konnte. Mit anderen Worten: mit den restlichen 70 % Material könnte nur noch eine weitere Reduktion der Verschiebungen von gerade mal 8 % erreicht werden. Das deutet auf eine Struktur hin, die zumindest sehr nahe am Optimum liegt – wie immer bei einer Optimierung im Rahmen der vorher defi-nierten Restriktionen und Randbedingungen. Die Optimalitätsbetrachtung ist eine Hilfe für die Beurteilung der Güte einer Optimierung und sie dient zur Verdeutlichung der erzielten Verbesserung. Sie veranschaulicht den Sachverhalt und das durch die Optimierung ausgeschöpfte Optimierungspotenzial. Das vorgestellte Getriebe ist heute in verschiedenen Katamaranen weltweit im Einsatz.

Bild 4-36: Serienstand der ZF-Getriebe für Katamarane.

4.1.8 Optimierung eines Halteblechs

In der Antriebs- und Fahrwerktechnik stehen viele Einzelkomponenten in Interaktion. Belastete Bauteile stützen sich an anderen Bauteilen ab, die sich dadurch mitverformen. Das Verformungsverhalten beeinflusst die Belastung und Beanspruchung in allen betei-ligten Bauteilen. In der Zentralen Forschung und Entwicklung der ZF Friedrichshafen AG werden für den gesamten Konzern FE-Berechnungen und Optimierungen durchgeführt. In nahezu allen Fragestellungen spielt der Kontakt zwischen den Komponenten eine bedeutende Rolle, so dass dieser mit berücksichtigt werden muss. Dieser Einfluss kann auch bei Optimierun-gen nicht vernachlässigt werden, da sonst die zu optimierenden Bauteile nicht auf die reale Situation abgestimmt sind. Das folgende Beispiel eines Halteblechs zeigt auf, wie gegensätzlich die Ergebnisse bei Berücksichtigung und Vernachlässigung von Kontakt ausfallen können.

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Das Halteblech wird in den 6-Gang Pkw-Handschaltgetrieben verwendet und dient dazu, bei Schubbetrieb die Lager von Antriebs- und Hauptwelle im Lagersitz zu halten (Bild 4-37). Ohne die Haltebleche würden die Axialkräfte aus den Schrägverzahnungen die kompletten Wellen aus dem Gehäuse herausziehen. Bei Sonderlasten werden die Haltebleche mit einer Axialkraft von 60 kN belastet. Aus Platzgründen werden die Haltebleche mit dem Getriebegehäuse mit Senkkopfschrauben verschraubt. Der innere Durchmesser des Halteblechs ist mit dem Außenring des Lagers in Kontakt. Die Halte-bleche sollen leicht und steif sein, damit die axiale Verschiebung der Wellen zwischen Zug- und Schubbetrieb minimal wird. Dies erfordert eine geringere Funktionsspalte zwischen gegenläufigen Teilen und leistet damit einen Beitrag zur Reduzierung der axialen Baulänge.

Bild 4-37: Positionen der Haltebleche in einem ZF 6-Gang Pkw-Handschaltgetriebe.

Das FE-Modell für die Optimierung besteht aus dem Lageraußenring, der durch eine zentral wirkende Axialkraft beaufschlagt wird, dem Bauraum für das Halteblech, den Senkkopfschrauben und einem Gehäuseausschnitt um den Lagersitz herum (Bild 4-38). Der Bauraum ist im Wesentlichen kreisrund und konstant in der Dicke. Nur im unteren Bereich des Bauraums ist lokal die Dicke reduziert und am Außendurchmesser der Bau-raum abgeflacht (Bild 4-39). Auch für eine Verschraubung ist in diesem Bereich kein Platz.

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4.1 Optimierungsverfahren in der Antriebstechnik 281

Bild 4-38: Schnitt durch das Modell zur Berechnung und Optimierung des Halte-blechs.

Bild 4-39: Bauraum des Halteblechs.

Kontakt konnte zum damaligen Zeitpunkt mit dem Optimierungsprogramm OptiStruct nicht berücksichtigt werden. Nun stand man vor der Wahl: koppelt man die Haltebleche mit dem Gehäuse in axialer Richtung flächig oder nur lokal. Wenn lokal, dann stellt sich die Frage wo. Also wurde zunächst eine FE-Analyse mit dem voll mit Material gefüllten Bauraum mit Berücksichtigung von Kontakt durchgeführt, um mehr Aufschluss über die Problemstellung zu bekommen. Die Ergebnisse zeigen, dass das Halteblech kaum noch in Kontakt mit dem Gehäuse bleibt. Nur am äußersten Durchmesser des Halteblechs und radial nach außen gesehen hinter den Verschraubungspunkten haben die beiden Bauteile Kontakt (Bild 4-40). Eine Möglichkeit das Problem zu umgehen, wäre, die Kontaktkräfte, die als Ergebnis der FE-Berechnung des Bauraumes vorliegen, wiederum als Belastung für die Optimierung zu definieren und damit dann die Optimierung durchzuführen. Wie das Optimierungser-gebnis dann aussehen würde, kann man sich zumindest teilweise schon vor der Optimie-rung vorstellen. Überall dort, wo Kräfte auf den Bauraum wirken, wird das Optimie-rungsergebnis Material aufweisen, denn nur so kann es die Kräfte auch aufnehmen.

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Bild 4-40: Kontaktfläche mit lokaler Kraftübertra-gung, kein Kontakt in dem blauen Be-reich.

Diese Optimierung wurde erst gar nicht durchgeführt. Die Kontaktkräfte am äußersten Durchmesser müssen zwangsläufig zu einem geschlossenen Kreisbogen führen. Dies bedeutet, dass lange Wege von der Lasteinleitung am inneren Durchmesser zum äußeren Durchmesser überbrückt werden müssen. Lange Wege bedeuten erstens viel Material und zweitens hohe Elastizität – keine guten Voraussetzungen für ein Leichtbauteil mit hoher Steifigkeit. Ein Optimierungsproblem, in dem sich die Kontaktbedingungen zwischen dem unbelaste-ten und belasteten Zustand derart ändern, lässt sich ohne Berücksichtigung von Kontakt nicht vernünftig lösen. Mit dieser Problemstellung wurde die in Permas (INTES) gerade neu verfügbare Topo-logieoptimierung getestet, mit der damals schon Kontakt berücksichtigt werden konnte. Die Optimierung erfolgte mit dem gleichen FE-Modell, mit dem zuvor die FE-Analyse des Bauraumes durchgeführt wurde.

Bild 4-41: Optimierungsergebnis mit Berücksichtigung von Kontakt.

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Das Ergebnis der Optimierung mit Kontakt zeigt genau dort kein Material, wo zuvor in der Bauraum FEA die Kontaktkräfte waren und wo mit Sicherheit bei einer Optimierung auf Basis der Kontaktkräfte auch Material angelagert worden wäre (Bild 4-41). Auch befinden sich radial nach außen gesehen hinter den Schrauben keine für die Steifigkeit notwendigen Bereiche. Seitlich an den Schrauben vorbei führen jeweils zwei Zungen, die eine Abstützung in den durch die Schrauben gehaltenen Bereichen bewirken. Der Haupt-teil des Materials liegt jetzt am inneren Durchmesser und die Engstelle im unteren Bau-raum bleibt offen. Dies bedeutet kurze Wege für die Last und damit geringe Nachgiebig-keit, Gewicht und Materialkosten. Der Designvorschlag auf Basis des Optimierungsergebnisses ist in Bild 4-42 dargestellt. In der Ausführung des Serienteils wurde eine Gestalt gewählt, die die Bohrungen für die Senkkopfschrauben vollständig umschließt (Bild 4-43). Um kostengünstig zu produzie-ren, werden die Löcher und Senkungen für die Senkkopfschrauben schon beim Stanz-Präge-Prozess mit eingebracht. Ein stabiler Herstellprozess erfordert dabei Material in ausreichender Stärke um diese Schraubenlöcher herum, da sonst die Gefahr des Ausrei-ßens besteht.

Bild 4-42: Optimierungsbasierter Designvorschlag.

Bild 4-43: Umsetzung in ein Serienteil.

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Die Berücksichtigung von Kontakt bei der Optimierung ist in vielen Fällen unerlässlich. Die Optimierungssoftware sollte einen stabilen und schnellen Kontaktsolver haben oder einen entsprechenden externen Solver mit einbinden können. Bei Modellen mit Berück-sichtigung von Kontakt ist meist mit größeren Modellen zu rechnen, da weitere angren-zende Bauteile mit in das Modell integriert werden. Kontaktiterationen und Optimie-rungsiterationen sind hier zudem ineinander verschachtelt, was eine gute Performance notwendig macht, um die Designvorschläge möglichst frühzeitig im Produktentstehungs-prozess bereitstellen zu können.

4.1.9 Einbindung in den Produktentwicklungsprozess

Die Einbindung der Topologieoptimierung in den Entwicklungsprozess hat einen ganz entscheidenden Einfluss auf das Produkt und die Entwicklungskosten. In der Konzept-phase fließen viele Anforderungen ein, die das Produkt definieren. Aus den verschiede-nen erarbeiteten Konzepten wird meist früh eine möglichst erfolgversprechende Produkt-konzeption ausgewählt, die technisch machbar und wirtschaftlich herstellbar erscheint. Je mehr fundierte Kenntnisse bei dieser Entscheidung vorliegen, umso sicherer ist der späte-re Erfolg. Die Produktkonzeption verdichtet sich mit der Zeit sehr schnell, in der die Funktionen bald stark miteinander verzahnt und Änderungen immer schwerer zu realisie-ren sind. Die Gestaltungsfreiräume nehmen also sehr schnell ab (Bild 4-44). Größere Änderungen sind bald gar nicht mehr durchführbar, ohne den Termin für den Serienstart zu gefährden und die Entwicklungskosten nach oben zu treiben. Erkenntnisse, die zu spät gewonnen werden und deshalb nicht mehr in das Produkt mit einfließen können, sind so gut wie wertlos.

Bild 4-44: Prinzipieller Verlauf von Wissen, Gestal-tungsfreiräumen und Änderungskosten über dem Entwicklungspro-zess.

Die Topologieoptimierung leistet in der frühen Konzeptphase einen wichtigen Beitrag zur Konzeptfindung und zur späteren Konzeptauswahl. Sie kann frühzeitig eingesetzt wer-den, da sie nur auf die Beschreibung des Bauraumes aufsetzt.

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Die Ergebnisse geben ein erstes Bild über die optimale Gestalt des Produktes, die von Anfang an bei allen Entwicklungsschritten berücksichtigt werden kann. Die Topologieop-timierung unterstützt den gesamten Produktentstehungsprozess. Es kristallisiert sich da-bei immer mehr die endgültige Struktur heraus. Wichtig ist aber der erste Schritt in der frühen Konzeptphase, der eine optimale Basis anlegt und wichtige Strukturbereiche identifiziert. Ziel dabei ist, möglichst früh einen hohen Wissensstand zu erreichen. Dadurch werden die durch die sehr kurzen Entwick-lungszeiten schon bald rapide ansteigenden Änderungskosten vermieden. Ein hoher und umfassender Wissensstand in der frühen Konzeptphase ermöglicht aber erst eine wissensbasierte Konzeptauswahl, die die Grundlage für hohe Funktionalität und niedrige Gesamtkosten ist.

Literatur zu Kapitel 4

[1] Duden Fremdwörterbuch, Band 5, 7. Auflage, 2001 [2] ZF Friedrichshafen AG: Geschäftsbericht 2006, Friedrichshafen, 2007 [3] Optimierungsverfahren mit der Finite-Element-Methode. VDI Seminar, 2. – 3. Dezember

1998, RWTH/WZL Aachen

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286

5 Antriebsstrang/Hybrid

5.1 Modellbasierte Antriebsstrangentwicklung Neue Konzepte für eine durchgängige Werkzeugkette vom Entwurf bis zur Validierung

5.1.1 Einleitung

Die Motivation für die Erarbeitung der diesem Kapitel vorgestellten Konzepte ist die Forderung nach immer leistungsfähigeren und flexibleren Methoden zur Entwicklung komplexer mechatronischer Antriebsstränge von Fahrzeugen und mobilen Arbeitsma-schinen. Diese Forderung ist u. a. in der kontinuierlichen Weiterentwicklung der allgemeinen Produktentstehungsprozesse begründet. So wird bis ca. 2020 der Übergang von Produkt-entstehungsprozessen die dem „Time-to-Market“-Ansatz entsprechen, hin zu integrierten Produktenstehungsprozessen notwendig. Dieser neue integrierte Ansatz, zeichnet sich durch Integration von Wissen aus allen Phasen des klassischen Produktenstehungsprozes-ses in jede Teilphase aus. Zur Realisierung solcher Prozessmodelle müssen u. a. systemspezifische Methoden und Werkzeuge zur Verfügung stehen. Bild 5-1 zeigt die verschiedenen Entwicklungsstufen der Produktentstehungsprozesse nach McGrath. Eine der Herausforderungen liegt hierbei im Aufbau und der Vernetzung der unterschied-lichen Entwicklungswerkzeuge für die einzelnen Systemkomponenten des Antriebs-strangs. Dabei ist insbesondere die Durchgängigkeit der Werkzeugkette mit einem auto-matisierten Werkzeugübergang von der frühen Spezifikationsphase über die Entwurfs-phase bis zur Integrations- und Validierungsphase sicherzustellen. Die Schwerpunkte der in der Werkzeugkette eingesetzten Modelle liegen in der dem jeweiligen Entwicklungs-stand entsprechenden Abbildung der Funktion, der geometrischen sowie der physikali-schen Eigenschaften der mechanischen, elektrischen und informationstechnischen Kom-ponenten des Fahrzeugs. Zur Beherrschung der Entwurfs-, Optimierungs- und Integrati-onsaufgaben werden Modellierungssprachen eingesetzt, die effizient jeweils einen Teil-aspekt des Entwicklungsprozesses abdecken.

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5.1 Modellbasierte Antriebsstrangentwicklung 287

Bild 5-1: Die vier Generationen der Produktentstehungsprozesse [11].

Hier wird ein neuer Ansatz zum Aufbau von integrierten Werkzeugketten durch den Ein-satz von automatisierten Werkzeugübergängen mittels Modell-zu-Modell-Transformation vorgestellt. Dabei wird in der Systementwurfsphase die System Modelling Language (SysML) eingesetzt. Diese Notation erlaubt eine abstrakte und domänenunabhängige Beschreibung der Anforderungen sowie der daraus abgeleiteten Systemfunktionen. Durch eine automatisierte Modelltransformation werden die SysML-Modelle in die Modellum-gebung MATLAB/SIMULINK sowie in die Modellumgebung Modelica übergeführt. In diesen Umgebungen erfolgt die Algorithmenentwicklung für die unterschiedlichen zu realisierenden mechatronischen Systemfunktionen sowie die Beschreibung der physikali-schen Eigenschaften der Teilsysteme. Für die Prototypentwicklung der Steuergeräte ist ein erneuter automatischer Modellwech-sel von MATLAB/SIMULINK nach ASCET möglich, um damit Hardware-Integrations-aspekte sowie Echtzeitanforderungen abbilden zu können. Je nach Aufgabenstellung erfolgt bereits in der Entwurfsphase die entsprechende Optimierung der mechanischen und informationsverarbeitenden Komponenten. In der Integrationsphase werden die op-timierten realen Prototypen zusammen mit den virtuellen Antriebsstrangkomponenten auf unterschiedlichen Prüfstandskonfigurationen validiert. Dabei werden die in der Entwurfsphase erstellten Modelle auf skalierbaren Echtzeitplatt-formen eingesetzt. Im abschließenden Betriebsversuch des Gesamtfahrzeugs erfolgen nur mehr die Feinabstimmung der Steuergerätefunktionen sowie die geforderten Zertifizie-rungsnachweise. Der Vorteil der beschriebenen Methoden liegt in der Beherrschung und der Absicherung komplexer Systemfunktionen des Antriebsstrangs durch den vernetzten Einsatz von spezialisierten Entwicklungswerkzeugen.

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288 5 Antriebsstrang/Hybrid

5.1.2 Werkzeuge im modellbasierten Entwicklungsprozess

Der in Bild 5-2 dargestellte Antriebsstrang-Entwicklungsprozess basiert auf dem V-Modell nach VDI-Richtlinie 2206 – Entwicklungsmethodik für mechatronische Systeme [1]. Das V-Modell gliedert sich, wie in Bild 5-2 dargestellt, in die Phasen des System-entwurfs, des domänenspezifischen Entwurfs und der Optimierung sowie der Systemin-tegration mit abschließender Eigenschaftsabsicherung bestehend aus Verifikation und Validierung. Die Definition der Verifikation nach VDI 2006 lautet: „Überprüfung, ob die Realisierung eines technischen Systems mit der Spezifikation übereinstimmt“. Im Gegen-satz dazu definiert VDI 2206 als Validierung: „Prüfung, ob das Produkt bezogen auf sei-nen Einsatzzweck geeignet ist bzw. den gewünschten Wert erzielt“. Hier geht die Erwar-tungshaltung des Experten und des Anwenders ein. Die Eigenschaftsabsicherung der in den Entwurfs- und Optimierungsphasen erarbeiteten Antriebsstrangkonzepte erfolgt in unterschiedlichen Versuchskonfigurationen, vom einfachen Elementversuch (z. B. Lager- oder Steuergeräteprüfstand) über den Komponentenversuch (z. B. Motor- oder Getriebe-prüfstand), Teilsystemversuch (z. B. Antriebsstrangprüfstand) und Gesamtsystemversuch (z. B. Rollenprüfstand) bis zum Betriebsversuch mit dem Gesamtfahrzeug auf der Ver-suchsstrecke [2, 3].

Bild 5-2: Prozess der modellbasierten Antriebsstrangentwicklung.

5.1.2.1 Systemmodell

Der Tätigkeitsschwerpunkt in der Entwurfsphase liegt in der Umsetzung der gegebenen Spezifikationen in einen detaillierten Systementwurf des Antriebsstrangs. Dabei sind nicht nur die mechanischen, elektrischen und softwaretechnischen Anforderungen an das zu entwickelnde Fahrzeug sondern auch der Benutzer, die Fahrzeugumgebung, die Ge-

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5.1 Modellbasierte Antriebsstrangentwicklung 289

setzgebung, die Fahrzeugproduktion sowie die Wartung zu berücksichtigen. All diese Aspekte müssen dabei mit unterschiedlichen Sichten auch bei einer sehr hohen System-komplexität des Fahrzeugs modelliert werden. Dazu eignen sich besonders die Methoden der Systems Modelling Language (SysML) [4]. Diese basiert auf der Unified Modeling Language (UML) und ergänzt diese um zusätzliche Strukturen bzw. Methoden. Die Spra-che bietet in einem objektorientierten Ansatz und bei einem hohen Abstraktionsgrad un-terschiedliche statische und dynamische Sichten auf das erstellte Systemmodell in Form von graphischen Diagrammen. Dazu sind beispielhaft in Bild 5-3 die Darstellung der Anforderungen an einen hybriden Antriebsstrang in Form eines Anforderungsdiagramms (Requirement Diagram) und in Bild 5-4 die Topologie des hybriden Antriebsstrang in Form eines Blockdiagramms (Block Diagram) dargestellt. Weitere Methoden zur Verhaltensbeschreibung in SysML sind das Sequenzdiagramm (Sequence Diagram), das Aktivitätsdiagramm (Activity Diag-ram), das Zustandsmaschinendiagramm (State Machine Diagram) sowie das Anwen-dungsszenario (Use Case Diagram) [12].

Bild 5-3: Anforderungsdiagramm eines hybriden Antriebsstrangs im Systemmodell.

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290 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-4: Blockdiagramm eines hybriden Antriebsstrangs im Systemmodell.

5.1.2.2 Regelbasierte Modelltransformation

Um die im Systemmodell in einer abstrakten Form modellierten Eigenschaften des Ant-riebsstrangs einer weiteren Detaillierung mit spezifischen Werkzeugen zuzuführen, wird eine regelbasierte Modelltransformation eingesetzt [5, 6]. Damit ist insbesondere der Übergang der funktionalen Beschreibung der softwaretechnischen Antriebsstrangeigen-schaften in SysML in eine signalflussorientierte Darstellung in MATLAB/SIMULINK möglich. In einem zweiten Schritt erfolgt der Modellübergang nach ASCET, um damit z. B. auch Hardware-Integrationsaspekte oder Echtzeitanforderungen darzustellen. Eine weitere Anwendung ist die regelbasierte Transformation der Beschreibung der Antriebs-strangtopologie aus SysML in eine objektorientierte physikalische Modellierungsumge-bung wie z. B. Modelica [7]. In Bild 5-5 ist die Struktur der regelbasierten Modelltransformation dargestellt. Hierzu werden sowohl für das Quell- als auch für das Zielwerkzeug toolspezifische Metamodelle aufgestellt. Die einzelnen in UML-Diagrammen beschriebenen Transformationsregeln für den Werkzeugübergang bestehen aus einer LHS (Left Hand Side) die einen Regeltest enthält. Die LHS wird auf das Quellmodell angewendet. Andererseits besteht eine Trans-formationsregel aus der RHS (Right Hand Side). Diese beschreibt die Regeltransformati-on, die Instanzen des Ziel-Metamodells sind.

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5.1 Modellbasierte Antriebsstrangentwicklung 291

Bild 5-5: Automatisierte regelbasierte Modelltransformation.

Das Quellmodell sowie eventuell vorhandene zusätzliche Datenquellen werden über ei-nen Importer in den Transformator eingelesen, der die im Regelmodell spezifizierten Transformationen zur Anwendung bringt und anschließend das Ergebnis über einen Ex-porter als Zielmodell ausgibt.

5.1.2.3 Physikalische und signalflussorientierte Modelle

Bei der detaillierten Modellbildung der physikalischen Antriebsstrangeigenschaften ist es wesentlich, die entsprechenden Naturgesetze zur Beschreibung des Verhaltens der ein-zelnen Teile des Systems zu verwenden. Diese Gesetze sind meist als mathematische Gleichungen dargestellt. Es können vier grundlegende Gleichungstypen unterschieden werden: � Differentialgleichungen

� Algebraische Gleichungen

� Partielle Differentialgleichungen

� Differenzengleichungen.

Die mathematischen Modelle werden auch nach ihren Eigenschaften unterschieden, mit denen sie das Systemverhalten darstellen. Ein wichtiger Aspekt ist, ob das Modell die dynamischen zeitabhängigen Eigenschaften enthält oder ob das Modell statisch ist. Ein anderer Unterschied ist, ob sich das Modell kontinuierlich über der Zeit entwickelt oder sich nur zu bestimmten diskreten Zeitpunkten ändert. Einige Systemeffekte können mit-tels Einsatz von Wahrscheinlichkeitsverteilungen beschrieben werden, während determi-nistische Modelle die Systemeigenschaften ohne Unschärfe beschreiben.

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292 5 Antriebsstrang/Hybrid

Das Prinzip der Energieerhaltung ist eines der fundamentalen Naturgesetze. Es kann fol-gendermaßen formuliert werden: � Der Energiebetrag in einem geschlossenen System kann weder erzeugt noch vernichtet

werden.

Eine Konsequenz dieses Prinzips für ein geschlossenes System ist folgende: � Wenn Energie in einem bestimmten Punkt ohne Speicherung übertragen wird, so ist die

Summe aller Energieströme in diesem Punkt gleich Null.

Energie wird immer mittels eines Trägers transportiert, zum Beispiel ist dies der Drehim-puls in einem rotierenden mechanischen System. Verschiedene physikalische Domänen haben zur Beschreibung der Zustandsgrößen unterschiedliche Potential- und Flussvariab-len. Diese sind in Tabelle 5-1 zusammengefasst. Die Potentialvariablen sind ein Maß für den Energiezustand. Die Auswahl der Potentialvariablen für eine bestimmte Domäne muss so erfolgen, dass in den Verbindungspunkten alle Potentialvariablen den gleichen Wert haben, während die Summe aller Flussvariablen gleich Null ist.

Tabelle 5-1: Energieträger mit zugeordneten Potential- und Flussvariablen.

Domäne Potentialvariable Flussvariable Träger

Elektrik Elektrisches Potential Strom Ladung

Mechanik, translatorisch Position Kraft Linearimpuls

Mechanik, rotatorisch Winkel Moment Drehimpuls

Mechanik, dreidimen-sional

Position und Winkel (3D)

Kraft und Moment (3D)

Linear- und Dreh-impuls (3D)

Magnetismus Magnetisches Potential Magnetische Flussra-te

Magnetischer Fluss

Hydraulik Druck Volumenstrom Volumen

Wärmeübertragung Temperatur Wärmestrom Wärme

Chemie Chemisches Potential Massenstrom Partikel

Zur Beschreibung physikalischer Systeme werden für die unterschiedlichen Domänen entsprechende Konnektorklassen definiert. Damit ist eine akausale Modellbildung mög-lich, welche die physikalischen Zusammenhänge in Form von Gleichungen darstellt (Bild 5-6 links). Zur Beschreibung signalflussorientierter Systeme wie z. B. von Algorithmen und der Informationsübertragung in elektronischen Steuergeräten werden kausale Konnektoren eingesetzt. Der Signalfluss wird in Form von Zuweisungen abgebildet (Bild 5-6 rechts).

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5.1 Modellbasierte Antriebsstrangentwicklung 293

Bild 5-6: Physikalisches Modell (links) und signalflussorientiertes Modell (rechts).

Als Beispiel ist in Bild 5-7 das Modell eines hybriden Antriebsstrangs mit elektrisch leistungsverzweigtem Getriebe und elektrischem Allradantrieb dargestellt. Die einzelnen mechanischen und elektrischen Antriebsstrangkomponenten sind durch akausale Modelle beschrieben, während die einzelnen Steuergeräte als diskrete kausale Modelle und der Fahrer sowie die Strecke als kontinuierlich kausales Modell abgebildet werden.

Bild 5-7: Gemischt physikalisch-signalflussorientiertes Modell eines hybriden Antriebsstrangs.

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294 5 Antriebsstrang/Hybrid

5.1.2.4 Optimierungswerkzeuge

Im Bereich der Entwicklung von Antriebsstrangkomponenten existieren seit langem do-mänenspezifische Optimierungsverfahren. Diese sind Verfahren aus dem Bereich der Optimalregelung und Optimalsteuerung z. B. für die Applikation der Steuergeräte des Verbrennungsmotors und des Getriebes [8] oder Verfahren aus dem Bereich der Topolo-gie- und Formoptimierung z. B. für die Gestaltung der Struktur von hochbelasteten me-chanischen Antriebskomponenten [9]. Die derzeitigen und zukünftigen komplexen Antriebsstrangkonzepte erfordern aber Werkzeuge zur systembasierten Komponentenoptimierung, bei denen auch domänen-übergreifende Effekte wie z. B. dynamische Eingriffe von Steuergeräten auf die zu opti-mierenden mechanischen Komponenten erfasst und im Optimierungsablauf berücksich-tigt werden. Beispielhaft ist in Bild 5-8 der Ablauf der domänenspezifischen Komponentenoptimie-rung dargestellt. Basierend auf einem domänenübergreifenden Antriebsstrangmodell werden die zur Optimierung notwendigen domänenspezifischen Modelle abgeleitet, ana-lysiert und die jeweiligen optimalen Parameter ermittelt. Damit wird anschließend das Antriebsstrangmodell für den nächsten Optimierungsdurchlauf modifiziert. Dieser Vor-gang erfolgt parallel z. B. für die Ermittlung von optimalen Steuergeräteparameter und optimalen geometrischen Bauteilformen.

Bild 5-8: Domänenspezifische Komponentenoptimierung.

5.1.2.5 Modellbasierte Validierung

In der Integrationsphase liegt der Fokus der modellbasierten Validierung im durchgängi-gen Einsatz des in der Entwurfs- und Optimierungsphase erstellten Antriebsstrangmo-dells unter Echtzeitbedingungen auf Leistungsprüfständen [10]. In Bild 5-9 sind dazu beispielhafte Anwendungen bei der Entwicklung eines hybriden Antriebskonzeptes dar-

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5.1 Modellbasierte Antriebsstrangentwicklung 295

gestellt. Die Prüfstände unterscheiden sich dabei durch den Anteil der real aufgebauten sowie der mittels Simulation virtuell dargestellten Antriebsstrangkomponenten. Auf dem Steuergeräteprüfstand werden einzelne oder mehrere Steuergeräte mit den ent-sprechenden Simulationsmodellen der zugehörigen Antriebsstrangkomponenten verbunden und ermöglichen die Validierung der einzelnen Funktionen sowie der Kommunikation des Steuergerätenetzwerks, die Überprüfung der Diagnose sowie eine Grundapplikation. Auf den Komponentenprüfständen werden jeweils nur der Verbrennungsmotor, das Ge-triebe, der Elektromotor oder das Batteriesystem mit den zugehörigen Steuergeräten real aufgebaut, während das restliche Fahrzeug unter Leistungsbedingungen simuliert wird. Dies erlaubt die Darstellung unterschiedlicher Fahrzeugkonfigurationen durch den einfa-chen Austausch der virtuellen Fahrzeugkomponenten. So kann z. B. das Abgas- und Ver-brauchsverhalten des real aufgebauten Verbrennungsmotors für unterschiedliche Be-triebsstrategien untersucht oder der real aufgebaute Elektromotor für unterschiedliche Fahrzeugvarianten validiert werden.

Bild 5-9: Modellbasierte Validierung von Hybridfahrzeugen auf Leistungsprüfständen.

Auf dem Antriebsstrangprüfstand werden mehrere Teilsysteme wie Verbrennungsmotor, Getriebe und Differential als Prüfling eingesetzt. Dabei kann das Batteriesystem des Fahrzeugs durch einen Batteriesimulator ersetzt werden und ermöglicht so die Erprobung des Antriebsstrangs mit unterschiedlichen Strategien für das Energiemanagement. Ein

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296 5 Antriebsstrang/Hybrid

weiterer Schwerpunkt ist bei dieser Prüfstandskonfiguration die Abstimmung der Fahr-dynamikfunktionen des hybriden Antriebsstrangs. Am Fahrzeug-Rollenprüfstand wird das gesamte Hybridfahrzeug aufgebaut und dessen thermisches und akustisches Verhalten vermessen sowie das Abgasverhalten in den ge-setzlichen Fahrzyklen ermittelt. Die auf den Prüfständen experimentell erfassten Daten für Leistung, Verbrauch, Emissio-nen und Fahrbarkeit werden zur Bewertung des Entwicklungsstandes den im Systemmo-dell dargestellten Anforderungen gegenübergestellt. Darüber hinaus werden die Daten zum Abgleich bzw. zur weiteren Detaillierung der physikalischen Modelle eingesetzt.

5.1.3 Zusammenfassung

Die im Beitrag vorgestellte durchgängige Werkzeugkette zur modellbasierten Antriebs-strangentwicklung ist in Bild 5-10 schematisch dargestellt.

Bild 5-10: Werkzeugkette der modellbasierten Antriebsstrangentwicklung.

Die im Lastenheft enthaltenen Anforderungen werden im Systemmodell dargestellt. Im Systemmodell erfolgt auch die Beschreibung des Grobentwurfs des Antriebsstrangs. Im weiteren Entwicklungsablauf erfolgen automatische Modelltransformationen in signal-fluss- bzw. physikalisch orientierte Modellumgebungen wie MATLAB/SIMULINK und

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5.1 Modellbasierte Antriebsstrangentwicklung 297

Modelica. In diesen Umgebungen wird die Verfeinerung der Entwürfe in den einzelnen Domänen wie Software, Mechanik und Elektrik durchgeführt. Daran anschließend erfolgt die Realisierung der Prototypen für Mechanik und Software. Auf Leistungsprüfständen werden die Eigenschaften der Prototypen untersucht und mit den im Systemmodell enthaltenen Anforderungen verglichen. Die domänenspezifische Optimierung der Antriebskomponenten erfolgt immer im Zusammenspiel mit dem Mo-dell des Gesamtsystems. Die vorgestellten Konzepte für eine durchgängige Werkzeugkette bieten die Vorausset-zung für die konsequente Einführung und Umsetzung virtueller Entwicklungsmethoden und damit einen Beitrag zur erfolgreichen Serienentwicklung von konventionellen und alternativen Antriebssystemen.

Literatur zu Abschnitt 5.1

[1] VDI: VDI-Richtlinie 2206. Entwicklungsmethodik für mechatronische Systeme. Juni 2004 [2] Albers, A.; Schyr, C.: Model Based Verification of Automotive Powertrains. 15th Internatio-

nal Conference on Engineering Design, Melbourne, 2005. [3] Albers, A.; Schyr, C.: Modellbasierte Produktvalidierung mittels Integration von funktionalen

und physikalischen Beschreibungen. In: HNI (Hrsg.): Tagungsband 4. Paderborner Work-shop Entwurf mechatronischer Systeme. Paderborn: Heinz Nixdorf Institut, 2006 (HNI-Verlagsschriftenreihe Band 189).

[4] SysML: System Modelling Language Specification, Version 1.0. http://www.sysml.org, Stand 2006-09-01

[5] Müller-Glaser, K. D.; Frick, G.; Sax, E.; Kühl, M.: Multiparadigm Modeling in Embedded Systems Design. In: IEEE Transactions on Control Systems Technology, Vol. 12, No. 2 (March), 2004, pp. 279–292

[6] Kühl, M.; Reichmann, C.; Wolff, H.-J.: Entwurfsbegleitende Modelltransformation – Auto-matisierung von Werkzeugübergängen durch den Einsatz von regelbasierten Modelltrans-formationen. AUTOREG – Steuerung und Regelung von Fahrzeugen und Motoren. VDI-Berichte 1931. Wiesloch, 2006

[7] Modelica: Modelica Language Specification, Version 2.2. http://www.modelica.org, Stand 2006-09-01

[8] Böhl, J.; Kücükay, F.; Pollak, B.; Gschweitl, K.; Bek, M.: Effiziente Entwicklungswerkzeuge zur Motor- und Getriebeapplikation. Getriebe in Fahrzeugen. VDI-Berichte 1943. Friedrich-shafen, 2006

[9] Häußler, P.; Albers, A.: Shape optimization of structural parts in dynamic mechanical sys-tems based on fatigue calculations. In: International Journal of Structural and Multidiscipli-nary Optimization, Vol. 29, No. 5 (2005) p. 361–373

[10] Albers, A.; Schyr, C.: Modellgestützte Erprobungsmethodik in der Antriebsstrangentwick-lung. Erprobung und Simulation in der Fahrzeugentwicklung. VDI-Berichte 1900. Würzburg, 2005

[11] McGrath, M.: Next Generation of Product Development. How to Increase Productivity, Cut Costs, and Reduce Cycle Times. New-York: McGraw-Hill, 2004

[12] Weilkiens, T.: Systems Engineering mit SySML/UML. Heidelberg: dpunkt Verlag, 2006

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298 5 Antriebsstrang/Hybrid

5.2 Hybridfahrzeug in seiner Verkehrsumgebung

5.2.1 Einleitung

Die Entwicklung moderner (hybrider) Antriebssysteme ist eine große Herausforderung für den Ingenieur der Fahrzeugtechnik. Es ist sowohl Detailwissen über die einzelnen Komponenten und ihr Betriebsverhalten erforderlich, als insbesondere auch ein übergrei-fendes Verständnis des Zusammenspiels aller Komponenten im System Antriebsstrang notwendig. Soll die Entwicklung nicht nur den Betrieb des Fahrzeugs in Normzyklen berücksichtigen, sondern zudem auch den realen Fahrbetrieb mit einbeziehen, der von Fahrer und Verkehrsumgebung vorgegeben wird, ist der Einsatz moderner numerischer Programme und Simulationstechniken notwendig. Aufbauend auf der klassischen Längsdynamiksimulation mit einem detaillierten Antriebs-strangmodell bietet die Kopplung eines solchen Modells mit dem Verkehrssimulationstool PELOPS die Möglichkeit, realistische Betriebsbedingungen in der Simulation zu erzeugen. Am Beispiel der Entwicklung eines Hybridfahrzeugs für den Stadtverkehr wird dieses Vor-gehen vorgestellt. Basierend auf dem konventionellen Basisfahrzeug und dessen Betrieb im Zyklus und im Realverkehr, wird zunächst die detaillierte Längsdynamiksimulation des Antriebsstrangs und dessen Kopplung mit dem Verkehrssimulationstool PELOPS validiert. Hierauf auf-bauend wird aufgezeigt, wie sich der virtuelle Betrieb des zu entwickelnden Antriebs im Verkehr darstellt. Die so erzeugten Simulationsergebnisse liefern realitätsnahe Ver-brauchsdaten und Lastkollektive, die z. B. zur Abschätzung der Batterielebensdauer und der Aggregatbelastungen eine wertvolle Information im Entwicklungsprozess von Kom-ponenten und Antriebssystemen darstellen.

5.2.2 Simulationsumgebung

Numerische Berechnungen und Simulationen für die Antriebsstrangentwicklung sind in verschiedenen Ausprägungen möglich. Ausgehend vom realen Fahrzeug kann das Ziel-fahrzeug durch Simulationen in der „virtuellen Welt“ entstehen (Bild 5-11). Am ika (In-stitut für Kraftfahrwesen Aachen) werden die folgenden Ansätze genutzt: 1. Die statische Analyse von Antriebssystemen und deren Komponenten mittels gemes-

sener oder berechneter Kennfelder. 2. Die längsdynamische Simulation von Antriebssystemen im Zyklus. 3. Die längsdynamische Simulation von Antriebssystemen in einer virtuellen Verkehrs-

umgebung, z. B. mit PELOPS.

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5.2 Hybridfahrzeug in seiner Verkehrsumgebung 299

Bild 5-11: Weg der virtuellen Antriebsstrangentwicklung.

Für die statische Analyse von Systemzusammenhängen werden Diagramme eingesetzt, die ein Antriebssystem oder dessen Komponenten für statische Zustände beschreiben. Dies sind z. B. Zugkraftdiagramme oder Verbrauchskennfelder von Verbrennungsmoto-ren. Insbesondere die Möglichkeit, Zusammenhänge in Abhängigkeit von zwei Dimen-sionen in einem Kennfeld graphisch darzustellen, ist zum Verständnis des statischen Sys-temverhaltens hilfreich. Zur dynamischen Analyse und Optimierung des gesamten Sys-tems „Fahrzeug“ sind hingegen komplexere Längsdynamik-Simulationsrechnungen not-wendig, um die dann auftretenden Wechselwirkungen der Komponenten untereinander zu berücksichtigen.

5.2.2.1 Längsdynamiksimulation

Ein wichtiges Arbeitsmittel zur rechnergestützten Entwicklung und Optimierung innova-tiver Antriebssysteme auf Systemebene ist die Längsdynamiksimulation. Hierbei werden alle relevanten Aspekte der Fahrzeugbewegung in Längsrichtung berücksichtigt. Dies sind zum einen die lineare Fahrbewegung des Fahrzeugs, zum anderen aber auch die rotatorischen Bewegungen der Bauteile im Antriebsstrang. In dem am ika genutzten, modular aufgebauten Simulationstool sind alle Hauptkomponenten des Antriebsstrangs in separaten Blöcken abgebildet. In diesen Blöcken wird, basierend auf Kennwerten und Kennfeldern, das physikalische Verhalten der Einzelkomponenten nachgebildet. Durch die entsprechende Kopplung der Einzelblöcke zum Gesamtmodell mittels Schnittstellen, welche die sog. Potenzial- und Flussgrößen (Drehzahl, Drehmoment und Massenträgheit) übermitteln, wird so der vollständige Antriebsstrang abgebildet. In einem Modell für einen hybriden Antriebsstrang werden die Schnittstellen an den entsprechenden Stellen um die elektrischen Größen erweitert. Bild 5-12 zeigt das Modell eines konventionellen Antriebsstrangs, das entsprechend der zu untersuchenden Hybridstruktur modular erwei-tert bzw. angepasst wird.

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300 5 Antriebsstrang/Hybrid

0=Zyklusschaltung1=Automatik

con in

Fbkinwout

Verbrennungsmotor Terminator

win

Fbkin

wout

Fbkout

Nebenaggregate

Fn 0..1

win

Fbkin

locked_f lag

wout

Fbkout

Kupplung

Conin

win

Fbkin

locked_f lag

wout

Fbkout

Getriebe

Tbrake

w

Fbkin

gradient

v

Höhe

Fbkout

Fahrzeug

Pedal

gradient

Fahrer & Zyklus

1

Anzeigen

Schaltmodus

v

Pedal

trans_w

transm_locked

clutch_locked

ICE_w

ICEOut

CluOut

TraOut

VehOut

AntriebsstrangSteuerung

Bild 5-12: Modulares Simulationsmodell.

Das vollständig parametrisierte Antriebsstrangmodell beschreibt somit den für die Analy-se relevanten Teil des Fahrzeugs. Neben der Validierung des Simulationsmodells anhand von Messungen am Realfahrzeug ist es zur Analyse dieses Antriebssystems entscheidend, auch das Lastszenario mit einzubeziehen, das dem Antrieb im Betrieb durch den Fahrer aufgeprägt wird. Die Einbindung des Lastszenarios wird in der Regel durch die Vorgabe eines Geschwindigkeitsprofils realisiert, wobei die Geschwindigkeit als Funktion der Zeit oder des Wegs hinterlegt ist. Das Geschwindigkeitsprofil beruht dann auf einem standar-disierten Zyklus oder auf Daten einer Messfahrt. Der für Europa typische Standardzyklus zur Verbrauchsbestimmung ist der sog. „New European Driving Cycle“ (NEDC) mit seinem innerstädtischen Streckenanteil, dem „ECE“, und seinem außerstädtischen Ab-schnitt, dem sog. „EUDC“, siehe Bild 5-13. Wird ein solcher Zyklus zur Simulation genutzt, ist zwar eine gewisse statistische Absi-cherung für einen durchschnittlichen Betrieb eines Fahrzeugs gegeben, fahrzeug- wie fahrerspezifische Besonderheiten werden jedoch außer Acht gelassen. So ist z. B. der Beschleunigungsverlauf im Zyklus unabhängig vom Leistungsgewicht und der Fahrweise des Fahrers. Die Simulation im Zyklus schafft daher vorrangig ein gutes Maß an Ver-gleichbarkeit zwischen verschiedenen Antriebskonzepten und Fahrzeugen unter normier-ten Randbedingungen.

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5.2 Hybridfahrzeug in seiner Verkehrsumgebung 301

0 200 400 600 800 1000 12000

20

40

60

80

100

120

Zeit [s]

Ges

chw

indi

gkei

t [km

/h]

v=f(t)

4xECE

EUDC

0 200 400 600 800 1000 12000

20

40

60

80

100

120

Zeit [s]

Ges

chw

indi

gkei

t [km

/h]

v=f(t)

4xECE

EUDC

Bild 5-13: New European Driving Cycle.

Um die Adaption der Lastvorgabe an das zu untersuchende Fahrzeug zu verbessern, sind neben den standardisierten Normzyklen im Rahmen diverser Untersuchungen eine Viel-zahl von Zyklen auf sog. Referenzstrecken entstanden. Diese Zyklen beschreiben eine Fahrt mit einem bestimmten Fahrzeug auf einer bestimmten Route, oder der erarbeitete Geschwindigkeitsverlauf beruht auf der Analyse einer Vielzahl von Messfahrten mit Probanden. Dieses Vorgehen erlaubt das Einbeziehen der fahrzeugspezifischen Eigen-schaften, allerdings ist die statistische Absicherung der Messwerte, bedingt durch die notwendige Anzahl der Probanden, schwieriger als die Nutzung eines Normzyklus. Be-züglich der Streckenwahl ist die statistische Absicherung ebenfalls komplex. Abhängig vom angestrebten Detaillierungsgrad der Simulation setzt die Datenerfassung jedoch schon die Messfahrt mit dem zu untersuchenden Fahrzeug voraus. Im Gebiet der For-schung und Vorausentwicklung kann dies ein Problem darstellen, wenn noch kein Proto-typ (Hybrid-)fahrzeug als Versuchsträger zur Verfügung steht. Ein Lösungsweg, die eben beschriebene komplexe Aufgabenstellung der fahrer- und fahrzeugspezifischen Optimierung zu verringern, ist, für die Lastvorgabe nicht auf Messwerte oder auf deren statistische Auswertungen zurückzugreifen, sondern auch die Geschwindigkeitsvorgabe mittels der Simulation zu erzeugen. Hierbei werden der Fahrer und die Strecke ebenfalls in einem Simulationsmodell abgebildet. Wird dieses Vorgehen gewählt, ist es sowohl möglich, den Geschwindigkeitsverlauf in einer separaten Ver-kehrssimulation zu erzeugen und anschließend in der antriebsstrangspezifischen Längs-dynamiksimulation als Vorgabe zu nutzen, als auch die Verkehrssimulation direkt mit der Längsdynamiksimulation zu koppeln. Bild 5-14 zeigt die Architektur der am ika genutz-ten direkt gekoppelten Simulation. Das Softwaretool PELOPS übernimmt die Verkehrs-simulation und beinhaltet daher das Fahrer- und das Umweltmodell. Für die Längsdyna-miksimulation werden ika-Standardmodelle genutzt.

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302 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-14: Architektur der gekoppelten Simulation.

Auch für die gekoppelte Simulation gilt, dass die erzeugten Geschwindigkeitsprofile statistisch bewertet werden müssen. Im Gegensatz zur Messfahrt mit realem Probanden ist dies in der Simulation jedoch deutlich einfacher. Hier können die Fahrerkennwerte oder die der zu fahrenden Strecke in der Simulationsumgebung variiert werden. Eine weitere Variante ist die Nutzung der gekoppelten Simulation, um einen Geschwin-digkeitsverlauf als Vorgabe-Zyklus zu erstellen. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass der erhöhte numerische Rechenaufwand der gekoppelten Simulation nur einmal notwen-dig ist, um mit optimaler Adaption an Fahrer und Fahrzeug eine Geschwindigkeitsvorga-be zu erstellen. Diese Geschwindigkeitsvorgabe kann dann als Zyklusvorgabe genutzt werden. So ist mittels einer einfachen Zyklussimulation eine schnellere Variation von Kenngrößen in der Betriebsstrategie möglich, sofern sich diese nicht auf den Geschwin-digkeitsverlauf des Fahrzeugs auswirken, Tabelle 5-2.

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5.2 Hybridfahrzeug in seiner Verkehrsumgebung 303

Tabelle 5-2: Lastvorgaben in der Längsdynamiksimulation und deren Anwendung.

Art der Lastvorgabe Einsatz

Zyklus 1) Ermittlung von Vergleichsdaten (Verbrauch)

2) Basisauslegung des Hybridfahrzeugs

Messdaten Validierung von Simulationsergebnissen

Gekoppelte Simulation im Verkehrsszenario

Detailentwicklung Verbrauchsberechnung (Realbetrieb)

Geschwindigkeitsprofil, ermittelt in einer gekoppelten Simulation

Parametervariationen

5.2.3.2 Verkehrsszenarien

Die Lastvorgabe, die sich mittels der gekoppelten Simulation ergibt, ist durch das Fahr-zeug, die Fahrerparameter und das hinterlegte Verkehrsszenario bestimmt. Ein Verkehrs-szenario enthält die Daten zur Streckenführung, die Topographie und die Beschilderung sowie die umgebenden Fahrzeuge. Das hier verwendete Verkehrsszenario beschreibt einen realen Rundkurs in Aachen. Um dem Realbetrieb des Fahrzeugs in der Simulation sehr nahe zu kommen, wird bei der Definition des Rundkurses berücksichtigt, dass das Kraftstoffeinsparpotenzial eines Hybridfahrzeugs stark vom Nutzungsszenario abhängig ist. Im Stadtverkehr sind durch Motorabschalten und rein elektrisches Fahren mit besse-rem Wirkungsgrad sowie durch Bremsenergierückgewinnung Verbrauchseinsparungen von bis zu 30 % möglich. Im Überlandbetrieb sind dagegen nur ca. 10 % realistisch und im Autobahnbetrieb kann sogar ein leichter Mehrverbrauch entstehen. Um das Einspar-potential im Realbetrieb richtig einzuschätzen, ist es daher wichtig, die richtige Auftei-lung der Strecke in innerstädtischen, außerstädtischen und den Autobahnverkehr zu fin-den. Im Durchschnitt aller Fahrzeuge in Deutschland werden rund ein Viertel der zurück-gelegten Kilometer innerstädtisch und drei Viertel außerstädtisch gefahren [1]. Da hier jedoch ein typisches Stadtfahrzeug untersucht werden soll, wird der Innenstadtanteil der Referenzstrecke mit 39 % etwas größer angenommen, siehe Tabelle 5-3.

Tabelle 5-3: Kenndaten der Realstrecke.

Streckenlänge außerorts: 15,6 km

Streckenanteil außerorts: 61 %

Streckenlänge innerorts: 10,0 km

Streckenanteil innerorts: 39 %

Die Streckenführung beginnt am ika und verläuft dann zunächst über den Autobahnzu-bringer in Richtung Autobahnanschlussstelle „Aachen-Laurensberg“. Von dort folgt sie der Autobahn bis zum Kreuz Aachen, um dort auf die Stichautobahn A544 in Richtung

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304 5 Antriebsstrang/Hybrid

Aachen Europaplatz zu wechseln. Ab dem Europaplatz folgt dann eine Fahrt im Stadtbe-reich zurück zum ika. Dies ergibt eine Gesamtlänge von 25,6 km, siehe Bild 5-15.

Bild 5-15: Streckenverlauf des Rundkurses in Aachen.

Die Abbildung der gewählten Streckenführung im Umweltmodell ist in Bild 5-16 darge-stellt. Neben dem Kurven- und Höhenverlauf sind alle relevanten Beschilderungen sowie die realen Ampelsteuerzeiten berücksichtigt. Da zudem die Verkehrsdichten abschnitts-weise an die Ergebnisse von Verkehrszählungen angepasst sind, stellt das erstellte Ver-kehrsszenario eine ausgesprochen realitätsnahe Verkehrsumgebung dar. Die Parametri-sierung des Fahrermodells basiert auf der Analyse des Fahrerverhaltens aus Probanden-versuchen mit dem Basisfahrzeug auf der gewählten Strecke und ist ebenfalls sehr realis-tisch.

Bild 5-16: Umweltmodell – Strecken- und Höhenverlauf.

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5.2 Hybridfahrzeug in seiner Verkehrsumgebung 305

5.2.3 Simulationsergebnisse

Wesentlich für die Ergebnisabsicherung ist die Validierung des Simulationsmodells des konventionellen Basisfahrzeugs. Hierauf basiert das Modell des zu entwickelnden Hyb-ridantriebs. Die Validierung des Basismodells erfolgt anhand des Vergleichs einer realen Fahrzeugmessung im NEDC und der Simulation dieser Fahrt mit dem real gefahrenen Geschwindigkeitsprofil. Bild 5-17 zeigt die sehr gute Übereinstimmung der jeweils er-mittelten Kraftstoffdurchflusswerte im betriebswarmen Zustand.

Bild 5-17: Kraftstoffdurchfluss im NEDC (warm).

Die Simulationsergebnisse der gekoppelten Simulation ergeben eine Abweichung von ca. einem Prozentpunkt vom Mittelwert der Probandenversuche. Die Aussagekraft der ge-koppelten Simulation wird hierdurch untermauert.

5.2.3.1 Hybridantrieb

Das hier betrachtete Hybridkonzept ist ein paralleler Hybrid. Die Elektromaschine ist seitlich am Getriebe angeordnet und über einen Adaptionskettentrieb mit der Getriebe-Hauptwelle verbunden. Bild 5-18 zeigt diese Anordnung schematisch. Diese Konfigura-tion bietet in Kombination mit dem automatisierten Gangwechsel die Möglichkeit, die Zugkraftunterbrechung beim Schalten deutlich zu minimieren. Zudem sind durch die radseitige Anordnung der Elektromaschine an der Vorderachse optimale Voraussetzun-gen zur Realisation der Rekuperation (Energierückgewinnung beim Bremsen) geschaf-fen. Als Besonderheit dieser Konfiguration ist zu beachten, dass der Energiefluss im La-debetrieb (Lastpunktanhebung) über den Radsatz des Getriebes und den Adaptionsketten-trieb verläuft.

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306 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-18: Konzept des Hybridantriebs.

Die Weiterentwicklung des Simulationsmodells zur Abbildung des Hybridantriebs erfolgt durch die Integration der Module für die Batterie, die Elektromaschine und die Adapti-onskette sowie der Erweiterung der Fahrzeugsteuerung um die hybriden Zusatzfunktio-nen. Als hybridspezifische Hauptfunktionen seien hier der Start/Stopp-Entscheider und der Ladegradregler der Batterie genannt. Bei der Konzeption und Parametrierung beider steht die optimale Abstimmung von Verbrauch und Batteriebelastung im Fokus, um so ein den Anforderungen gerechtes Energiemanagement darzustellen [2, 3]. Angepasst wird zudem die Gangwahlroutine. Die mit dieser Konfiguration berechnete Verbrauchsreduzierung beträgt im Zyklusbetrieb NEDC (warm) ca. 22 %. Für den virtuellen Betrieb im Verkehrsszenario ergibt sich ein Minderverbrauch von ca. 13 % zum Basisfahrzeug. Dieser Vergleich berücksichtigt nicht den Aspekt der deutlichen Leistungssteigerung durch die Hybridkomponenten. Hierdurch wäre auch der Verbrauchsvergleich zu einem stärker motorisierten konventionellen Fahr-zeug zulässig. Neben der Verbrauchsberechnung ist für die Entwicklung des Hybridantriebs auch die Bestimmung von Lastkollektiven der Komponenten erforderlich. Dies gilt sowohl für die elektrischen Komponenten als auch für die mechanischen Getriebebauteile.

Die Belastung der elektrischen Komponenten des Hybridantriebs ist durch die Antriebs-konfiguration, den Fahrbetrieb und durch die Betriebsstrategie bestimmt. Bild 5-19 zeigt den in der Simulation ermittelten Zusammenhang zwischen dem Energieumsatz in der Batterie und dem Kraftstoffverbrauch für den Betrieb des Fahrzeugs auf dem Rundkurs in Aachen für verschiedene Einstellungen der Betriebsstrategie. Variiert wird der Schwell-

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5.2 Hybridfahrzeug in seiner Verkehrsumgebung 307

wert zum Wechsel vom elektrischen in den hybriden Betriebsmodus mit laufendem Ver-brennungsmotor. Auffällig ist der relativ breite Bereich des Minimalverbrauchs, in dem die Verbrauchsänderung kleiner 1 % ist, aber der u. a. die Batterielebensdauer bestim-mende elektrische Energieumsatz um etwa den Faktor 1,5 schwankt.

Bild 5-19: Elektrischer Energieum-satz in der Batterie.

Die Integration der Elektromaschine und der Adaptionsstufe erfolgt mit minimalen Ände-rungen am Basis-Getriebe. Durch die hybride Antriebsstruktur ändert sich allerdings die mechanische Belastung im Radsatz und der Achsstufe deutlich. Zur Auslegung der Adap-tionsstufe ist es zudem notwendig, ein realistisches Lastkollektiv zu kennen. Zur Be-stimmung der neuen Bauteilbelastungen werden die Simulationsergebnisse der gekoppel-ten Simulation auf dem gewählten Rundkurs genutzt. So ist das in Bild 5-20 dargestellte Lastkollektiv vor dem Hintergrund der zu erreichenden Lebensdauer Startpunkt für die Auslegung der Adaptionsstufe.

Bild 5-20: Lastkollektiv der Adaptionsstufe.

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308 5 Antriebsstrang/Hybrid

Auffallend in der Lastverteilung der Adaptionsstufe ist der häufige Betrieb bei kleinen Drehmomenten. Dieser wird durch den generatorischen Betrieb der Elektromaschine zum Versorgen des Bordnetzes und zum Laden der Traktionsbatterie verursacht.

Für den Radsatz ergeben sich bei radseitiger Anordnung der Elektromaschine zwei neue Aspekte der Belastung. Zum einen entfällt der Schubbetrieb, zum anderen verschieben sich die Zug-Lastanteile in den einzelnen Gangstufen. Der Schubbetrieb im Radsatz ent-fällt, da bei negativen Bedarfsmomenten in den elektrischen Fahrbetrieb gewechselt wird und die Rekuperation dann über Achsstufe und Adaptionskette erfolgt. Im Zugbetrieb nimmt die Häufigkeit von Betriebspunkten im Bereich bis zum halben Nenndrehmoment deutlich ab, der Betrieb um Null-Drehmoment steigt hingegen stark an. Dies ist durch den elektrischen Fahrbetrieb bedingt, der bei geöffneter Kupplung den Radsatz drehmo-mentfrei stellt. Zudem steigt der Lastanteil bei hohen Drehmomenten an. Dies ist durch die hybridspezifisch längere Auslegung der hohen Fahrgänge im Radsatz und den Lade-betrieb mittels Lastpunktanhebung bedingt. Bild 5-12 zeigt diese Zusammenhänge exemplarisch für den 5. Gang und die Achsstufe.

Die Veränderung im Lastkollektiv der Achsstufe wird im Wesentlichen durch den neu hinzukommenden Rekuperationsbetrieb verursacht. So treten am Ritzel der Achsstufe nun nennenswerte Lastanteile im Schubbetrieb jenseits von –40 Nm auf.

Bild 5-21: Lastkollektive, 5. Gang und Achsstufe.

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5.2 Hybridfahrzeug in seiner Verkehrsumgebung 309

5.2.4 Zusammenfassung

Durch den Einsatz moderner Simulationstools ist es möglich, die Entwicklung von (hyb-riden) Fahrzeugantrieben bereits in der Konzept- und Entwicklungsphase durch den Be-trieb in einer virtuellen Verkehrsumgebung effektiv zu unterstützen. Am ika wird hierzu die Kopplung detaillierter Antriebsstrangmodelle der Längsdynamiksimulation mit dem Verkehrssimulationstool PELOPS genutzt. Beide Simulationstools sind im Rahmen ver-schiedener Testreihen und Probandenversuche validiert. So ist es, wie hier dargestellt, möglich, sowohl die Verbrauchsberechnung als auch die Ermittlung von Lastkollektiven realitätsnah darzustellen. Darüber hinaus wird die gekoppelte Simulation zur Optimie-rung von Betriebsstrategien und zur Dimensionierung der Hybridkomponenten einge-setzt. Die gekoppelte Simulation zum virtuellen Betrieb neuer Fahrzeugantriebe ist somit eine zielführende Ergänzung der etablierten Simulationstechniken, die im Wesentlichen zyk-lusbasiert sind. Hierdurch wird das Potenzial geschaffen, die Dimensionierung zukünfti-ger Antriebe bereits im Entstehungsprozess besser an den zu erwartenden Realbetrieb anzupassen. Lebensdauerkritische Komponenten bzw. Betriebsweisen können so frühzei-tig identifiziert und optimiert werden. Das reale Hybridfahrzeug kann also in seiner Ver-kehrsumgebung entwickelt werden. Dabei kommt es in großem Maße darauf an, dass die virtuelle und die reale Welt zusammen betrachtet werden.

Literatur zu Abschnitt 5.2

[1] Verkehr in Zahlen 1999, 28. Jahrgang. Hamburg: Deutscher Verkehrs-Verlag GmbH, 1999 [2] Schüssler, M.; Meinheit, H.; Biermann, J.-W.: Anforderungen und Testverfahren für Batte-

rien bei automobilen Anwendungen. 14. Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentech-nik, 2005

[3] Meinheit, H.; Schüssler, M.; Biermann, J.-W.: Optimierte Regelung und Steuerung hybrider Antriebsstränge. VDI Berichte Nr. 1931. Düsseldorf: VDI Verlag, 2006

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310 5 Antriebsstrang/Hybrid

5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittel-seitigen Wärmeübergang in Verbrennungsmotoren

5.3.1 Einleitung

Der mit der Einführung der direkteinspritzenden Dieselmotoren einsetzende und nachhal-tige große Erfolg am Pkw-Markt ist nicht nur durch die günstigen Kraftstoffverbrauchs-eigenschaften zu begründen. Vielmehr stellen auch die aus dem fülligen Drehmomenten-verlauf resultierenden Fahrleistungen ein entscheidendes Kaufkriterium für das Diesel-aggregat dar. Die Forderung nach höchsten Leistungsdichten und der zunehmende Platz-bedarf durch Hilfsaggregate im Motorraum verlangen eine sehr kompakte Leicht-bauweise von modernen Antriebseinheiten. Trotz höherer Wirkungsgrade ist die über das Kühlsystem abzuführende Wärmemenge in jüngster Vergangenheit erheblich gestiegen. Dies ist einerseits durch die höheren verbauten Motorleistungen und den Einsatz von diversen Zusatzaggregaten (z. B. Klimaanlage, Servopumpen etc.) begründet, aber auch auf verschiedenste Maßnahmen zur Emissionsverminderung (z. B. AGR-Kühlung) zu-rückzuführen. Bei konstant gebliebenem Raumangebot im Motorraum stellt diese Ent-wicklung eine starke Herausforderung für die gesamte Kühlsystemauslegung dar. Hub-raumspezifische Drehmomentwerte von über 170 Nm/dm3 und spezifische Leistungen von über 60 kW/dm3 sind nur über hohe Spitzendrücke zu erreichen und bringen hohe Beanspruchungen für sämtliche Motorkomponenten mit sich. Mit der Steigerung der spezifischen Leistung ist insbesondere ein ansteigender Wärmeeintrag in die Bauteile des Motors verbunden. Die daraus resultierende hohe thermische Belastung stellt für Leicht-metall-Motorkomponenten, wie beispielsweise den Zylinderkopf, eine zusätzliche He-rausforderung bei der Auslegung dar. 5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittelseitigen Wärmeübergang Die Qualität der Auslegung von Zylinderköpfen hat einen entscheidenden Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des Motors. Daher wird in einem gemeinsamen Forschungsvorha-ben der BMW Motoren GmbH in Steyr, dem Software- und Engineering Dienstleister AVL List GmbH und der Technischen Universität Graz (Institut für Strömungslehre und Wärmeübertragung) im Kompetenzzentrum „Das Virtuelle Fahrzeug“ in Graz seit mehr als drei Jahren der Wärmeübergang im Zylinderkopf eines Dieselmotors untersucht. Ziel ist es, die vorhandenen Ansätze zur numerischen Simulation des gas- und kühlmittelseiti-gen Wärmeüberganges zu validieren und zu verbessern. Im Speziellen lag der Schwer-punkt des Vorhabens auf der Untersuchung von Siedevorgängen im Kühlwassermantel. Das Phänomen des unterkühlten Blasensiedens leistet für den Wärmeeintrag ins Kühlmit-tel einen wesentlichen und nicht zu vernachlässigenden Beitrag. Auf Grundlage von fun-dierten experimentellen Untersuchungen am Prüfstand wurde ein Simulationsmodell entwickelt, welches in der Lage ist, diese Effekte im Detail abzubilden. Dieses For-schungsvorhaben wurde vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technolo-gie (BMVIT), der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft mbH (FFG), dem Land Steiermark, der Stadt Graz und der steirischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft mbH (SFG) als Betreiber des K plus Kompetenzzentren-Programms unterstützt.

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5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittelseitigen Wärmeübergang 311

5.3.2 Sieden

Der kühlmittelseitige Wärmeübergang bestimmt ganz wesentlich die Temperaturen in den Bauteilen des Motors, die ihrerseits die Festigkeit und somit die Betriebssicherheit der Struktur beeinflussen. Nur mit einer gezielten Konstruktion und Auslegung des Kühlmittelmantels in Zylinderkopf und Zylinderkurbelgehäuse sind die zur Wärmeabfuhr erforderlichen Wärmestromdichten realisierbar und im Rahmen der geforderten Dauer-festigkeit beherrschbar. Besonders in den thermisch hoch belasteten Regionen des Zylin-derkopfes (z. B. Feuerdeck, Ventilsteg, Auslasskanäle etc.) können die Wandtemperatu-ren soweit steigen, dass lokal Sieden der Kühlflüssigkeit auftritt. Durch die Ausnutzung der latenten Verdampfungswärme, welche durch den Phasenübergang von kleinsten Dampfblasen aufgenommen wird, kann der Wärmeübergang verglichen zu rein einphasi-ger Konvektion erheblich gesteigert werden. Dieser seit langem bekannte und in der klas-sischen Motorenentwicklung eher unerwünschte Effekt wird mittlerweile aufgrund seines Potentials zur Verbesserung des Wärmeübergangs gezielt eingesetzt bzw. bewusst zuge-lassen. Diese Strategie setzt allerdings eine genaue Kenntnis des durch Siedevorgänge beein-flussten Wärmeübergangs voraus. Nur detailliertes und fundiertes Wissen über die herr-schenden physikalischen Zustände und Abhängigkeiten gibt die dazu erforderliche Si-cherheit. Insbesondere ist hier auch von entscheidender Bedeutung, in welchem Ausmaß bestimmte Umgebungsbedingungen und Parameter (z. B. Strömungsgeschwindigkeit, Oberflächenbeschaffenheit etc.) das Siedeverhalten beeinflussen. Für die Auslegung und Entwicklung von Motoren, welche in immer stärkerem Ausmaß durch den Einsatz von Simulationswerkzeugen dominiert wird, sind verlässliche Modelle zur Beschreibung des zweiphasigen Wärmeübergangs eine der wesentlichsten Voraussetzungen. Nur durch die Integration eines entsprechenden Siedemodells in den Berechnungsprozess ist die gefor-derte Genauigkeit und Güte der Berechnungsergebnisse erzielbar.

5.3.2.1 Beschreibung des Siede-Phänomens

Beim Blasensieden kommt es zur lokalen Verdampfung des Kühlmittels, ohne dass sich eine geschlossene Dampfschicht zwischen Kühlmittel und Oberfläche ausbildet. Durch die zur Phasenumwandlung benötigte Verdampfungswärme und die Turbulenzintensivie-rung in der Grenzschicht aufgrund der Dampfblasenablösung wird der Oberfläche zusätz-lich zum konvektiven Wärmeübergang Wärme entzogen. Dadurch wird der Wärmestrom maßgeblich gesteigert. Grundsätzlich ist zwischen dem Phänomen des Behältersiedens in ruhenden Flüssigkeiten und dem von konvektiven Effekten überlagerten Strömungssieden zu unterscheiden. Letzteres ist für die motorische Anwendung von Relevanz, wobei hier im Speziellen noch von unterkühltem Strömungssieden gesprochen wird, da die Kern-strömung unter der Siedetemperatur liegt. Diese Unterkühlung ist auch die Ursache dafür, dass die entstehenden Blasen nur lokal in der Grenzschicht auftreten, da sie unmittelbar nach dem Verlassen derselben sofort wieder in der Flüssigkeit kondensieren.

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312 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bei höheren Geschwindigkeiten wird die Siedeblasenbildung in zunehmendem Ausmaß unterdrückt. In Bild 5-22 ist dieser Zusammenhang in Form von charakteristischen Sie-dekurven dargestellt, welche die Wärmestromdichte über der Wandtemperatur zeigen. Bis zum Erreichen der Siedetemperatur ist der Wärmeübergang durch reine Konvektion bestimmt, wobei sich höhere Strömungsgeschwindigkeiten durch unterschiedliche Ni-veaus und Steigungen der Kennlinien in diesem Bereich manifestieren. Übersteigt die Wandtemperatur den Siedepunkt, kommt es zu einem „Knick“ in den Siedekurven hin zu höheren Wärmeströmen, welcher mit steigender Strömungsgeschwindigkeit abnimmt. Durch das höhere Niveau des konvektiven Anteils und die zunehmende Unterdrückung des Siedeverhaltens bei hohen Strömungsgeschwindigkeiten kommt es zu Überschnei-dungen der Siedekurven. Wie in Bild 5-22 ersichtlich, bedeutet dies, dass dasselbe Wär-mestromniveau mittels unterschiedlicher Strömungsgeschwindigkeiten realisiert werden kann. Bei hohen Geschwindigkeiten dominiert der konvektive Anteil des Wärmeüber-gangs, bei niedrigen hingegen der Siedeanteil.

Bild 5-22: Gemessene Siedekurven bei unterschiedlichen Strömungsgeschwindigkeiten.

5.3.2.2 Einflüsse

Wie bereits erwähnt, gestaltet sich die Beschreibung des Wärmeübergangs bei auftreten-dem Blasensieden äußerst schwierig. Der Grund ist in der Vielzahl von Einflussparame-tern auf den Wärmeübergang zu suchen. Bei Wärmeübergang ohne Phasenwechsel wie Wärmeleitung und Konvektion sind Dichte, Viskosität, Wärmeleitfähigkeit und Wär-meausdehnungskoeffizient sowie geometrische Größen die Haupteinflussfaktoren. Tritt

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5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittelseitigen Wärmeübergang 313

dazu noch eine Phasenänderung von flüssig auf dampfförmig auf, so spielen darüber hinaus noch die Verdampfungsenthalpie, Dampfdruckkurve und die Oberflächenspan-nung eine entscheidende Rolle. Bei Siedevorgängen an festen Heizflächen beeinflussen auch die Eigenschaften der Heizfläche (Heizflächenmaterial, Rauigkeit, Porengrößenver-teilungen, Benetzbarkeit etc.) den Wärmeübergang. Bis dato sind nicht alle Einflussparameter und Abhängigkeiten des Siedeverhaltens auf den resultierenden Wärmeübergang bekannt. Vor allem der Einfluss von Effekten, wel-che im Speziellen im Bereich der motorischen Anwendung auftreten, wie zum Beispiel Vibrationen und Druckgradienten in der Strömung, waren noch nicht erforscht. Aus die-sem Grund wurden im Rahmen dieses Projekts experimentelle Grundlagenuntersuchun-gen angestellt, welche die folgenden Einflussfaktoren beleuchtet haben:

� Kühlmittelzusammensetzung

� Oberflächenbeschaffenheit (Rauigkeit)

� Orientierung der Heizfläche

� Druckgradienten (beschleunigte bzw. verzögerte Strömung)

� Vibration.

Ziel dieser Untersuchungen war es, einerseits das Ausmaß dieser Einflüsse zu quantifizie-ren und andererseits das entwickelte und bereits in der technischen Anwendung befindli-che Siedemodell zu validieren und entsprechend den gewonnenen Erkenntnissen zu ver-bessern. Die Ergebnisse sind einem internen Forschungsbericht [1] entnommen und wer-den im Folgenden zusammengefasst.

5.3.2.2.1 Kühlmittelzusammensetzung

Umfangreiche Experimente wurden mit unterschiedlichen Gemischzusammensetzungen aus deionisiertem Wasser und Ethylenglykol (Glysantin G48 von BASF) durchgeführt. Mit steigender Glykolkonzentration erhöht sich der Siedepunkt bei gleichem Druck. Das Sieden setzt später ein. Zusätzlich fällt mit zunehmendem Glysantin-Anteil die Steigung der Siedekennlinie im überhitzten Bereich geringfügig flacher aus. Beide Effekte verur-sachen eine Verschlechterung des Siedewärmeübergangs mit zunehmender Glykol-Konzentration bei ansonsten gleichen Betriebsparametern. Hinsichtlich der modellmäßi-gen Erfassung des Einflusses des Glysantin-Anteils im Kühlmittel auf den Siedewärme-übergang konnte nachgewiesen werden, dass dieser Effekt hinreichend genau durch die Änderung der Gemischstoffwerte abgebildet wird (siehe Bild 5-23). Die Berechnung der Gemischstoffwerte wird in der bestehenden Modellierung durch entsprechende thermo-dynamische Stoffwerte-Routinen berücksichtigt.

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314 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-23: Einfluss der Kühlmit-telkonzentration auf den Siedewärmeübergang.

5.3.2.2.2 Rauigkeit

Die Oberfläche des Heizblocks der Versuchsanlage, welcher aus der identischen Alumi-niumlegierung wie das Zylinderkopfmaterial gegossen ist, wurde an der Heizfläche mit unterschiedlichen Oberflächenrauigkeiten versehen. Eine merkliche Auswirkung unter-schiedlicher Oberflächenrauigkeiten wurde in den Experimenten nur für eine sehr kurze Dauer nach der Neubefüllung der Anlage beobachtet. Mit zunehmender Betriebszeit wird der Rauigkeitseffekt durch Alterungsvorgänge überlagert, welche eine bestimmte Mikro-struktur über der makroskopischen (rauen) Topologie aufbauen. Die Bildung dieser Mikro-struktur führt letztendlich zu nahezu gleichen Siedewärmeübergängen bei allen untersuch-ten Rauigkeiten. Somit konnte auf eine explizite Berücksichtigung der Rauigkeit der Siede-oberfläche in der Siedemodellierung verzichtet werden.

5.3.2.2.3 Orientierung

Zur Untersuchung des Einflusses der Orientierung der Heizfläche wurde die Testzelle um jeweils 90° und 180° gedreht. Um Alterungseffekte ausschließen zu können, wurde die Drehung bei voll befüllter Anlage durchgeführt, was eine Modifikation der Versuchsan-lage erforderlich machte. Zwischen der horizontal aufwärts gerichteten und der vertikalen Anordnung der Heizfläche konnte kein wesentlicher Unterschied in den resultierenden Siedewärmeübergängen festgestellt werden. Auch eine abwärts gewandte Heizfläche zeigte im Fall großer Strömungsgeschwindigkeiten bzw. kleiner Siedewärmeströme kaum Unterschiede zu den entsprechenden Fällen mit einer aufwärts gewandten Heizflä-che. Bei kleiner Strömungsgeschwindigkeit und Unterkühlung hingegen kann bei der abwärts gewandten Heizfläche partielles Filmsieden auftreten, was zu einer deutlichen Verschlechterung des Wärmeübergangs führt. Solche Betriebszustände müssen in der motorischen Anwendung aufgrund der in diesem Fall akuten Gefahr der Überhitzung sicher ausgeschlossen werden (vgl. Abschnitt 5.3.4).

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5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittelseitigen Wärmeübergang 315

5.3.2.2.4 Druckgradient

Der Einfluss von beschleunigten Strömungszuständen wurde mit Hilfe des in Bild 5-24 dargestellten Versuchsaufbaus analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass der Siedewärme-übergang nicht signifikant von einer lokalen Beschleunigung beeinflusst wird. Dies be-deutet, dass bei anliegenden Strömungen der örtliche Beschleunigungszustand nicht ex-plizit berücksichtigt werden muss.

Bild 5-24: Versuchsaufbau zur Realisierung von Beschleunigungs- und Verzögerungszuständen.

Des Weiteren wurde im Zuge dieser Untersuchungen mittels des Einbaus einer rücksprin-genden Stufe unmittelbar vor der Heizfläche eine Strömungsablösung mit Rezirkulations-gebiet realisiert. Die Geometrie der Stufe wurde so gewählt, dass der Wiederanlagepunkt der Strömung in der Mitte der Heizfläche zu liegen kommt. Auch bei dieser komplexen Konfiguration haben die Ergebnisse gezeigt, dass aufgrund der nicht grob veränderten Dampfblasenbildung eine einphasige Simulation der Grundströmung eine ausreichende Genauigkeit gewährleistet. Unter der Voraussetzung einer korrekten Berechnung des Wie-deranlagepunktes in der CFD-Simulation, welche die Wahl eines geeigneten Turbulenzmo-dells voraussetzt, wird im Boiling-Departure-Liftoff-Modell über den Parameter der vorlie-genden Wandschubspannungsgeschwindigkeit der resultierende Siedewärmeübergang kor-rekt erfasst.

5.3.2.2.5 Vibration

Detaillierte Untersuchungen zum Einfluss von im motorrelevanten Frequenzbereich auf-tretenden Vibrationen auf das Siedeverhalten wurden ebenfalls mit Hilfe der beschriebe-nen Versuchsanlage durchgeführt. Entsprechende Modifikationen an der Testzelle waren hier natürlich erforderlich. Bei sehr kleinen Strömungsgeschwindigkeiten treten komplexe Wechselwirkungen zwi-schen Heizflächenvibration und Siedewärmeübergang auf, wie die experimentellen Beo-bachtungen der Blasendynamik auf der Heizfläche zeigten. Die infolge der Vibrations-wirkung gemessene Veränderung der Wandüberhitzung ist jedoch nur sehr gering aus-

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316 5 Antriebsstrang/Hybrid

geprägt und wurde überdies nur bei sehr kleinen Strömungsgeschwindigkeiten beobachtet (siehe Bild 5-25). Bei höheren Strömungsgeschwindigkeiten dominiert die Konvektion über den Vibrationseffekt, sodass kein Vibrationseinfluss mehr festgestellt werden kann. Aus diesen Gründen kann in der motorischen Kühlmittelströmung der Vibrationseinfluss als von untergeordneter Bedeutung auf den Siedewärmeübergang betrachtet werden. Seine explizite Erfassung in der Siedemodellierung wird daher als nicht notwendig erachtet.

Bild 5-25: Vibrationseinfluss auf den Siedewärmeübergang (Frequenz: 200 Hz).

5.3.3 Modellbildung und Berechnungsmethodik

Im Folgenden werden die Modellierung des oben beschriebenen Phänomens und die für die CFD- und FE-Berechnung abgeleitete Berechnungsmethodik vorgestellt.

5.3.3.1 Boiling-Departure-Liftoff (BDL)-Modell

Basierend auf den Ansätzen von Chen [4] und Campbell et al. [3] wurde das Boiling-Departure-Liftoff (BDL) Modell [5] entwickelt. Dabei wird der Siedeunterdrückungsfak-tor S nicht als Funktion einer globalen Reynolds-Zahl, sondern abhängig von zwei cha-rakteristischen Blasendurchmessern definiert. Die Siedeunterdrückung wird konkret als Produkt zweier Faktoren S1 und S2 beschrieben, welche basierend auf lokalen Strö-mungsgrößen bestimmt werden. Das BDL-Modell ist somit gut für die Anwendung in CFD-Codes geeignet. Die gesamte Wärmestromdichte wird nach Gl. (1) berechnet.

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5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittelseitigen Wärmeübergang 317

strömungsbedingte Siedeunterdrückung

Wärmeübergang bei Behältersieden

konvektiver Wärmeübergang

����� ����� ����� ���� ��� )TT(SS)TT(q SiedWandBehSied21FlWandkonv −⋅α⋅+−⋅α= (1)

Der Faktor S1 soll die Verringerung des Siedeanteils durch die Strömung abbilden und ist aus dem Verhältnis des so genannten Ablösedurchmessers ddep zum Abhebedurch-messer dlift der Dampfblasen definiert. In Bild 5-26 sind die gemäß dieser Modellan-nahme ablaufenden Vorgänge bei Blasenwachstum und Blasenablösung dargestellt. Die Berechnung dieser beiden Durchmesser beruht auf dem Ansatz nach Zeng et al. [8], welcher den Ablöse- und Abhebevorgang der Dampfblasen beschreibt. Dabei wird das Kräftegleichgewicht an der Dampfblase jeweils im Ablöse- und Abhebepunkt be-stimmt. Die dazu erforderlichen Größen (z. B. Wandschubspannungsgeschwindigkeit etc.) stehen in industriellen CFD-Codes zur Verfügung.

dep1

lift

dS

d

φ⎛ ⎞⎜ ⎟=⎝ ⎠

Bild 5-26: Ablöse- und Abhe-bevorgang von Dampfblasen.

Der Faktor S2 soll den Einfluss des steileren Temperaturgradienten bei höheren Wärme-strömen wiedergeben.

21

ˆ1S

C Nu=

+ ⋅ (2)

BehSied 1 depˆS d

Nuα

λ⋅ ⋅

= (3)

Das BDL–Modell beschreibt den Wärmeübergang beim unterkühlten Strömungssieden deutlich besser als das Chen/Campbell–Modell und liefert eine gute Übereinstimmung mit den Messwerten (vgl. Bild 5-27).

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318 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-27: Vergleich BDL-Modell und Chen-Modell mit Messdaten.

5.3.3.2 Gekoppelte Berechnungsmethodik

Zur Bestimmung der Bauteiltemperatur besteht grundsätzlich die Möglichkeit, die gesam-te Berechnung im CFD-Code mittels der bekannten „Conjugate Heat Transfer“ (CHT) Methode durchzuführen. Dazu muss neben dem Flüssigkeitsvolumen auch der Festkörper im CFD-Programm vernetzt und berechnet werden. Üblicherweise wird für die Span-nungs- bzw. Lebensdauerrechnung ohnehin das Bauteil in einem FE-Code berechnet. Daher bietet sich für die Bestimmung der Bauteiltemperaturen eine Kopplung der beiden Programme an. In der CFD-Rechnung wird zunächst die Strömung im Flüssigkeitsvolumen berechnet. Dabei wird vorerst mit adiabaten thermischen Randbedingungen gerechnet. An die FE-Rechnung wird die konvektive Wärmeübergangszahl, der statische Druck, die turbulente kinetische Energie und auch die Flüssigkeitstemperatur übergeben. Die Flüssigkeitstem-peratur ist verständlicherweise im ersten Schritt konstant. In der FE-Rechnung wird dann zusätzlich mit den gasseitigen thermischen Randbedingungen die Bauteiltemperatur be-stimmt. Das BDL-Modell wird dabei vom FE-Programm angewendet, um die jeweiligen Siedeanteile zu bestimmen. An die CFD-Rechnung wird die Wandwärmestromdichte an der kühlmittelseitigen Fläche übergeben. Mit dieser thermischen Randbedingung wird die CFD-Simulation wiederholt und die berechneten Daten werden analog zum ersten Schritt erneut an die FE-Rechnung übergeben. Die FE-Rechnung wird mit diesen angepassten Daten ebenfalls wiederholt und somit wird die Bauteiltemperatur neu bestimmt. Grund-sätzlich besteht auch die Möglichkeit, anstelle der Wärmestromdichte die in der FE-Simulation errechneten Wandtemperaturen an die CFD-Simulation als Randbedingung zu übergeben. Diese Vorgehensweise wird zum Beispiel im Hause AVL standardmäßig angewandt. In diesem Fall werden in der ersten Iterationsschleife, wo diese Daten noch nicht verfügbar sind, für die CFD-Rechnung konstante Wandtemperaturen angenommen. Hierbei ist meist auch eine Untergliederung in entsprechende Teilbereiche üblich, wobei

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5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittelseitigen Wärmeübergang 319

die Wahl der Temperaturen gemäß Erfahrungswerten erfolgt. Damit ist gewährleistet, dass bereits nach dem ersten Berechnungsdurchlauf der CFD-Simulation thermische Ergebnisse und Informationen vorliegen, womit die Konvergenz des Prozesses in Summe beschleunigt wird. Mit steigender Anzahl der Iterationen zwischen FE- und CFD-Rechnung wird der Unter-schied zwischen den jeweils berechneten Temperaturen geringer. Zu Quantifizierung dieses Effekts wurde die beschriebene Methodik an einem einfachen Testbeispiel einge-setzt. Dabei wird ein kreisförmiges Rohr mit Kühlmittel durchströmt (siehe Bild 5-28). Der Festkörper aus Aluminium-Legierung ist durch eine gewisse Wandstärke des Rohrs repräsentiert. An der Außenseite wird eine bestimmte Wärmeübergangszahl und Gastem-peratur vorgegeben. Die Randbedingungen wurden so gewählt, dass über der gesamten benetzten Oberfläche Sieden auftritt.

Bild 5-28: Beispiel-Modell für CFD-FE-Kopplung.

In Bild 5-29 sind die berechneten Temperaturen des Festkörpers über der Anzahl der Kopplungsschritte aufgetragen. Dabei sind die jeweiligen minimalen und maximalen Temperaturen im Bauteil angegeben. Die Temperaturänderungen sind in diesem Beispiel unter 1°C und somit sehr gering. Der Betrag hängt natürlich von den gewählten Randbe-dingungen ab. Jedoch hat sich auch an realen Motorbauteilen, wie zum Beispiel dem Zylinderkopf, gezeigt, dass mit je zwei CFD- und FE-Rechnungen eine befriedigende Genauigkeit erzielt werden kann.

Bild 5-29: Berechnete minimale und maximale Fest-körpertemperatur am Beispielmodell.

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320 5 Antriebsstrang/Hybrid

5.3.4 Anwendungsbeispiel

In diesem Kapitel wird die entwickelte Berechnungsmethodik an einem realen Motorbauteil eingesetzt [6], [7]. Dabei wird eine Konstruktionsvariante eines Aluminium-Zylinderkopfs für einen direkteinspritzenden Dieselmotor betrachtet. Der Nennleistungspunkt wurde als Betriebspunkt gewählt. Das Bild 5-30 zeigt den Wassermantel im Zylinderkopf für einen Zylinder in der Unter-sicht. Dabei ist das berechnete Verhältnis der gesamten (konvektiv und Siedeanteil) zur rein konvektiven Wärmestromdichte dargestellt. Werte über 1 kennzeichnen also Berei-che, in denen Sieden auftritt. Hier speziell ist eine deutliche Erhöhung in der Nähe des rechten Auslassventils zu erkennen. An dieser Stelle ist die lokale gesamte Wärmestrom-dichte mehr als doppelt so groß als der rein konvektive Anteil.

Bild 5-30: Verhältnis Gesamt- zu konvektiver Wärmestromdichte am Zylinderkopf-Wassermantel.

Darüber hinaus wurde der Unterschied zwischen der Berechnung mit und ohne BDL-Siedemodell untersucht. Dabei wurde am identischen Simulationsmodell das Siedemodell deaktiviert und die ermittelten Temperaturen mit jenen der Berechnung mit BDL-Modell verglichen. Wie zu erwarten, sind die Unterschiede in der Nähe der Siedezone am rechten Auslassventil am größten. Die maximale Bauteiltemperatur-Differenz zwischen der Rechnung mit und ohne Siedemodell beträgt ca. 8 Kelvin. Basierend auf den experimentellen Erkenntnissen im Rahmen der Orientierungsuntersu-chungen wurde Gleichung (4) hergeleitet, um den kritischen Übergangspunkt vom Bla-sensieden ins partielle Filmsieden bei abwärts orientierter Heizfläche zu bestimmen [2]. Oberhalb dieser so genannten Übergangswärmestromdichte endet der Gültigkeitsbereich des BDL-Modells, da dieses nur für den Blasensiedebereich hergeleitet wurde. Damit ist für die technische Anwendung des Siedemodells gewährleistet, dass diese kritischen Bereiche in der Simulation erkannt und lokalisiert werden können. Dies bildet die Vor-

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5.3 Einfluss des Strömungssiedens auf den kühlmittelseitigen Wärmeübergang 321

aussetzung dafür, dass in der Auslegungsphase konstruktive Maßnahmen zur Vermei-dung dieser kritischen Bereiche gezielt vorgeschlagen und getroffen werden können.

( )2 2trans sat Fl

bbq a u T Tτ−= ⋅ ⋅ −� (4)

Die Übergangswärmestromdichte steigt mit zunehmender Wandschubspannungsge-schwindigkeit uτ und Unterkühlung des Kühlmediums (Tsat – TFl). Die empirischen Pa-rameter a und b wurden mittels Messungen abgestimmt. Die experimentellen Untersu-chungen haben gezeigt, dass dieser kritische Bereich des Filmsiedens nur im Falle der Überkopf-Orientierung auftritt, bei der das Kühlmittel unterhalb der Siedefläche strömt. Somit müssen nur diese Bereiche mit dem Kriterium nach Gleichung (4) näher betrachtet und bewertet werden. In Bild 5-31 ist das Verhältnis der gesamten Wärmestromdichte zur Übergangswärme-stromdichte aufgetragen. Wiederum wird der Wassermantel des oben erwähnten Zylin-ders gezeigt.

Bild 5-31: Verhältnis der gesamten Wärme-stromdichte zur Übergangswärme-stromdichte am Zylinderkopf-Wassermantel.

Werte über 1 zeigen, dass Gefahr zum partiellen Filmsieden gegeben ist bzw. der Gültig-keitsbereich des BDL-Modells überschritten wurde. Dies ist in einer kleinen Zone in der Nähe des rechten Auslassventils der Fall. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass wie erwähnt, die Korrelation für die Übergangswärmestromdichte für den Überkopf-Fall abgeleitet wurde. Im vorliegen Fall strömt jedoch das Kühlmedium oberhalb der Siede-fläche. Daher kann von größerem Abstand zum Filmsieden und damit der Gültigkeit des BDL-Modells ausgegangen werden.

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322 5 Antriebsstrang/Hybrid

5.3.5 Zusammenfassung

Der Zielkonflikt zwischen Leichtbau und Motorleistung führt zu ständig steigenden spezifi-schen Belastungen in Verbrennungsmotoren. Die erhöhte Leistungsdichte führt auch zu höheren spezifischen Wärmeströmen im Kühlkreislauf. Besonders bei der Verwendung von Leichtmetall-Werkstoffen wirkt sich die lokale Bauteiltemperatur auch auf die Lebensdauer der Bauteile aus. Durch das Auftreten von unterkühltem Strömungssieden, welches in be-stimmten Bereichen des Kühlmittelmantels bewusst zugelassen wird, kann der Wärme-transport in motorischen Kühlkreisläufen erheblich gesteigert werden, da beim Phasenüber-gang von flüssig auf gasförmig die Verdampfungswärme des Kühlmittels genutzt wird. Das Auftreten von Strömungssieden erfordert allerdings eine genaue Kenntnis über das Siede-phänomen und dessen Einflussfaktoren und muss in der Folge auch im Simulationsprozess entsprechende Berücksichtigung finden, damit eine prozesssichere Bauteilauslegung si-chergestellt werden kann. Die in diesem Beitrag vorgestellten Untersuchungen lieferten wertvolle Erkenntnisse über das Phänomen des Blasensiedens. Neben den Haupteinflussparametern wie Druck, Temperatur und Geschwindigkeit wurden verschiedene weitere Einflussgrößen, wie Orientierung, Vibration, Kühlmittelzusammensetzung, Druckgradient und Oberflächen-rauigkeit, erforscht. Das entwickelte BDL-Modell zur Beschreibung des Wärmeübergangs beim unterkühlten Blasensieden basiert auf lokalen Strömungsgrößen und liefert eine gute Übereinstim-mung mit den Messdaten. Das Modell kann in der CFD- und FE-Berechnung eingesetzt werden. Die vorgestellte Berechnungsmethodik zur Bestimmung der Bauteiltemperatur beruht auf der Kopplung von CFD- und FE-Simulation. Damit können Temperaturfelder von Mo-torbauteilen sehr gut vorherbestimmt werden. Die Bedeutung des Effekts des Siedens auf die Temperatur wurde anhand eines Dieselmotor-Zylinderkopfes gezeigt.

Literatur zu Abschnitt 5.3

[1] Breitschädel, B.: Analyse des Wärmeübergangs beim unterkühlten Strömungssieden an me-tallischen Oberflächen. Abschlussbericht vif-AB-026/2006, Das virtuelles Fahrzeug. Graz, 2006

[2] Breitschädel, Steiner, Brenn: Onset of partial film boiling in subcooled boiling flow at a downwards facing heated surface. In: ASME Journal of Heat Transfer, 2006

[3] Campbell, N.A.F., Charlton, S.J., Wong, L.: Designing toward Nucleate Boiling in Combus-tion Engines. ImechE 1995, C496/092

[4] Chen: Correlation for boiling heat transfer to saturated fluids in convective flow. In: Ind. Eng. Chem. Proc. Des. Dev, 5: 322–329, 1966

[5] Kobor, A.: Entwicklung eines Siedemodells für die Simulation des kühlmittelseitigen Wär-meübergangs bei Verbrennungsmotoren. Dissertation, Technische Universität Graz, 2003

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 323

[6] Nefischer, Ennemoser, Wimmer, Pflügl: Rechnerische Bestimmung der Bauteiltemperaturen mit Hilfe verbesserter Modellierung des Wärmeüberganges in Zylinderköpfen. Beitrag zum Wiener Motorensymposium 2002

[7] Petutschnig, Klinner, Kobor, Schutting: Rechnerische Abbildung des Temperaturfelds in Zylinderköpfen moderner Dieselmotoren. In: MTZ 12/2002

[8] Zeng, Klausner, Berndhard, Mei: A unified model for the prediction of bubble detachment diameters in boiling systems – II. Flow boiling. In: Int. J. Heat Hass Transfer, 36(9): 2271–2279, 1993

5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang

Im Rahmen der Antriebsstrangentwicklung treten verschiedene Fragestellungen bezüg-lich Komfort und Geräusch auf. Je nach Frequenzbereich können diese Probleme mit unterschiedlichen Modellierungsansätzen gelöst werden. In diesem Beitrag werden die Berechnungsmethoden für Antriebsstrangschwingungen unter Verwendung dynamischer Mehrkörpersimulation beschrieben. Verschiedene Modellierungsansätze ausgehend vom 1-dimensionalen bis zum 3-dimensionalen Systemansatz unter Verwendung flexibler Strukturen sowie die verschiedene Modellierungskomplexität der eingesetzten Werkzeu-ge ermöglichen sowohl Untersuchungen von niederfrequenten dynamischen Antriebs-strangeffekten (z. B. Ruckeln) als auch Untersuchungen im höherfrequenten, akustischen Bereich (z. B. Clonk). Als Grundlage dieser Untersuchung dient ein torsionaler Ansatz, appliziert an einer Front-Quer Anordnung eines Pkw-Antriebsstrangs. Eine schrittweise Vertiefung der Modellkomplexität ermöglicht die zusätzliche Berücksichtigung spezifi-scher Effekte in Antriebsstrangkomponenten und höherfrequenter Schwingungen. Dar-über hinaus erlaubt die Anwendung flexibler Körper neben der Ermittlung der gekoppel-ten Biege- und Torsionsschwingungen auch die Bestimmung der Belastungen von Ein-zelkomponenten für nachfolgende Festigkeitsuntersuchungen sowie des Körperschalls an Gehäusen und davon ausgehend der Schallabstrahlung. Ein hoher Detaillierungsgrad erfordert naturgemäß einen erhöhten Modellierungsaufwand, einen umfangreichen Da-tenstand der Eingabedaten (Modelle und Parameter) sowie höhere Rechenzeiten. Die Untersuchung wird mit Hilfe der AVL-Simulationswerkzeuge CRUISE, EXCITE Timing Drive (ehemals TYCON) und EXCITE Power Unit durchgeführt.

5.4.1 Einleitung

Das Geräuschverhalten des Antriebsstrangs hat eine zunehmende Bedeutung in der An-triebsstrangentwicklung. Um das volle Potenzial auszuschöpfen, ist das Ziel eine ganz-heitliche Betrachtung des Antriebsstrangs unter Verwendung der Simulation. Das bedeu-

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324 5 Antriebsstrang/Hybrid

tet, es wird versucht, mit einem Softwarewerkzeug beziehungsweise einem Modell sehr viele unterschiedliche Effekte abzubilden. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, den gesamten Modellierungsaufwand geringer zu halten, allerdings werden die Rechenzeiten speziell für einfache Problemstellungen deutlich länger. Es gilt also vor der Modellierung abzuschätzen, welche Effekte auch im weiteren Entwicklungsverlauf berücksichtigt wer-den sollen, um das optimale Softwarewerkzeug für den jeweiligen Bedarf auszuwählen. Im Folgenden werden verschiedene Softwarewerkzeuge mit unterschiedlichen Modellie-rungsansätzen und Simulationsmethoden vorgestellt, welche unterschiedliche Effekte und Auswirkungen berücksichtigen. Die Schwingungs- und Geräuschphänomene im Antriebsstrang lassen sich zur besseren Übersicht in Frequenzbereiche einteilen, wobei die Softwareprogramme aufgrund der Modellierungsansätze jeweils einen Grenzbereich in der Frequenz haben, bis zu dem die Ergebnisse aussagekräftig sind (Bild 5-32).

Bild 5-32: Typische NVH Effekte im Antriebsstrang und ihre Frequenzbereiche.

5.4.2 Modellkomplexität

Neben den zu betrachtenden Effekten hat sich die Auswahl eines Berechnungstools bzw. einer Modellkomplexität sehr stark an den Anforderungen der einzelnen Phasen des Ent-wicklungsprozesses zu orientieren. Dabei sind im Speziellen folgende Aspekte zu beach-ten:

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 325

� Verfügbarkeit und Qualität von Daten (Modelle und Parameter)

� Modellierungszeit

� Simulationszeit / Durchlaufzeit

� Erwartete Genauigkeit.

(Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Optimierung von Durch-laufzeiten ein sinnvollerer Ansatz ist als das Reduzieren von reinen Rechenzeiten.)

Als weitere wichtige Parameter zur Definition der Modellkomplexität sind unterschiedli-che Lastfälle und Modellvarianten zu berücksichtigen. Als Lastfälle sind stationäre Be-triebspunkte und instationäre Lastzustände zu unterscheiden (die Analyse selbst erfolgt in beiden Fällen üblicherweise transient im Zeitbereich). Des Weiteren muss zwischen Mo-torzyklussimulation und Fahrzyklussimulation bis hin zur Echtzeitsimulation zur rechen-technischen Abbildung von Motor- und Getriebesteuerung (ECU/TCU) und Koppelung der virtuellen Simulationsumgebung mit Einzelhardwarekomponenten und Steuergeräten am Prüfstand über HiL (Hardware-in-the-Loop), unterschieden werden (Beispiele sind Kontrollerentwicklung mit virtuellen Fahrzeugkomponenten oder Koppelung realer An-triebstrangkomponenten mit virtuellen Komponenten am Prüfstand.

Die Berechnung von unterschiedlichen Zuständen und Variationen ist für ein detailliertes Systemverständnis und die Auswirkung von Modifikationen essentiell und hat damit einen wesentlichen Einfluss auf die Wahl der Modellkomplexität. Die Anwendung von DoE (Design of Experiments) oder Optimierung im mathematischen Sinn ist erst am Anfang ihrer Möglichkeiten für komplexe Systeme. DoE bezeichnet eine durch mathe-matische Algorithmen unterstützte Generierung von Variationen der Modellparameter für eine Sensitivitätsanalyse im Parameterraum (statistischen Ermittlung der Abhängigkeiten zwischen Eingabe- und Ausgabeparametern des Simulationsmodells) um mit einer mög-lichst geringen Anzahl an Variationen eine gesicherte Aussage zu ermöglichen. Heutzu-tage wird noch meist über Variantenuntersuchung ein System verbessert.

Die Modellkomplexität definiert sich allgemein durch ihre Tiefe (Detaillierungsgrad) und Breite (Systemgröße). Der generelle Trend geht weg vom Komponentenmodell, über die Abbildung von Subsystemen bis hin zu Gesamtsystemen. Hauptgrund ist die damit ver-bundene genaue Berechnung von Komponentenrandbedingungen, die bei reinen Kompo-nentenmodellen meist angenommen werden müssen. Um die gegensätzlichen Anforde-rungen von Modelltiefe und -breite zu kombinieren werden oftmals Gesamtmodelle mit einfachem Detaillierungsgrad der Komponenten verwendet, um die korrekten Randbe-dingungen für weitere detaillierte Submodelle oder Komponentenmodelle zu generieren, mit denen im Anschluss Detailuntersuchungen durchgeführt werden.

Hauptanforderung an den Ingenieur ist es, die notwendige und sinnvolle Modellkomple-xität für das zu untersuchende Phänomen in Relation zu den vorhandenen Ressourcen, Daten und dem Zeitfenster zu finden. Dies erfolgt sinnvoller Weise nicht im Entwick-

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326 5 Antriebsstrang/Hybrid

lungsprojekt, sondern wird meist über separate Methodenprojekte bestimmt, die eine detaillierte Validierung der Ergebnisse beinhalten. Die so gewonnenen Erkenntnisse kön-nen dann im Entwicklungsprojekt ohne die Notwendigkeit von Rechnungs-Messungs-abgleichen und damit der Verfügbarkeit von Hardware als so genannter Front Loading Ansatz eingesetzt werden. Dennoch ist es sinnvoll, soweit möglich, die Modelle kontinu-ierlich zu begleiten und damit zu verbessern, sobald die erste Hardware verfügbar ist.

Neben der allgemeinen Anforderung an die Berechnung, sinnvolle Ergebnisse ohne Hardware zu ermöglichen, sei auch auf weitere Anforderungen hingewiesen. Simulation soll zusätzliche Informationen und Werte liefern, die von der Messung nicht bereitstellen werden können und sie soll im Wesentlichen drei Fragen zu beantworten helfen:

� Wie verhält sich das System?

� Woher und woraus resultiert dieses Verhalten?

� Wie kann dieses Verhalten beeinflusst bzw. verbessert werden kann?

Dabei kann der erste Punkt bereits mehrheitlich von der Software selbst beantwortet wer-den, die beiden anderen muss der Ingenieur beantworten. Hier auch eine detaillierte Un-terstützung von Seiten der Software zu liefern, ist einer der Hauptanforderungen für die Softwareentwicklung der kommenden Jahre.

Dieser Beitrag zeigt, wie die Entwicklung eines Antriebsstrangs durch „prozesskompatib-le“ Simulationswerkzeuge bzw. Modelle sinnvoll unterstützt werden kann und konzent-riert sich dabei auf die rein mechanische Problemstellung. Dabei wird ausgehend von einem einfachen torsionalen Ansatz eine schrittweise Verfeinerung bis hin zur 3D-Elasto-Mehrkörperdynamik vorgenommen. Bild 5-33 gibt eine Übersicht der betrachteten Tools bzw. Modellkomplexitäten und die damit analysierten NVH-Effekte. NVH (Noise, Vibra-tion, Harshness) bezeichnet einen üblichen Sammelbegriff für verschiedenen Schwin-gungs- und Akustikphänomen, die sich übersichtlich über dem beeinflussten Frequenzbe-reich definieren und unterscheiden lassen.

Die Untersuchung elektrischer, thermischer oder hydraulischer Problemstellungen im Antriebsstrang sind separate Aufgabenstellungen und werden oftmals über Koppelung verschiedener Tools realisiert.

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 327

Bild 5-33: Betrachtete Modellkomplexitäten und Effekte.

5.4.3 Softwareprogramme und Modellierungsansätze

Die im Rahmen dieses Beitrags verwendeten Berechnungswerkzeuge sind die AVL Si-mulationstools CRUISE, EXCITE Timing Drive (ehemals TYCON) und EXCITE Power Unit. Ein Vergleich der Hauptmerkmale und Unterschiede zwischen den einzelnen Werkzeugen findet sich in Bild 5-34.

Bild 5-34: Vergleich der Hauptmerkmale und Unterschiede der verwendeten Software.

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328 5 Antriebsstrang/Hybrid

CRUISE [1] ist ein Mehrkörpersimulationstool (MKS), das hauptsächlich in der Motor- und Fahrzeugentwicklung zur Berechnung von Fahrleistung, Verbrauch und Emissionen sowie zur Beurteilung von Antriebsstrangkonzepten verwendet wird. Der Mehrkörpersi-mulationsansatz ist hier ein rein torsionaler, wobei an beliebigen Stellen des Antriebs-strangs linear-torsionselastische Elemente auch unter Berücksichtigung von Spiel einge-baut werden können. Damit kann ein Modell mit beliebig vielen torsional gekoppelten Körpern erzeugt werden. Eine zusätzliche Entkoppelung kann an den Rädern über eine Berücksichtigung des Schlupfs vorgenommen werden. Die in vielen Effekten des An-triebsstrangs erforderliche Berücksichtigung der Biegung (z. B. bei bestimmten Formen des „Boom“) beschränkt üblicherweise den Einsatz dieser und ähnlicher Softwarepro-gramme auf den Frequenzbereich bis maximal 10 Hz. EXCITE TIMING DRIVE [2] ist ein Mehrkörpersimulationstool basierend auf Starrkör-pern und Kraftelementen (durch die fortschreitende Integration der Tools wird das frühe-re Tool TYCON mittlerweile als EXCITE Timing Drive bezeichnet und ist Teil vom Gesamtpaket EXCITE.). Die Bezeichnung Starrkörper ist hier so zu verstehen, dass jeder Körper als Einzelmasse repräsentiert wird oder in Einzelmassen und Steifigkeitselemente unterteilt werden kann, womit sich etwa die Torsion und Biegung von Wellen ausrei-chend genau abbilden lässt. Ein Körper ist somit nicht notwendigerweise starr, wird aber nicht im Detail im Sinne einer FEM Modellierung abgebildet. Im Gegensatz zu CRUISE kann hier zusätzlich der Biegeeinfluss in den Körpern berück-sichtigt werden, sodass sich ein vollständiger 3D Ansatz ergibt. Neben Applikationen im Bereich Antriebsstrang liegt das Hauptanwendungsgebiet von EXCITE Timing Drive in der Steuertriebsdynamik des Motors beziehungsweise in der Berechnung von Ketten, Riemen und Zahnradgetrieben. Aufgrund der Berücksichtigung der Biegung erhöht sich der Frequenzbereich für Antriebsstranguntersuchungen bis auf ca. 200 Hz. Höhere Frequenzen können sinnvoller Weise erst mit Berücksichtigung von Antriebs-strangkomponenten als so genannte flexible Strukturen berücksichtigt werden. Dies er-folgt mit der Software EXCITE POWER UNIT [3], welche hybride Systeme – bestehend aus Starrkörpern und elastischen Körpern – erfassen kann. EXCITE Power Unit ist ein in der Motorentwicklung anerkanntes Tool zur Berechnung von Schwingungen und Akustik und zeichnet sich vor allem durch eine sehr effiziente Gleichungslösung bei flexiblen Strukturen in Verbindung mit nichtlinearen Kopplungen (z. B. elasto-hydrodynamische Gleitlager) aus. Das ebenfalls in Bild 5-34 angegebene Tool EXCITE Designer beschreibt ein rein torsio-nales Modell, das im Gegensatz zu den anderen Tools im Frequenzbereich arbeitet. Die Lösung erfolgt damit sehr rasch, die Anwendung beschränkt sich aber auf rein lineare Problemstellungen. Die Anwendung eines solchen Ansatzes im Antriebsstrang ist da-durch beschränkt und konzentriert sich meist auf die torsionale Auslegung von Wellen-verbindungen von Prüfstandsaufbauten.

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 329

Eine prinzipielle Abstimmung der einzelnen Modelle mit Versuchen ist nicht Gegenstand der vorliegenden Zusammenstellung, kann aber an anderer Stelle, wie etwa [7], nachgele-sen werden. Innerhalb einer Software können verschiedene Modellkomplexitäten realisiert werden. Ein Standard bei NVH-Berechnungen ist die Simulation der Strukturschwingungen der Antriebseinheit einschließlich des Kurbel- und Ventiltriebs unter Verwendung flexibler Körper, die mittels FEM Modellen abgebildet werden (siehe oberes Modell in Bild 5-35). Die Simulation von Getrieben und Antriebssträngen mittels Starrkörpern oder Massen-Steifigkeits-Modellen ist ein anderer üblicher Ansatz. Teilweise kommen auch hier be-reits flexible 3D Strukturen zum Einsatz. Das Ziel für künftige Anwendungen besteht in der sinnvollen Kombination dieser unterschiedlichen Modellierungsansätze (Bild 5-35). Je nach den erforderlichen Ergebnissen kann das Berechnungsmodell einer Komponente selbst wieder einfach oder komplex aufgebaut sein. Bild 5-35 zeigt ein typisches Motor-modell, ein Antriebsstrangmodell, sowie ein kombiniertes Gesamtmodell. Das Motormo-dell ist für alle drei Modelle unterschiedlich detailliert ausgeführt.

Bild 5-35: Modellierungskomplexitäten für Antriebsstränge.

Im Gesamtmodell werden für die Abbildung des Motors entweder Strukturmatrizen, ba-sierend auf kondensierten 3D FEM Modellen, verwendet, wie in Bild 5-35 schematisch dargestellt, oder es wird ein reines Drehschwingungsmodell verwendet (siehe komplexes Modell in Bild 5-36).

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330 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-36: Einfaches und komplexes Modell eines vollen Antriebsstrangs.

Im vorliegenden Fall wird die Kurbelwelle in sechs Drehmassen unterteilt. Diese reprä-sentieren die Kröpfungen der Kurbelwelle, das Schwungrad und den Kurbelwellendämp-fer. Die Pleuel sind als masselose Verbindungen zwischen den Kröpfungen und den als Massenpunkten dargestellten Kolben abgebildet. Die Anregung erfolgt mittels gemesse-ner Zylinderdruckverläufe, welche als äußere Kräfte am Kolben wirksam sind. Das Mo-tormodell bildet die Drehungleichförmigkeiten aufgrund des Verbrennungsprozess bzw. der Massenkräfte ab (= Hauptanregungsquelle für den Antriebsstrang), erfasst aber auch Torsionseigenfrequenzen der Kurbelwelle. Für das Zweimassenschwungrad ist ein vereinfachtes Modell in Verwendung, welches auf einer Momentenkopplung beruht (erfasst Elastizität und Reibung). Analoges gilt für das Kupplungsmodell zwischen Sekundärteil des Zweimassenschwungrads und der Kupplungsscheibe. Die Zustände Haften und Gleiten werden dabei durch eine regulari-sierte torsionale Kopplungscharakteristik dargestellt. Sämtliche Getriebewellen sowie die Seitenwellen sind als Balken-Massen-Modelle dar-gestellt. Das Getriebemodell beinhaltet alle Getriebestufen ausgenommen den Rück-wärtsgang. Die Getriebestufen sind über Kraftelemente (mit Spiel) in Eingriffsrichtung der Verzahnung dargestellt. Die Losräder der nicht eingelegten Gänge sind auf den Ge-triebewellen über lineare Feder-Dämpferelemente in radialer Richtung und Reibung in

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 331

Umfangsrichtung abgestützt. Die Wälzlager sind als lineare Feder-Dämpferkombinatio-nen in Druckrichtung der Lager abgebildet. In ähnlicher Weise wie das Getriebe ist auch das Differential modelliert. Für die Gelenke der Seitenwellen werden vereinfachte Modelle verwendet. Diese beste-hen aus Steifigkeitskopplungen in jenen Freiheitsgraden, in denen Kräfte bzw. Momente übertragen werden. Die Radaufhängungen sind nicht im Detail abgebildet. Die Kopplung zur Straße ist über eine Schlupfcharakteristik erfasst – eine dynamische Radlastverlage-rung findet nicht statt. Das Fahrzeug selbst ist als linear bewegte Masse abgebildet. Das Modell beinhaltet kein Gehäuse, und damit auch keinerlei Aufhängungen des Antriebs-strangs an der Karosserie. Das Gesamtmodell besitzt zirka 500 Freiheitsgrade, und ist in der Lage, Effekte bis in den mittleren Frequenzbereich (ca. 200 Hz) abzubilden. Damit können Fahrzeugruckeln, Rasseln (Bewegung der Losradstufen im Getriebe) und auch Anregungsmechanismen des Clonks dargestellt werden. Aufgrund der vereinfachten Abbildung der Antriebsgelenke können Schütteleffekte (Shudder) nicht abgebildet werden. Zwar hat ein komplexes Modell den Vorteil einer sehr genauen Darstellung vieler Effek-te. Jedoch hat es den Nachteil langer Rechenzeiten. Das detaillierte Modell benötigt für eine Echtzeit von zwei Sekunden auf einem PC (1,7 GHz) Durchrechenzeiten im Bereich von mehreren Stunden. Da dies im Rahmen einer Konzeptuntersuchung mit vielen Vari-anten nicht akzeptabel ist, geht man auf ein stark vereinfachtes Modell über, wobei vor allem die zu betrachtende Komponente einer detaillierten Darstellung unterzogen wird (z. B. Zweimassenschwungrad). Das einfache EXCITE Timing Drive-Modell des Antriebsstrangs der Front-Quer-Anordnung hat 10 Freiheitsgrade (siehe auch Bild 5-36; oberes Modell). Der Motor wird in einer Rotationsmasse zusammengefasst. Im Getriebe wird nur die geschaltete Gangstu-fe abgebildet, während die Eingangs- und Ausgangswellen in einer Masse bzw. zwei Massen zusammengefasst werden. Die Kupplung, das Zweimassenschwungrad, das Fahrzeug und die Verbindungen zwischen diesen Elementen sind dieselben wie im kom-plexen Modell. Das so vereinfachte Modell ist in der Lage, bei Durchrechenzeiten im Minutenbereich das Ruckeln und auch die Anregung des Clonks abzubilden. Auf der Grundlage des einfachen Modells können auch detaillierte Untersuchungen ein-zelner Komponenten (z. B. Bogenfeder-Zweimassenschwungrades (ZMS)) durchgeführt werden. Dafür können komplexere Modelle verwendet werden (Bild 5-37).

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332 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-37: Detaillierte Submodelle von Komponenten (Zweimassenschwungrad).

Das Modell bildet die Charakteristik des Zweimassenschwungrades nicht mehr nur ver-einfacht als Steifigkeits- und Dämpfungscharakteristik ab, sondern auf physikalischer Ebene. Die beiden Bogenfedern sind jeweils als fünf Massenelemente diskretisiert, wel-che über lineare Feder-Dämpfer Elemente verbunden sind. Der Kontakt der Bogenfeder-Abschnitte zum Federkanal ist über einen Konturkontakt mit Berücksichtigung der Nor-malkräfte (inklusive Fliehkräfte) und der Reibung dargestellt. Auf diese Weise kann das nicht-lineare Verhalten des Zweimassenschwungrads im Drehzahl-Momenten Kennfeld sehr gut abgebildet werden [4].

5.4.4 Untersuchung an einem Front-Querantriebsstrang

Alle in Folge beschriebenen Untersuchungen werden an einem Front-Querantrieb durch-geführt. Der Test ist ein „Tip-In/Back-Out“-Test mit den folgenden Eigenschaften: 0,1 s Fahren in Konstantgeschwindigkeit mit ungefähr 20 km/h, gefolgt von einer Beschleuni-gung von 1,4 s (Motordrehmoment 120 Nm), gefolgt von einer weiteren Phase mit Kon-stantgeschwindigkeit (Bild 5-38). Während des Tests ist der 2. Gang eingelegt.

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 333

Bild 5-38: Momentenvorgabe und Geschwindigkeitsverlauf Tip-In/Back-Out.

Die Untersuchung wird für folgende drei verschiedene Modellierungsansätze durchgeführt: � 1D-Torsionsansatz

� 3D-MKS (Starrkörper)

� 3D-MKS (flexible Körper).

5.4.4.1 1D-Torsionsansatz

Das Modell für den 1D-Torsionsansatz kann als Zwei- bzw. Drei-Massenmodell erstellt werden, wie dies in Bild 5-39 dargestellt wird.

Bild 5-39: Modelle des Zwei- und Drei-Massensystems für den Front-Querantrieb.

Beim Zwei-Massenmodell sind die Hauptmassen der Motor und das Fahrzeug. Im Drei-Massenmodell wird zusätzlich das Zweimassenschwungrad berücksichtigt. Die Haupt-massen des Drei-Massenmodells sind der Motor, das Getriebe und das Fahrzeug. Eine höhere Anzahl von Massen und daher von Freiheitsgraden kann verwendet werden, ist aber nicht erforderlich. Zwischen den einzelnen Massen werden lineare torsionselastische Feder-/Dämpfereinheiten mit Spiel verwendet. Bei einer offenen Kupplung bzw. Leer-laufstellung des Getriebes wird die Anzahl der Freiheitsgrade (DoF’s) erhöht.

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334 5 Antriebsstrang/Hybrid

Das Hauptziel dieser Simulationen ist die Darstellung des Fahrzeugruckelns. Es tritt zwi-schen dem Zwei-Massen-Modell und dem Drei-Massen-Modell beinahe kein Unterschied in der Ruckelfrequenz auf, doch hat der Reifenschlupf einen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse. Ein Vergleich der Drei-Massenmodelle ohne und mit Reifenschlupf ist in Bild 5-40 darge-stellt. Die Ruckelfrequenz ist in beiden Modellen identisch, allerdings ist sie im Modell mit Reifenschlupf wesentlich stärker gedämpft. Für eine Aussage über das Ruckelverhalten des realen Fahrzeugs ist also die Berücksichtigung des Reifenschlupfs notwendig. Da die Schwingungsamplituden am Beginn des Tip-In zwischen beiden Modellen jedoch gleich sind, kann ein Auftreten des Ruckelns sowie die Ruckelfrequenz auch mit einem verein-fachten Modell ohne Berücksichtigung des Reifenschlupfs nachgewiesen werden.

Bild 5-40: Drehzahl am Motor und Sekundärmasse ZMS, Fahrgeschwindigkeit – Vergleich Drei-Massenmodell ohne/mit Schlupf.

5.4.4.2 3D-MKS (Starrkörper)

Die Anwendung von rein torsionalen Modellen ist beschränkt auf Effekte bzw. Kompo-nenten, die eine detaillierte physikalische Abbildung des räumlichen Mechanismus der Kraftübertragung nicht zwingend erfordern. Spielen Verzahnungen (Rasseln, Heulen, Clonk), Wellenbiegungen, Lagerungen, Antriebsgelenke bzw. die genaue Krafteinleitung in das Gehäuse eine Rolle, so sind die Modelle entsprechend zu erweitern. Eine adäquate Methode stellt dabei die Abbildung mittels Starrkörpern und Kraftelementen dar.

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 335

Alle Untersuchungen wurden für das einfache Modell wie auch für das komplexe Modell durchgeführt, wie dies in Bild 5-36 und Bild 5-37 dargestellt ist. Bild 5-41 zeigt die Drehzahlverläufe der Primär- und Sekundärmasse des Zweimassen-schwungrads errechnet mit dem einfachen und dem detaillierten Modell (jeweils einfache Darstellung des Zweimassenschwungrads). Man kann das Fahrzeugruckeln in allen Gra-phen sehr gut erkennen. Primärseitig ist dem Drehzahlverlauf die Ungleichförmigkeit in der Zündordnung (2. Motorordnung) überlagert, diese ist aufgrund der Tiefpasswirkung des Zweimassenschwungrads auf der Sekundärseite kaum mehr vorhanden. Auch mit der sehr reduzierten Modellkomplexität (einfaches Modell) kann das niederfrequente Verhal-ten dargestellt werden.

Bild 5-41: Drehzahl am Motor und Sekundärteil ZMS, Vergleich einfaches – detailliertes Modell.

In der zweiten Konstantfahrphase (ab 1,5 s) ist auf der Sekundärseite der Einfluss des Zustands geringer Torsionsfedersteifigkeit im Zweimassenschwungrad (ähnlich der Leer-laufstufe von Torsionsdämpfern) gut zu erkennen (1,62 s, 1,78 s und 1,9 5s). Aufgrund der geringen Steifigkeit und Reibung wirkt diese praktisch wie ein Spiel im Antriebs-strang. In diesen Phasen ist der vordere Teil des Antriebsstrangs, d. h. Motor und Primär-teil des Zweimassenschwungrades, vom hinteren Teil getrennt. Der vordere Teil unter-liegt bei Unterdrehzahl gegenüber der mittleren Drehzahl der Antriebswirkung eines positiven Motormoments und beschleunigt daher, bei Überdrehzahl gegenüber der mittle-ren Drehzahl ergibt sich ein Bremsmoment am vorderen Teil mit einer Verzögerung.

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336 5 Antriebsstrang/Hybrid

Abgesehen vom Weg durch den geringen Steifigkeitsbereich im Zweimassenschwungrad gibt es eine zusätzliche Bewegung durch das Spiel im Antriebsstrang. Auf Grund der Größe des Spiels und der Massenverteilung im Antrieb treten die Bewegungen durch das Spiel immer vor jenen im Zweimassenschwungrad auf. Die diesem Spieldurchlauf folgenden Aufschläge der Zahnflanken verursachen hohe Beschleunigungen der unmittelbar beteiligten Bauteile und einen Kraftimpuls (= akusti-sche Breitbandanregung), welcher im Fahrzeuginneren als metallischer Schlag (Clonk-Geräusch) hörbar ist. Bild 5-42 zeigt den Winkelbeschleunigungsverlauf des Differentialkorbs für das einfache und das detaillierte Modell. Die drei Schläge in der Verzahnung sind sehr gut als Be-schleunigungsspitzen erkennbar. Der Vergleich zeigt große Unterschiede in der Höhe der Beschleunigungen. Die höheren Amplituden beim einfachen Modell entstehen durch die geringere Diskretisierung der Massen und Steifigkeiten. Die Aussagekraft des einfachen Modells ist in diesem Punkt nicht gegeben. Die Höhe der Beschleunigung sowie der Auf-schlagimpuls kann als relatives Maß zur Beurteilung der Clonk-Anregung herangezogen werden [5].

Bild 5-42: Winkelbeschleunigung am Differentialkorb – einfaches und detailliertes Modell.

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 337

Bild 5-43 zeigt den Verlauf der Drehzahlen von Sekundär- und Primärteil des Zweimas-senschwungrades bei Verwendung des detaillierten Zweimassenschwungrad-Modells. Der Unterschied zur einfachen Darstellung des Zweimassenschwungrades ist speziell auf der Sekundärseite erkennbar. Die Filterwirkung des mehr detaillierten Modells ist nicht so ausgeprägt wie die des einfachen Modells, dadurch ist der Anteil der Zündordnung in der Bewegung des Sekundärteils größer.

Bild 5-43: Drehzahl am Primär- und Sekundärteil ZMS – detailliertes Modell mit detailliertem ZMS.

Bisher wurden nur Ergebnisse des kraftübertragenden Pfades gezeigt, allerdings können auch Schwingungen von losen Teilen zu erheblichen Geräuschanregungen führen. In den nicht geschalteten Verzahnungssstufen werden die Losräder durch die Drehungleichför-migkeit zu Bewegungen im Spielbereich – dem so genannten Rasseln [6] – angeregt. Bild 5-44 zeigt die Drehzahlen des Los- und Festrades der 5. Gangstufe und die auf der Last- und Rückflanke auftretenden Kraftimpulse in dieser Gangstufe. Infolge der über das Zweimassenschwungrad übertragenen Rest-Drehungleichförmigkeit kommt es zu wie-derholtem Flankenwechsel und ruckartigen Drehzahländerungen des Losrades. In der Regel ergeben sich pro Periode der Festradbewegung zwei Anlagewechsel und dement-sprechend zwei Kraftimpulse. Vereinzelt sind auch aufeinander folgende Kontakte auf einer der beiden Flanken zu beobachten. Die Frequenz der Festradbewegung entspricht dabei der Anregungsfrequenz aus der Motordrehungleichförmigkeit. Die auftretenden Kraftimpulse sind kurz aber von ausreichender Größe, um als Breitbandanregung das Rasselgeräusch zu veranlassen.

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338 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-44: Drehzahl am Los- und Festrad 5. Gang und Verzahnungskräfte in dieser Stufe – detail-liertes Modell mit detailliertem ZMS.

5.4.4.3 3D-MKS (flexible Körper)

Eine Erfassung von höherfrequenten NVH-Effekten (z. B. Boom) bzw. eine detaillierte akustische Analyse der impulsgetriebenen Phänomene Clonk und Getrieberasseln, erfor-dert – zusätzlich zu den Starrkörpermoden – die Berücksichtigung folgender elastischer Systemeigenschaften:

� Elastische Moden des Antriebsstrangs: Biegung des Motor/Getriebe Verbands, Biege-eigenfrequenzen der Antriebswellen etc.

� Lokales Schwingungsverhalten von Antriebsstrangkomponenten: z. B. Eigenformen und Übertragungsverhalten von Getriebegehäusen, Tragarmen und Fahrwerkskompo-nenten.

Für komplexe Bauteile (z. B. Gehäuse) ist die Anwendung von Diskretisierungsmethoden auf der Basis von Starrkörpern (so genannte Koagulationsmethoden; Beispiel: Balken-Massen-Anordung) sehr aufwendig, wenig intuitiv und zudem ungenau. Modelle für derartige Bauteile werden daher durch modale Reduktion von Finite Element Modellen gebildet. Das resultierende Rechenmodell – die so genannte flexible Struktur – bildet die statischen und dynamischen Eigenschaften bis zu einer bestimmten Grenzfrequenz (ap-plikationsbezogen) ab. Grundlage für diese Freiheitsgradreduktion sind dabei FE-Modelle, welche in fortgeschrittenen Phasen des Entwicklungsprozesses üblicherweise zur Verfügung stehen.

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 339

Bild 5-45: Flexibles Antriebsstrang-Modell, basierend auf FE-Modellen (3D-Ansicht).

Mit der Software EXCITE Power Unit ist man in der Lage, mehrere nicht-linear gekop-pelte, elastische Strukturen effektiv im Zeitbereich zu simulieren. Das Berechnungsver-fahren nutzt dabei das linear-elastische Verhalten der elastischen Körper aus. Zusätzlich können auch Starrkörper im Modell erfasst werden – es entstehen so genannte hybride Modelle. Bild 5-45 zeigt das entsprechende Berechnungsmodell für den Front-Querantriebsstrang. Die Modellierung der einzelnen Antriebsstrangkomponenten wurde dabei wie folgt vor-genommen:

� Kurbelwelle inklusive Drehschwingungsdämpfer und ZMS-Primärteil, Motorblock und -kopf sowie das Getriebegehäuse als elastische Struktur. Bei der kombinierten stati-schen und modalen Reduktion (Craig-Bampton-Methode) wurden Frequenzen bis ca. 3 kHz in die Berechnungsmodelle übernommen.

� Anbindung von Motor und Getriebe an die Karosserie mittels nicht-linearer Aggregat-lager. Die Karosserie kann alternativ über eine Eingangsteifigkeit aber auch als elasti-sche Struktur berücksichtigt werden.

� ZMS-Sekundärteil, Getriebe- und Seitenwellen mittels strukturierter Modelle (um ge-koppelte Torsion und Biegung zu berücksichtigen)

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340 5 Antriebsstrang/Hybrid

� Felge/Nabe-Verband und Räder als Starrkörper

� Kupplung, Steifigkeit und Dämpfung zwischen Primär- und Sekundärteil des Zwei-massenschwungrades, Verzahnungen, Antriebsgelenke, Lager und Reifenschlupf be-rücksichtigt als nichtlineare Kraft/Momentenkopplung.

Eines der wichtigsten Ergebnisse sind die Kräfte der Wellenlager. Diese Kräfte werden ausgehend von der eigentlichen Anregungsquelle, wie etwa Spieldurchlauf und Auf-schlag beim hochfrequenten Clonk, direkt ins Getriebegehäuse eingeleitet und regen dort den Körperschall an. Bild 5-46 zeigt diese Kräfte an der Primärwelle des Getriebes. Die Haupt-Ruckelfrequenz kann auch aus den Lagerkräften ersehen werden. Zusätzlich kann der Clonkimpuls bei den Lastwechseln (ca. 1,6 s, 1,75 s und 1,9 s) beobachtet werden. Bei den Radialkräften überlagert eine Schwingung bei ungefähr 300 Hz die Ruckelfrequenz.

Bild 5-46: Lagerkräfte der Primärwelle des Getriebes.

Bild 5-47 zeigt den Vergleich der Radialkräfte in z-Richtung zwischen der starren und flexiblen Antriebseinheit. In Fällen, in denen die Schwingungsfrequenz gleich ist, sind die Größen der Schwingungen bei der flexiblen Antriebseinheit geringer als bei der star-ren. Auf Grund einer zusätzlichen Biegung des Getriebegehäuses sind resultierende La-gerkräfte niedriger.

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 341

Bild 5-47: Radialkräfte an der Primärwelle des Getriebes –Vergleich starre / flexible Antriebseinheit.

Hinsichtlich des Getrieberasseln sind die Unterschiede zwischen der starren und flexiblen Antriebseinheit gering (Bild 5-48). Der Hauptunterschied liegt in den Eingriffskräften. Auf Grund der starren bzw. flexiblen Darstellung der Antriebseinheit sind die Verschie-bungen an den Lagerpositionen unterschiedlich. Dies führt zu Anregungen zu unter-schiedlichen Zeitpunkten.

Bild 5-48: Getrieberasseln im 5. Gang – Vergleich starre/flexible Antriebseinheit.

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342 5 Antriebsstrang/Hybrid

Bild 5-49: Clonkimpuls – Vergleich starre/flexible Antriebs-einheit.

Der plötzliche Lastwechsel (Back-Out) löst in der Triebsatzverzahnung einen Spieldurch-lauf mit anschließendem Anschlag der Zahnflanken aus. Bild 5-49 zeigt die dazugehörige Verzahnungskraft im Bereich 1,6 s. Dargestellt ist ein Vergleich zwischen starrer (EXCITE Timing Drive Modell) und flexibler Modellierung des Motor/Getriebe-Verbands bzw. dessen Lagerung (EXCITE Power Unit Modell). Durch die Strukturelasti-zität bzw. die Nachgiebigkeit in den Aggregatlagern verringern sich einerseits das Kraft-niveau sowie die Intensität des Aufschlages, andererseits kommt es zu einer geringfügi-gen Verzögerung des Aufschlages. Die vom Kraftimpuls induzierte Breitbandanregung der Getriebestruktur ist in Bild 5-50 dargestellt. Sie zeigt das Niveau der Oberflächenschnellen, welches als relative Größe für die Geräuschentwicklung herangezogen werden kann, wenngleich die weiteren Übertra-gungswege zum Fahrerohr hier noch eine erhebliche Rolle spielen.

Bild 5-50: Oberflächengeschwindigkeiten im Getriebegehäuse (0,5 kHz, 1 kHz und 2 kHz Oktave) im Zeitbereich von 1,6 s.

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5.4 Simulation des NVH-Verhaltens im Antriebsstrang 343

Es ist zu erkennen, dass durch den Clonk-Impuls in erster Linie die Pegel der 1 kHz Ok-tave angeregt werden. Grund dafür ist das Vorliegen entsprechender lokaler Eigenfre-quenzen im Bereich der Getriebeseitenwände bzw. der Kupplungsglocke. Es kann auch festgestellt werden, dass aufgrund der starken Verrippung das Differentialgehäuse nur geringfügige Anteile liefert. Ein weiteres Ergebnis der MKS-Simulation unter Verwendung von flexiblen Körpern sind die Anregungen der Getriebeaufbauten. Diese Anregungen können direkt in den folgenden Berechnungen des gesamten Fahrwerks verwendet werden, um den Luftschall in der Umgebung bzw. direkt am Fahrerohr festzustellen.

5.4.5 Zusammenfassung

Im vorliegenden Beitrag wurde gezeigt, wie Simulationsmodelle mit verschiedenen Komplexitäten verwendet werden können, um NVH-Effekte im Rahmen der Antriebs-strangentwicklung zu untersuchen und zu bewerten. Dabei wurde klar, dass ein einzelnes, generisches Super-Modell zur Erfassung aller Effekte den spezifischen Anforderungen in den einzelnen Phasen des Entwicklungsprozesses nicht gerecht werden kann. Vor allem in den frühen Entwicklungsphasen (Konzeptentscheidung) sind komplexe Modelle auf Grund der Datenverfügbarkeit und langen Rechenzeiten problematisch. Nach wie vor werden daher für spezielle Effekte und Aufgabenstellungen auch speziell angepasste Modelle zur Anwendung kommen (Bild 5-51).

Bild 5-51: NVH-Effekte und Berechnungswerkzeuge.

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344 5 Antriebsstrang/Hybrid

Die zukünftige Herausforderung wird es sein, sämtliche Berechnungsaufgaben in einer einzelnen, konsistenten Simulationsumgebung zusammenzufassen. Freie Skalierung der Modellkomplexität – von 1D-torsional bis hin zur Elasto-MKS – unter gleichzeitiger Ausnutzung der damit gegebenen Rechenzeitpotentiale; ein durchgängiges, redundanz-freies Datenmodell und eine nahtlose CAD/FEM-Anbindung sind dabei Voraussetzung für eine optimale Unterstützung der Produktentwicklung

Danksagung

Ein großer Teil der hier beschriebenen Arbeiten erfolgte mit Fördermitteln des Österrei-chischen Bundes im Rahmen der Christian Doppler Forschungsgesellschaft.

Literatur zu Abschnitt 5.4

[1] AVL List GmbH: CRUISE Users Manual, Version 3.1 [2] AVL List GmbH: EXCITE Timing Drive Users Guide, Version 7.0.1 [3] AVL List GmbH: EXCITE Power Unit Users Guide and Theory Manual, Version 7.0.1 [4] Albers, A.; Krüger, A.: Ermittlung des dynamischen Übertragungsverhaltens eines Dual-mass

flywheeles. In: Konstruktion 5-2002 [5] Schumacher, T.: Optimierung des Lastwechselverhaltens bei einem Pkw mit Frontantrieb.

Dissertation RWTH-Aachen, 2002 [6] Kücükay, F.: Dynamik der Zahnradtransmission. Springer Verlag, 1987 [7] Vock, C.; Schaffner, T.; Sopouch, M.; Stücklschwaiger, W.; Weissert, I.: NVH-Analyse des

Antriebsstrangs – Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher Modellierungen anhand ausgewählter Beispiele. Haus der Technik, Augsburg, März 2005

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345

6 Nebenaggregate

6.1 Simulation in der Produktentwicklung

6.1.1 Einführung

FEM-, CFD-Analysen und thermodynamische Kreislaufsimulationen sind in der Auto-mobilindustrie fester Bestandteil des Produktentwicklungsprozesses. Dabei kommen angepasste und validierte Berechnungsmethoden auf der Basis kommerzieller FEM- und CFD-Tools zum Einsatz. Zur thermodynamischen Berechnung ist der Markt kommerziell verfügbarer Software noch nicht gut entwickelt. Deshalb wird in vielen Häusern eine eigene Software verwendet. Bei Behr ist dies BISS (Behr integrierte Systemsimulation). Bei der Festigkeitsberechung mittels FEM reicht der Einsatz von statischen Berechungen für Beschleunigungs- und Innendrucklastfälle bei Kühlkomponenten über die dynamische Analyse von Klimaanlagen und Kühlmodulen bis hin zur Lebensdauerbewertung. Die Strömungsberechnung mittels CFD kommt für Analysen von Kühlkomponenten und Kühlmodulen, zur Motorraumdurchströmung, Lüfter- und Gebläseentwicklung, zur aero-dynamischen Auslegung von Klimageräten und zur Komfortbewertung in der Fahrzeug-kabine zum Einsatz. Mit BISS werden Komponenten und Kreisläufe des Motorkühlsys-tems und des Klimatisierungssystems von Fahrzeugen ausgelegt. Durch Kopplung lässt sich das komplette Thermomanagement im Fahrzeug abbilden. Hierüber wurde schon verschiedentlich berichtet [1, 2]. Anhand von ausgewählten Praxisbeispielen wird die Leistungsfähigkeit dieser virtuellen Werkzeuge aufgezeigt, die sich längst nicht mehr auf statische Beanspruchungen oder stationäre Betriebspunkte beschränken.

6.1.2 Dynamikanalyse von Kühlmodulen

Ein Beispiel für den zunehmenden Einsatz virtueller Methoden ist die dynamische Ana-lyse von Kühlmodulen. Das Spektrum möglicher Analysen beginnt mit der Identifizie-rung der Eigenfrequenzen einzelner Komponenten. Durch die Berechnung von Frequenz-antworten des Gesamtmoduls können darüber hinaus Belastungen bei beliebigen Fre-quenzen quantifiziert oder Belastungen bestimmter Höhe lokalisiert werden. Diese Anga-ben bilden die Basis für gezielte konstruktive Maßnahmen zur Optimierung des dynamischen Verhaltens.

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346 6 Nebenaggregate

Auf Basis von MKS- und dynamischen FEM-Berechnungen werden schließlich auch Belastungen im Zeitbereich – z. B. durch Beaufschlagung mit Straßenlastanregungen – bestimmt, die ihrerseits Grundlage für die Lebensdauerbewertung der Kühlmodule sind. Ein entsprechender virtueller Prüfstandstest auf einem Vierkanal-Rüttelprüfstand ist in Bild 6-1 wiedergegeben. Bild 6-2 zeigt den Vergleich der in Messung und Berechung ermittelten Beschleunigungswerte auf einem Punkt des Moduls.

Bild 6-1: NKW-Kühlmodul im Test und als FEM-Modell für dynamische Analysen mit Straßen-lastanregungen.

Bild 6-2: Vergleich Frequenzgang Test vs. FEM, Anregung Gleitsinus.

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6.1 Simulation in der Produktentwicklung 347

6.1.3 Temperaturwechselbeanspruchung von Ladeluftkühlern

Die Entwicklung moderner Nkw-DI-Dieselmotoren ist u. a. von steigenden Aufladeraten bzw. Ladeluftdrücken gekennzeichnet. Damit nimmt die thermomechanische Beanspru-chung von Ladeluftkühlern durch Temperaturtransienten zu. Die zuverlässige Analyse und Bewertung von Designvarianten, Materialalternativen, Einbausituationen etc. hin-sichtlich des Temperaturwechselverhaltens ist entscheidend zur Sicherstellung der gefor-derten Lebensdauer. Hierfür wurde bei Behr eine geschlossene virtuelle Modellkette entwickelt. Dabei werden zunächst auf Basis einer transienten CFD-Berechung der fluid- und thermodynamischen Effekte die transienten Temperaturverteilungen der Strukturkomponenten ermittelt. Dies schließt insbesondere auch den Wärmeübergang zwischen Kühlluft und Kiemenrippen, Ladeluft und Innenberippung sowie den Rohrwänden ein. Eine Herausforderung stellt hierbei die Beherrschung der Berechungszeiten und -ressourcen dar. Dazu wurde auf Basis kommerzieller Standard-CFD-Tools eine innovative Methodik erarbeitet, die ein nahtloses Einfügen der transienten CFD-Analyse in den zeitlichen Ablauf der Ent-wicklungsprozesse für Ladeluftkühler ermöglicht. Bild 6-3 zeigt exemplarisch die per Infrarotaufnahme gemessenen und die berechneten Oberflächentemperaturen auf der Kühlermatrix und den Kästen eines Nkw-Ladeluft-kühlers zu einem einzelnen Zeitpunkt des Temperaturwechselversuchs. Die quantitative Validierung der Methodik erfolgte durch Vergleich zwischen den Werten von mehr als 40 Thermoelementen auf der Versuchskühleroberfläche und den entsprechenden Punkten auf der Modelloberfläche für den gesamten Zyklus. Bild 6-4 zeigt den zeitlichen Verlauf der Eintritts- und Austrittstemperatur der Ladeluft sowie den Massenstrom der Kühlluft-seite. Der Vergleich der gemessenen und berechneten Austrittstemperatur zeigt die hohe Güte des entwickelten Modells.

Bild 6-3: Oberflächentemperaturen während eines Temperaturwechselversuchs, Vergleich Tester-gebnis (Infrarotaufnahme links) vs. CFD-Ergebnis (rechts).

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348 6 Nebenaggregate

Bild 6-4: Zeitlicher Verlauf der Ladelufttemperatur ein- und austrittsseitig in einem Prüfzyklus: Test- vs. CFD-Ergebnis als integrales Validierungskriterium.

Die in der CFD-Berechnung ermittelten zeitabhängigen Strukturtemperaturen werden auf das Berechnungsnetz für die Festigkeitsberechnung übertragen und dienen dort als Rand-bedingung für lineare bzw. nichtlineare FEM-Berechnungen. Durch effektive Auswerte-methoden für die Zeitreihen können die Orte und Zeitpunkte kritischer Belastung identi-fiziert werden. Eine Bewertung der Belastungen mittels Bauteilwöhlerlinien oder Be-triebsfestigkeitssoftware kann eingesetzt werden, um zu einer Lebensdauerprognose zu kommen.

6.1.4 Motorraumdurchströmung

Zu den bereits länger etablierten Simulationsmethoden im Entwicklungsprozess gehört die Motorraumdurchströmung. Sie dient zur Prüfung der Leistung von Kühlmodulen in der Einbausituation, vor allem hinsichtlich der verfügbaren Massenströme sowie zur Untersuchung verschiedener Anordnungsvarianten bei komplexen Einbausituationen. Darüber hinaus können Aussagen zu Druckabfällen sowie unerwünschten „hot spots“ in Abhängigkeit von der Kühleranordnung gemacht werden. Bild 6-5 zeigt als Beispiel eine CFD-Vernetzung für den BMW 5er. Auf Basis dieses Modells wurden zahlreiche Varianten für die Anordnung von Kühlern mittels CFD in verschiedenen Betriebszuständen untersucht [3].

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6.1 Simulation in der Produktentwicklung 349

Bild 6-5: CFD-Netz für die Berechung der Motorraumdurchströmung am Beispiel des BMW 5er [1].

In Bild 6-6 ist die Staupunktsverlagerung bei den Betriebszuständen Stillstand (mit Lüf-terbetrieb), 35 km/h und 200 km/h anhand der Stromlinien in einer Schnittebene entlang der Fahrzeuglängsachse dargestellt. Im lüfterdominierten Betrieb bei Fahrzeugstillstand strömen 55 % des Gesamtkühlluftmassenstroms durch die Grillöffnung, bei 35 km/h noch 48 % und bei 200 km/h nur noch 30 %. Der Rest strömt jeweils durch die Stoßfängeröff-nung. Solche Analysen liefern wertvolle Hinweise zur sinnvollen Anordnung und Ausle-gung der einzelnen Komponenten im Kühlmodul und können aufwendige Windkanaltests ersetzen.

Bild 6-6: Staupunktsverlagerung bei verschiedenen Betriebszuständen [3]; links: Lüfterbetrieb bei Fahrzeugstillstand, Mitte: bei 35 km/h, rechts: bei 200 km/h.

Ein weiteres Beispiel zum sinnvollen Einsatz der CFD-Simulation einer Motorraum-durchströmung ist in Bild 6-7 wiedergegeben: Bei Anordnung eines zusätzlichen Motor-ölkühlers unterhalb des Kühlmoduls (Bild 6-7a) weist dieser im Vergleich zur alternati-ven Anordnung im Modul hinter dem Kühlmittelkühler (Bild 6-7b) eine um 33 % bessere Kühlleistung bei 200 km/h auf [3].

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350 6 Nebenaggregate

Bei dem in Bild 6-7c gezeigten Betriebszustand Stillstand mit Lüfterbetrieb zeigt sich allerdings eine dramatische Änderung der Strömungsverhältnisse mit einer Rückströ-mung der aus dem Kühlmittelkühler austretenden heißen Luft über den unterhalb an-geordneten Motorölkühler. Diese Situation birgt besonders beim kritischen Zustand Fahr-zeugabstellen mit heißem Motor die Gefahr mangelnder Kühlung des Öls bzw. des Agg-regats. Bei der Anordnung des Motorölkühlers hinter dem Modul besteht diese Gefahr nicht, es verbleibt aber der beschriebene Leistungsnachteil bei Schnellfahrt. Die CFD-Simulation der Motorraumdurchströmung stellt hier auch aufgrund der klar reproduzier-baren Randbedingungen und der umfassenden Visualisierungsmöglichkeiten ein exzel-lentes Werkzeug zum Auffinden bestmöglicher Kompromisse und alternativer Lösungen dar.

Bild 6-7: Varianten zur Anordnung eines zusätzlichen Motorölkühlers [3]; a) Motorölkühler mit Luftführung schräg unterhalb Kühlmodul, 200 km/h, b) Motorölkühler hinter Kühlmittelkühler, 200 km/h, c) Motorölkühler mit Luftführung schräg unterhalb Kühlmodul, 0 km/h.

6.1.5 Auslegung von Hybridquerträgern für Thermostrukturmodule©

Unter einem Thermostrukturmodul© (TSM) verstehen wir die bauliche Integration des Querträgers zwischen den A-Säulen eines Fahrzeugs mit Teilen des Klimagerätes und/oder Teilen der Luftführung. An den im TSM integrierten Hybridquerträger werden bestimmte Anforderungen hin-sichtlich der Steifigkeit, der Eigenfrequenzen sowie für den Crashfall gestellt. Für die Bewertung verschiedener Designs bezüglich dieser Anforderungen wurden Analyse-methoden auf Basis linearer statischer und dynamischer FEM-Berechnungen entwickelt und experimentell validiert. Bild 6-8a zeigt das Modell eines Hybridquerträgers mit Stirnwandabstützung. In Bild 6-8b ist eine MAC-Matrix (Modal Assurance Criterion) aus der Validierung der Berechungsmethodik für die Eigenfrequenzen wiedergegeben.

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6.1 Simulation in der Produktentwicklung 351

Bild 6-8: a) Hybridquerträger mit Stirnwandabstützung als Teil eines Thermostrukturmoduls©, links; b) Abgleich Modalanalyse Test-FEM für einen Hybridquerträger (Frequenzen normiert), rechts.

Über diese FEM-Analysen hinaus werden im Entwicklungsprozess für das TSM die Möglichkeiten der numerischen Parameteroptimierung sowie der Topologieoptimierung genutzt. Bild 6-9a zeigt den vernetzten Bauraum einer Lenkradanbindung am TSM, Bild 6-9b zeigt das Ursprungsdesign und in Bild 6-9c ist das Ergebnis der Topologieoptimie-rung mit der endgültigen Konstruktionsumsetzung dargestellt. Ziel bei der Topologieop-timierung war die Minimierung des Gewichts unter Einhaltung einer untersten Eigenfre-quenz. Hier wurde eine Erhöhung der untersten Eigenfrequenz des Trägers einschließlich Anbindung von 35 Hz auf 36 Hz erreicht, bei gleichzeitiger Verminderung des Gesamt-gewichts um 10 % [4].

Bild 6-9: Lenkradanbindung am Hybridquerträger für ein TSM; a) Bauraumvernetzung der Lenk-radanbindung, links; b) Ursprungsdesign (rot) und Optimierungsergebnis, Mitte; c) Modifiziertes Design (rot) und Optimierungsergebnis, rechts.

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352 6 Nebenaggregate

6.1.6 Komfortbewertung mit dem virtuellen thermischen Dummy

Bei der Konzeptentwicklung neuer Fahrzeuge wird mit CFD-Simulation die Strömungs- und Temperaturverteilung in der Fahrzeugkabine ermittelt [5]. Dabei wird neben den Luftmassenströmen und -temperaturen aller Düsen und Auslässe sowie der Sonnenein-strahlung auch der Einfluss der Passagiere berücksichtigt. Ein parametrischer Cabin Modeller erlaubt es, in frühen Konzeptphasen schnell virtuelle Kabinenmodelle aufzubauen und Aussagen zur Anordnung von Ausströmern sowie den notwendigen Luftmassenströmen und Temperaturen zu machen. Die Kabinensimulation liefert so auch wertvolle Randbedingungen für die Auslegung des Klimagerätes. Um über den Vergleich der rein physikalischen Größen Temperatur und Luftgeschwin-digkeit hinaus eine physiologische Bewertung des Wohlbefindens der Passagiere zu er-möglichen, kommt ein virtueller thermischer Dummy zum Einsatz [6]. Der virtuelle thermische Dummy ist das digitale Abbild des realen thermischen Dummys MARCO [7], der mit speziellen, beheizten Sensoren den Wärmehaushalt eines Menschen nachbildet. An den Sensoren wird damit letztlich eine sogenannte resultierende Oberflächentempera-tur (RST) ermittelt, die die oben genannten Einflüsse abbildet. Die Korrelation zwischen den resultierenden Oberflächentemperaturen und dem subjektiven Wohlbefinden von Personen wurde unter verschiedenen Bedingungen mit einer repräsentativen Vergleichs-gruppe im Labor ermittelt. Um ein differenziertes Bild vom Befinden der Passagiere zu ermöglichen, werden Kom-fortwerte für 21 Körperregionen von den Füßen bis zur Stirn ermittelt. Bild 6-10 zeigt exemplarisch Bilder der resultierenden Oberflächentemperatur in einer Ka-bine einmal ohne und einmal mit Fondbelüftung durch B-Säulen- und Mittenausströmer.

Bild 6-10: CFD-Kabinensimulation; links: resultierende Oberflächentemperatur ohne Fondbelüf-tung, rechts: resultierende Oberflächentemperatur mit Fondbelüftung.

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6.1 Simulation in der Produktentwicklung 353

Bild 6-11a zeigt die Komfortbewertung für einen Fondpassagier in der Kabine ohne se-parate Fondbelüftung, in Bild 6-11b ist die Komfortbewertung für den gleichen Passagier mit B-Säulen- und Mittenausströmern wiedergegeben.

Bild 6-11a: Komfortbewertung Passagier hinten links OHNE separate Fondbelüftung.

Bild 6-11b: Komfortbewertung Passagier hinten links MIT B-Säulen- und Mittenausströmer.

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6.1.7 Dynamische Berechnung der Ladeluftkühlung mit BISS

Die Eigenentwicklung BISS ist ein komfortables Programmpaket [2], das zwischenzeit-lich von über 300 Ingenieuren bei Behr weltweit genutzt wird. Bild 6-12 zeigt die perspektivische Anordnung in der BISS Oberfläche einer luftgekühl-ten Ladeluftkühlung mit zwei Ladeluftkühlern im Radhaus. Die Applikationsingenieure können in dieser Darstellung die thermodynamische Verschaltung einfach und schnell vornehmen und mit den entsprechenden Randbedingungen versehen.

Bild 6-12: Schematische BISS-Darstellung eines luftgekühlten Ladeluftkühlungssystems.

In ähnlicher Weise wurde ein indirektes Ladeluftkühlungssystem virtuell aufgebaut, das über einen Niedertemperaturkreislauf verfügt, mit dem die Ladeluft in einem (Nieder-temperatur-) Kühlmittel-Ladeluftkühler gekühlt wird. Diese Anordnung hat technische Vorteile, weil die Ladeluftführung kurz und auf direktem Weg vom Turbolader zum Saugrohr erfolgt. Durch die höhere Wärmekapazität des Kühlmittels ändert sich dabei auch vorteilhaft das dynamische Verhalten des Ladeluftkühlers. In Bild 6-13 sind die Temperaturverläufe der Ladeluft am Austritt des Ladeluftkühlers für beide Anordnungen dargestellt.

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6.1 Simulation in der Produktentwicklung 355

Bild 6-13: Schwankungen der Austrittstemperatur der Ladeluft.

Bei schnellen Drehzahlwechseln in Beschleunigungs- und Abbremsphasen sind die Tem-peraturschwankungen der indirekten Ladeluftkühlung deutlich gedämpft und bleiben im Mittel auf einem niederen Temperaturniveau. Dies wirkt sich positiv auf die dynamische Leistungsentfaltung des Motors aus.

6.1.8 Füllungsoptimierung eines R744 Kältekreislaufs

Bekanntlich muss das heutige Kältemittel R134a per EU-Gesetzgebung innerhalb eines Zeitrahmens von 2011 bis 2017 ersetzt werden. Favorit ist das umweltfreundliche Kälte-mittel R744 (CO2). Als Beispiel ist die BISS-Topologie eines R744-Kältekreislaufs in Form eines verfahrenstechnischen Fließbildes dargestellt, s. Bild 6-14.

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356 6 Nebenaggregate

Bild 6-14: BISS-Fließbild eines R744 Kältekreislaufs im Fahrzeug mit Bypass-Festdrossel und saugseitigem Akkumulator.

Die Füllmenge eines Kältekreislaufs muss so bemessen sein, dass auch nach Verlusten durch Diffusion die Funktion erhalten bleibt. Bei Überfüllung über ein bestimmtes Maß hinaus wird jedoch die Kälteleistung am Verdampfer beeinträchtigt. Die Simulation in Bild 6-15 zeigt, innerhalb welcher Grenzen sich eine Füllmenge bewegen darf, um bei-den Ansprüchen gerecht zu werden. Aufgetragen ist die Verdampferleistung und der Dampfgehalt des Kältemittels am Verdampferaustritt als Funktion der Füllmenge. Diese Grenzen wurden früher in aufwändigen Leistungsmessungen ermittelt.

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6.1 Simulation in der Produktentwicklung 357

Bild 6-15: Leistung und Austrittsdampfgehalt an einem Verdampfer eines R744 Kältekreislaufs bei unterschiedlichen Füllmengen.

Literatur zu Abschnitt 6.1

[1] Heckenberger, Th.: Systemsimulation im Verbund OEM Zulieferer am Beispiel Thermoma-nagement. Virtual Product Creation, Stuttgart, 30. 06. – 01. 07. 2003, Stuttgart

[2] Heckenberger, Th.: Simulationsverfahren im Thermomanagement von Fahrzeugen. Virtual Product Creation, Berlin, 03. 07. – 04. 07. 2002, Berlin

[3] Knaus, H.; Ottoson, C.; Brotz, F.; Kühnel, W.: Cooling Performance Investigation by Means of Underhood Simulation. SAE paper 2005-01-2013, VTMS 7, Toronto, Canada, 2005

[4] Masur, S.; Links, D.; Wetzel, Th.: Numerical eigenfrequency and weight optimization of a novel hybrid cross car beam. SAE paper 2006-01-1483, SAE World Congress, Detroit, 2006

[5] Kühnel, W.; Guilbaud, F.; Proksch, Ch.; Heckenberger, T.; Heinle, D.: CFD Cabin Flow Analysis as Part of the Product Development Process. ImechE paper C599/053/2003, VTMS 6, Brighton, UK, 2003

[6] Kühnel, W.; Weinbrenner, M.: Klimatisierung: Komfortbewertung mit realem und virtuellem Dummy. Automotive Engineering Partners 6/2004, Vieweg Verlag, Wiesbaden

[7] Bureau, C.; Kampf, H.; Taxis-Reischl, B.; Traebert, A.; Mayer, E.; Schwab R.: MARCO – Behr’s Method to Assess Thermal Comfort. ImechE paper C599/051/2003, VTMS 6, Brigh-ton, UK, 2003

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358 6 Nebenaggregate

6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation ausgeführt am Beispiel des Thermischen Managements

6.2.1 Einleitung

Durch die Selbstverpflichtung der Automobilindustrie (ACEA1) und durch die Verschär-fung gesetzlicher Vorschriften, die Emissionen von Neufahrzeugen zu senken, werden zunehmend höhere Anforderungen an die Fahrzeugentwicklung gestellt [1]. Zudem hat die EU sich das Ziel gesetzt, die Verkehrssicherheit zu erhöhen und die Anzahl der Ver-kehrstoten bis 2010 zu halbieren [16]. Trotz dieser einschränkenden Vorschriften müssen der Komfort und das Fahrverhalten heutiger moderner Automobile erhalten bleiben bzw. verbessert werden. Die Situation derzeitiger Automobilentwicklungen verschärft sich zusätzlich durch immer kürzer werdende Entwicklungszeiten bei einem stetigen Anstieg der Variantenvielfalt. Um dieses Spannungsfeld in der Automobilindustrie beherrschen zu können, werden hohe Anforderungen an die Simulationsmethoden im Entwicklungs-prozess gestellt, um Fahrzeugkonzepte möglichst früh bewerten zu können. 6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation Durch den Einsatz von CAx und im speziellen der numerischen Simulation im Entwick-lungsprozess wird dieser auch als virtueller Entwicklungsprozess bezeichnet [4]. Der virtuelle Entwicklungsprozess umfasst eine Vielzahl an verwendeten Software und Hardware Plattformen. Hier wird der Ansatz einer integrierten, virtuellen Gesamtfahr-zeugsimulation beschrieben und anhand der gekoppelten Simulation für das Thermische Management im Detail ausgeführt. Die heutige Entwicklung in der Fahrzeugtechnik orientiert sich oft an Lösungen einzel-ner, spezifischer Fragestellungen, die zu einer Vielzahl lokal optimierten Lösungen füh-ren. Das zu entwickelnde Fahrzeug wird in Teilsysteme unterteilt. Die Entwicklung der einzelnen Teilsysteme erfolgt je nach Unternehmensstruktur in einzelnen Abteilungen wie z. B. Abteilungen, die für die Entwicklung des Motors, des Getriebes, des Kühlsys-tems, der Klimaanlage, der elektrischen Systeme usw. verantwortlich sind. Teilweise werden Teilsystementwicklungen auch an Dritte vergeben, die für das jeweilige Teilsys-tem auch Entwicklungsverantwortung übernehmen. Die umfangreichen, disziplinüber-greifenden Eigenschaften aufgrund Benutzeranforderungen und gesetzlicher Bestimmun-gen sowie durch Elektrifizierung des Fahrzeuges mit den vielfältigen Wechselwirkungen werden damit nur unzureichend adressiert. Die späte Integration von einzeln optimierten Subsystemen erzeugt massive Kosten und birgt ein hohes Risiko.

1 Europäischer Verband der Automobilhersteller: Alfa Romeo, Alpina, Aston Martin, Audi, BMW, Bentley, Cadillac, Chevrolet, Chrysler, Citroen, Daimler, Ferrari, Fiat, Ford, General Mo-tors, Jaguar, Jeep, Lamborghini, Lancia-Autobianchi, Land-Rover, Maserati, Matra, Mcc (Smart), Mercedes-Benz, Mini, Opel, Peugeot, Porsche, Renault, Rolls-Royce, Saab, Seat, Skoda, Vauxhall, Volkswagen und Volvo.

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 359

Um heutigen und zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es einer stärkeren und frühzeitigeren Vernetzung der Einzelsystemlösungen. Ziel dieser Vernetzung der Teil-systemlösungen ist es, das Gesamtsystem Fahrzeug durch Gesamtfahrzeug-Simulations-modelle2, bestehend aus den einzelnen Teilmodellen, bewerten zu können. Bild 6-16 zeigt beispielhaft eine Reihe von Fahrzeugfunktionen, die jeweils für sich die Kombination meh-rerer Methoden und damit eine gekoppelte Simulation benötigen. Zudem sind die Funktio-nen noch mit ihren Wechselwirkungen und Abhängigkeiten im Fahrzeugsystem zu betrach-ten. Die Systembetrachtung ist die Voraussetzung dafür, eine multidisziplinäre Entwicklung und Optimierung des Gesamtfahrzeuges durchzuführen, um zu einem optimierten System zu gelangen, in dem auch dessen Teil-Module alle Anforderungen berücksichtigen.

Bild 6-16: Fahrzeug System Optimierung: Einzelne Funktionen benötigen die Kombination mehre-rer Methoden und Rückgriff auf Geometriedaten (CAD/DMU). Die Kreise markieren benötigte Komponenten für die jeweilige Funktion.

6.2.2 Motivation und Problemstellung

In einem integrierten Systemansatz werden Aufwände aus späteren Entwicklungsphasen in frühere Phasen verlagert. Statt Tests und Fehlersuche aufwändig durchzuführen, um die Qualitätsanforderungen zu erfüllen, wird Qualität durch den Entwicklungsprozess 2 Das Gesamtfahrzeugsimulationsmodell entsteht durch eine abstrahierte Beschreibung des rea-len Gesamtfahrzeuges und durch Modellierung der wesentlichen Eigenschaften innerhalb eines numerischen Simulationsmodells.

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360 6 Nebenaggregate

frühzeitig “hinein entwickelt“. Durch eine stärkere Absicherung in der Entwicklung über Simulation steigen die Anforderungen an das Virtual Vehicle Design. Um diese Anforde-rungen zu erfüllen, müssen Co-Simulationen und die Integration von Sub-Systemen stark vorangetrieben werden. Angepasste Prozesse müssen zudem die simulations- und testba-sierte Co-Entwicklung unterstützen. Darüber hinaus soll durch Frontloading (frühes in-tegriertes Systemdesign) und intelligente Test-Strategien nachhaltig der Aufwand redu-ziert werden, der durch zeit- und kostenintensive experimentelle Tests anfällt (Gesamt-fahrzeug-Tests). Ein wesentliches Ziel der frühen Integration der Module ist es, die ein-zelnen Module mit dem Gesamtsystem „Fahrzeug“ zu verbinden. Aus einer funktions-orientierten Sicht sind Co-Simulationen für eine Integration sehr geeignet. Insbesondere muss das Zusammenspiel und die Integration von Elektronikkomponenten mit einer Viel-zahl von Anwendungen wie z. B. Fahrzeugdynamik, Energiemanagement oder Aktive Sicherheit betrachtet werden. Der Ansatz wird in Bild 6-17 durch ein modifiziertes V-Modell dargestellt.

Bild 6-17: Das modifizierte V-Modell verdeutlicht den System-Design-Ansatz für das Gesamtfahr-zeug, der sich über alle Ebenen (Component Level, Module Level und Complete Vehicle Level) erstreckt, um lokale Optima zu vermeiden. Höherer Aufwand für integrierte virtuelle Entwicklung im linken Ast ersetzt überproportional Aufwand für Tests und Fehlersuche im rechten Ast.

6.2.3 Technologien, Methoden und Werkzeuge für Integriertes Engineering

Um die zuvor beschriebenen Ziele zu realisieren, werden die Technologien, Methoden und Werkzeuge für einen integrierten Systemansatz im Folgenden beschrieben:

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 361

� Multidisziplinäre Optimierung – adäquate Optimierungskriterien und Kostenfunktionen

� Engineering Data Backbone – Implementierung einer Datenaustausch-Plattform

� Co-Simulation – verschiedene Disziplinen und Methoden verbinden

� PDM und PLM Systeme – Unterstützung von Daten- und Wissensmanagement

� Mechatronik-Modellierung – Verbund Mechanik und Elektronik

� Design und Layout-Framework – Verbinden verschiedener CAE-Werkzeuge zur Kon-figuration von (Co-) Simulationen

� Verbessern und Beschleunigen von existierenden Modellen und Simulationen für spe-zifische Komponenten und Module.

Die wesentlichen Bausteine und ihr Zusammenspiel sind in Bild 6-18 als Architektur für eine Gesamtfahrzeugsimulation dargestellt. Es folgt die Kurzbeschreibung seiner einzel-nen Komponenten und anschließend eine detaillierte Betrachtung der Co-Simulation zum Thermischen Management des Gesamtfahrzeuges. Dort wird aufgezeigt, wie sich Archi-tektur und Zusammenspiel der Simulationen aus Sicht des Gesamtfahrzeuges, basierend auf bisheriger Erfahrungspraxis, entwickeln kann.

Bild 6-18: Überblick über wesentliche Komponenten einer Architektur für eine integrierte virtuelle Produktentwicklung.

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362 6 Nebenaggregate

Multidisziplinäre Optimierung

Bild 6-19 zeigt den Ansatz der Multi-Step Optimierung, die eine wesentliche Funktion in dem Systemansatz einnimmt. Die Entwicklung beginnt mit der Produktspezifikation (An-forderungen, Funktionen) auf der höchsten Abstraktionsstufe. Die Produktanforderungen und -funktionen werden Schritt für Schritt in detaillierteren Stufen in den einzelnen Dis-ziplinen betrachtet (z. B. Vehicle Safety, NVH, Thermodynamik). In jedem der Bereiche werden spezifische Modelle und Methoden entwickelt, welche für die jeweiligen Anforderungen der Simulation und Optimierung benötigt werden. Lokale Optimierungsschleifen in den einzelnen Disziplinen fußen auf der gleichen Datenversor-gung und bilden die Eingangsdaten für die Systemoptimierung. Über den Engineering Data Backbone (EDB) wird die Datenversorgung und Datenablage sichergestellt. Der EDB ist nicht als monolithische Datenbasis oder als universeller Mechanismus gedacht, der „jedes-mit-jedem“ verbindet. Vielmehr ist der EDB eine integrierte Zugriffsschicht, die auf service-orientierter Architektur (SOA) basiert, eine signifikante Zahl bereits exis-tierender Datenbasen zugänglich macht und für die Ablage der verfeinerten und angerei-cherten Daten sorgt. Basierend auf der Idee und der Technologie der so genannten Engi-neering Objects [17, 18] erlaubt der EDB eine prozessorientierte Integration und sichert eine stetige Konsistenz aller Informationen [19, 20].

Bild 6-19: Multidisziplinäre Optimierung und Datenmanagement.

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 363

Co-Simulation, integrierte Simulationsmethoden und Mechatronik

In einem ersten Schritt wird das Gesamtsystem in mehrere unterschiedliche Sub-Systeme strukturiert. Jedes dieser Sub-Systeme wird in einem spezifischen Simulationsprogramm abgebildet. Die unterschiedlichen Sub-Systeme wiederum müssen gekoppelt werden, um die Interaktion und Wechselwirkung dazwischen betrachten zu können [13, 22]. Durch den Kopplungsprozess kann das „Gesamtsystem Fahrzeug“ (oder relevante Teile) aus Bild 6-16 betrachtet werden. Die Kopplung unterschiedlicher Sub-Systeme (d. h. deren Modelle, die in spezifischen SW-Werkzeugen abgebildet sind) wird durch den Austausch der physikalischen Parameter zwischen den SW-Werkzeugen erreicht. Die kontrollierte Interaktion zwischen den Sub-Systemen wird durch einen zeitabhängigen Datenaustausch sowie die Synchronisation der Co-Simulationsumgebung sichergestellt (siehe im Detail Abschnitt 6.2.4 zu Fragen der Thermischen Simulation; ebenso sind weitere Themen wie NVH, Vehicle Dynamics und Vehicle Safety als gekoppelte Simulationen aufzusetzen). Besonders berücksichtigt werden muss, dass bei fortschreitendem Entwicklungsprozess eine stetige Verbesserung der Modelle als auch der Qualität zugrunde liegender Daten zu verzeichnen ist (siehe Bild 6-32).

PDM und PLM Systeme

Heutige PDM Systeme sind alleine auf die geometrische Daten (Digital Mockup, DMU) und Stücklisten ausgerichtet. Zudem wird nur sehr limitiert Wissen und Erfahrung bereit-gestellt und genutzt. Mit dem zunehmend funktionsorientierten Ansatz in der zukünftigen Fahrzeugentwicklung werden sich die Anforderungen des Entwicklers deutlich verän-dern. Funktionsorientierte Sichten und Datenrepräsentationen, eine geeignete Produkt-struktur und neue Prozesse, die die „klassische“ Welt (z. B. Thermodynamik, NVH, Fahrzeugsicherheit und -dynamik) mit der E/E Welt verbinden, werden benötigt (multi-disziplinärer Prozess und Datenmodell). Daher wird ein zukünftiges PLM-System den Anwender nicht nur dabei unterstützen, umfassende funktionale Sichten auf das ganze Fahrzeug zu bekommen, sondern zudem Wissen und adäquate Informationen bereitstel-len.

Mechatronisches Fahrzeug

In modernen Fahrzeugen nimmt der Anteil der Elektronik stark zu, immer öfter werden Sensoren und Aktuatoren elektronisch gesteuert und decken dadurch eine Vielzahl von Kundenfunktionen im Fahrzeug ab (z. B. Fahrzeugdynamik, Stabilitätskontrolle, Aktive Sicherheit, Thermisches Management). Zwei wesentliche Aspekte zum mechatronischen Fahrzeug werden betrachtet: der Energiefluss (thermisch, mechanisch, elektrisch) sowie der Informationsfluss (Software-bezogen) zwischen Aktuatoren und Sensoren. Ein um-fassendes Modell des mechatronischen Fahrzeugs deckt alle Energieflüsse innerhalb des Gesamtsystems ab. Mechanische, thermodynamische und elektrische Energieflüsse wer-den in dem mechatronischen Simulationsmodell betrachtet und analysiert. Eine Energie-flussanalyse wird über unterschiedliche Betriebszustände des mechatronischen Fahrzeu-ges durchgeführt. Über geeignete Kontroll-Algorithmen wird das Energiemanagement

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des gesamten mechatronischen Systems gesteuert. Ebenso ist es von hoher Bedeutung, die Konsistenz der Verbindung Software/Hardware zu erhöhen (z. B. Funktionsverteilung auf ECUs, Buslast, Buskonfiguration, Ansteuerung von Sensoren und Aktuatoren).

6.2.4 Rolle der Co-Simulation für das Thermische Management

Numerische Simulation im Bereich des Thermischen Managements und Untersuchungen thermodynamischer Energieflüsse innerhalb von Fahrzeugen sind größtenteils durch den Einsatz fachspezifischer Simulationswerkzeuge geprägt. Jedes dieser fachspezifischen Programme bildet ein Teilsystem ab und wird durch das auf die Problemstellung abge-stimmte numerische Verfahren behandelt. Erste Bestrebungen gehen dabei in Richtung gekoppelter Simulation von Teilsystemen und einer gesamtheitlichen Betrachtung ther-modynamischer Energieflüsse (vergleiche dazu [5]). Dabei werden meist nur einzelne Teilsysteme (zwei) miteinander gekoppelt. Auch in Bezug auf die zeitliche Steuerung werden derzeit fest gekoppelte Einzellösungen, meist zwischen zwei Simulationsprog-rammen eingesetzt [6, 7]. Die gegenwärtig eingesetzten Lösungen sind dabei problembe-zogen umgesetzt und werden zwischen den einzelnen Programmen fix implementiert (siehe Bild 6-20). Die eingesetzten Kopplungen sind von den angebotenen Schnittstellen3 der kommerziell erhältlichen Programme abhängig sowie nach aktuellem Stand der Technik fehleranfällig und unflexibel in Bezug auf Erweiterbarkeit (z. B. bei Versions-wechsel der Simulationsprogramme).

Bild 6-20: Fest implementierte Kopplungen zwischen verschiedenen Simulationsprogrammen (Grau: spezifische Simulationsprogramme; Gelb: für die einzelnen Systeme wie Motor, Antriebs-strang, Kühlsystem können verschiedene kommerzielle Simulationsprogramme eingesetzt werden; Orange: In-House Simulationsprogramme) 3 Die von den Simulationsprogrammen zur Verfügung gestellte Schnittstelle nach außen hin wird auch als API (Applications Programming Interface) bezeichnet. Über diese Schnittstelle können Programmfunktionen außerhalb des Simulationsprogramms aufgerufen werden, durch z. B. eigene Programme. Diese Programmfunktionen und deren Aufrufe werden meist vom Softwarehersteller dokumentiert und deren Anwendung durch Programmierbeispiele erläutert.

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 365

Es ist für die Kopplung mehrerer Simulationsprogramme, die jeweils unterschiedliche Teilsysteme abbilden, zwischen unterschiedlichen Plattformen und unter nicht einheitli-chen Betriebssystemen arbeiten, kein Gesamtkonzept erkennbar. Ziel ist es, die Möglich-keit einer unabhängigen Co-Simulationsplattform für die Kopplung von verschiedenen Teilmodellen zu Gesamtfahrzeugsimulationsmodellen aufzuzeigen. Der Weg zur Gesamtfahrzeugsimulation wird durch die Kopplung der bisher separat betrachteten Einzelsysteme beschritten. Die Modelle (Abbildungen der Einzelsysteme innerhalb numerischer Simulationsprogramme) können dabei in verschiedenen Prog-rammen erstellt worden sein. In dem hier vorgestellten Ansatz wird davon ausgegangen, dass die einzelnen Modelle als „Black Box“ betrachtet werden können [10]. Das bedeutet, dass auf die hinter den Simulationsprogrammen liegenden Gleichungen kein Zugriff be-steht. Es können nur die Eingangs- und Ausgangs-Werte der Simulationsprogramme modifiziert bzw. gelesen werden [11]. Die Co-Simulationsplattform ist bei dieser Vorge-hensweise unabhängig von den verwendeten Simulationsprogrammen und Modellen. Die Steuerung der instationären Simulation wird dabei durch die Co-Simulationsplattform realisiert, indem die einzelnen Teilsysteme von außen zeitsynchron gesteuert werden (keines der an der Co-Simulation beteiligten Simulationsprogramme übernimmt die Steuerung der anderen Programme). Bei der Kopplung dieser Systeme ist vor allem die Stabilität der Gesamtsimulation, bestehend aus den einzelnen Teilsystemen, zu beachten. Ein wichtiger Aspekt der Kopplung ist auch die Berücksichtigung der physikalisch kor-rekten Vernetzung von Teilmodellen zu umfassenden Systemen durch Einbeziehung von physikalischen Erhaltungsgrößen (Masse, Impuls, Energie). Forderungen an eine unabhängige Co-Simulationsplattform:

� Plattform- und Betriebssystem übergreifender Datenaustausch

� Unabhängigkeit von Simulationsprogrammen und Programmversionen

� modularer Aufbau der Co-Simulationsumgebung (Schichtenmodell)

� Flexibilität in der Anzahl der auszutauschenden physikalischen Parameter

� Anwendung unterschiedlicher Kopplungsalgorithmen

� Zeitsynchrone Steuerung der einzelnen Teilmodelle ohne Masterprogramm4

� Berücksichtigung von physikalischen Erhaltungsgrößen zwischen Teilmodellen

� Modulare Konnektivität an Simulationsdatenmanagement.

4 Ein Masterprogramm ist ein Simulationsprogramm, das innerhalb der gekoppelten Simulation alle anderen beteiligten Simulationsprogramme zeitlich steuert. Dieses Masterprogramm wird für alle durchzuführenden Co-Simulationsläufe benötigt.

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6.2.5 Design einer unabhängigen Co-Simulationsplattform-Erstellung eines Gesamtfahrzeugmodells am Beispiel des Thermischen Managements

5 Design einer unabhängigen Co-Simulationsplattform-Erstellung

Unter dem Thermischen Management von Fahrzeugen versteht man die thermodynami-sche Betrachtung der Energieflüsse sowie deren Steuerung innerhalb des Gesamtsystems Fahrzeug. Es beinhaltet alle wesentlichen Teilsysteme, die für die Betrachtung der Ener-gieflüsse innerhalb des Thermischen Managements von Fahrzeugen notwendig sind (sie-he Bild 6-21). Das thermische Management kann nur vollständig beschrieben werden, wenn alle Wärmequellen innerhalb des Systems sowie sämtliche, Wärme transportieren-den Bauteile erfasst werden. Innerhalb des Thermischen Managements nimmt die Warm-laufphase des Verbrennungsmotors eine Schlüsselstellung ein: Durch eine schnelle Auf-wärmung des Motors werden die Reibverluste und damit gleichzeitig auch der Verbrauch minimiert, durch die schnelle Erwärmung der Abgasanlage werden ebenfalls die Emis-sionen reduziert. Bei Fahrten im Winter stellt der Motor auch die maßgebliche Wärme-quelle für die Aufheizung der Passagierkabine dar. Für eine umfassende Optimierung ist es wesentlich, dass alle thermisch relevanten Teilsysteme im Fahrzeug (Motor, Abgasan-lage, Getriebe, Kühl- bzw. Heizungskreislauf etc.) korrekt erfasst werden.

Bild 6-21: Das „Gesamtsystem Fahrzeug“ aus Sicht des Thermischen Managements. Es beinhaltet alle relevanten Teilsysteme aus thermodynamischer Sicht.

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 367

6.2.5.1 Aufteilung des Gesamtsystems in Teilmodelle

Bei der Partitionierung des Gesamtfahrzeugmodells wird eine strukturierte Vorgehens-weise vorgeschlagen, die sich in drei wesentliche Schritte einteilen lässt:

� Definition der Modellanforderungen

� Aufteilung des Gesamtsystems in Teilmodelle

� Kopplung der einzelnen Teilmodelle durch den Austausch physikalischer Größen.

Die Strategie zur Aufteilung des Gesamtsystems in Teilsysteme (Beispiel in Bild 6-22) ist durch unterschiedliche Forderungen motiviert. Mögliche Strategien zur Aufteilung des Gesamtsystems in Teilmodelle können sein:

� kurze Rechenzeiten

� unterschiedliche Modellierungstiefe (0D-, 1D-, 3D-Modelle)

� vorgegebene Simulationsprogramme (unterschiedlich in einzelnen Unternehmen).

Bild 6-22: Aufteilung des Systems Gesamtfahrzeug in einzelne Teilsysteme. Jedes der einzelnen Teilsysteme wird in einem spezifischen Simulationsprogramm durch ein Teilmodell abgebildet.

6.2.5.2 Kopplung der Teilmodelle zu einem Gesamtmodell

Die einzelnen Teilmodelle müssen für die Betrachtung des Verhaltens des Gesamtsys-tems gekoppelt betrachtet werden. Die Kopplung der Teilmodelle erfolgt über physikali-sche Größen, die zwischen den Teilmodellen ausgetauscht werden (siehe Bild 6-23). Durch den zeitlich gesteuerten Austausch der physikalischen Größen zwischen den Teil-modellen beeinflussen sich die Teilmodelle gegenseitig. Die Eingänge und Ausgänge (ausgetauschte physikalische Größen) der Teilmodelle werden zum Gesamtsystem ver-knüpft. Um den Austausch der physikalischen Größen während einer transienten Simulation entsprechend dem physikalischen Interface zwischen den Teilmodellen zu ermöglichen, muss eine Co-Simulationsplattform geschaffen werden, welche die Anforderungen aus Abschnitt 6.2.4 erfüllt.

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Bild 6-23: Jedes der einzelnen Programme „produziert“ physikalische Größen (Ausgangsgrößen) und „konsumiert“ physikalische Größen (Eingangsgrößen). Jedes der beteiligten Simulationsprog-ramme stellt programmspezifische Schnittstellen zur Verfügung, um auf die Daten innerhalb der Simulationsprogramme zugreifen zu können.

Um einen allgemeinen, unabhängigen Ansatz für eine Co-Simulationsplattform zu er-möglichen, wurden verschiedene Abstraktionsschichten eingeführt.

� Anwenderschicht: Die Anwenderschicht ist die oberste Schicht und beinhaltet die Simulationsprogramme und physikalischen Modelle.

� Wrapperschicht: Die Wrapperschicht ist eine Art Übersetzungsschicht zwischen der spezifischen Schnittstelle der Simulationsprogramme und der allgemeingültigen Schnittstellenspezifikation der Co-Simulationsplattform.

� Co-Simulationsschicht: Ist jene Schicht, welche die zeitsynchrone und konservative5 Steuerung der Teilmodelle übernimmt und die numerische Stabilität sicherstellt.

Durch das in Bild 6-24 dargestellte Schichtenmodell können die einzelnen Simulations-programme auf unterschiedlichen Computerplattformen und Betriebssystemen verteilt werden. Die programmspezifischen Wrapper übernehmen neben der Aufgabe der Über-setzung der programmspezifischen Schnittstelle auch die Aufgabe einer Middleware. Die Definition der auszutauschenden Daten, die zeitsynchrone Anforderung und das zeitsyn-chrone Versenden der Daten wird durch Grundfunktionen bestimmt (Diese Grundfunk-tionen werden in den Wrappern aufgerufen).

5 Konservative Steuerung: Bei der transienten Kopplung von verschiedenen Teilsystemen müs-sen auch die globalen Energiebilanzen und Erhaltungsgleichungen zwischen den einzelnen Teilsys-temen erfüllt sein. Die zeitabhängigen Synchronisationsalgorithmen müssen die Erhaltung dieser globalen Zwangsbedingungen berücksichtigen.

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Bild 6-24: Schichtenansatz der unabhängigen Co-Simulationsumgebung. Die Wrapperschicht dient als Übersetzungsschicht zwischen den programmspezifischen Schnittstellen und einer allgemeinen Schnittstellendefinition der Co-Simulationsplattform.

6.2.5.3 Synchronisierung der Teilmodelle innerhalb des Gesamtmodells

Die Umsetzung der Synchronisierung und des Zeitmanagements basiert auf dem in Bild 6-25 dargestellten Schichtenmodell für den zeitsynchronen und konservativen Datenaus-tausch. Jedes der einzelnen Simulationsprogramme wird von außen über die programm-spezifische Schnittstelle gesteuert (Voraussetzung: Die Programme müssen die Möglich-keit bieten, den Zeitintegrationsprozess von außen zu steuern). Die Kopplung zwischen den einzelnen Programmen erfolgt auf Integrationsebene, d. h., es werden die Zeitintegra-tionsprozesse der Simulationsprogramme beeinflusst und synchronisiert (vgl. dazu [14]). Je nach Anforderung an das gekoppelte Gesamtmodell können verschiedene Kopplungs-verfahren angewendet werden. Bei den zur Verfügung stehenden Algorithmen kann zwi-schen expliziten und impliziten Verfahren unterschieden werden [8]. Je nach Ausfüh-rungsreihenfolge können diese Verfahren noch weiter in parallele und sequentielle Kopp-lungsalgorithmen eingeteilt werden (siehe Bilder 6-26 und 6-27).

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Bild 6-25: Die unterschiedlichen Zeitschrittweiten der verschiedenen Simulationsprogramme wer-den durch die Co-Simulationsplattform synchronisiert. Es müssen auch unterschiedliche Zeitkons-tanten auf unterschiedlichen Rechnerarchitekturen und Betriebssystemen synchronisiert werden.

Bild 6-26: Unterscheidung zwischen parallelen und sequentiellen Kopplungsverfahren: Paralleles Kopplungsverfahren.

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 371

Bild 6-27: Unterscheidung zwischen parallelen und sequentiellen Kopplungsverfahren: Sequentiel-les Kopplungsverfahren.

Es besteht in diesem Zusammenhang mit dem hier vorgestellten Ansatz auch die Mög-lichkeit, unterschiedliche Zeitschrittweiten der einzelnen Simulationsprogramme zu syn-chronisieren (siehe Bild 6-28).

Im Beispiel in Bild 6-28 simuliert Programm A die ersten vier Schritte, bis die Simulati-onszeit von Programm A größer ist als die Simulationszeit von Programm B. Danach beginnt Programm A mit der Berechnung des nächsten Zeitschritts.

Bild 6-28: Synchronisierung von Simulationspro-grammen mit unter-schiedlichen Zeit-schrittweiten. Jedes der Simulationspro-gramme rechnet mit dem eigenen Simula-tionszeitschritt bis zum Erreichen der maximalen Simula-tionszeit.

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372 6 Nebenaggregate

6.2.6 Betrachtung der Energieströme innerhalb eines gekoppelten thermischen Gesamtfahrzeugmodells

6 Betrachtung der Energieströme

Die in Bild 6-29 dargestellte Leistungsbilanz zeigt einerseits die globalen Energieströme, die über die Systemgrenzen ausgetauscht werden und andererseits die inneren Zusam-menhänge der Energieströme. Voraussetzung für eine korrekte Durchführung der ther-modynamischen Kopplung ist, dass die gesamte Leistungsbilanz während der Co-Simulation zu jedem Zeitpunkt abgeglichen ist. Die globale Leistungsbilanz kann folgen-dermaßen definiert werden [9]:

Fuel Wheel Exhaust Radiator Heater Air Charge-AirQ P Q Q Q Q Q= + + + + + 6

Bild 6-29: Darstellung der Energie-ströme innerhalb des Ge-samtfahrzeugmodells und über die globalen System-grenzen.

Das Simulationsprogramm CRUISE von der AVL List GmbH wird zur Abbildung des Antriebsstranges und zur Berechnung der Längsdynamik verwendet. Mit Hilfe des Simu-lationsprogramms BOOST von der AVL List GmbH wird der Hochdruckprozess und der Ladungswechsel des Motors berechnet. Mit dem Simulationsprogramm KULI von MAGNA POWERTRAIN ECS werden die einzelnen Kühl- und Schmierkreisläufe simu-liert. Das Programm SIMULINK von Mathworks wird zur Abbildung des thermischen

6 QFuel – Brennstoffwärme, PWheel – Leistung am Rad, QExhaust – Wärmeleistung des Abgas-stromes, QRadiator – Wärmeleistung über den Wasserkühler, QHeater – Wärmeleistung des Hei-zungswärmetauschers, QAir – Wärmeleistung an die Umgebung, QCharge-Air – Wärmeleistung des Ladeluftkühlers

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Netzwerks im Motor und zur Berechnung der Wärmestromaufteilung in die Kühlmedien und in die Motorstruktur verwendet. Als Beispiel für die entwicklungstechnische produktive Anwendung der Co-Simulation wird ein Messungs-Rechnungsvergleich einiger relevanter Größen für einen transienten Fahrzyklus gezeigt (siehe Bild 6-34). Das Aufwärmverhalten des Gesamtfahrzeugmo-dells wurde für den NEDC (New European Driving Cycle) berechnet, welcher mit einem Versuchsfahrzeug auf einem Rollenprüfstand gefahren wurde. Das Gesamtfahrzeugmo-dell wurde durch die Kopplung einzelner Teilmodelle erstellt, die in kommerziell erhält-lichen Simulationsprogrammen abgebildet wurden (siehe Bilder 6-30 bis 6-33).

1. Modell des Kühlsystems

Bild 6-30: Darstellung einzelner Teilmodelle in kommerziell erhältlichen Simulationsprogrammen: Modell des Kühlsystems in KULI; jedes der Modelle wurde für sich abgestimmt mit Prüfstandsver-suchen.

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2. Modell des thermischen Netzwerks

Bild 6-31: Darstellung einzelner Teilmodelle in kommerziell erhältlichen Simulationsprogrammen: Modell des Verbrennungsmotors in BOOST; jedes der Modelle wurde für sich abgestimmt mit Prüfstandsversuchen.

3. Modell des Motors

Bild 6-32: Darstellung einzelner Teilmodelle in kommerziell erhältlichen Simulationsprogrammen: Modell des thermischen Netzwerks in SIMULINK; jedes der Modelle wurde für sich abgestimmt mit Prüfstandsversuchen.

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 375

4. Modell des Antriebsstrangs

Bild 6-33: Darstellung einzelner Teilmodelle in kommerziell erhältlichen Simulationsprogrammen: Modell des Antriebsstrangs in CRUISE; jedes der Modelle wurde für sich abgestimmt mit Prüfs-tandsversuchen.

Bild 6-34: Vergleich zwischen gemessenen Kühlmitteltemperaturen und simulierten Kühlmittel-temperaturen im NEDC. Das Gesamtfahrzeugsimulationsmodell wurde durch Kopplung der einzel-nen Teilmodelle aus erstellt.

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Durch die hier vorgestellte Methodik besteht die Möglichkeit, die Energieströme zwischen den einzelnen Teilmodellen transient über den Fahrzyklus zu analysieren, die bisher in den einzelnen Teilmodellen nur für sich getrennt betrachtet wurden (vgl. dazu [12]). Durch Auswertungen der Energiebilanzen wie z. B. in Bild 6-35 kann z. B. der Mehrver-brauch von Fahrzeugklimaanlagen in Interaktion mit den anderen Teilsystemen darges-tellt werden. Auf Basis dieser Auswertungen, bzw. auf Basis der aktuellen Energieströme während der gekoppelten Co-Simulation, können gezielte Betriebsstrategien für Nebe-naggregate und zusätzliche Verbraucher untersucht werden (vergleiche dazu [2]).

Bild 6-35: Rechtes Bild: Darstellung der Leistungsbilanz für die Motorprozessrechnung kumuliert über die ersten 300 s. Linkes Bild: Aufteilung der Brennstoffenergie – Verbrauch. Durch diese Darstellung werden Einsparungspotenziale ersichtlich. Auf dieser Basis können Verbesserungs-maßnahmen untersucht werden.

Durch den hier vorgestellten Ansatz einer unabhängigen Co-Simulationsumgebung kön-nen bestehende Simulationsmodelle transient gekoppelt werden, wodurch die Interaktion der verschiedenen Teilmodelle berücksichtigt wird.

6.2.7 Zusammenfassung und Ausblick

Ausgehend von den umfassenden Anforderungen an die Fahrzeugentwicklung wurde die Architektur und die Bausteine einer Gesamtfahrzeug- Systemoptimierung aufgezeigt. Anhand des konkreten Themas Thermische Simulation wurde verdeutlicht, wie eine Co-Simulation erfolgreich konzipiert und umgesetzt werden kann. Diese Lösung ist erwei-terbar und übertragbar auf andere Funktionsabsicherungen und entwickelt dadurch noch wesentlich an Stärke. Anhand dieses Beispiels aus der Thermodynamik wurde deutlich, wie nur durch das effi-ziente Zusammenspiel aller dazugehörenden Teilsysteme Optimierungspotentiale ausge-

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 377

schöpft werden können. Der hier vorgestellte Ansatz einer Co-Simulationsplattform mit integrierter Datenversorgung, Simulationsdatenmanagement und Modellerstellung zeigt den Weg auf, wie in Zukunft die Fragestellung zur Simulation des Gesamtsystems Fahr-zeug angegangen werden kann. Mit Hilfe der Co-Simulationsumgebung werden im Spe-ziellen die Erhaltung der physikalischen Größen im Berechnungsgebiet und die synchro-ne Kopplung der gekoppelten Simulationsmodelle berücksichtigt, um eine transiente Analyse der Energieflüsse zu ermöglichen. Mit Hilfe einer Zeitschrittweitensteuerung der einzelnen Teilmodelle während der Co-Simulation des gekoppelten Gesamtsystems wer-den kurze Rechenzeiten bei gleichzeitiger Berücksichtigung globaler Erhaltungsgrößen ermöglicht. Die entwickelte Co-Simulationsplattform kann durchgängig in den jeweiligen Phasen des Entwicklungsprozesses eingesetzt werden. Je nach Datenverfügbarkeit ermöglicht die unabhängige Co-Simulationsumgebung während des Entwicklungsprozesses einen modu-laren Aufbau von Gesamtfahrzeug-Simulationsmodellen (siehe Bild 6-36). Ein entschei-dender Punkt für den Einsatz der Co-Simulationsumgebung ist die Einbindung in eine geeignete Datenmanagementumgebung (EDB, PLM) wie sie in diesem Beitrag beschrie-ben wurde. Nur dadurch kann die erhöhte Komplexität gekoppelter Simulationen effi-zient und nachvollziehbar verwaltet werden.

Bild 6-36: Die hier dargestellte Methode kann in Kombination mit der grafischen Benutzeroberflä-che über die Entwicklungszeit eingesetzt werden. In der frühen Entwicklungsphase werden grobe 0D und 1D Modelle miteinander zu einem Gesamtmodell gekoppelt. Über der Entwicklungszeit wird das Gesamtmodell durch die Einbindung detaillierter Teilmodelle erweitert.

Basierend auf den bisherigen Untersuchungen an Gesamtfahrzeugmodellen im Bereich des Thermischen Managements wird die unabhängige Co-Simulationsumgebung derzeit auch für die Simulation von Hybridkonzepten, bestehend aus einzelnen Teilsystemen (elektrisch, mechanisch, thermisch) eingesetzt. Eine Verwendung im Bereich der aktiven Sicherheit steht bevor. Hier soll die Co-Simulationsumgebung verschiedene Teilsysteme

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378 6 Nebenaggregate

miteinander verbinden, wie z. B. MKS7-Dummysimulation mit Simulink Reglern und Teilsystemen, die die Fahrzeugsensorik abbilden. Mit Hilfe der gekoppelten Simulation sollen in diesem Bereich aktive Maßnahmen zur Unfallvermeidung, bzw. zur Reduktion der Unfallschwere untersucht werden.

Danksagung

Die Autoren danken dem Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT), der Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH (FFG), dem Land Steiermark, der Stadt Graz und der Steirischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft mbH (SFG) als Betreiber des K plus Kompetenzzentren-Programms für die finanzielle Unters-tützung. Weiters bedanken wir uns bei den Firmen und den Projektpartnern MAGNA STEYR Fahrzeugtechnik AG & CO KG, MAGNA POWERTRAIN (Engineering Center Steyr GmbH & Co KG), AVL List GmbH, Mecanica Solutions, OMV und der TU Graz (Insti-tut für Wärmetechnik und Institut für Verbrennungskraftmaschinen und Thermodynamik) für ihre Unterstützung.

Literatur zu Abschnitt 6.2

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7 MKS – Mehrkörpersimulation

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6.2 Integrierte Virtuelle Gesamtfahrzeugsimulation 379

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policy for 2010: time to decide" COM(2001) 370 [17] Eigner, M.: Cross Enterprise Engineering – Challenging Information Technology. In: Pro-

ceedings of ProSTEP iViP Science Days 2003, Dresden 8.–9. Oct 2003 [18] Kaiser, J.; Lehr, M.; Bernasch, J.: Optimierung von E/E-Architekturen in Fahrzeugen mittels

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380

Ausblick

Im heutigen Entwicklungsprozess für Fahrzeug und Antriebsstrang werden bis zu 250 verschiedene Simulationsverfahren eingesetzt. Erste Fahrzeuge werden bereits mit ganz geringen Prototypenzahlen bei hoher Qualität in die Serie gebracht. In Zukunft wird die Interaktion und Integration der unterschiedlichen Entwicklungstools sich verstärken und gleichzeitig auch die übrigen Bereiche des Produktentstehungsprozesses wie Produktion, Logistik, Kundendienst, Recycling integrieren. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der Integrationsgrad von mathematischer Simulation und Prüfstandstest. Während im heutigen Entwicklungsprozess die Simulation in der Konzept- und Kons-truktionsphase („Frontloading“) zu immer besseren Prototypen führt und daher der Test vermehrt eine Validierung der virtuellen Prototypen darstellt, wird zukünftig in einem weiteren Schritt die mathematische Simulation auf dem Prüfstand als Echtzeitsimulation integriert werden. Damit wird es möglich, dass Simulationsmodelle, die in der Konzept-phase erstellt wurden und mit zunehmender Komplexität während des Entwicklungspro-zesses mitwachsen schlussendlich auch auf dem Prüfstand angewendet werden können. Die Durchgängigkeit der Simulationsmodelle entlang des Entwicklungsprozesses wird zu einer weiteren Qualitätssteigerung in der Entwicklung führen.

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381

Sachwortverzeichnis

Sachwortverzeichnis 1D-Torsionsansatz 333 3D-MKS 334 3D-Simulation 213 3D-Verfahren 186 A Abgasgegendruck 233 Abgastemperatur 228, 229, 244 –, Modell 244 Ableitung –, Verippung 260 –, Wandverlauf 259 Abstimmung Messung/Rechnung 174 Adaptive Cruise System (ACC) 108 Advanced Rollover Sensing 107 Airbag Aufprallsensor 104 aktive Sicherheit 360 Akustik 196, 197 Algorithmus, genetischer 143 Analysen, dynamische 345 Anfettung 245 Anfettungsbedarf 245 Ansatz, funktionsorientierter 363 Antriebsprüfstand 164, 295 Antriebsstrang 323 –, hybrider 294 –, Modell 375 –, Schwingungs- und Geräuschphänomene

324 Antriebsstrang/Hybrid 286 Antriebsstrangentwicklung, modellbasierte

286 Antriebsstrangprüfstand 295 Applikation 199, 227 Applikationsprozess 227 Arbeitsprozessrechnung 229 Architektur, Elektrik/Elektronik 140 Architekturanalyse 143 Architekturanalysetools 140 Architekturbewertung 136 Architekturentwurf Elektrik/Elektronik 136 Architekturentwurfsprozess 138 Architekturoptimierung 147 Architekturreport 144 Augmented Reality 24, 64 Ausgangsgeometrie 268 Auslegungstools 29 Automatisierungstools 230

AUTOSAR 114 –, Konformitätsprüfung 127 –, Projektorganisation 115 –, Spezifikationen 125 –, technisches Konzept 116 AVL Prime Mover 165 AVL PUMA Open ISAC 164 AVL-DRIVE 157 B Basismessung 235 Baulänge, axiale 280 Bauteilschutz 228 Beanspruchung, thermomechanische 347 Bedatung 227 Belastung 274 –, mechanische 213 Benchmarking 52 Berechnungsverfahren, parametrisches 66 Betriebsschwingungsanalyse (BSA) 91 –, Berechnung 95 Blow By 214 Boiling-Departure-Liftoff-Modell (BDL) 316 Brennraumeigenfrequenzen 245 C CAE-Methoden 88, 97, 189 CAE-Prozess 90 CAE-Team 97 CAPEmaster 141, 145 CAPEopticon 141, 145 CFD-Analyse 345 CFD-Berechnung, transiente 347 CFD-Vernetzung 348 Clonk 334 Concept Car 60 Concern-System 205 Co-Simulation 149, 360 Co-Simulationsplattform 365 Craig-Bampton-Methode 339 D Datenhaltung 94 Datenlogistik 9 Datenmodell 218 Datensatzerstellung 241 Dauerhaltbarkeitsanalyse 215 Derivatisierung 4

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382 Sachwortverzeichnis

Design of Experiment (DoE) 162, 206, 325 design space 253 Design und Layout-Framework 361 Designvorschlag 258, 283 Diagnose- und Datenstandstest 166 Differenzialdeckel 254, 265 Digital Mock Up (DMU) 62 Diskretisierung 336 Domänenstrukturierung 134 Drehmoment 229 –, effektives 228 –, indiziertes 228 Dummy, thermischer 352 Durchflussgleichung 222 Durchflusszahlen 235 DV-Technik 77, 84 Dynamik einer Verbrennungskraftmaschine

165 Dynamikanalyse von Kühlmodulen 345 Dynamiksimulation 91 E Eigenfrequenz 267, 345, 350 Eigenschaftsableitung 15 Eigenschaftsverfolgung 17 Einsparpotential 303 Einstellgrößen 236 Einzelkomponenten, Interaktion 279 Elastizität 282 Elektronik 99 Energiefluss 364 Energieumsatz, elektrischer 307 Engineering Data Backbone (EDB) 361, 362 Engineering, wissensbasiertes 44 Entwicklung, simulationsgestützte 35 Entwicklungskosten 284 Entwicklungsplan 189 Entwicklungsprozess 8, 286 –, Abgasanlage 88 –, Antriebsstrang 155 –, integrierter 30 Entwicklungszeit 6, 358 Entwurfsphase 286 Erfahrungswerte 272 Erhaltungsgrößen, physikalische 365 Ersatzbrennverlauf 232 eSCOUT 140, 142 Expertensysteme 45 Expertenwissen 29, 42 F Fachwerk 262 Fahrerassistenzsysteme, Entwicklung 21 Fahrzeug-Rollenprüfstand 295

Fahrzeugruckeln 334 Fahrzeugsimulation 325 Fahrzyklus 224, 300 Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse

(FMEA) 205 FEM-Analyse 281, 345 –, explizite 221 FEM-Berechnung, nichtlineare 348 FEM-Netze 92 Fertigungsrestriktionen 272 Festigkeit 193, 256 Festigkeitsberechnung 345 –, lineare 91 Flussvariablen 292 Formoptimierung 250 Freigabeprozess 191 from Office to Road 154 Frontloading 59, 360 Front-Querantrieb 332 Füll- und Entleermethode 230 Füllung 229, 233 –, Vorausberechnung 233 Füllungsberechnung 229 Füllungserfassung 228 Füllungsgrad 257 Funktionsbereich Elektrik/Elektronik 134 Funktionsdatenbank 143 Funktionsspalte 280 Funktionsstruktur 236 G Garantiekostenprognose 211 Gasgleichung 222 Gesamtfahrzeugsimulation 358 Gestaltungsfreiräume 284 Gestaltungsvorschlag 254 Getriebe 249 –, automatisiertes Schalt- 157 –, Doppelkupplungs- 157 –, Handschalt- 157 Getrieberasseln 341 Gewicht 195 Gewichtsoptimierung 196 Grundbedatung 228 Grundzündwinkel 229 H Hardware in the Loop 166, 325 Hardware-Typen 145 Herstellprozess 283 Heulen 334 Höhenkorrektur 246 Hülsenkette 177 Hybridantrieb 157, 305

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Sachwortverzeichnis 383

Hybridfahrzeug 298 Hydrodynamikanalyse 219 Hypoid-Kegelradtsufe 256 I Institut für Kraftfahrwesen (ika) 298 Interpretation 266, 270 Intuition und Erfahrung 260 K Kabinensimulation 352 Kältekreislauf 355 Kältemittel 355 Katamaran 273 Kettenart 177 Kettenräder, unrunde 181 Klimaanlage 358 Klopfgrenze 242 Klopfmodell 230 Klopfregelung 245 Kolbengruppe 213 Kolbenringdynamik 220 Kolbensekundärbewegung 216 Kolbenwarmkontur 217 Komfortbewertung 352 Komplexität 135 Komponenten, elektrisch/elektronisch 102 –, Kontakt zwischen den 279 Komponentenbelastung 307 Komponentendatenbank 143 Komponentenprüfstand 295 Konstruktion, wissensbasierte 45 Kontaktbedingungen 282 Kontaktfläche 281 Kontaktiterationen 284 Kontaktkräfte 281, 283 Kontaktsolver 284 Konzeptauswahl 284 –, wissensbasierte 285 Konzeptentwicklung 59 Konzeptfindung 284 Körper, flexible 338 Körperschall 340 Körperschallmessung 174 Kosten 195 Kostenersparnis 264 Kraftsensor 160 Kraftstoffeinsparung 225 Kreislaufsimulation, thermodynamische 345 Kühlmittelzusammensetzung 313 Kühlsystem 358, 373 Kühlung 193 Kurbelwellenschränkung 223

L Ladedruck 246 Ladedruckregelung 246 Ladeluftkühler 347, 354 Ladeluftkühlerkennfeld 230 Ladeluftkühlungssystem 354 Ladungsbewegungsklappe 228 Ladungswechsel 194, 232 Ladungswechselanalyse 232 Ladungswechselarbeit 232 Ladungswechselsimulation, 0D- 229 –, 1D- 229 Längsdynamiksimulation 299 Lasteinleitung 282 Lastkollektiv 308 –, Adaptionsstufe 308 Lastverteilung 275 Lastzone des Lagers 260 Lastzustände 325 Laufzeugdrehzahl 246 Lebensdauerbewertung 345 Leichtbau 257, 264 Load Matrix 206 Losrad 337 Lösungspotenzial 265 Luftverhältnis 228 M Mechatronik 363 Mehrkörpersimulation (MKS) 71, 218, 328 Methodikkreis 98 –, Berechnung 98 Mischreibung 219 Mitarbeiterqualifikation 79, 84 Modalanalyse 91 Modellabgleich 231 Modellabstimmung 185 Modellbildung, akausale 292 Modellbildung, kausale 292 Modelle, hybride 339 Modellfeinheiten 173 Modellierungstiefe 214 Modellkalibrierung 230 Modellkomplexität 324 Modellparameter 233 Modelltransformation, regelbasierte 290 Momentenstruktur 228 Motordynamik 246 Motoren, abgasturboaufgeladene 229 –, Anordnung 273 –, aufgeladene 242 Motormanagement 199 Motormoment 238 Motorordnungen 175

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384 Sachwortverzeichnis

Motorraumdurchströmung 348 Motorzyklussimulation 325 N Nachgiebigkeit 283 Netzrelaxation 269 Netzwerk, thermisches 374 Neuronale Netze 236 New European Driving Cycle (NEDC) 300,

373 Niederdruckverläufe 235 Niedertemperaturkreislauf 354 Nockenwellenposition 232 Noise, Vibration, Harshness (NVH) 326 non-design space 253, 262, 268 numerischer Werkzeugkasten 91 Nummerierungskonventionen 94 NVH 196 NVH-Verhalten 323 O Oberwellen 178 OHC-Modell 231 Öldichtigkeit 259 Ölverbrauch 214 Open-Source 98 Optimalitätsbetrachtung 278, 279 Optimierung 174, 237 –, Güte der 277, 278, 279 –, multidisziplinäre 361 –, Referenzmodell 255 –, Vorgehen 253 Optimierungsergebnis 253 –, Interpretation 272 Optimierungspotenzial 252, 267, 272, 279 Optimierungsprogramm, Anwendung 266 Optimierungsprozess, wissensbasierter 40 Optimierungsverfahren 294 –, Antriebstechnik 249 Optimierungswerkzeuge, computerbasierte

162 Optimum, theoretisches 278 Ordnungsspektrum 186 P Parallel-Hybrid 305 Parameter, physikalische 158 Parameteroptimierung 251 –, numerische 351 PELOPS 298 –, Simulation 301 Performance 284 Perl 95 PLM Systeme 361

Potentialvariablen 292 Predictive Safety System 108, 109 Produktfreigabe 191 Produktentstehungsprozess 137 –, integrierter 286 Produktkonzeption 284 Produktprozess 7 –, Beschleunigung 75 Produktspezifikation 362 Projektkomplexität 4 Projektmanagement 199 Propellerschub 273 Prozessanalyse 230 Prozessdatenlogistik 10 Prozessintegrator 12 Prozesskette, geschlossene 14 –, interdisziplinäre 18 –, unterbrochene 13 Prozessmodell 286 Prozesssimulation 228, 230 Prozess-Struktur-Organisation 77, 83 Prozess-Typen 145 Q Qualitätssicherung bei Elektroniksystemen 111 R Rapid Prototyping Calibration (RPC) 236 Rasseln 334 Realisierbarkeit 272 Reibleistung 177 Reibmitteldrücke 224 Reibmodell 242 Reibungsanalyse 223 Reibungsansätze 187 Reifenschlupf 334 Reliability Charts 209 Reliability Engineering Prozess 202 Resonanz 182, 267 Restgasanteil 232 Restgasgrenze 237 Restriktion 254 Ring-Instabilität 222 Risikomanagement-Prozess 204 Road to Rig to Office 154 Rollenkette 177 S Saugrohrdruck 233 Saugrohrumschaltung 228 Schallgeschwindigkeit 245 Schmierfilm, hydrodynamischer 217 Schrägstellung, geringe 276 Schublagerwand 275

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Sachwortverzeichnis 385

Schwingform 96 Sensorcluster 105 Serienstand 265, 279 Serienstart 284 service-orientierte Architektur (SOA) 362 Shudder 331 Sicherheit, aktive und passive (CAPS) 103,

106 Sieden 311 Simulation, gekoppelte 358 –, hochdynamische 164 –, instationäre 365 –, numerische 364 Simulationsdatenmanagement 365 Simulationskette, integrale 137 Simulationsmodell, detailliertes 167 Simulationswerkzeuge 326 – in der Konzeptphase 60 Software 199 Softwareentwicklung, modellbasierte 139 Software-Typen 146 Sonneneinstrahlung 352 Spange 263, 276 Spezifikationsphase 286 Standardisierung 98 Standardmethodik 98 Stanz-Präge-Prozess 283 Staupunktsverlagerung 349 Steifigkeit 282 Steuergerät 228 Steuergeräteentwurf 137 Steuergeräteprüfstand 295 Steuertriebsentwicklung 172 Steuerung, zeitsynchrone 365 Stoßvorgang 178 Streckenverhalten 246 Stribeck-Kurven 223 Strömungsberechnung (CFD) 68 Struktur, elastische 339 –, geschlossene öldichte 262 Strukturelement, Anordnung 252 –, Lage 252 Strukturmerkmale 272 Strukturoptimierung, numerische 250, 266 Sub-Systeme 363 Synchronisation 363 System Modelling Language (SysML) 287,

289 Systemansatz, integrierter 360 Systementwurf 288 Systemmodell 288 T Teillastbereich 257

Temperaturkompensation 246 Temperaturwechselbeanspruchung 347 thermische Strukturanalyse 214 Thermodynamik 194 Thermomanagement 345, 358 Thermomechanikberechnung 93 Thermomechaniksimulation 91 Thermostrukturmodule 350 Tip-In/Back-Out 332 Topografieoptimierung 250, 267 Topologieoptimierung 250, 252, 351 Tragbilder 257 Trendlinie 278 Turbine 228 Turboladerkennfeld 229 U Übertragung auf andere Produkte 266 Umgebungsbedingungen, reproduzierbare 160 Umsatzpunkt, charakteristischer 239 Umschaltpunkte 246 Umsetzung 269 –, Güte der 270 Umsetzungsschwerpunkt 242 Umweltmodell 304 V Validierung 216 Validierungskriterium 348 Validierungsphase 286 Variantenrechnung 174 Vehicle in the Loop (VIL) 22 Vehicle Safety 362 Verbrennungsablauf 239 Verbrennungsanlage 229, 242 Verbrennungskenngrößen 232 Verbrennungsmotor 366 Verbrennungsprozess 194 Verdampfer 357 Verdichter 228, 229 Verformungsdarstellung 276 Vergleich mit Referenzmodell 261 Verkehrssicherheit 358 Verkehrssimulation 23 Verkehrsszenarien 303 Verkehrsumgebung 298 Verluste, mechanische 232 Verlustteilung 232 Vernetzung der Einzelsysteme 155 Vernetzungsrichtlinie 92, 93, 98 Verschiebung, parallele 275 Verschiebungscharakteristik 272 Verschiebungsgrenze 275 Verschleiß 222

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386 Sachwortverzeichnis

Verschraubung 280 Vibefunktion 239 Vibration 315 Virtual Vehicle Design 360 virtuelle Antriebsstrangentwicklung 154, 299 –, Auslegung 35 –, Entwicklung 7, 9, 28 –, Gesamtfahrzeugsimulation 358 –, Hardware 148 –, Methoden 345 –, Modellkette 347 –, Motorenentwicklung 189 –, Produktentwicklung 361 – –, Konzeptphase 58 –, Produktfreigabe 191 –, Sitzkiste 63 –, Systementwicklung 133 virtueller Entwicklungsprozess 150, 358 –, Prototyp 148 virtuelles Engineering 31 V-Modell 150, 288, 360 Volllast 257 Vorreaktionsintegral 242 W Wandlerautomatik 157 Wärmequelle 366

Wärmestrahlung 244 Wärmestrombilanz 244 Wärmeübergang, Modell 244 Wastegate 228 Waterjet-Antrieb 273 Wissensdatenbanken 44, 46 –, Anwendung 50 Wohlbefinden, subjektives 352 Wrapperschicht 368 Z Zähnezahl 175 Zeiteinsparung 97 Zeldovich-Mechanismus 231 Zielgrößen 228 Zielwerteinschränkung 16 Zonenmodell, Drei- 231 –, Ein- 231 –, Zwei 231 Zündwinkel 228 Zuverlässigkeitsprozess 202 Zweimassenschwungrad 330 Zwischenmodell 269 Zylinderdruckverlauf 235 Zylinderrohrdeformation 217