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Karolina Kukielka / Tonio Walter Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Der Einsatzgruppen-Prozess von Ulm I. Einführung Am 28. April 1958 begann vor dem Landgericht Ulm das erste große Strafver- fahren wegen der Verbrechen der Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Vor der Schwurgerichtskammer standen zehn Mitglieder des Einsatzkommandos Tilsit, das nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR Massenmorde an Kindern, Frauen und Männern jüdischer Abstammung sowie an Menschen begangen hatte, die tatsächlich oder vermeintlich der kommunistischen Weltanschauung anhingen. Von Juni bis September 1941 ermordete das Einsatzkommando Tilsit in seinem Auftragsgebiet – dem 25 Kilometer tiefen Streifen jenseits der deutsch-litauischen Grenze – fünf- bis sechstausend Menschen. Seine Mitglie- der wurden am 29. August 1958 wegen Beihilfe zum Mord zu Strafen zwi- schen drei und fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt 1 . Die meisten von ihnen wurden bereits 1960 wieder entlassen. Die Eröffnung des Prozesses wurde in der Öffentlichkeit mit großem Interesse verfolgt 2 . Ihr wurde vor Augen geführt, welche schweren Taten bislang unge- sühnt geblieben waren 3 . Zwar überließen die Besatzungsbehörden den deut- 1 LG Ulm, Urteil vom 29.8.1958 – Ks 2/57 –, veröffentlicht in: Hendrik George van Dam / Ralph Giordano (Hrsg.), KZ-Verbrechen vor deutschen Gerichten, Band II: Ein- satzkommando Tilsit. Der Prozeß zu Ulm, Frankfurt am Main 1966. 2 Als Bericht eines Zeitzeugen im Ulmer Einsatzkommando-Prozess siehe Klaus Beer, Auf den Feldern von Ulm. In den wechselnden Winden von Adenauer bis Willy Brandt, Blaubeuren 2008, S. 249–250; zur Wahrnehmung in der Presse und zeitge- schichtlichen Bedeutung des Verfahrens siehe Claudia Fröhlich, Der „Ulmer Einsatz- gruppen-Prozess“ 1958. Wahrnehmung und Wirkung des ersten großen Holocaust- Prozesses, in: Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hrsg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit: Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 233–262. 3 Vgl. Adalbert Rückerl, NS-Prozesse: Warum erst heute? – Warum noch heute? – Wie lange noch? In: Ders. (Hrsg.), NS-Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung: Möglich- keiten – Grenzen – Ergebnisse, Karlsruhe 1972, S. 13–34, hier S. 21; auch Heiner Lichtenstein, NS-Prozesse – viel zu spät und ohne System, in: Aus Politik und Zeitge- schichte, B 9–10/1981, S. 3–13, hier S. 6. Bereitgestellt von | New York University Bobst Library Technical Services Angemeldet Heruntergeladen am | 08.12.14 21:57

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Karolina Kukielka / Tonio Walter

Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht?Der Einsatzgruppen-Prozess von Ulm

I. Einführung

Am 28. April 1958 begann vor dem Landgericht Ulm das erste große Strafver-fahren wegen der Verbrechen der Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Vor derSchwurgerichtskammer standen zehn Mitglieder des Einsatzkommandos Tilsit,das nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR Massenmorde an Kindern,Frauen und Männern jüdischer Abstammung sowie an Menschen begangenhatte, die tatsächlich oder vermeintlich der kommunistischen Weltanschauunganhingen. Von Juni bis September 1941 ermordete das EinsatzkommandoTilsit in seinem Auftragsgebiet – dem 25 Kilometer tiefen Streifen jenseits derdeutsch-litauischen Grenze – fünf- bis sechstausend Menschen. Seine Mitglie-der wurden am 29. August 1958 wegen Beihilfe zum Mord zu Strafen zwi-schen drei und fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt1. Die meisten von ihnenwurden bereits 1960 wieder entlassen.

Die Eröffnung des Prozesses wurde in der Öffentlichkeit mit großem Interesseverfolgt2. Ihr wurde vor Augen geführt, welche schweren Taten bislang unge-sühnt geblieben waren3. Zwar überließen die Besatzungsbehörden den deut-

1 LG Ulm, Urteil vom 29.8.1958 – Ks 2/57 –, veröffentlicht in: Hendrik George van

Dam / Ralph Giordano (Hrsg.), KZ-Verbrechen vor deutschen Gerichten, Band II: Ein-satzkommando Tilsit. Der Prozeß zu Ulm, Frankfurt am Main 1966.

2 Als Bericht eines Zeitzeugen im Ulmer Einsatzkommando-Prozess siehe Klaus Beer,Auf den Feldern von Ulm. In den wechselnden Winden von Adenauer bis WillyBrandt, Blaubeuren 2008, S. 249–250; zur Wahrnehmung in der Presse und zeitge-schichtlichen Bedeutung des Verfahrens siehe Claudia Fröhlich, Der „Ulmer Einsatz-gruppen-Prozess“ 1958. Wahrnehmung und Wirkung des ersten großen Holocaust-Prozesses, in: Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hrsg.), NS-Prozesse und deutscheÖffentlichkeit: Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011,S. 233–262.

3 Vgl. Adalbert Rückerl, NS-Prozesse: Warum erst heute? – Warum noch heute? – Wielange noch? In: Ders. (Hrsg.), NS-Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung: Möglich-keiten – Grenzen – Ergebnisse, Karlsruhe 1972, S. 13–34, hier S. 21; auch HeinerLichtenstein, NS-Prozesse – viel zu spät und ohne System, in: Aus Politik und Zeitge-schichte, B 9–10/1981, S. 3–13, hier S. 6.

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schen Gerichten bereits im Jahre 19514 die Verfolgung der NS-Taten5, diesgeschah jedoch nicht systematisch und ohne „eine auch nur ansatzweise er-kennbare Verwirklichung des verfassungsmäßigen Gleichheitsgrundsatzes“6.Der Umgang mit der NS-Vergangenheit hing in der durch die Schlussstrich-Mentalität gekennzeichneten Bundesrepublik der Nachkriegsjahre oft vomZufall ab oder auch von den „regionalen Besonderheiten“7. Der Fall des Ein-satzkommandos Tilsit war keine Ausnahme: Den Prozess brachten zufälligeEreignisse ins Rollen.

Der folgende Beitrag befasst sich mit den Hintergründen des Ulmer Prozessessowie mit der rechtlichen Analyse des Urteils, das den Prozess in der erstenInstanz abgeschlossen hat. Zunächst wird er die Gründung und die Tätigkeitdes Einsatzkommandos Tilsit schildern, die nach neuerer Geschichtsforschungeinen anderen Anfang hatten, als das Ulmer Gericht angenommen hat. Fernerwird er erläutern, wie der Prozess zu Stande kam und wer die darin beteiligtenJuristen waren. Er wird auch kurz auf die Beweisschwierigkeiten während desProzesses eingehen. Am Schluss wird das Urteil einer rechtlichen Analyseunterzogen mit der zentralen Frage: Waren die Angeklagten tatsächlich nurGehilfen?

4 Nach dem am 20.12.1945 erlassenen Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurde die Zuständigkeit

deutscher Strafgerichte auf Taten beschränkt, die von Deutschen an Deutschen oderStaatenlosen begangen worden waren. Für ihre Verfolgung konnten deutsche Gerichtevon den Besatzungsbehörden für zuständig erklärt werden. Diese Zuständigkeitsbe-schränkung wurde für die französische Zone bereits ab 1.6.1951 und für die britischeZone ab 1.9.1951 aufgehoben. Formell wurde das Kontrollratsgesetz Nr. 10 erst am30.5.1956 durch das „Erste Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts“ außer Kraftgesetzt, siehe Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tü-bingen 2002, S. 18 f.

5 Nach dem „Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandenen Fragen“wurde der deutschen Gerichtsbarkeit die Verfolgung jener NS-Täter entzogen, derenStrafverfahren von den Alliierten bereits abgeschlossen waren, siehe Freudiger, Juristi-sche Aufarbeitung, S. 24; Rückerl, NS-Prozesse, S. 18 f.

6 Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte derZentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008, S. 12.

7 Weinke, Gesellschaft, S. 12.

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II. Gründung und Tätigkeit des Einsatzkommandos Tilsit

1. Die Rolle der Einsatzgruppen im Operationsraum „Barbarossa“

a) Die Aufstellung der EinsatzgruppenVor dem Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion wurde im GroßraumPretzsch a.d. Elbe ab Mai 1941 das Stammpersonal der vier Einsatzgruppen derSicherheitspolizei (SiPO: Gestapo und Kriminalpolizei) und des Sicherheits-dienstes (SD) aufgestellt und über die zu erfüllenden Aufgaben im Operations-raum „Barbarossa“ unterrichtet8. Diese wurden in der am 28. April formellerlassenen „Regelung des Einsatzes der Sicherheitspolizei und des SD imVerbande der Wehrmacht“9 bestimmt. Der Tätigkeitsbereich der Einsatzgrup-pen umfasste demnach die Sicherung der rückwärtigen Armee- und Heeresge-biete in polizeilicher Hinsicht, die politische Abwehrtätigkeit und den politi-schen Nachrichtendienst. In der Praxis nahmen die Einsatzgruppen die potenti-ellen Gegner fest und unterzogen sie einer „Sonderbehandlung“10. Wer zumKreis der „potentiellen Gegner“ gehörte, kündigten u.a. die „Richtlinien für dieBehandlung politischer Kommissare“11 an. Näheres erfuhren die Einsatzgrup-penleiter in bilateralen Gesprächen mit der Leitung des RSHA12. Die „Sonder-behandlung“ war, um die Formulierung von Henkys aufzugreifen, nur einTarnwort und bedeutete nichts anderes als die Ermordung der jüdischen Bevöl-kerung sowie des Kommunismus verdächtigter Menschen13. In den ersten zehnMonaten des Unternehmens „Barbarossa“ haben die Einsatzgruppen innerhalbdes eroberten sowjetischen Gebiets über fünfhunderttausend Menschen getö-

8 Für die Tätigkeit der Einsatzgruppen in der Sowjetunion siehe das Standardwerk von

Helmut Krausnick / Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskriegs.Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981.

9 Erlass des Oberkommandos des Heeres, abgedruckt in: Hans Buchheim / MartinBroszat / Hans-Adolf Jacobsen / Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Bd. 2,Konzentrationslager, Kommissarbefehl, Judenverfolgung, Freiburg im Breisgau 1965,S. 204–205.

10 Reinhard Henkys, Geschichte und Gericht der nationalsozialistischen Gewaltverbre-chen, in: Ders. (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte undGericht, Stuttgart, Berlin 1964, S. 25–266, hier S. 113; siehe auch Alfred Streim, ZumBeispiel: Die Verbrechen der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, in: Rückerl (Hrsg.),NS-Prozesse, S. 65–106, hier S. 70 f.

11 Richtlinie des Oberkommandos der Wehrmacht vom 6.6.1941 für die Behandlungpolitischer Kommissare. Abgedruckt in: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, S. 225–227.

12 Ralf Ogorreck, Die Einsatzgruppen und die „Genesis der Endlösung“, Berlin 1996,S. 109.

13 Henkys, Gewaltverbrechen, S. 113.

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tet14. Das Ausmaß dieser Gräuel wurde in „den Ereignismeldungen UdSSR“dokumentiert, in denen sorgfältig die Zeit, der Ort und die Zahl der ermordetenPersonen verzeichnet und unter höchster Geheimhaltung im RSHA ausgewertetund aufbewahrt wurden15.

Für die „Säuberung“ des Baltikums war die Einsatzgruppe A zuständig. Siewurde von Dr. Stahlecker geleitet und der Heeresgruppe Nord zugeteilt. DieEinsatzgruppen gliederten sich in Einsatzkommandos, eines davon war dasEinsatzkommando Tilsit.

b) Die Bildung des Einsatzkommandos TilsitDer Leiter des Einsatzkommandos Tilsit Hans-Joachim Böhme war währendder Aufstellung der Einsatzgruppen in der Polizeischule in Pretzsch nicht an-wesend. Sein Kommando wurde anders als die anderen Einsatzkommandos adhoc gebildet. Während des Prozesses vor dem Ulmer Schwurgericht sagteBöhme aus, dass die Stapo-Stelle bereits vor Beginn des Unternehmens „Bar-barossa“ drei Erlasse des RSHA erhalten habe. Einer davon, Erlass C, habe die„Sonderbehandlung“ der Juden und Kommunisten geregelt und sei bis zumAngriff auf die Sowjetunion geheim zu halten gewesen. Böhme habe den Inhaltzur Kenntnis genommen und zunächst für sich behalten. Warum ausgerechnetBöhme einen solchen Befehl bekommen haben sollte, bleibt indes unerfindlich,denn ansonsten ist kein einziger schriftlicher Judentötungsbefehl überliefert,der vor dem Angriff auf die Sowjetunion erteilt worden wäre16. Am Abend des22. Juni, so Böhmes Version weiter, sei Dr. Stahlecker nach Tilsit gekommenund habe dem Leiter der Stapo-Stelle in Anwesenheit anderer Angehörigen derSicherheitspolizei und des SD befohlen, entlang eines 25 km breiten Gebiets-streifens östlich der deutsch-litauischen Grenze des Kommunismus verdächtigePersonen sowie alle Juden zu ermorden, einschließlich Frauen und Kinder17.Böhme will darauf erwidert haben, er habe zu wenig Leute, um die Befehleauszuführen, und er habe sich daher den mündlichen Befehl noch vom RSHAbestätigen lassen. Eine entsprechende Bestätigung sei mit Blitz-Fernschreibendes RSHA in Tilsit am nächsten Morgen angekommen. Am gleichen Tag fingBöhme mit der Vorbereitung der ersten Exekution in Garsden an.

14 Zahlen nach Streim, Verbrechen der Einsatzgruppen, S. 65.15 LG Ulm (Fn. 1), S. 60.16 Ogorreck, Genesis der Endlösung, S. 103; Philippe Burrin, Hitler und die Juden. Die

Entscheidung für den Völkermord, Frankfurt am Main 1993, S. 115.17 LG Ulm (Fn. 1), S. 88.

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Das Schwurgericht zog Böhmes Aussagen über die Gründung des KommandosTilsit nicht in Zweifel. Die neuere Geschichtsforschung und die schriftlichenEreignismeldungen der Stapo-Stelle Tilsit an das RSHA liefern jedoch einanderes Bild über die Entstehung des Einsatzkommandos und über BöhmesRolle dabei. Dieckmann zitiert einen Bericht vom 1. Juli 1941, in dem dieStapo Tilsit schreibt, dass die Lage der von der Wehrmacht nach der Ge-bietsübernahme festgesetzten Personen mit Dr. Stahlecker durchgesprochenworden sei und dieser „grundsätzlich sein Einverständnis zu den Säuberungs-aktionen in der Nähe der deutschen Grenze“ erteilt habe18. In dieser Meldungwird nicht von einem „Befehl“, sondern vom „Einverständnis“ Stahleckersberichtet, so dass es sich dabei um eine Reaktion auf eine frühere Initiativegehandelt haben musste19. Daraus folgt, dass Böhme ursprünglich überhauptkeinen Mordbefehl erhalten hatte, sondern aus eigenem Antrieb – um Karrierezu machen – die Beteiligung an den Morden für seine Dienststelle einforderte.Als sie ihm vom Chef der Einsatzgruppe A, Dr. Stahlecker, zugestanden wor-den war, wollte Böhme eine schriftliche Bestätigung, um etwas in der Hand zuhaben, sollten andere seine neue Zuständigkeit in Frage stellen – wie es spätertatsächlich seitens des Leiters des Einsatzkommandos 3, Jäger, geschehen ist.Dieses Einsatzkommando war ursprünglich (auch) für die westlichen GebieteLitauens zuständig20. Die geforderte Bestätigung wurde von Heydrich erteilt. Inder Ereignismeldung Nr. 11 vom 3. Juli liest man, dass der Stapo Tilsit eine„Genehmigung erteilt“ wurde, ihren „Grenzabschnitten gegenüberliegendeneubesetzte Gebiete sicherheitspolizeilich zu bearbeiten und zu säubern“21.

18 Einschreiben der Staatspolizeistelle Tilsit vom 1.7.1941 an das Reichssicherheitshaupt-

amt IV A 1. Betr.: Säuberungsaktionen jenseits der ehemaligen sowjet-litauischenGrenze. Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg (ZStL), Sammlung UdSSR, Ordner 245 Ag. Nr. 254–257,Bl. 2–5; zitiert nach Christoph Dieckmann, Der Krieg und die Ermordung der litau-ischen Juden, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt am Main 1998, S. 292–329, hier S. 296.

19 So schon Jürgen Matthäus, Jenseits der Grenze. Die ersten Massenerschießungen vonJuden in Litauen (Juni–August 1941), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1(1996), S. 101–117, hier S. 105; Dieckmann, Ermordung der litauischen Juden, S. 296;Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsoziali-stischen Judenverfolgung, München 1998, S. 329 f.

20 Folglich wurden die westlichen Gebiete Litauens vom Einsatzkommando 3 vordring-lich „gesäubert“, um der Einsatzgruppe Tilsit zuvorzukommen, siehe Matthäus, Massen-erschießungen, S. 114 f., mit Verweis auf den sogenannten Jäger-Bericht.

21 Ereignismeldung Nr. 11 vom 3.7.1941, Stahlecker-Besprechung, siehe LG Ulm (Fn. 1),S. 89 f.

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Dem Schwurgericht war der Inhalt der Ereignismeldung UdSSR Nr. 11 vom3. Juli 1941 bekannt22. Es war auch darüber unterrichtet, dass Böhme bisHerbst 1941 mehrmals versuchte, sein Einflussgebiet auf weitere östliche Ge-biete auszudehnen, weswegen es zu Zuständigkeitskonflikten mit dem Leiterdes Einsatzkommandos 3 gekommen war. Es mag verwundern, dass die Rich-ter die Verteidigungsstrategie von Böhme – widerwilliges Handeln auf Befehl– ohne Einwände akzeptierten. Einiges spricht dafür, dass sie sich tatsächlich –genauso wie die frühere Geschichtsforschung – von den Feststellungen desNürnberger Einsatzgruppen-Prozesses überzeugen ließen, dass ein „Endlö-sungsbefehl“ vor dem Beginn des Unternehmens „Barbarossa“ ausgegebenworden sei23. Vielleicht hat das Gericht die Eigeninitiative Böhmes aber auchübersehen, weil es sie übersehen wollte.

2. Die Exekutionen

a) Exekutionen von MännernKurz nach dem Beginn des Unternehmens „Barbarossa“ wurde das an derGrenze liegende Örtchen Garsden eingenommen24. Der Widerstand des Geg-ners war unerwartet groß. Die überraschten Angehörigen der NKWD kämpftenzum Teil in Zivil und verteidigten ihre Stützpunkte, die an dem von der jüdi-schen Bevölkerung bewohnten Rande der Ortschaft gelegen waren25. Anschlie-ßend meldeten die deutschen Truppen, dass auch Zivilisten an den Kämpfenteilnahmen26. Laut dem Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im

22 LG Ulm (Fn. 1), S. 19.23 Der Leiter der Einsatzgruppe D Ohlendorf und seine Mitangeklagten sagten in Nürn-

berg aus, dass der Endlösungsbefehl vor dem Angriff auf die Sowjetunion in der Poli-zeischule in Pretzsch mitgeteilt wurde. So auch das Gutachten von Dr. Helmut Kraus-nick aus dem Institut für Zeitgeschichte der Universität München, der vor dem UlmerSchwurgericht als Sachverständiger aussagte und die Existenz eines umfassenden Ju-dentötungsbefehls, der bereits im März 1941 ausgegeben worden sei, bestätigte. Vgl.Longerich, Politik der Vernichtung, S. 312. Diese Auffassung vertritt Krausnick auchin seinen späteren Arbeiten, siehe Helmut Krausnick / Hans-Heinrich Wilhelm, DieTruppe des Weltanschauungskriegs, S. 158 ff.; Helmuth Krausnick, Hitler und die Be-fehle an die Einsatzgruppen, in: Eberhard Jäckel / Jürgen Rohwer (Hrsg.), Der Mord anden Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlußbildung und Verwirklichung, Stuttgart1985, S. 88–106, hier S. 98 f. In ihren späteren Aussagen distanzierten sich die meistenOhlendorf-Mitangeklagten davon.

24 Für die Kämpfe und die Situation nach der Ortseinnahme siehe Dieckmann, Ermordungder litauischen Juden, S. 295 ff.

25 Vgl. LG Ulm (Fn. 1), S. 90 ff.; siehe auch Longerich, Politik der Vernichtung, S. 326 ff.26 Walther Hubatsch, Die 61. Infanterie-Division 1939–1945. Ein Bericht in Wort und

Bild, 1983, S. 18. Die in Zivil kämpfenden Angehörigen des NKWD wurden wahr-

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Gebiet „Barbarossa“ waren kollektive Strafmaßnahmen gegen die Zivilbevöl-kerung in Orten zu verhängen, aus denen Widerstand geleistet wurde27. Siewaren vordergründig nicht von der Wehrmacht durchzuführen, weil dereneigentliche Aufgaben „Kampf und Bewegung“ seien28. Die Wehrmachtsein-heiten nahmen jedoch die jüdische Bevölkerung gefangen und informierten dieGrenzpolizeistelle über die Kämpfe in Garsden. Diese setzte sich mit der vor-gesetzten Staatspolizeistelle in Tilsit in Verbindung29. Die jüdischen Stadtbe-wohner sowie des Kommunismus verdächtigte Personen wurden anschließendvon Zollbeamten bewacht30. Zu diesem Zeitpunkt musste bereits die Bespre-chung „der Lage“ mit Dr. Stahlecker stattgefunden haben, und die Vorberei-tungen zur Exekution der gefangengenommenen Männer fingen auf BefehlBöhmes an. Wegen Personalmangels wandte man sich an den Polizeidirektorin Memel, Fischer-Schweder, mit der Bitte, er möge ein Schupo-Kommandofür die Absperrung zur Verfügung stellen, und weihte ihn in die „geplanteAufgabe“ ein31. Fischer-Schweder unterstützte „aus freien Stücken“ über dasErsuchen der Stapo-Stelle hinaus die Ausführung der geplanten Exekutionen,indem er nicht nur ein Absperrungskommando, sondern ein Exekutionskom-mando bereitstellte.

Um den Exekutionen „einen militärischen Anstrich“ zu geben, einigte man sichauf die Erschießungsformel: „Sie werden wegen Vergehen gegen die Wehr-macht auf Befehl des Führers erschossen“32. Die Gefangenen wurden gezwun-gen, ihre Wertsachen abzulegen und in einen Blecheimer zu werfen. Anschlie-ßend wurden sie hinter die Mauer eines zusammengeschossenen Gebäudesgeführt, wo sie ihre Jacken ablegen mussten. Danach ließ man sie ihre eigenenGräber schaufeln33. Nachdem alles für die Exekution vorbereitet war, hat man

scheinlich irrtümlich für Zivilisten gehalten. Laut Aussagen vor dem Ulmer Gerichtwaren die Stadtbewohner einschließlich der Juden an den Kämpfen nicht beteiligt, sie-he LG Ulm (Fn. 1), S. 94 f.

27 Erlass vom 13.5.1941, abgedruckt in: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, S. 216–218.28 Begleitschreiben vom 24.5.1941 von von Brauchitsch zum Erlass über die Kriegsge-

richtsbarkeit vom 13.5.1941. Abgedruckt in: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, S. 221–222, hier S. 221. Tatsächlich haben die Wehrmachtseinheiten nicht nur bei der Festnah-me der Bevölkerung, sondern auch bei einigen Exekutionen mitgewirkt, etwa in Polan-gen.

29 Longerich, Politik der Vernichtung, S. 327 f.; Dieckmann, Ermordung der litauischenJuden, S. 296; siehe auch die Zeugenaussagen LG Ulm (Fn. 1), S. 128 ff.

30 LG Ulm (Fn. 1), S. 95.31 LG Ulm (Fn. 1), S. 96 f.32 LG Ulm (Fn. 1), S. 100.33 Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden ein junger, „gut angezogener Jude“ erschossen und

ein alter Rabbiner misshandelt: LG Ulm (Fn. 1), S. 101.

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die Gefangenen wieder hinter die Mauer des zerschossenen Gebäudes gebracht.Die Opfer verhielten sich ruhig, es gab keine Anzeichen des Aufruhrs. „Siefügten sich im Gegenteil mit bewunderungswürdiger Gefaßtheit, nachdem sieihr grausiges Schicksal erkannt hatten, beteten, faßten sich an den Händen undgingen stoisch dem Tod entgegen“34.

Erschossen wurden jeweils zehn Opfer. Man trieb sie unter lautem Schreienund Prügeln zum Erschießungsplatz. Sie mussten sich vor dem Grabenrand mitdem Gesicht zum Exekutionskommando aufstellen. Auf ein Opfer schossenjeweils zwei Polizisten. Diejenigen, die nicht tödlich getroffen wurden, erhiel-ten „Gnadenschüsse“. Nachdem eine Gruppe erschossen worden war, führteman die nächsten heran. Zunächst mussten sie die bereits Erschossenen in denGraben hineinwerfen, dann wurden sie selbst exekutiert. Den Vorgang wieder-holte man, bis alle 201 Gefangenen, darunter ein Kind und eine Frau, erschos-sen waren. Die Angehörigen des Exekutionskommandos ließen sich im An-schluss „in Pose“ fotografieren und mit Schnaps bewirten.

Für den Zeitraum von Juni bis August 1941 lassen sich noch weitere 21 Exe-kutionen rekonstruieren, die nach dem gleichen Muster durchgeführt wurden,in denen ebenfalls jüdische Männer und des Kommunismus verdächtigte Li-tauer ermordet wurden35.

b) Exekutionen von Frauen und KindernDie jüdischen Frauen und Kinder wurden zum gleichen Zeitpunkt wie dieMänner festgenommen und in abgelegenen Häusern, Baracken und Höfenuntergebracht. Dort wurden sie von litauischen Ordnungsleuten bewacht undvon litauischen Behörden verpflegt. Oft mussten sie in dieser Zeit arbeiten. DasSchicksal ihrer männlichen Angehörigen wurde ihnen verschwiegen.

Die Exekutionen von Frauen und Kindern fingen erst Mitte August an, obwohlBöhme behauptete, den Befehl zur Vernichtung sämtlicher Juden bereits imJuni 1941 erhalten und nur „aus inneren Hemmungen“ hinausgezögert zu ha-ben36. Eine zweifelhafte Erklärung für jemanden, der nicht gezögert hat, sichmit anderen Kommandoführern zu streiten, um sein Auftragsgebiet auszudeh-nen und an weiteren Mordaktionen teilnehmen zu können.

Die neuere Geschichtsforschung geht davon aus, dass die Einsatzgruppenführervor dem Angriff auf die Sowjetunion tatsächlich keinen Auftrag bekamen, alle 34 LG Ulm (Fn. 1), S. 103.35 Siehe dazu LG Ulm (Fn. 1), S. 216–368.36 LG Ulm (Fn.1), S. 368.

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Juden umzubringen37. Dagegen sprechen eine Reihe empirischer Argumente,wie die späteren Aussagen der Ohlendorf-Mitangeklagten38 in Nürnberg sowieein Schreiben vom 2. Juli 1941, in dem Heydrich die Aufgaben der Einsatz-gruppen näher bestimmte. Darin erwähnt er die Rolle der Einsatzgruppen beiden „Selbstbereinigungsbestrebungen antikommunistischer oder antijüdischerKreise“39 und engt den Kreis der zu Liquidierenden auf Menschen ein, die sichals kommunistische Funktionäre betätigten, sowie auf Juden in „Partei- undStaatsstellungen“40. Wie Streim zutreffend bemerkt, wäre weder die Auslösungund Unterstützung der Pogrome noch die Einschränkung des Kreises potenti-eller Gegner nötig und notwendig gewesen, hätte schon zu diesem Zeitpunktein Führerbefehl zur Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung in derSowjetunion vorgelegen41. Vielmehr ist ein solcher Befehl erst mehrere Wo-chen später ergangen42.

Ursprünglich beabsichtigte man, die jüdische Bevölkerung in die weiter östlichgelegenen Gebiete zu deportieren43. Der unerwartet schleppende Kriegsverlaufführte zur Revision dieser Pläne44, denn die Strategie des Blitzkriegs scheiterteim Feldzug gegen die Sowjetunion. Dies war bereits im Juli 1941 unverkenn- 37 Siehe dazu Dieckmann, Ermordung der litauischen Juden, S. 306 ff.; Johannes Hürter,

Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion1941/42, 2. Aufl. München 2007, S. 520; Longerich, Politik der Vernichtung, S. 312,326 ff.

38 Siehe die Analyse der Aussagen der ehemaligen Einsatzgruppenführer bei AlfredStreim, Zur Eröffnung des allgemeinen Judenvernichtungsbefehls gegenüber den Ein-satzgruppen, in: Eberhard Jäckel / Jürgen Rohwer (Hrsg.), Der Mord an den Juden imZweiten Weltkrieg, S. 107–119, hier S. 111 f., und bei Ogorreck, Genesis der Endlö-sung, S. 47 ff.

39 Für die Rolle der Baltendeutschen bei der Unterstützung der antisemitischen Tendenzenim Baltikum siehe Hans-Heinrich Wilhelm, Antisemitismus im Baltikum, in: HelgeGrabitz / Klaus Bästlein / Johannes Tuchel (Hrsg.), Die Normalität des Verbrechens.Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbre-chen, Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag, Berlin 1994, S. 85–102.

40 Longerich versteht die Formulierung „Juden in Partei- und Staatsstellung“ als einenBefehl zur Ermordung der jüdischen Oberschicht, siehe Longerich, Politik der Ver-nichtung, S. 316.

41 Streim, Judenvernichtungsbefehl, S. 112.42 Streim, Judenvernichtungsbefehl, S. 112.43 Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden,

Frankfurt am Main, 2005, S. 319, 394 ff.; auch Burrin, Hitler und die Juden, S. 112 ff.;Dieckmann, Ermordung der litauischen Juden, S. 305.

44 So bereits Dieckmann, der betont, dass die Versorgungsprobleme in Litauen und imGebiet der Heeresgruppe Nord entscheidend für den Entschluss waren, die jüdischenFrauen und Kinder umzubringen, siehe Dieckmann, Ermordung der litauischen Juden,S. 323.

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bar45: Die Versorgungs- und Nachschubpolitik, die am Erfolg der militärischenKriegsplanung orientiert war, lief aus dem Ruder46. Der Nahrungsmittelmangelverstärkte sich dermaßen, dass Lebensmittel rationiert werden mussten. Zuernähren waren daher nach einer Anordnung Görings ausschließlich diejeni-gen, „die für Deutschland wichtige Aufgaben leisteten“47. Alle anderen wurdengnadenlos dem Hunger ausgesetzt, darunter auch die jüdischen Frauen undKinder. Auf der Ebene der Kreis- und Gebietskommissariate fanden Bespre-chungen statt, in denen erwogen wurde, die jüdischen Frauen und Kinder als„unnütze Esser“ umzubringen. Zu einer solchen Besprechung kam es auch imAugust 1941 beim Landrat in Krottingen, wo ein Vertreter Böhmes erschienund darauf drang, jüdische Frauen und Kinder zu töten, um sie nicht mehrernähren zu müssen48. Dieser Forderung wurde Folge geleistet.

Die ersten Exekutionen von Frauen und Kindern erfolgten in Georgenburg undWirballen im Juli / August 1941. Das genaue Datum lässt sich nicht mehrfeststellen. Die Opfer wurden gezwungen, die Wertsachen abzugeben, sich zuentkleiden und am Rand eines Grabens aufzustellen. Danach wurden sie er-schossen. Bis September 1941 lassen sich etwa zehn Exekutionen von Frauenund Kindern rekonstruieren49.

Für die Ermordung der Frauen und Kinder wurden überwiegend einheimischeKräfte herangezogen, die unter Alkoholeinfluss gesetzt wurden und danach aufgrausame Weise ihr Werk vollbrachten. So wurden im September 1941 inKrottingen mindestens 120 jüdische Frauen und Kinder auf bestialische Weiseermordet. Nachdem sie zum Erschießungsort gebracht worden waren, sperrteman sie in einer Scheune ein und ließ sie sich unter dem Vorwand einer ärztli-chen Untersuchung entkleiden. Die Frauen mussten einzeln die Scheune ver-lassen und wurden von alkoholisierten litauischen Polizisten mit Eisenstangengeschlagen und anschließend mit Bajonetten erstochen. Da diese Tötungsweisezu viel Zeit in Anspruch nahm, beschloss man, den Rest der Opfer zu erschie- 45 Rolf-Dieter Müller, Das Scheitern der wirtschaftlichen „Blitzkriegsstrategie“, in: Der

Angriff auf die Sowjetunion. Das Deutsche Reich und der zweite Weltkrieg, Bd. 4, Ta-schenbuch Ausgabe Frankfurt am Main 1991, S. 1116–1226, hier S. 1128.

46 Müller, Scheitern, S. 1167 f.47 Anordnung von Göring vom 27.7.1941, „Schwerpunkte und Methoden der wirtschaftli-

chen Ausbeutung der Sowjetunion“, BA-MA RW 31/188, Bl. 74–76. Siehe auch denBericht vom 29.7.1941 von General Nagel über die Antworten von Göring auf Fragen,die der WiStab Ost vorgelegt hatte, BA-MA RW 31/97, beides zitiert nach Dieckmann,Ermordung der litauischen Juden, S. 316. Für die Hungerpolitik gegenüber der sowjeti-schen Zivilbevölkerung siehe auch Müller, Scheitern, S. 1181 ff.

48 LG Ulm (Fn. 1), S. 381.49 LG Ulm (Fn. 1), S. 386 ff.

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ßen. Der bei der Exekution anwesende Leiter des Grenzpolizeikommissariats inMemel, Dr. Frohwann, war von der Grausamkeit selbst so mitgenommen, dasser danach gesagt haben soll: „Das mache ich in Zukunft nicht mehr mit, das istkeine gute Visitenkarte für die Polizei“50.

III. Wie kam es zu dem Prozess in Ulm?

1. Die zufallsbedingte Einleitung der ErmittlungenEiner der führenden Personen des Einsatzkommandos Tilsit, Bernhard Fischer-Schweder, gelang es mit Hilfe von falschen Angaben zu seiner Vergangenheitund seinem Namen 1954 als Leiter des Flüchtlingslagers Ulm-Wilhelmsburgangestellt zu werden51. Als seine Vergangenheit aufgedeckt zu werden drohte,legte man ihm nahe zu kündigen, um der Kündigung durch seinen Arbeitgeber– das Land – zuvorzukommen. Das tat er auch. Als er jedoch keinen Erfolgdamit hatte, eine Anstellung in der freien Wirtschaft zu erhalten, focht er seineKündigung arbeitsgerichtlich an. Über das Verfahren berichtete die Presse.Einen dieser Artikel las ein ehemaliger Fahrer der Polizeidirektion Memel,deren Chef Fischer-Schweder 1941 gewesen war. Er schrieb einem Bekannten,dass Fischer-Schweder seinerzeit die Ermordung hunderter von Juden geleitethabe. Mit Verweis auf diese Aussage erstattete die Israelische Kultusvereini-gung Württemberg und Hohenzollern am 12. Juli 1955 Strafanzeige gegenFischer-Schweder. Das gleiche tat am 3. November des Jahres die Landespoli-zeidirektion Nordwürttemberg: Fischer-Schweder hatte sich Ende März 1955auf eine Stelle beim Regierungspräsidium Südbaden beworben. Vor dem Vor-stellungsgespräch hatte man eine ehemalige Telefonistin der PolizeidirektionMemel über ihren früheren Chef befragt. Auch sie hatte von den Morden be-richtet. Nach den beiden Strafanzeigen wurden die bereits laufenden Ermitt-lungen gegen Fischer-Schweder verstärkt. Am 27. Juni 1957 wurde vom Stutt-garter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann Anklage gegen Fischer-Schwederund neun weitere Beschuldigte erhoben.

50 LG Ulm (Fn. 1), S. 375.51 Hierzu und zum Folgenden Sabrina Müller, Staatsanwalt Zufall, in: Katalog zu der

Ausstellung „Die Mörder sind unter uns. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958“,hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg 2008, S. 36–39, hier S. 36 f.

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2. Eine Personenkonstellation in der Justiz,die rechtsstaatliche Aufarbeitung ermöglichte

In der Bundesrepublik der Nachkriegsjahre herrschte eine Abneigung gegen„weitere Kriegsverbrecherprozesse“. Die Schlussstrich-Mentalität sowie dieAbsicht, stillschweigend die ehemaligen Funktionäre des NS-Staates zu inte-grieren, war auch in der Justiz deutlich zu spüren52. Die personelle Kontinuitätin der Rechtspflege stand nicht selten der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Weg53.

Dass es zu dem Prozess in Ulm kam, ist Personen in der Justiz zu verdanken,die es für wichtig hielten, die Taten nicht nur historisch aufzuklären, sondernauch rechtsstaatlich aufzuarbeiten54.

a) Schmid, Nellmann und F. Bauer1958 war Dr. Richard Schmid55 Oberlandesgerichtspräsident in Stuttgart. Vordem Krieg hatte er Jura in Tübingen studiert und war seit 1925 Rechtsanwalt inStuttgart gewesen. In seinem Berufsleben engagierte er sich für die Verteidi-gung der Mitglieder linker Parteien, und nach 1933 half er gefährdeten Geg-nern des Nationalsozialismus, in die Schweiz zu fliehen56. 1938 wurde seineTätigkeit aufgedeckt, Schmid wurde verhaftet und anschließend wegen Vorbe-reitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Kriegsendewurde er Generalstaatsanwalt in Stuttgart und ab 1953 Präsident des StuttgarterOberlandesgerichts. Aus seiner Studienzeit kannte er bereits Fritz Bauer, derseit 1956 Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main war. Bauer57 wurde alsKind einer jüdischen Familie in Stuttgart geboren. Nach seinem Studium wur-

52 Dazu Fröhlich, Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, S. 237; auch Lichtenstein, NS-

Prozesse, S. 5.53 Siehe Rudolf Wassermann, Fritz Bauer (1903–1968), in: Peter Glotz / Wolfgang R.

Langenbucher (Hrsg.), Vorbilder für Deutsche. Korrektur einer Heldengalerie, Mün-chen 1974, S. 296–309, hier S. 296.

54 Siehe dazu den Beitrag von Klaus Beer, Der Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958.Wie zufällige Personenkonstellationen rechtsstaatliche Aufarbeitung ermöglichten, in:Betrifft Justiz 25 (2009), H. 97, S. 11–14.

55 Zur Biographie von R. Schmid siehe: Hans-Ernst Böttcher, Richard Schmid (1899–1986). Recht für die Menschen, nicht für den Staat, in: Kritische Justiz (Hrsg.),Streitbare Juristen. Eine andere Tradition, Baden-Baden 1988, S. 487–495; Ders., FürRichard Schmid (1899–1986), in: KJ 1986, S. 102–104.

56 Beer, Der Ulmer Einsatzgruppenprozess, S. 11.57 Zur Biographie von F. Bauer siehe: Richard Schmid, Fritz Bauer 1903–1968, Kritische

Justiz 1968, S. 60–61.

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de er der jüngste Amtsrichter Deutschlands58. Politisch engagierte er sich fürdie Verteidigung der Weimarer Republik59. Im März 1933 wurde er als Judeund Sozialist aus dem Staatsdienst entlassen, von der Gestapo verhaftet und als„Schutzhäftling“ zunächst ins Konzentrationslager und anschließend ins Mili-tärgefängnis in Ulm gebracht. Nach der Entlassung floh er 1936 nach Däne-mark und 1943 nach Schweden. Im Jahr 1949 kehrte er nach Deutschlandzurück.

In Tübingen studierte auch Erich Nellmann, der 1953–1963 als Nachfolger vonSchmid Generalstaatsanwalt in Stuttgart war. Nellmann war während des Krie-ges Soldat in der Militärverwaltung und Richter am Amtsgericht, er trat abernicht in die NSDAP ein, weswegen er auch nicht befördert wurde60.

Alle drei waren sich als Sozialdemokraten politisch nahe, kannten sich bereitsaus der Zeit ihres Studiums in Tübingen und pflegten den Kontakt zueinander.Sie besprachen die Probleme der örtlichen Zuständigkeit der Gerichte miteinan-der und erwirkten beim Bundesgerichtshof, alle mit der gleichen Tat zusammen-hängenden Einzelverfahren bei einer Anklagebehörde zusammenzufassen. Nurdadurch konnten solche komplexen Verfahren wie der Ulmer Einsatzgruppen-prozess und der Frankfurter Auschwitz-Prozess zu Stande kommen61.

Der Intervention von Nellmann ist es zu verdanken, dass die Ermittlungen imFall Fischer-Schweders vorangetrieben wurden. Die Ulmer Staatsanwaltschaftermittelte schleppend und nachlässig und hoffte auf baldige Verfahrensein-stellung. Deswegen übertrug Nellmann den Fall einem eigenen Mitarbeiter,dem Stuttgarter Staatsanwalt Erwin Schüle62. Auch die Ulmer Richter warenwenig bereit oder in der Lage, das Verfahren zu führen, deswegen bestimmteRichard Schmid einen Stuttgarter Richter, Edmund Wetzel, zum VorsitzendenRichter des Ulmer Schwurgerichts und beseitigte damit das letzte Hindernis,das dem Prozess im Wege stand63.

58 Joachim Perels / Imtrud Wojak, Motive im Denken und Handeln Fritz Bauers, in: Dies.

(Hrsg.), Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, Frank-furt am Main 1998, S. 9–33, hier S. 12.

59 Ilse Staff, Fritz Bauer (1903–1968), „Im Kampf um des Menschen Rechte“, in: Streit-bare Juristen, S. 440–450.

60 Zur Biographie von E. Nellmann siehe Marc von Miquel, Ahnden oder Amnestieren?Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen2004, S. 152.

61 von Miquel, Ahnden oder Amnestieren, S. 153.62 von Miquel, Ahnden oder Amnestieren, S. 153.63 Beer, Der Ulmer Einsatzgruppenprozess, S. 13.

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b) Wetzel und SchüleWetzel wurde noch vor dem Krieg im Referendariat von Nellmann ausgebildet.Während des Krieges war er Soldat, wurde aber nie Mitglied der NSDAP. ImGegensatz dazu hatte der anklagevertretende Staatsanwalt Schüle eine „peinli-che“ Vergangenheit. Er trat während seines Jurastudiums im Jahre 1933 in dieSA und 1937 in die NSDAP ein. In der Studienzeit lernte er den späteren Ein-satzgruppenleiter Martin Sandberger kennen64. Während des Krieges kämpfteer als Leutnant der Infanterie an der Ostfront und geriet 1945 in die sowjetischeKriegsgefangenschaft. 1949 wurde er von einem sowjetischen Militärgerichtzum Tode verurteilt, kurz darauf jedoch entlassen; er kehrte 1950 nachDeutschland zurück und trat in den Staatsdienst als Staatsanwalt in Stuttgartein. Nach dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess wurde er dank großer Unterstüt-zung von Erich Nellmann zum ersten Leiter der Ludwigsburger ZentralenStelle ernannt. Trotz oder auch wegen seiner Vergangenheit setzte sich Schülemit großem Engagement und großer Hartnäckigkeit für die Aufklärung der NS-Taten ein. Seine Vergangenheit holte ihn jedoch ein. Während eines Dienstbe-suches in Warschau im Februar 1965 wurde seine NSDAP-Zugehörigkeitöffentlich bekannt65. Er musste im August 1966 von seiner Funktion zurück-treten66.

IV. Der Prozess

1.Wer waren die Angeklagten?Die Hauptverhandlung begann am 28. April 1958. Auf der Anklagebank saßenneben dem erwähnten Bernhard Fischer-Schweder noch weitere neun Mitglie-der des Einsatzkommandos Tilsit. Drei der zehn Angeklagten: Bernhard Fi-scher-Schweder (der Polizeidirektor im Memel), Hans-Joachim Böhme (Leiterder Staatspolizei in Tilsit), und Werner Hersmann (Leiter des Sicherheitsdien- 64 Weinke, Gesellschaft, S. 13 mit Verweis auf das Interview, das Norbert Frei am

6.6.1989 mit E. Schüle führte.65 Schüles Zugehörigkeit zur NSDAP war seinen Vorgesetzten bekannt, sein Engagement

für die Aufklärung der NS-Morde in Litauen während des Ulmer Einsatzgruppenpro-zesses zeichnete ihn jedoch als den besten Kandidaten für die Stelle des Leiters derLudwigsburger Behörde aus, siehe Weinke, Gesellschaft, S. 173, Fußnote 21 zum Ka-pitel 1 m.w.N.

66 Dietrich Strothmann, Was habe ich denn Schlimmes getan? DIE ZEIT v. 26.2.1965, Nr.9, http://www.zeit.de/1965/09/was-habe-ich-denn-schlimmes-getan/komplettansicht (zu-letzt abgerufen am 23.9.2013)¸ siehe auch Schüle, Dornen für den Staatsanwalt, Spiegel8/1965, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46169484.html (zuletzt abgerufen am23.9.2013).

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stes im Abschnitt Tilsit), wurden wegen in Mittäterschaft begangenen Mordesin mehreren tausend Fällen angeklagt (Fischer-Schweder in 711 Fällen). Böh-me und Fischer-Schweder hatten sich nach Kriegsende unter falschen Namenund Verheimlichung ihrer Vergangenheit neue Existenzen aufgebaut. Hers-mann wurde 1945 interniert und musste wegen Ermordung von fünf AltöttingerBürgern eine Zuchthausstrafe verbüßen. 1952 war er von der SpruchkammerMünchen im Entnazifizierungsverfahren als „Hauptschuldiger“ eingestuftworden.

Gegen die übrigen sieben Mitglieder des Einsatzkommandos Tilsit wurdeAnklage wegen Beihilfe zum Mord jeweils in mehreren hundert Fällen erho-ben. Es handelte sich um Werner Schmidt-Hammer67, Edwin Sakuth68, WernerKreuzmann69, Harm Willms Harms70, Gerhard Carsten71, Franz Behrendt72 undPranas Lukys alias Jakys73.

2. BeweisschwierigkeitenWährend des Prozesses wurden über 30 Mordaktionen des EinsatzkommandosTilsit rekonstruiert. Die Zahl der Zeugen, die vor dem Gericht aussagten, be-trug 177. Die Protokolle der Vernehmung von neun Zeugen wurden verlesenund sechs Sachverständige vernommen. Darüber hinaus wurden zahlreicheUrkunden vorgelesen, darunter auch „Ereignismeldungen UdSSR“. Trotz desgroßen Engagements der Staatsanwaltschaft, die mit Historikern, Forschungs-einrichtungen und Archiven zusammenarbeitete74 – darunter das Berlin Docu-ment Center und unterschiedliche internationale Institutionen wie die WienerLibrary in London –, stieß die Wahrheitsfeststellung an unüberwindliche Gren-zen. Die Ermittler mussten sich mit der fehlenden Kooperationsbereitschaftzahlreicher Polizeistellen auseinandersetzen75. Der Zugang zu osteuropäischenArchiven blieb den Ermittlern versperrt. Zudem fehlte es an neutralen, heißt

67 Polizist bei der Schutzpolizei Memel.68 Leiter der Sicherheitsdienststelle Memel.69 Vertreter des Leiters der Staatspolizei Tilsit.70 Leiter des Grenzpolizeikommissariats und der Abteilung der Spionageabwehr bei der

Staatspolizei Tilsit.71 Kriminalbeamter beim Grenzpolizeiposten Schmalleningken (an der deutsch-litauischen

Grenze).72 Polizist beim Grenzpolizeikommissariat Memel.73 Polizeichef der Ordnungspolizei in Krottingen.74 Siehe dazu Weinke, Gesellschaft, S. 15 f.75 von Miquel, Ahnden oder Amnestieren, S. 153.

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unbeteiligten Zeugen, oder die Aussagen waren unbrauchbar, da die Zeugennach der Konfrontation mit den Ungeheuerlichkeiten der Taten die Erlebnisseverdrängt hatten und nicht in der Lage waren, präzise Informationen über denVerlauf der Exekutionen und über die Rolle einzelner Personen zu liefern76.Die meisten Zeugen, die aussagten, waren selbst Täter – überwiegend nichtverurteilte –, das heißt Polizisten, Offiziere oder Soldaten, die von den Exeku-tionen berichteten, an denen auch sie teilgenommen hatten77. Dadurch wurdenparadoxerweise die Angeklagten nicht mit den Aussagen der Opfer, sondernmit denen ihrer Kameraden konfrontiert. Es konnten trotz der Unterstützungder Gedenkstätten und Hilfsorganisationen nur wenige jüdische Überlebendeermittelt werden. Zu ihnen gehörte Fanny Pitum, geb. Segall, die über dieErmordung ihrer Familie in Polangen aussagte78. Ein „erschütternder Augen-zeugenbericht“ über die Erschießung jüdischer Frauen und Kinder in ihremHeimatort war auch die Aussage von Ona Rudaitis79.

Die Angeklagten bedienten sich der bereits seit dem Nürnberger Einsatzgrup-penprozess bewehrten Verteidigungsstrategie und beriefen sich auf Befehleeiner höheren Dienststelle. Unterstützt wurden sie dabei durch den MünchnerAnwalt Rudolf Aschenauer, der als NS-Verteidiger in die Geschichte eingingund bereits seit dem „Ohlendorf-Prozess“ in Nürnberg mit der Einsatzgruppen-Materie vertraut war80. Die Mitglieder des Einsatzkommandos Tilsit konntensich jedoch weder auf Heydrichs mündliche Instruktionen während des Tref-fens in Berlin am 17. Juli 1941 noch auf die in der Polizeischule in Pretzsch„erteilten“ Befehle berufen, da sie an keiner dieser Besprechungen teilgenom-men hatten81. Sie beharrten darauf, einen Befehl vom Leiter der EinsatzgruppeA, Dr. Stahlecker, erhalten zu haben. Dr. Stahlecker – wieder eine Parallelezum „Ohlendorf-Prozess“ – war im März 1942 in Riga82 verstorben und konntediesen Angaben nicht widersprechen83.

76 Streim, Verbrechen der Einsatzgruppen, S. 87 f.77 Sabrina Müller, Prozess in: Katalog zu der Ausstellung „Die Mörder sind unter uns.

Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958“, S. 60–73, hier S. 66.78 Müller, Prozess, S. 67.79 Müller, Prozess, S. 67; von Miquel, Ahnden oder Amnestieren, S. 157 mit Verweis auf

die damaligen Zeitungsberichte.80 Dazu Weinke, Gesellschaft, S. 17 f.81 Siehe bereits Matthäus, Massenerschießungen, S. 103.82 Dr. Franz Stahlecker wurde im März 1942 in Krasnowardeisk tödlich verwundet, sein

Nachfolger wurde Heinz Jost.83 Ähnlich bei dem vom Leiter der Einsatzgruppe D, Ohlendorf, belasteten Bruno Strek-

kenbach, der während des Nürnberger Prozesses diesen Aussagen nicht widersprechen

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V. Das Urteil

Wie bereits ausgeführt, ging das Gericht von einem falschen Sachverhalt aus,indem es annahm, die Mitglieder des Einsatzkommando Tilsit hätten vomersten Tag an auf Befehl von Dr. Stahlecker gehandelt. Dieser Irrtum hatteschwerwiegende Folgen bei der Bestimmung der Teilnahmeform der Ange-klagten: Das Gericht verurteilte die Angeklagten nur wegen Beihilfe. Aberauch vom falschen Sachverhalt ausgehend ist diese Entscheidung nach damalsgeltender Rechtslage und Rechtsprechung angreifbar. Ein noch klarer Fehlerunterlief dem Gericht in einer Vorfrage:

1. Das anwendbare Recht – und ein folgenschwererFehler des Schwurgerichts

Das Gericht wendete das deutsche Strafgesetzbuch an. Hinsichtlich dessenzeitlicher Geltung war seinerzeit § 2 Absatz 2 einschlägig84, nach dem das zurZeit der Tat geltende Gesetz anzuwenden war; hatte es sich nach der Tat geän-dert, hatte das mildere Gesetz Vorrang. Die Milde oder Härte bestimmte sichnach den Rechtsfolgen einer Anwendung auf den konkreten Fall85.

Für den Besonderen Teil war zu beachten: Zur Tatzeit (Juni bis September1941) galt § 211 in der Fassung, nach der eine Tötung zum Mord wurde, wennder Täter mit „Überlegung“ handelte86. Wurde der Tatbestand erfüllt, drohtedie Todesstrafe.

Durch ein Gesetz vom 4. September 1941 bekam § 211 StGB eine neue Fas-sung87, nach der eine Tötung zum Mord wurde, wenn der Täter eines derMordmerkmale erfüllt hatte, die § 211 aufzählte und noch immer aufzählt. Zuihnen zählen das Töten „aus niedrigen Beweggründen“ sowie „grausames“Handeln. Der zum Zeitpunkt des Ulmer Prozesses geltende § 211 sah außer-dem nur eine lebenslange Zuchthausstrafe vor, daher war er das mildere Ge-setz. Dass keine Verurteilung zum Tode möglich war, folgte zudem aus Arti-kel 102 des Grundgesetzes, das schon 1949 in Kraft getreten war.

konnte, da er sich bis 1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befand, siehe Ogor-reck, Genesis der Endlösung, S. 51 ff.

84 In der Fassung von 1953.85 Diese Regeln gelten auch heute noch und finden sich jetzt in den Absätzen 1 bis 3 des

§ 2 StGB.86 „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung

ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“87 Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4.9.1941, RGBl. I S. 549 (ebd.).

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Für den Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs war zu beachten: Die Vor-schrift zur Beihilfe war § 49. Er sah zur Tatzeit eine obligatorische Strafmilde-rung für den Gehilfen vor88. Parallel galt aber seit dem 1. Januar 1940 eine„Verordnung gegen Gewaltverbrecher“89 von 1939, die in § 4 die obligatori-sche Strafmilderung durch eine fakultative ersetzte90. Diese Verordnung er-fasste sämtliche Fälle der Beihilfe – nicht nur bestimmte Delikte – und gingdem § 49 a.F. StGB als Lex specialis vor. Das war auch zur Zeit der Entschei-dung des Ulmer Schwurgerichts unstreitig91. Im Jahre 1943 wurde dann durcheine weitere Verordnung auch der Wortlaut des § 49 StGB so geändert, dassdie Milderung nur noch fakultativ zu gewähren war92. Diese Änderung hatteaber nur noch deklaratorischen Charakter.

Der folgenschwere Fehler des Schwurgerichts lag nun darin, dass es nur diezweite der zitierten Verordnungen berücksichtigte und so zu dem Ergebniskam, das zur Tatzeit geltende Gesetz sei für die Einsatzgruppen-Täter dasmildere, da es für Gehilfen eine obligatorische Strafmilderung angeordnethabe, während das spätere Gesetz sie nur noch fakultativ gewähre. Folglichwendete das Schwurgericht auf die Angeklagten den vermeintlich obligatorischgemilderten Strafrahmen an: bis zu 15 Jahre Zuchthaus statt bis zu lebenslan-ger Freiheitsstrafe. Die Verordnung von 1939 erwähnte das Gericht überhauptnicht. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass es sie übersehen hat – oderübersehen wollte.

Eine Panne mit Folgen, denn zumindest für einen Angeklagten, Hans-JoachimBöhme, wäre auch die lebenslange Freiheitsstrafe in Betracht gekommen; ihmlastete das Schwurgericht 3.907 Opfer an und verurteilte ihn zur (vermeintli-chen) Höchststrafe von 15 Jahren Zuchthaus. Doch auch für die anderen Ange-klagten hat sich der Fehler des Schwurgerichts mutmaßlich auf die Strafzumes-

88 „(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer dem Täter zur Begehung des Verbrechens oder

Vergehens durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe geleistet hat.(2) Die Strafe des Gehilfen ist nach demjenigen Gesetze festzusetzen, welches auf dieHandlung Anwendung findet, zu welcher er wissentlich Hilfe geleistet hat, jedoch nachden über die Bestrafung des Versuchs aufgestellten Grundsätzen zu ermäßigen.“

89 Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5.12.1939, RGBl. I S. 2378 (ebd.).90 „Für den strafbaren Versuch eines Verbrechens oder Vergehens oder für Beihilfe dazu

ist allgemein die Strafe zulässig, die für die vollendete Tat vorgesehen ist.“91 Siehe nur BGH NJW 1962, 2209–2211, hier 2210; Heinz-Willi Heynckes, Täterschaft

und Teilnahme bei NS-Tötungsverbrechen. Analyse und Kritik der Rechtsprechung desBundesgerichtshofes, Diss. Bonn 2005, S. 13 mit Nachweisen aus dem damaligenSchrifttum.

92 Verordnung zur Angleichung des Strafrechts des Altreichs und der Alpen- und Donau-Reichsgaue vom 29.5.1943 (Strafrechtsangleichungsverordnung), RGBl. I S. 341 (342).

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sung ausgewirkt. Denn für sie war es auch dann, wenn man nicht zur Höchst-strafe neigte, ein Unterschied, ob der Strafrahmen bei 15 Jahren Freiheitsstrafeendete oder bis zur lebenslangen Freiheitsstrafe reichte93. Im Ergebnis hättedaher für sämtliche Angeklagten das Strafmaß höher ausfallen müssen, als esausgefallen ist; und dies ohne Rücksicht auf einzelne Faktoren der Strafzumes-sung.

2. Täter oder Gehilfen?Die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe ist aufs Ganze gesehen diewichtigste Frage in den Strafverfahren wegen der Morde unter nationalsoziali-stischer Herrschaft94. Täter waren zwingend zu lebenslanger Freiheitsstrafe zuverurteilen; die Strafen der Gehilfen waren entweder obligatorisch oder wenig-stens fakultativ einem deutlich milderen Strafrahmen zu entnehmen. Für dasUlmer Urteil hatte die Abgrenzung zudem auf der Ebene der KonkurrenzenBedeutung. Denn die Zusammenfassung sämtlicher Handlungen zu einer ein-zigen Tat war nur möglich, wenn man die Handlungen als Beihilfe qualifizier-te.

a) Die Rechtsprechung zur Zeit des UrteilsDie Rechtsprechung hing 1958 der subjektiven Täterlehre an – wie sie diesschon immer getan hatte und im Grundsatz noch heute tut. Täter ist nach dersubjektiven Täterlehre, wer mit Täterwillen handelt (Animus auctoris); Gehilfe,wer mit Gehilfenwillen handelt (Animus socii). Als wichtigstes Anzeichen füreinen Täterwillen betrachtete man damals ein eigenes Interesse der fraglichenPerson an der Tat. Die Anwendung dieser Lehre erreichte ihren Höhepunkt inder Entscheidung zum Badewannen-Fall95.

93 Reicht ein Strafrahmen von 3 Jahren bis 15 Jahre Freiheitsstrafe, kommen für einen

mittelschweren Fall – jedenfalls rechnerisch – 7 bis 11 Jahre in Betracht; reicht derStrafrahmen hingegen bis zur lebenslangen Freiheitsstrafe, müssen diese Werte nachoben wandern.

94 So schon Freudiger, Juristische Aufarbeitung, S. 11; Michael Greve, Täter oder Gehil-fen? Zum strafrechtlichen Umgang mit NS-Gewaltverbrechern in der BundesrepublikDeutschland, in: Ulrike Weckel / Edgar Wolfrum (Hrsg.), „Bestien“ und „Befehlsemp-fänger“. Frauen und Männer in NS-Prozessen nach 1945, Göttingen 2003, S 194–221,hier S. 195.

95 RGSt. 74, 84–86, hier S. 85 f. Dort hatte das Reichsgericht die Mutter eines nichteheli-chen Kindes als Täterin der Kindstötung betrachtet, obwohl sie sich darauf beschränkthatte, ihre Schwester sofort nach der Geburt des Kindes zu bitten, den Säugling in einerBadewanne zu ertränken, was die Schwester getan hatte. Die Schwester hatte dadurch

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Von dieser Entscheidung des Reichsgerichts hatte sich der Bundesgerichtshofallerdings 1956 in BGHSt. 8, 393 ausdrücklich distanziert. Der Leitsatz jenesUrteils lautet: „Wer mit eigener Hand einen Menschen tötet, ist grundsätzlichauch dann Täter, wenn er es unter dem Einfluss und in Gegenwart eines ande-ren nur in dessen Interesse tut (gegen RGSt. 74, 84)“96. In diesem Urteil befasstsich der Bundesgerichtshof auch mit den Folgen seiner – nun abgeschwächt –subjektiven Täterlehre für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Erführt ein unveröffentlichtes Urteil seines Senats an, in dem der Kommandeureines Exekutionskommandos als Täter qualifiziert wird, obwohl er auf Befehlgehandelt hatte; und zwar mit der Begründung, der Kommandeur habe denBefehl gutgeheißen, sich dessen Ausführung zu seiner eigenen Sache gemachtund bei der Tat besonderen Eifer gezeigt. Im Anschluss daran heißt es: „Auchvon diesem Urteil weicht der jetzt urteilende 5. Senat nicht ab. Er hätte diesenFall nach den oben dargelegten Grundsätzen ebenso entschieden.“ Der Sach-verhalt, auf den sich dies bezieht, stimmt in wesentlichen Punkten mit denTaten überein, die man den Angeklagten im Ulmer Einsatzgruppen-Prozessvorwarf97.

b) Das UrteilDas Urteil des Ulmer Schwurgerichts kennt jedoch nur eine Handvoll Haupt-täter, die es auch als „Urheber“ oder „Taturheber“ bezeichnet: „Hitler, Himm-ler, Heydrich und deren nähere Umgebung“. Sie hätten „den Vernichtungsplanausgeheckt“98; die Einsatzgruppen seien dann jeweils nur befehlsgemäß tätiggeworden. Die Haupttäter seien gegenüber den Opfern mittelbare Täter gewe-sen und hätten sich der Angehörigen der Einsatzkommandos als „doloserWerkzeuge“99 bedient. Diese wiederum hätten lediglich mit Gehilfenvorsatzgehandelt, Animus socii, und seien daher auch nur als Gehilfen strafbar.

nach Ansicht des Reichsgerichts nur eine Beihilfe geleistet. Denn ein eigenes Interessean der Tötung des Kindes hatte vor allem dessen Mutter.

96 BGHSt. 8, 393–399 (Leitsatz der Entscheidung; siehe auch a.a.O. S. 395 f.).97 Und es hatte vor 1958 weitere, unveröffentlichte Entscheidungen des Bundesgerichts-

hofes gegeben, in denen die Beteiligung an nationalsozialistischen Morden in Konzen-trationslagern und bei Erschießungen als Täterschaft gewertet worden war, obwohl dieAngeklagten auf Befehl gehandelt hatten, und zwar sowohl für Offiziere als auch fürMannschaftsdienstgrade (siehe die Nachweise und Inhaltsangaben bei Heynckes, Täter-schaft und Teilnahme, S. 74 ff., 104 ff.). Allerdings war die Rechtsprechung der Senatenicht einheitlich.

98 LG Ulm (Fn. 1), S. 442.99 LG Ulm (Fn. 1), S. 447.

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Wie war das nach BGHSt. 8, 393 möglich? Diese Entscheidung übersehen dieUlmer Richter keineswegs. Sie stellen fest, dass „regelmäßig“ (gemeint: in derRegel) die vollständig eigenhändige Verwirklichung des äußeren Tatbestandes„ein schwerwiegendes Anzeichen“ für einen Täterwillen sei – „das jedochdurch andere, entgegenstehende Anzeichen widerlegt werden kann“100. SolcheAnzeichen für jeden einzelnen Angeklagten zu finden ist das Gericht dannüberaus bemüht. Sein Ausgangspunkt dafür lautet: Beim Handeln auf Befehlsei grundsätzlich zu vermuten, dass der Befehlsempfänger nicht als Täter han-dele, weil er nämlich dem Befehlenden Folge leisten und ihn unterstützenwolle.

Für die Angeklagten Böhme und Hersmann gesteht das Urteil dann zwar zu,dass sie als Abschnittsführer der Stapo und des SD beim Ausführen des Be-fehls zum Massenmord über große Ermessensspielräume verfügten und selbstdie Art und Weise sowie den Umfang der Exekutionen bestimmen konnten.Ferner weist das Urteil darauf hin, dass jene Angeklagten ihr Auftragsgebietausdehnen wollten, wodurch es zum Zuständigkeitskonflikt mit dem Komman-deur eines anderen Einsatzkommandos kam. Gegen den Angeklagten Hers-mann war ferner zu berücksichtigen, dass er ein „glühender Nazi“ war, derantisemitische Hass- und Hetztiraden im Munde führte.

Doch das alles soll nicht für eine Täterschaft reichen. Hersmann wird zugute-gehalten, dass er „von sich aus keine Erschießung festgesetzt und geleitethat“101. Nein, das hatte er wohl nicht. Aber das hätte auch nicht seiner Rolleund Funktion entsprochen und war auch nicht nötig, da andere die Mordeterminierten und vor Ort das Oberkommando führten, namentlich Böhme –dem gegenüber Hersmann auf einzelne Erschießungen gedrängt und die Mordebegrüßt hatte!

Böhme hatte insgesamt tausende von Morden „festgesetzt und geleitet“. Täterdieser Morde soll er nach Ansicht des Gerichts dennoch nicht gewesen sein.Denn er habe sich nicht sofort zu den Morden bereit erklärt, sondern sich „invorsichtiger Weise vor der Durchführung des Befehls zu drücken versucht“102

– eine Verkehrung der Wirklichkeit in ihr Gegenteil, wie wir heute wissen.Ferner habe er eine schriftliche Bestätigung des Befehls verlangt und habe dieErmordung der jüdischen Frauen und Kinder verzögert – auch diesbezüglichging das Gericht von einem falschen Sachverhalt aus.

100 LG Ulm (Fn. 1), S. 459.101 LG Ulm (Fn. 1), S. 461.102 LG Ulm (Fn. 1), S. 460.

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Aber selbst wenn man den Sachverhalt zugrunde legt, von dem das UlmerGericht ausging, ist zu erinnern: Was den Versuch des „Sich-Drückens“ be-trifft, so hatte Böhme auch nach den Feststellungen des Schwurgerichts gegen-über dem Chef der Einsatzgruppe lediglich gesagt, er habe für die Ausführungdes Mordauftrags nicht genügend Personal. Nachdem ihm gesagt worden war,an wen er sich wenden könne, hatte er keine weiteren Einwände mehr erhoben.Die schriftliche Bestätigung hatte er in jedem Fall ausschließlich angefordert,weil er sich selbst absichern wollte. Und selbst wenn er die Ermordung vonFrauen und Kindern zunächst aufgrund eigener Skrupel vertagt hätte, so hatteer zumindest später seine Skrupel überwunden und im Ergebnis niemandengeschont. Er hatte dabei breite Ermessensspielräume. Keinen davon hat ergenutzt, um jemanden leben zu lassen.

Für den Angeklagten Lukys lag „der Verdacht nahe“, dass er die Gelegenheitnutzte, um seinem Hass gegen die Kommunisten freien Lauf zu lassen. Indes,Täterwillen habe auch dies nicht zu begründen vermocht. Denn man habeLukys nicht nachweisen können, dass er eigenmächtig Personen verhaftet undgetötet, „also mit dem Täterwillen gehandelt“ habe. Eine fragwürdige Erklä-rung, da nicht nur der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu entnehmenwar, dass für den Täterwillen kein eigenmächtiges Handeln erforderlich gewe-sen ist. Auch nach Ansicht des Schwurgerichts selbst hätte dies eine zu starkeEinschränkung des Animus auctoris bedeutet.

Am bemerkenswertesten dürfte wohl sein, welche Gedanken sich das Schwur-gericht zum Angeklagten Fischer-Schweder gemacht hat. Er hatte ursprünglichnur die Weisung erhalten, mit seinen Schutzpolizisten eine Exekutionsstätteabzusperren – zunächst einmal klar eine Hilfstätigkeit im Vergleich zu deneigentlichen Mordhandlungen. Fischer-Schweder hatte indes sofort erfolgreichverlangt, mit seinen Leuten selbst und unmittelbar mitzumorden, hatte vor Ortin einer Weise herumkommandiert, dass uneingeweihte Beobachter ihn für denkommandierenden Offizier hielten, und hatte eigenhändig Menschen mit soge-nannten Fangschüssen erschossen. Täterwillen hatte er nach Ansicht desSchwurgerichts gleichwohl nicht. Denn er sei „eben doch nicht der Prototypdes nationalsozialistischen Eiferers gewesen“ – obwohl er als „Alter Kämp-fer“103 bereits 1925 der SA und NSDAP beigetreten war, in der SA Karrieregemacht hatte und Träger des Goldenen Parteiabzeichens war. Außerdem hätteer die Taten nicht begangen, „wenn nicht der Angekl. Böhme […] an ihn her-angetreten wäre“104. Man könnte meinen, dass wohl überhaupt nur der „Proto-

103 Vgl. von Miquel, Ahnden oder Amnestieren, S. 151.104 LG Ulm (Fn. 1), S. 462.

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typ des nationalsozialistischen Eiferers“ als Täter in Betracht kam und dassgrundsätzlich niemand Täterwillen hat, dessen Tatentschluss von anderenverursacht worden ist. Was automatisch heißt, dass angestiftete Täter keineTäter sein können – ein neuer Gedanke in der Strafrechtsdogmatik.

Beinahe groteske Züge gewinnt das Ulmer Urteil in der Passage, in der esfeststellt, dass die Angeklagten einer Beihilfe zu massenhaftem Mord schuldigwaren, § 211 StGB, und nicht nur zu Totschlags-Delikten (§ 212 StGB). Denndies setzte nach damaliger Rechtsprechung nur – aber immerhin – voraus, dasssie die Umstände kannten, welche die Taten zu Morden machten. Sie musstenwissen, dass die Haupttäter Mordmerkmale verwirklichten, während sie solcheMerkmale nicht in eigener Person zu verwirklichen brauchten. Mordmerkmalewaren bei den Taten der Einsatzkommandos das Töten „mit Überlegung“(§ 211 a.F. StGB) beziehungsweise das „grausame“ Töten sowie das Töten„aus niedrigen Beweggründen“ (§ 211 n.F. StGB, vgl. jeweils oben). Bezüglicheines Handelns mit Überlegung und aus niedrigen Beweggründen liest es sichnoch nicht ungewöhnlich, wenn das Schwurgericht feststellt, dass sich die vorOrt handelnden Angeklagten solcher Motive ihrer höchsten Führung bewusstgewesen seien. Jedoch schlingert das Urteil hart an der Grenze des Absurdenentlang, wenn es zunächst die Haupttaten – für die Richter: die Befehle Hitlersund seiner Getreuen – ausdrücklich als „Tötungen“ bezeichnet und dann fürdas Mordmerkmal der Grausamkeit festhält, dass die Angeklagten um dasGrausame jener Tötungen gewusst hatten. Ja allerdings! Denn es war dochnichts anderes als ihre eigene Grausamkeit und Menschenverachtung, es warenihre Beschimpfungen, Schläge, Tritte und Schüsse, ihre Anweisungen zumAblauf des Massenmordes, die das Mordmerkmal „grausam“ erfüllten. Hitlerund seinem Umfeld war es egal, wie ihre Opfer umkamen. Grausam wurdendie Taten erst durch die Entscheidungen und Handlungen vor Ort. Dass dies füralle, auch Hitler, vorhersehbar gewesen ist, steht auf einem anderen Blatt.

Mit dem Ergebnis, die Angeklagten nur als Gehilfen einzustufen und alleinHitler und seine engste Führungsclique als Haupttäter, dürfte das Ulmer Urteilauch die nachfolgende Rechtsprechung beeinflusst haben105. Wenn man nachden Gründen dieses Ergebnisses fragt, so bieten sich zwei Möglichkeiten einerAntwort. Die erste lautet, dass die Richter vom Strafmaß her gedacht habenund Milde walten lassen wollten; warum, wäre dann eine weitere Frage. Diezweite denkbare Antwort greift weiter aus und stellt die Rollenzuschreibungenin den Mittelpunkt: Die Zuschreibung der Rolle der – wie die Ulmer Richtersagen – „Urheber“ einerseits und die der mehr oder weniger folgsamen Helfer

105 Greve, Täter oder Gehilfen, S. 205.

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andererseits. Jene Rechtsprechung, die Täter zu Gehilfen machte, erlaubte esden Deutschen, die Jahre des Nationalsozialismus als eine Zeit zu definieren, inder Deutschland gewissermaßen von einer kleinen, aber allmächtigen Bandevon Verbrechern okkupiert gewesen war, unter der die Deutschen kaum weni-ger zu leiden gehabt hatten als die Menschen in den besetzten Gebieten – stattzuzugestehen, dass das Terrorregime und namentlich Hitler grundsätzlich inbreitesten Kreisen der Bevölkerung Rückhalt gefunden hatte106.

3. Gab es Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe?Nach Ansicht des Gerichts kam eine Entlastung der Angeklagten weder nach§ 47 MilStGB (Handeln auf Befehl) noch aufgrund von Staatsnotwehr, Staats-notstand oder als Kriegsmaßnahme in Frage. Die Haupttäter und die Ange-klagten seien sich aller Umstände bewusst gewesen und hätten keineswegs irrigeinen Sachverhalt angenommen, bei dem sie gerechtfertigt gewesen wären.

Das Gericht lehnte es ebenfalls ab, dass die Angeklagten in einem tatsächlichenoder mindestens vermeinten Nötigungsnotstand in Form eines sogenanntenBefehlsnotstands gehandelt hatten. Objektiv hätte keine Lebens- oder Leibes-gefahr für die Angeklagten bestanden, wenn sie sich geweigert hätten, Mordbe-fehle auszuführen. Es ist auch bis heute kein Fall dokumentiert, in dem dasMitglied einer deutschen Polizei- oder Militäreinheit zum Tode verurteilt,getötet oder misshandelt worden wäre, weil es sich geweigert hätte, einenMordbefehl auszuführen. Vielmehr hatten solche Weigerungen – die wenigen,die es gab – in aller Regel nur zur Folge, dass der Betreffende von seinemMordauftrag entbunden wurde107. Subjektiv hätte der Wille der Angeklagtenüberhaupt nicht gebeugt werden müssen, weil er mit ihren Befehlen überein-stimmte. Schließlich liegt nach der Ansicht des Gerichts sowohl mit Blick aufdie Haupttäter als auch für die Angeklagten kein Verbotsirrtum vor. Die

106 So die Erklärung von Fritz Bauer, siehe Fritz Bauer, Im Namen des Volkes: Die straf-

rechtliche Bewältigung der Vergangenheit, in: Joachim Perels / Irmtrud Wojak (Hrsg.):Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung, S. 77–90, hier S. 83.

107 Hans Buchheim, Das Problem des sogenannten Befehlsnotstandes aus historischerSicht, in: Peter Schneider / Hermann J. Meier (Hrsg.), Rechtliche und politischeAspekte der NS-Verbrecherprozesse, Mainz 1968, S. 25 ff.; Kurt Hinrichsen, „Befehls-notstand“, in: Adalbert Rückerl (Hrsg.), NS-Prozesse, S. 131–161, hier S. 145; HerbertJäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Ge-waltkriminalität, Frankfurt am Main 1982, S. 158; Claus Roxin, Straftaten im Rahmenorganisatorischer Machtapparate, GA 1963, S. 193–207, hier S. 198; anderer Ansichtder 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in BGH NJW 1964, 730–731, der die ge-genteiligen Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz unbeanstandet lässt.

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Rechtswidrigkeit „solcher ungeheuerlicher Massenvernichtungsmaßnahmen“sei „offenkundig, also jedermann bekannt“108.

4. KonkurrenzenDas Gericht nimmt für die Angeklagten Tateinheit an, da sie stets aufgrund einund desselben Grundsatzbefehls gehandelt hätten. Es sollen demnach sämtlicheMordhandlungen von Juni bis September 1941 im Rechtssinne jeweils nur eineeinzige Handlung gewesen sein. Das musste sich günstig auf die Höhe derStrafen auswirken: Bei Tateinheit (Idealkonkurrenz) wird der Täter im Prinzipso behandelt, als hätte er den Tatbestand nur einmal verwirklicht. Diese Quali-fizierung war auf dem Boden der damals herrschenden Rechtsprechung nichtunproblematisch109. Zwar nimmt die heute herrschende Meinung an, dass meh-rere Unterstützungshandlungen eines Gehilfen für ein und dieselbe Haupttatgrundsätzlich eine Handlungseinheit bilden110. Aber dieser Grundsatz ist nichtauf den Fall zugeschnitten, dass die Hilfsleistungen in zahlreichen Tötungs-handlungen oder -befehlen bestehen, die sich über Monate hinweg gegen tau-sende unterschiedlicher Opfer richten. Vielmehr gilt als weiterer Grundsatz,dass für Taten gegen höchstpersönliche Güter wie das Leben eine natürlicheHandlungseinheit ausgeschlossen ist, wenn sie sich gegen unterschiedlicheRechtsgutträger richten111.

108 LG Ulm (Fn. 1), S. 445.109 Vgl. BGH 1 StR 791/51 (insoweit in BGHSt. 3, S. 271 nicht abgedruckt), später für

Einsatzgruppen-Verbrechen bestätigt in 1 StR 540/62 (insoweit in BGHSt. 18, S. 367nicht abgedruckt), siehe jeweils die wörtlichen Zitate bei Fritz Bauer, Ideal- oder Real-konkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen? JZ 1967, S. 625–628, hier S. 626 f.In dem Urteil 1 StR 791/51 heißt es: „Keinesfalls rechtfertigt sich die Annahme einereinheitlichen Tat in den Fällen der ‘Sonderbehandlung’ der Ostarbeiter, bei der der Ent-scheid über Leben und Tod des einzelnen Opfers von wesentlicher Bedeutung war. DieVernichtung der einzelnen Menschenleben kann deshalb nicht dadurch zu einer rechtli-chen Einheit werden, daß sie in jedem einzelnen Falle auf dem Geheimerlass […] be-ruhte […].“ Auch das Tilsiter Einsatzkommando hatte bei der Auswahl seiner Opfer ei-nen nicht unerheblichen Ermessensspielraum: Seine Entscheidungen (die des komman-dierenden Offiziers), wer Jude oder Kommunist sei, waren konstitutiv. Entsprechendesgalt von den Entscheidungen, welche Orte für die Suche nach Opfern angefahren wur-den.

110 BGH wistra 2000, S. 269–270, hier S. 270; Werner Beulke, in: Johannes Wessels /Werner Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 41. Auflage 2011, Rn. 760 mit weiterenNachweisen.

111 BGH NStZ 2006, S. 284–286, hier S. 284 Rn. 8; NJW 1998, S. 619–620, hier S. 620;Wolfgang Mitsch, Konkurrenzen im Strafrecht, JuS 1993, S. 385–390, hier S. 388 mitweiteren Nachweisen. Vgl. aus damaliger Zeit BGHSt. 1, S. 219–222, hier S. 221 f.

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5. Strafzumessung1958 enthielt das Strafgesetzbuch noch keine Regeln oder Hinweise zur Straf-zumessung112, die Richter hatten eine weitreichende Freiheit darin, welcheUmstände sie zugunsten und welche zu Lasten des Angeklagten berücksich-tigten.

Zugunsten der Angeklagten berücksichtigt das Ulmer Urteil unter anderem diegeschichtlichen Rahmenbedingungen sowie die Umstände, dass sie sich seitKriegsende gut geführt hatten und dass viele von ihnen durch Internierungshaftoder Kriegsgefangenschaft gegangen waren, neuerworbene Stellen durch dasStrafverfahren wieder verloren hatten und zum Teil „in fortgeschrittenemAlter“ standen.

Zum Nachteil der Angeklagten berücksichtigt das Gericht überwiegend eine„Lebensführungsschuld“, darin bestehend, der Stapo und dem SD angehört zuhaben. Straferschwerend will das Gericht ferner die Zahl der Morde in Ansatzbringen sowie die Rohheit und Brutalität der Ausführung; außerdem den Anse-hensverlust, den Deutschland „für Generationen“ erlitten habe, und die Leidendeutscher Kriegsgefangener, die auch für die Barbarei hinter den deutschenLinien hatten büßen müssen.

Es werden noch viele andere Gründe genannt, so dass ein überaus bunterStrauß von Strafzumessungserwägungen zusammenkommt. Längst nicht allesind plausibel. Hierin gleicht das Urteil anderen Urteilen gegen nationalsoziali-stische Täter ebenso wie in manchen Topoi der Zumessungserwägungen – undin der Gesamteinschätzung, dass die Strafzumessung so nämlich „kaum nach-vollziehbar“ ist113.

Aussagekräftiger als die Auflistung der einzelnen Faktoren der Strafzumessungsind ihre Ergebnisse: die Strafen. Nur gegen einen Angeklagten, Böhme, ver-hängt das Gericht die (vermeintliche) Höchststrafe von 15 Jahren Zuchthaus.Die anderen bekommen 13, 10, 7, 5, 4 und 3 Jahre beziehungsweise 3 Jahreund 6 Monate Zuchthaus. Bei der mildesten Strafe von 3 Jahren geht es im-merhin noch um eine (vermeintliche) Beihilfe zum Mord in 526 Fällen, undzwar geleistet durch das Kommandieren des Erschießungskommandos undeigenhändiges Töten solcher Opfer, die nach der Salve des Erschießungskom-mandos noch lebten. Mithin entfielen auf jedes Opfer etwa zwei Tage Frei-

112 Das hat sich erst 1970 geändert, als die Vorgängernorm des heute geltenden § 46 StGB

in Kraft trat (§ 13 a.F. StGB, der dem aktuellen § 46 bis auf eine Formulierung in Ab-satz 2 Satz 2 wörtlich entspricht).

113 Vgl. Greve, Täter oder Gehilfen, S. 214 ff., 218.

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heitsstrafe – ein günstiger Tarif. Oder in den Worten von Ernst Klee: „BeiMassenmord gibt es offenbar Mengenrabatt“114.

6. RevisionGegen das Urteil des Schwurgerichts legten zwei Angeklagte: Schmidt-Hammer und Lukys, Revision zum Bundesgerichtshof ein und hatten Teiler-folge. Für den Angeklagten Schmidt-Hammer und den ersten Massenmord inGarsden rügt der Bundesgerichtshof die Beweiswürdigung, auf welche dieUlmer Richter ihre Feststellung stützen, dass Schmidt-Hammer der verbreche-rische Zweck seiner Befehle klar gewesen sei115. In dem anschließenden,zweiten Verfahren vor dem Ulmer Schwurgericht116 wird Schmidt-Hammerdann insoweit in dubio pro reo freigesprochen. Das Strafmaß blieb jedochunverändert. Der Angeklagte Lukys wird ebenso in dubio pro reo im Fall desersten Massenmordes in Krottingen freigesprochen. Sein Strafmaß wurde vonsieben auf fünf Jahre Zuchthaus geändert.

VI. Schluss

Die neuere Geschichtsforschung spricht dafür, dass die Ulmer Richter voneinem falschen Sachverhalt ausgingen. Dies hatte schwere Folgen für die Be-stimmung der Teilnahmeform: Alle Angeklagten wurden ausschließlich wegenBeihilfe verurteilt. Das Einsatzkommando Tilsit wurde jedoch weder wie an-genommen am 22. Juli 1941 auf einen Befehl von Dr. Stahlecker gegründet,noch besaß es zu diesem Zeitpunkt einen Befehl zur Ermordung der gesamtenjüdischen Bevölkerung in seinem Auftragsgebiet. Vielmehr gibt es überzeugen-de Argumente dafür – die dem Schwurgericht teilweise auch bekannt waren –,dass die Verantwortlichen aus eigenem Antrieb für ihre Dienststellen eineBeteiligung an den Morden einforderten. Auch der Befehl zur Ermordung derjüdischen Frauen und Kinder wurde ihnen erst später auf Grund des unerwartetschlechten Kriegsverlaufs und der damit verbundenen Versorgungsprobleme 114 Ernst Klee, Wo die Täter Opfer spielten, war für die wirklichen Opfer kein Platz. Über

die Strafverfolgung von Nazi-Verbrechern, in: Lorenz Böllinger / Rüdiger Lautmann(Hrsg.), Vom Guten, das noch stets das Böse schafft. Kriminalwissenschaftliche Essayszu Ehren von Herbert Jäger, Frankfurt am Main 1993, S. 15–32, hier S. 32.

115 BGH vom 23.2.1960 – 1 StR 648/59 – abgedruckt in: Irene Sagel-Grande / H. H.Fuchs / C. F. Rüter (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Sammlung Deutscher Strafur-teile wegen Nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Band XV, Amster-dam 1976, S. 266–274.

116 LG Ulm vom 3.11.1960 – Ks 2/57 – abgedruckt in: Irene Sagel-Grande / H. H. Fuchs /C. F. Rüter (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Band XVI, S. 779–831.

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eröffnet. Es bleibt die Frage, warum sich die Richter von der Verteidigungs-strategie der Angeklagten haben täuschen lassen.

Aber auch wenn man den Sachverhalt zugrunde legte, von dem das Schwurge-richt ausging, widersprach die Qualifizierung nur als Gehilfen damals veröf-fentlichter höchstrichterlicher Rechtsprechung. Diese wird vom Gericht keines-falls übersehen, die begangenen Taten werden auch nicht bagatellisiert. Auchfinden die Richter für das Verhalten der Angeklagten harte Worte und pochenrigoros darauf, dass diese Taten damals geltendes, elementares Recht verletzthatten. Und doch fällt die rechtliche Würdigung günstiger aus, als es sich dieAngeklagten hätten erträumen können.

Der Gesamteindruck vom Verfahren ist deshalb widersprüchlich. Es lässt amEnde zwei Deutungen zu: Einmal mag es so gewesen sein, dass die Richtertatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen geurteilt haben – in dem Stre-ben, die Wahrheit festzustellen, auszusprechen und nach den moralischenAnsprüchen zu bewerten, die sich eine Kulturnation schuldet; ferner darumbemüht, der Lage der Angeklagten zur Tatzeit gerecht zu werden, das heißtihrer Einbindung in ein System aus Befehl und Gehorsam. Die andere Deutungbesagt, dass die Richter es verstanden haben, größte rechtliche Nachsicht undBestrafungsmilde, ja sogar eine zugunsten der Täter falsche Rechtsanwendungund falsche Rezeption höchstrichterlicher Rechtsprechung hinter einer Wandaus hart verurteilenden Worten vor Kritik zu schützen. Welche Deutung derWahrheit näher kommt, ist schwer zu beurteilen. Und so wird der Ulmer Pro-zess bleiben, was die gesamte bundesdeutsche Nachkriegsjustiz gegenübernationalsozialistischen Tätern gewesen ist: eine zwiespältige Angelegenheit.

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