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Quasi- Versicherungen und der Staat Zur Zeitgeschichte der Sterbekassen im Ravensberger Land* Von Peter Kottmann, Halle (Westf.) Die Geschichte lokaler Quasi- Versicherungen genossenschaftlicher Art ist für die Ravensberger Gewerbelandschaft ungeschrieben.' Während die moderne Genossenschaftsbewegung im engeren Sinne aufgearbeitet ist, 2 bleibt die Geschichte der ,Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit' ver- nachlässigt, 3 einmal abgesehen von einer Geschichte der Sterbekassen, 4 Teilen der Lokal- und Nachbarschaftsgeschichte 5 und Rechtsgeschichte 6 und sozialanthropologischen Studien zur moralischen Ökonomie in tradi- tionalen Gesellschaften. ? Um ältere Kooperationsformen innerhalb der marktförmigen Privatrechtsgesellschaft zu verstehen, ist eine Krisenge- * Die Analyse beruht auf Forschungen eines abgeschlossenen Projektes getra- gen vom Kreisheimatverein Herford zu Selbsthilfeeinrichtungen im Ravensberger Land vom 19. zum 20. Jahrhundert. Für vielfältige Anregungen, Kritik und umfas- sende Unterstützung sei hier ausdrücklich gedankt. 1 Zur Verdrängung von Gegenseitigkeitsversicherungen durch die obligatorische Sozialversicherung: Abram de Swaan, Workers' and Clients' Mutualism Compared. Perspectives from the Past in the Development of the Welfare State, in: Government and Opposition Bd. 21 (1986), S. 36-55. Als Zwischenbericht: Peter Kottmann, Selbstorganisation als Armutsbewältigung. Zur Entstehung und Auflösung der Herforder Grabhilfen im 20. Jahrhundert, in: Historical Social Research Bd. 19 (1994), Nr. 1, S. 109-128. 2 Siehe Arnd Kluge, Genossenschaftsgeschichte — ein zukunftsweisender Ansatz? Plädoyer für eine Ergänzung der Genossenschaftswissenschaft, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen Jg. 42 (1992), S. 101-117. 3 Zu planvollen Kassengründungen im 18. Jh.: Peter Borscheid, Geschichte des Alters. 16.-18. Jahrhundert, Münster 1987, S. 268ff. 4 Ernst Vesper, Die Sterbekassen in alter und neuer Zeit, Berlin 1966. 5 Vgl. den Hinweis auf fünf Sterbekassen mit insgesamt 1.000 Mitgliedern um 1850: Wilfried Reininghaus, Zur Geschichte der Dortmunder Versicherungswirt- schaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark Bd. 76/77 (1984/85), S. 217-226. Siehe für das Herforder Land zu kollektiven Trauerfeierlichkeiten mit großem Aufgebot und langer Dauer: Wilhelm Normann, Ein Leichenbegängnis in Herfords Bauernschaften vor 100 Jahren, in: Herforder Jahrbuch Jg. 1 (1966), S. 85-89. 6 Stefan Reckhenrich, Versicherungsunternehmen auf Gegenseitigkeit in Frank- reich. Ein Vergleich mit dem deutschen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, Karlsruhe 1987, S. 14-36. 7 Marcel Fafchamps, Solidarity Networks in Preindustrial Societies: Rational Peasants with a Moral Economy, in: Economic Development and Cultural Change Bd. 41 (1992), S. 147-174.

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Page 1: Quasi-Versicherungen und der Staat

Quasi-Versicherungen und der Staat

Zur Zeitgeschichte der Sterbekassen im Ravensberger Land*

Von Peter Kottmann, Halle (Westf.)

Die Geschichte lokaler Quasi-Versicherungen genossenschaftlicher Artist für die Ravensberger Gewerbelandschaft ungeschrieben.' Während diemoderne Genossenschaftsbewegung im engeren Sinne aufgearbeitet ist, 2

bleibt die Geschichte der ,Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit' ver-nachlässigt, 3 einmal abgesehen von einer Geschichte der Sterbekassen, 4

Teilen der Lokal- und Nachbarschaftsgeschichte 5 und Rechtsgeschichte 6

und sozialanthropologischen Studien zur moralischen Ökonomie in tradi-tionalen Gesellschaften. ? Um ältere Kooperationsformen innerhalb dermarktförmigen Privatrechtsgesellschaft zu verstehen, ist eine Krisenge-

* Die Analyse beruht auf Forschungen eines abgeschlossenen Projektes — getra-gen vom Kreisheimatverein Herford — zu Selbsthilfeeinrichtungen im RavensbergerLand vom 19. zum 20. Jahrhundert. Für vielfältige Anregungen, Kritik und umfas-sende Unterstützung sei hier ausdrücklich gedankt.

1 Zur Verdrängung von Gegenseitigkeitsversicherungen durch die obligatorischeSozialversicherung: Abram de Swaan, Workers' and Clients' Mutualism Compared.Perspectives from the Past in the Development of the Welfare State, in: Governmentand Opposition Bd. 21 (1986), S. 36-55. Als Zwischenbericht: Peter Kottmann,Selbstorganisation als Armutsbewältigung. Zur Entstehung und Auflösung derHerforder Grabhilfen im 20. Jahrhundert, in: Historical Social Research Bd. 19(1994), Nr. 1, S. 109-128.

2 Siehe Arnd Kluge, Genossenschaftsgeschichte — ein zukunftsweisender Ansatz?Plädoyer für eine Ergänzung der Genossenschaftswissenschaft, in: Zeitschrift fürdas gesamte Genossenschaftswesen Jg. 42 (1992), S. 101-117.

3 Zu planvollen Kassengründungen im 18. Jh.: Peter Borscheid, Geschichte desAlters. 16.-18. Jahrhundert, Münster 1987, S. 268ff.

4 Ernst Vesper, Die Sterbekassen in alter und neuer Zeit, Berlin 1966.

5 Vgl. den Hinweis auf fünf Sterbekassen mit insgesamt 1.000 Mitgliedern um1850: Wilfried Reininghaus, Zur Geschichte der Dortmunder Versicherungswirt-schaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und derGrafschaft Mark Bd. 76/77 (1984/85), S. 217-226. Siehe für das Herforder Land zukollektiven Trauerfeierlichkeiten mit großem Aufgebot und langer Dauer: WilhelmNormann, Ein Leichenbegängnis in Herfords Bauernschaften vor 100 Jahren, in:Herforder Jahrbuch Jg. 1 (1966), S. 85-89.

6 Stefan Reckhenrich, Versicherungsunternehmen auf Gegenseitigkeit in Frank-reich. Ein Vergleich mit dem deutschen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit,Karlsruhe 1987, S. 14-36.

7 Marcel Fafchamps, Solidarity Networks in Preindustrial Societies: RationalPeasants with a Moral Economy, in: Economic Development and Cultural ChangeBd. 41 (1992), S. 147-174.

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schichte der rationalisierten Vorsorge 8 und eine Erfolgsgeschichte lokalerNothilfen zu schreiben. 9 Wir analysieren eine Überlieferung der Versiche-rungsaufsicht für den Kreis Herford im 20. Jh., um ein Bild nachbarlicherHilfe im Zeitalter der Privatversicherung zu zeichnen. lo

Daß Rationalisierung zur Raserei der Macht führe (Foucault), ist dieFrage in der Geschichte der Versicherungsaufsicht. Sterbekassen waren dieBeobachtungsobjekte des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung(1900). 11 Die Berliner Zentralbehörde definierte sie im Einklang mit derVerwaltungsjustiz nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz (1901) als Ge-genseitigkeitsvereine, die als nicht geschlossene Gemeinschaften den Mit-gliedern unmittelbar Versicherungsschutz boten. 12 Das Mitglied war Versi-cherer und Versicherter zugleich — was von der Staatsaufsicht vielfachverkannt wurde. Es waren Gefahrengemeinschaften, die als erweiterteNachbarschaften auch ohne Rechtsakt entstanden. Gebunden waren sie andie Gemeindeglieder und bildeten so eine Ortsgenossenschaft im BereichVersicherung, der in der Genossenschaftsbewegung zurückgeblieben war.

Der Konflikt zwischen den Initiativen und dem Staat ist eine Geschichteihrer Verdrängung und Veränderung. 13 Die Aufsichtsakten lassen eineLandschaft von Nothilfen sichtbar werden, die mit dem Wirtschaftswunderverschwand. Nun entfielen Versicherungsprobleme, die auf der Ebene in-tensivierter Nachbarschaften lösbar waren — und die nicht solche Organi-sationsaufwände rechtfertigten, wie sie das staatliche Sicherheitsdenkenforderte.

8 Vgl. zur „Geburt der Versicherungsgesellschaft" und „Produktion von Sicher-heit" — mit Foucaultscher Perspektive: Francois Ewald, Der Vorsorgestaat, Frank-furt am Main 1993, S. 11 ff.

9 Zum Substitutionscharakter primärer Organisationen für marktbezogene Versi-cherungen: Robert Whaples und David Buffum, Fraternalism, Paternalism, theFamily, and the Market. Insurance a Century Ago, in: Social Science History Bd. 15(1991), S. 97-122. Die positiven Modernisierungsaspekte bei Peter Borscheid, DieEntstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert. ZumDurchsetzungsprozeß einer Basisinnovation, in: VSWG (= Vierteljahrschrift fürSozial- und Wirtschaftsgeschichte) Bd. 70 (1983), S. 305-330.

10 Siehe zur Vernachlässigung der Versicherungsgeschichte: Peter Borscheid,Quellen zur Versicherungsgeschichte, in: Archiv und Wirtschaft. Zeitschrift für dasArchivwesen der Wirtschaft Jg. 25 (1992), S. 51-55.

11 Zur Ausdehnung von Netzwerken der Kommunikation und Kontrolle im 20.Jh.: Jan A. G. M. van Dijk, Communication Networks and Modernization, in:Communication Research Bd. 20 (1993), S. 384-407.

12 Vgl. Julius von Gierke, Die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit nachdeutschem Recht, Stuttgart 1942, S. 1-5.

13 Vgl. zum „Eigensinn" im Alltag und seiner hegemonialen Zerstörung gegenProtest: Carola Lipp, Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde,Soziologie und Geschichte. Aufstieg und Niedergang eines interdisziplinären For-schungskonzepts, in: Zeitschrift für Volkskunde Jg. 89 (1993), S. 1-33.

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Quasi-Versicherungen und der Staat 513

1. Ältere Sterbekassen

Schutzvereinigungen waren nach den Geschlechtsverbänden die mittelal-

terlichen Brand- und Totengilden und in der Frühneuzeit die großen

Gegenseitigkeitsgesellschaften für Feuer- und Lebensversicherung in Eng

-land.14 Den Gothaer Gesellschaften unter Kaufleuten von 1821/27 folgten

große Versicherungsvereine für die Lebens-, Feuer-, Hagel- und Viehversi-

cherung. Doch der Ursprung der Sterbekassen lag im nachbarlichen Toten-

dienst als einer zeitbedürftigen Gemeinschaftsform naher Haushalte. 15 Die

überlieferten ältesten Gründungen in Westfalen (1772 / 86) waren in Gebie-ten mit ausgeprägten Nachbarschaften. 16 Seit dem 18. Jh. gewährten Nach-

barschaften ihren Mitgliedern Handhilfe und im Todesfall auch Geldbeihil-

fe nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit. 17 Die Staatsaufsicht im Sinne

der entstehenden Versicherungsmathematik erfolgte zum Unwillen der

Kassen.' 8

Während in England der frühe Anstieg des Lebensstandards die rechen-

hafte Pennyversicherung ermöglichte, gediehen in Deutschland um 1900 die

örtlichen Sterbekassen. 19 In den Großstädten aber verloren die traditions-gebundenen Kassen Boden an große Privat- und Volksversicherungen mit

genauen Rechnungsgrundlagen. Der Liberalismus förderte die Kommerzia-

lisierung des Versicherungswesens durch die Freigabe, Versicherungen

außerhalb des Wohnortes aufzusuchen. Moderne Versicherungen entspra-

chen den mathematischen Anforderungen, dagegen brachten die Mängel

der Umlagefinanzierung bei den Sterbekassen die Behörden auf den Plan.

14 Zur Eigen- und Nachbarschaftshilfe in der Brandversicherung: MechthildSiekmann, Die Brandversicherung im Hochstift Münster 1768-1805. Entstehung,Arbeitsweise, Quellen, in: Westfälische Forschungen Bd. 31 (1981), S. 154-168.

15 Im Sterbefall benachrichtigte die Nachbarschaft rasch den Tischler, der denSarg nach Maß anfertigte. Nach der häuslichen Totenfeier sangen die Kinder aufdem Weg zum Friedhof: „Jesus meine Zuversicht" und „Alle Menschen müssensterben". Heinrich Ottensmeier, Der Mensch unserer Heimat bei Fest und Feier.Sitten und Gebräuche im Jahreslauf und in der Familie, in: Beiträge zur Heimatkun-de der Stadt Löhne Heft 2 (1970) 2. Aufl., S. 35-80, hier S. 66-70. — Zu medizinal-polizeilichen Hygienekonzepten gegen das Ravensberger Brauchtum bei Totenfeiern(Ausstellen im offenen Sarg, Klageweiber und Besingen durch Schulkinder, späteBeerdigung): Schultz-Hencke, Der Regierungs-Bezirk Minden. Eine medicinischeStudie nebst Verwaltungsbericht über das Sanitäts- und Veterinär-Wesen für dasJahr 1875, Minden 1877, S. 64 und 222.

16 Peter Löffler, Studien zum Totenbrauchtum in den Gilden, Bruderschaften undNachbarschaften Westfalens vom Ende des 15. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts,Münster (Westf.) 1975, S. 19.

17 Franz Krins, Nachbarschaften im westlichen Münsterland, Münster (Westf.)1952, S. 69.

18 Vesper, Sterbekassen, S. 436ff.19 Es gab in Preußen 1899 nach einer lückenhaften Erhebung 3.634 Sterbekassen:

1.105 Vereinskassen, 980 Berufssterbekassen und 1.549 allgemeine Kassen. Vgl.Ludwig Arps, Auf sicheren Pfeilern. Deutsche Versicherungswirtschaft vor 1914,Göttingen 1965, S. 134f.

34 Zeitschr. f. d. ges. Versicherungsw. 4

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In nachständischer Zeit bildeten sich in Städten des Herforder Landessozialintegrative Sterbekassen bestimmter Größe, deren Mitglieder die Sta-tuten und eine Eintrittsbescheinigung (Name-Alter-Wohnung-Datum) be-kamen, die zur Erhebung der Sterbegelder legitimierte. 1875 existiertenzwei Kassen in der Stadt Herford und jeweils eine in Vlotho, Bünde undEnger. 20 Die städtischen Sterbekassen des 19. Jhs. trugen Zeichen derRationalität. Die für tausend Personen konzipierte Herforder Kasse mitgeregelter Sammlung plante Sicherheit in schriftlich-rechenhafter Weise. 21

Die Entstehung besonderer Sterbekassen signalisiert, daß Nachbarschaftenzu Kassen wurden. 22

1817 meinte der Bürgermeister von Enger: „Mit der zur Zeit der Westphä-lischen Regierung aufgehobenen ZunftVerfassung sind die bey den Schuh-macher und SchmiedeGewerken früher bestandenen Sterbekassen einge-gangen. Für die Handwerker und nidrigern Classe der Einwohner wäre eszu wünschen, daß eine SterbeCasse etablirt würde." Die Engeraner hatteneinen Vorstand aus Bürgern, Handwerkern und einem Briefträger, einenKaufmann als Rendanten und Heuerling als Kollektanten. Die Sterbekas-sengesellschaft Bünde von 1827, die die Kosten für ein anständiges Begräb-nis der christlichen Einwohner mit Einschluß der Selbstmörder trug, war1892 mit 550 Mitgliedern im „Beharrungszustande". Als die Mitgliedzahlauf unter 500 im Krieg fiel, plädierte Minden für den Zugang Jüngerer undeine höhere Verzinsung, doch in der Inflationszeit ging die Gesellschaft ein.Die 1802 auf Gegenseitigkeit gegründete Begräbniskasse zu Vlotho fandden Beifall der Unbemittelten, die zum Nutzen ihrer Nachkommen miteinem geringen Beitrag für ihre Beerdigung sorgten und aus den geringenÜberschüssen in Notfällen einen Vorschuß bekamen. Als die Kasse seit 1905Einnahmen durch Beitragsausfall und Nachwuchsmangel verlor, aber dieSterbegelder gleichblieben, wurde 1911 die Krise sichtbar, und im Welt-krieg war die Kasse überschuldet.

Personeller Niedergang im Krieg und Zerfall in der vermögensverzehren-den Hochinflation betrafen auch die berufsbezogenen Kranken-, Unterstüt-zungs- und Sterbekassen, die Invaliden-, Witwen- und Waisenpensionskas-sen der (Zigarren-)Arbeiter. Um 1910 existierten 13 solcher Kassen im

20 Statt Einzelnachweise zum amtlichen Schriftverkehr hier die einheitliche Nen-nung des Aktenbestandes für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg: KommunalarchivHerford, Kreis Herford Bestand A Nr. 200, 1028, 1156, 1161, 1162, 1164, 1172, 1173,1180, 1181, 1232, 1335, 1836, 1862 und 2009.

21 Vgl. Herfordischer Sterbekassen=Plan, Herford 1823.22 Zur Modernität von Sterbekassen im Vergleich zu Nachbarschaften und zur

staatlichen Erfassung städtischer Sterbevereine bei Einrichtung von Unterstüt-zungskassen für Arbeiter und Gesellen im Jahre 1845: Wilfried Reininghaus, Westfä-lische Nachbarschaften als soziale Gruppen des Gildetypus. Bemerkungen anläßlichneuer Untersuchungen über Nachbarschaften und Vereine, in: Westfälische For-schungen Bd. 31 (1981), S. 124-131.

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Kreis Herford, darunter vier reine Sterbekassen. Die Gründung dieserSelbsthilfeeinrichtungen ist auch als eine Form der Selbstdisziplinierungzu verstehen. Staat und Bürgertum vertrauten auf die Selbstregulierungdes Marktes und technische Errungenschaften, Vereine und soziale Netze.In der Konkurrenzwirtschaft sollte die wachsende Bevölkerung mit verein-ten Kräften den Pauperismus überwinden.

Krankenunterstützungs- und Sterbekassen für Zigarrenarbeiter warenim industrialisierten Herforder Land vor 1914 verbreitet. 1864 bestandenim Kreis 15 solcher Kassen mit durchschnittlich 1.500 Mitgliedern. Fabrik

-besitzer entrichteten die Hälfte der Beiträge ihrer Arbeiter. Für Zigarrenar-beiter in Mennighüffen entstand um 1900 eine Sterbekasse mit Reserve-fonds, denn die Familien hatten bei Sterbefällen Unkosten, die Schulden-machen und Ausbeutung durch Geschäftsleute veranlaßten. Die Wahr

-scheinlichkeitsberechnung nach der höchsten Sterblichkeitsziffer sollte dieLebensfähigkeit sichern. Der Landrat hielt die Kasse für lebensfähig, dajedermann unter den zahlreichen Neubauern und Zigarrenarbeitern eintre-ten konnte. Aber die technischen Prüfungen fielen eher negativ aus undsignalisierten die Instabilität der Einrichtungen. Die Kranken- und Unter

-stützungskassen im Amt Vlotho gingen in den Kriegs- und Inflationsjahrenformlos ein. Der Sterblichkeitsrückgang durch die sanitäre Reform 23 be-günstigte die Kassen, doch die Währungszerrüttung destabilisierte sie undnivellierte die Vermögen, so daß eine neue Landschaft sozialer Initiativenim Wandel von klassenbezogenen zu sozialintegrativen Kassen entstand.

2. Neuere Sterbekassen

Im 20. Jh. blühten Sterbekassen auf, als nach den verlorenen Kriegenkeine Lebensversicherung mehr schnell genug ihren Leistungen nachkam. 24

Die Perspektive auf Quasi-Versicherungen als spontane Selbsthilfegruppen,die institutionell vernachlässigte Bedürfnisse befriedigten, zum Beispiel inArmutszeiten Haussammlungen für einen Sarg machten, leitet diese Analy-se. Mühselig und zeitbedürftig war der weite Fußweg der Sammler zu denHäusern, aber dann sprach man lange miteinander über Neuigkeiten imDorf.

Das Ravensberger Land war wie das Sauerland übersät mit Nothilfen,die je nach Ortsgröße und Einzugsbereich 100 bis 3000 Mitglieder zählten.

23 Jörg Vögele, Sanitäre Reformen und der Sterblichkeitsrückgang in deutschenStädten, 1877-1913, in: VSWG Bd. 80 (1993), S. 345-365.

24 Zur Modernisierung des Versicherungswesens und Gründungswelle in derHochinflation: Hans Pohl, Versicherungsgeschichte — Wirtschaftsgeschichte — Ver-sicherungspraxis, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft Bd. 67(1978), S. 163-183.

34*

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516 Peter Kottmann

Grabhilfen als erweiterte und formalisierte Nachbarschaften in Stadt undLand waren Vereinigungen von Familien und Personen, die in ihrem Kreiseine Beihilfe zur Beerdigung sammelten. Sie gründeten auf dem gegenseiti-gen Vertrauen und wollten armen Familien bei der würdigen Bestattungihrer Angehörigen helfen. In der Begräbnishilfe war eine soziale Harmoni-sierung im Blick auf den Tod erlebbar. Unternehmer und Bauern, Hand-werker und Arbeiter vereinten sich in Bustedt. 25 Häver gab sich denWahlspruch „Der Eine trage des Andern Last."

Die Ideale der Selbsthilfe und direkten Demokratie bewegten dieseeinfachen Organisationen mit schlichter Namensgebung, die ohne formelleSelbstorganisation und Selbstbeobachtung auf eine prozeßbezogene Koope-ration und geringe Kapitalbeschaffung angelegt waren. Als Quasi-Versi-cherungen waren sie parochiale Gründungen (von Honoratioren) in einerWelt des Mündlichen und verständigungsorientierten Handelns. Das le-bensweltliche Programm war einfach, der Konkurrenz strategischen Han-delns langfristig nicht standhaft und externen Kontrollen ausgesetzt.

In der Hyperinflation entstanden im Herford Land in einer Kettenreak-tion circa 50 Grabhilfen auf Treu und Glauben. Die Haushaltungsvorständezahlten für ihre Familien Groschen ein und gaben dazu ein geringesEintrittsgeld für Papier etc. Dafür boten die Hilfen Naturallieferungen,Dienstleistungen und altersbezogene Beihilfen in Geld — das was Versiche-rungen in Geldleistungen zu transformieren suchten. Wenn sich die Selbst-hilfe organisierte, um die Armenhilfe zu vermeiden, ergaben sich Gestal-tungen, die ein Jahrhundert zuvor Merkmale einer sich ausformendenVersicherungswirtschaft gewesen waren. Als große Versicherungen daseinfache Geschäft aufgaben, schossen Kassen, die rasch eine Umlage auf-brachten, aus dem Boden. Das Land, wo die Sitte den Zwang entbehrlichmachte, war bei den Sicherungsformen des 18. Jhs., bis in der Bundesrepu-blik die örtliche Selbstversicherung verschwand. zs

Als 1922 Angebote über Patentsärge, wiederverwendbare Holzsärge mitinneren Pappsärgen auftauchten, rief die Kirchengemeinde Kirchlengerndazu auf, die Kosten für die Bestattung gemeinsam aufzubringen. Esbrauchte ein ganzes Menschenleben, um das einzuzahlen, was die Kasse

25 Statt Einzelnachweise der Quellen hier die einheitliche Nennung der Serie derAufsichtsakten (20 Jh.): Unverzeichnete Altakten des Ordnungsamtes beim KreisHerford (OAH 463-011/...; kleiner Bestand für die vor 1970 aufgelösten Vereine)und unverzeichnete Akten des Sozialamtes (SAH 52.64-07/...; Hauptbestand).Ergänzend die Generalakten im Staatsarchiv Detmold M1IU Nr. 1304, 1306, 1307und 1751. Die Erinnerungen von Zeitzeugen erweitern die Geschichte der sozialenBewegungen um jene (außer-)alltäglichen Vorkommnisse, die nicht in den Aktenstehen.

26 Ludwig Arps, Durch unruhige Zeiten. Deutsche Versicherungswirtschaft seit1914, I. Teil: Erster Weltkrieg und Inflation, Karlsruhe 1970, S. 346f., 408 und 479.

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Quasi-Versicherungen und der Staat 517

nach kurzer Mitgliedschaft leistete. Der Begräbnis-UnterstützungsvereinLippinghausen schrieb: „Die Entwertung der Mark und die damit Hand inHand gehende fortgesetzte Steigerung aller Lebensbedürfnisse haben aufvielen Gebieten eine Not verursacht, welche nur durch Zusammenschlußaller Kräfte bekämpft werden kann. Besonders gross ist die Not bei eintre-tenden Todesfällen und eine Hauptschwierigkeit bietet die Sargbeschaf-fung, durch die etwa um das dreitausendfache gesteigerten Holzpreise."

Den Typ der erweiterten Nachbarschaft finden wir im Schulbezirk Ha-bighorst. Die Hausväter wollten 1923 den durch Kriegsfolgen und Inflationarm gewordenen Familien helfen. Ein Teil zahlte die Umlage und verzichte-te selbst auf eine Unterstützung. Es war ein loser Zusammenschluß undkein Verein mit Pflichten und Rechten: eine Hilfsgemeinschaft ohne Perso-nal. Die Arbeiten konnte heute der und morgen jener machen. Traditionellkleideten und betteten die Nachbarn den Toten und hielten im Sterbezim-mer Totenwache, bestellten die Ansager und Träger und machten mit demTischler die Einsargung und trugen den Sarg aus dem Haus auf einenLeiterwagen. 27 Die Herforder Uhlandstraße lieferte einen Kiefernsarg mitInnenausstattung und Totenwäsche, übernahm das Sargschließen, stellteSargleuchter mit Kerzen, sowie Sargböcke und schwarze Decke, bezahltedie Träger und die Überführung zur Leichenhalle, die Hallennutzung, denHandtotenwagen und die Sargsenkvorrichtung.

Den versicherungsähnlichen Typ finden wir im Amt Ennigloh. In denDörfern bildeten vier bis sechs Häuser eine Nachbarschaft. Als mit derInflation weder der arme Mann noch der Mittelstand eine Beerdigungbezahlen konnte, wurde anstelle der Kranzspenden das Geld den Hinter-bliebenen für die Beerdigung gegeben. Um die Unterstützung zu verbes-sern, entstanden vier bis fünf größere Nachbarschaften ohne Satzung, undEnde 1922 kam auf Betreiben des Bürgermeisters der Zusammenschluß zur„Hilfe am Grabe e.V.". Der Verein übernahm die Auszahlung der Unter

-stützungen, während die persönliche Hilfe den Nachbarn verblieb. Nunwurden die früher in beliebiger Höhe gezahlten Beträge nach einem be-stimmten Muster umgelegt; die Umlage reichte dann zur Auszahlung meh-rerer Beihilfen.

Von Fall zu Fall gab jeder einige Groschen dem Einsammler, um denSargtischler, Ausstattungshändler und Bestatter mitzubezahlen. Die Kas-sen wurden ehrenamtlich von einem Vorstand geführt, hatten eine Jahres-versammlung und gaben sich eine Satzung. Die Selbstbezeichnung „Hilfeam Grabe" spiegelt das nahe Verhältnis zum Tod wieder. Ihr Selbstver-

27 Vgl. Rolf Botzet, Ereygnisse, Merckwürdigkeyten und Begehbenheyten ausRödinghausen anläßlich der 100jährigen Selbständigkeit des Amtes / der GemeindeRödinghausen, Rödinghausen 1988, S. 106-109.

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ständnis formulierten sie in der Satzung oft so: Selbsthilfe und Nachbar-schaft. In der ersten Notzeit bekamen die Hinterbliebenen einen schlichten

Sarg und nach der Stabilität eher Geld. Im Alltag war die Gegenseitigkeitschwierig: Wer in Muckum eine Beihilfe erhielt, mußte zehn Jahre langzahlen. 1926 sprachen die Bustedter über die Auflösung aber blieben dochzusammen. Statt der bisherigen Unterstützung im Wert eines Sarges warenfortan 100 Mark zu sammeln. Um für mehrere Fälle eine Reserve zu haben,sollte ein Fonds bis zu 300 Mark gebildet werden. Für Bedürftige konnteauf Antrag die Gemeindekasse den Beitrag zahlen.

Die Netzwerke erhielten sich durch die kostenlos mitversicherten Kinderund den Zuzug. Fast jede Familie gehörte dazu; Zugang und Abgangglichen sich aus. Wer nicht beitrat, brauchte später das Einverständnis desVorstandes. Ausgeschlossen waren Ältere und Schwerkranke. Es warenparochiale Gründungen, und dennoch fluktuierten die Mitglieder, denn eswaren teils hochmobile Heuerlinge. Mit der Besserung der Verhältnissetraten in Westkilver einige Bauern aus, die nur Ärmere unterstützen woll-ten. Aber als Lump galt, wer eine Entschädigung annahm und austrat.Nicht jeder dachte an den Tod, wenn er noch jung war und eine Familiegründete. Die Ausdehnung der subjektiven und objektiven Lebenszeit nahmden Grabhilfen ein Argument. 28 Der Einzelne hatte von der Sterbekassenichts, wenn er für sich rechnete und die Familie vergaß. Jüngere dachtennoch nicht ans Sterben („Wir wissen nicht was wird"), doch die Älterenmahnten: „Was die Väter geschaffen haben, sollen die Kinder nicht leicht-fertig aufgeben."

Die Formalisierung der Gegenseitigkeit signalisiert die quantitativenProbleme einer erweiterten Nachbarschaft und zeigt auch den Ord-nungssinn der Menschen. Aber die Ansätze zur Rationalisierung botenzugleich der Aufsicht eine Angriffsfläche. Die Halbherzigkeit in den versi-cherungsähnlichen Prozessen rief die Behörden auf den Plan. Die Novellezum Aufsichtsgesetz von 1931, die Krisenerfahrungen der Versicherungs-branche reflektierte, ließ das Reichsaufsichtsamt selbst über die Aufsichts-pflicht rückwirkend und die Gerichte bindend entscheiden. Berlin konntenun Umlagekassen in Gruppenversicherungen überleiten. 29 Ohnehin gab esbei den Kassen Auflösungstendenzen: Bustedt wollte sich 1933 auflösen,falls die Unterstützung eine gleiche oder ähnliche gesetzliche Regelungfinden sollte.

28 Zum säkularen Wandel von einer unsicheren zu einer sicheren Lebenszeit:Arthur E. Imhof, Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert,unter Mitwirkung von Rolf Gehrmann, Ines E. Kloke, Maureen Roycraft und HerbertWintrich, Weinheim 1990, S. 13.

29 Ludwig Arps, Durch unruhige Zeiten. Deutsche Versicherungswirtschaft seit1914, II. Teil: Von den zwanziger Jahren zum Zweiten Weltkrieg, Karlsruhe 1976,S. 177 und 233.

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Quasi-Versicherungen und der Staat 519

Das Schicksal der Hilfen im NS-Staat war die Erfassung und Regle-mentierung. Ihre Geschichte ist bedeutungsvoll, weil bei der Umstellung

auf technische Grundlagen Sachleistungen wie der Gesang am Grabe nichtin Geld umzusetzen waren. Dem Umbruch entsprachen die Grabhilfendurch ideologische Satzungsänderungen. In der Diebrocker Straße sollteder „Führer" „Maulwürfe aus unseren Reihen verdrängen ". Man begrüßte

die politische Entwicklung in der Hoffnung auf die Überwindung der

Massenarbeitslosigkeit. Endlich scheine auch der alte Traum der Deutschen

in Erfüllung zu gehen, „ein Volk zu werden".

Die sozialgeschichtliche Entwicklung war behäbig. Nach der Krise

brachten neue Erwerbschancen eine Erhöhung der Leistungen und hin undwieder einen Mitgliederzuwachs. Während in der Krise Grabhilfen ihreBedeutung unterstrichen, hatte mit der Vollbeschäftigung fast jeder durchandere Einrichtungen eine Sterbefallversorgung, und es lag kein Grund

mehr vor, aus dem Verein in Enger eine dauernde Einrichtung zu machen.1939 gab es bereits Klagen im Nachbarkreis Lübbecke: „Die Sterbekassen

gehen an Mitgliederzahl immer mehr zurück, weil durchweg nur die älterenLeute versichert sind, so daß die Kassen mit der Zeit zur Auflösungkommen werden." Die Tradition ließ nach im NS-Staat, als die Jugend sichkaum mehr etwas sagen ließ, und die Älteren sich zurückzogen, weil sie die

politische Repression fürchteten. Dagegen konnte die Nachwuchswerbungetwas aufbieten, doch der schlichten Welt der Nachbarschaften gehörte die

Valdorfer Bestimmung an: „Die Hilfe am Grabe tritt nicht werbend auf."

Gegner waren die um Einkommen gebrachten Handwerker. 1935 be-schwerte sich die Herforder Tischlerinnung bei der Handwerkskammer

über Sterbekassen, die auf Vertragsbestatter Druck ausübten, so daß Sarg-lieferungen unter Selbstkosten erfolgten. Die Vereine sollten eigene Sach-

lieferungen aufgeben, doch diese wollten den Toten unbemittelter Familienein würdiges Begräbnis zuteil werden lassen. Mitglieder waren überwie-

gend Arbeiter, Arbeits- und Altersinvaliden, Sozialrentner und ihre Ange-

hörigen, die die bewährte Sachleistung wünschten. So diente die Sammlung

nicht der Schuldentilgung, dem Kleidungskauf und der Bewirtung von

Trauergästen.

Folgenreich waren die Vorbereitungen zur Ausschaltung der Grabhilfen.

Das Reichswirtschaftsministerium wollte eine straff organisierte Versiche-

rungswirtschaft unter einheitlicher Aufsicht und verpflichtete die Regie

-rungspräsidenten auf die Praxis des Aufsichtsamtes. 30 Im August 1934

initiierte das Ministerium unter dem ehemaligen Allianzdirektor Dr.

30 Vgl. Dirk Burger, Der Einfluß der wirtschaftlichen, sozialen und politischenEntwicklungen auf die Entfaltung der Versicherungsaufsicht im neunzehnten undzwanzigsten Jahrhundert. Eine Betrachtung für den Bereich der Individualversiche-rung, Köln 1988, S. 171-173.

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Schmitt eine „Vertiefung der Aufsicht" aus politischen und ökonomischenGründen. „Diese unbeaufsichtigten Versicherungseinrichtungen bilden eineGefahr für die den Versicherungsschutz suchenden Bevölkerungskreise, dasie keine Gewähr dafür bieten, daß die von ihnen in Aussicht gestelltenLeistungen finanziell so gesichert sind, um Schädigungen ihrer Mitgliederfür die Dauer auszuschließen." Veruntreuungen seien vorgekommen undunzulässige politische Bestrebungen unter dem Deckmantel der Unterneh-men verfolgt worden. 31

Die Resonanz auf die politische Verschärfung war neben Protest überleg-te Anpassung. Oetinghausen bearbeitete die Statuten nach der Mustersat-zung für kleinere Versicherungsvereine und bildete einen Fonds. Der An-griff erfolgte auch von Seiten der erstarkten Versicherungen, wenngleichzu scharf für den Staat. Eine größere Versicherung bat das Wirtschaftsmi-nisterium vergeblich um eine Anweisung der Regierungspräsidien, dasAdreßmaterial der bekannt gewordenen Hilfen den Gesellschaften zu ge-ben.

Die Versicherungsnovelle von 1937 gab dem Aufsichtsamt eine autoritäreStellung durch neue Verfahrensvorschriften. 32 Sie berechtigte zur vorbeu-genden Änderung oder Aufhebung der Geschäftspläne, was mit der Ansichteines gedeckten Bedarfes an Versicherungen zur Wirtschaftslenkung paß-te. 33 Berlin war für die Vereinigung der Hilfen, aber die JakobigemeindeHerford verstand sich als informelle kirchliche Einrichtung und ging zurSterbevorsorge der Ev. Versicherungszentrale in Berlin. Der Anschluß anGroße fiel leichter als die Vereinigung mit Gleichen, denen das professio-nelle Element fehlte und die sich im System unterschieden. Diebrockerklärte: Ein Zusammenschluß würde die „bodengewachsene Familiennot

-gemeinschaft" zum „bindungslosen, rechnenden Betriebe" stempeln undeine Kostenerhöhung (hauptamtliche Führung) und Leistungsabnahme fürdie Arbeiter bringen.

1938 klärte der Berliner Versicherungsrat Dr. Wieland im HerforderRathaus mit sieben Vorständen und dem Bürgermeister den Versicherungs-begriff. Aber die Grabhilfen blieben in ihrer Abwehrposition und klagtengegen die Aufsichtsentscheidung. Dr. Wieland erwiderte auf die Diebrocker

31 Zur These der wirtschaftspolitischen Lenkung der NS-Versicherungsaufsicht:Dieter Krüger, Die Reorganisation der Versicherungsaufsicht in Westdeutschland1945-1951, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft Bd. 76 (1987),S. 119-148; ders., Privatversicherung und Wiederaufbau. Probleme der Reorganisa-tion des Versicherungsgewerbes in Westdeutschland 1945 -1952, in: VSWG Bd. 74(1987), S. 514-540.

32 Erich R. Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 2. Aufl. München-Berlin 1958,S. 12f.

33 Vgl. Burger, Entfaltung der Versicherungsaufsicht, S. 180-185; Prölss, Versi-cherungsaufsichtsgesetz, S. 575-581; Vesper, Sterbekassen, S. 459f.

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Klageschrift: Der Gesetzgeber habe zwar den Begriff Versicherung nichtfestgelegt, doch nach einer modernen und hier zutreffenden Definition derVersicherungswirtschaftslehre sei Versicherung „eine Gemeinschaft zumAusgleich zufälligen, schätzbaren Bedarfs mit dem geringsten Aufwand an

Mitteln, die von der Gemeinschaft nach Maßgabe der getragenen Gefahraufgebracht werden." Die Rechtsanwälte konterten, daß das Volk in der

Grabhilfe eine Organisation der Selbsthilfe sehe. Wie in Rechtsprechungund Kommentaren zum Ausdruck komme, seien nachbarliche Hilfskassen

aufsichtsfrei, doch wolle die Behörde neue Tatbestände unter das Gesetz

bringen.

Als 1939 in Lenzinghausen die Mißstimmung wuchs und der Vorstand

die Auflösung erwog, erklärte Minden: Nach Abschluß des Gerichtsverfah-rens werde mit Berlin die Frage der übrigen Kassen besprochen, und mansollte vorläufig nicht die Auflösung beschließen. Da Lenzinghausen vomProzeßausgang nichts hörte, der Schriftwechsel mit Berlin andauerte,Spenge zerfiel und Bardüttingdorf sich der Allianz anschloß, ging man zurAllianz. Aber in Enger kam der Anschluß an eine größere Versicherung für

die alten Leute zu teuer.

Den Alltagserfahrungen der Grabhilfen vertraute Dr. Wieland nicht: Ihresoziale Reproduktion erschien ihm unsicher. „Auf den Zugang jungerMitglieder ist nämlich niemals mit derselben Sicherheit zu rechnen, wie dasAbsterben innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft erfolgt." Zwar akzep-

tierte der Staat den Idealismus aber rechnete mit dem Schlimmsten: Auchdas letzte Mitglied sollte in seinen Erwartungen nicht enttäuscht werden.

1939 sprach Minden die Aufsichtspflicht der Kassen im Sinne Berlins aus,schloß sich aber in der Meinung dem Landrat an, der mit Rücksicht auf dieDorfgemeinschaften für eine Tolerierung war.

Zäh prozessierten die Diebrocker weiter, und ihre Anwälte nutzten in der

Argumentation die NS-Ideologie. Mit dem Zweck der nachbarlichen Ge-

meinschaftshilfe verfolge die Grabhilfe NS-Gedanken und sei in ihremWerk (,Gemeinnutz geht vor Eigennutz') nicht einzuengen. Die Gesetze

seien dazu da, „um dem Volke tatsächlich zu nützen." Doch ließ sich das

Berliner Oberverwaltungsgericht nicht überzeugen und wies Ende 1939 die

Revision der Klage ab: Es gebe Vorschriften selbst über die Sargausstattung

und Totenwäsche; das Zusammenwohnen spreche nicht für ein kamerad-

schaftliches Vertrauensverhältnis und eine kameradschaftliche Hilfelei-

stung.

Im Krieg schwand die bürokratische Überwachung, und die ,Flurbereini-

gung` im Innern stockte. Schon in der Kriegsvorbereitungszeit schrumpfte

das Berichtswesen im Zeichen des Arbeitskräftemangels. Nach Kriegsaus-

bruch verordnete Minden eine Verpflichtung der Grabhilfen für Kriegsto-

desfälle. Die Kontinuität in Sicherheit sollte die innere Front stärken.

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Anfang 1940 wollte Minden das Bedürfnis für das Fortbestehen der Hilfenprüfen. Wenn auch nach dem Ausbau des Versicherungswesens für vielekleine Kassen kein Raum mehr sei, so bejahte doch der Landrat dieBedürfnisfrage wegen der Kriegszeit. Minden klagte über schwer beschaff-bare Prüfungsunterlagen, wo Vorstände beim Heer waren, und stelltewegen der Beunruhigung bei den Kassen und der starken Belastung derBehörde die Arbeiten zurück.

1940 existierten immer noch viele Umlagekassen im Ravensberger Land.Die zurückhaltende Politik diente auch der Befriedigung persönlicher Si-cherheitsbedürfnisse. 1940 berichtete Regierungspräsident Freiherr von

Oeynhausen dem Gauleiter in Münster von 160 Nachbarschaften „Hilfe amGrabe": Sie zu beseitigen oder zu behindern sei nicht beabsichtigt, und einHinausschieben der Bearbeitung sei politisch wünschenswert. Die Aufsichtverlor an Schärfe, als das innenpolitische Kalkül dominierte, die Alltags-probleme des Todes von der Gesellschaft lösen zu lassen. Berlin vereinbartemit Minden, die Arbeiten im Krieg als nicht dringlich zu behandeln.Kriegsdienst und Krankheit der Sachbearbeiter hinderten das Aufsichts-amt an der Stellungnahme zu Mindener Zuschriften.

Die Kassen konnten weiterarbeiten, zumal wenn sie in kriegsbedingtenTodesfällen halfen. Aber es gab keine Zulassungen mehr: Im übersetztenVersicherungswesen sollten sie nicht mehr fusionieren, sondern sich miteiner leistungsfähigen Lebensversicherung verbinden. Das Wirtschaftsmi-nisterium stellte 1941 die Regelung der Aufsichtspflicht zurück, und es kamnicht mehr zu einer Entscheidung über die Grabhilfen. Es war die Einfrie-rung des Bestehenden: Es gab keine Satzungsänderungen mehr und dafürFristverlängerungen für Gutachten und Versammlungen.

Die Vereinfachungsrichtlinien von 1942 vertrauten bei kleineren Verei-nen auf die Selbstkontrolle der Versicherten infolge örtlicher Verbunden-heit. Es ging um den Entscheidungsaufschub bis auf kriegswichtige Verbes-serungen. 1943 kritisierte Berlin die Vermögenskonzentration bei Sparkas-sen mit geringen Zinseinnahmen; die Sterbekassen seien auf die Anlage inReichsanleihen und Reichsschatzanweisungen hinzuweisen. 1944 wies Min-den die Versicherungen an, Arbeitskräfte und Material einzusparen.

Der staatliche Einfluß auf das Schicksal der Grabhilfen war groß, aberder Angriff blieb stecken. Der Einfluß des modernen Versicherungswesenswar spürbar und führte hier und da zu Konzentrationen, doch die Grabhil-felandschaft blieb im Krieg erhalten. Die Modernisierung des Versiche-rungswesens stockte, da die Innenpolitik gegen die eigensinnigen Hilfenerlahmte, als der NS-Staat Krieg führte. Auszehrung und Gestaltwandelder Kassen in der Moderne waren erst ein Zeichen der bundesrepublikani-sehen Gesellschaft.

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In der Nachkriegszeit füllten sich Grabhilfen mit Leben. Gleichsamwiederholte sich die Geschichte: Die Not war groß, die Geldwirtschafterreichte Tiefpunkte, und der Währungsschnitt sensibilisierte die Men-schen. Da die Auszahlungen der Allianz gering waren, nahm Lenzinghau-sen die Versicherung auf Gegenseitigkeit wieder auf. Aber als der Verbandder Lebensversicherer die Auflösung des Gruppenversicherungsvertragesmitteilte, verbot das Zonenamt dem Vorstand Versicherungsgeschäfte aufeigene Gefahr. Das Klima für die Wiederbelebung der Grabhilfen warjedoch günstig. Auf der Bierener Versammlung wurde 1947 ein Antrag derTischler angenommen, daß die Gemeinde Holz für die Särge zur Verfügungstellen möchte.

In der Britischen Zone war für das Reichsaufsichtsamt das HamburgerZonenamt entstanden, das der Logik der Vorausberechnung folgte. 34 Eineharte Aufsicht führte der mathematisch versierte Bearbeiter der Vesper-

schen Sterbekassengeschichte Dr. Slatmann als Leiter der Versicherungs-aufsicht im Düsseldorfer Wirtschaftsministerium für das Land Nordrhein-Westfalen. 35 Allmählich gingen die Kassen unter dem Druck der Aufsichtzugrunde. 1947 wollte der Vorsitzende in Gohfeld die Jahresabschlüssenicht einreichen, weil die Überprüfung der kleineren Versicherungsvereinenach 1933 eingeführt worden sei und daher nicht zu Recht bestehe. Als dieBezirksregierung in Detmold Maßnahmen androhte, gab er nach.

Verspätet wurden die Maßnahmen der NS-Zeit gegen die Grabhilfenvollzogen. 1950 formulierte Dr. Sondermann die Position des Zonenamtes:In der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg waren im Verborgenen versiche-rungsähnliche Kassen entstanden, dann hatte es Klagen über ihr Geschäfts-gebaren gegeben, aber bis zum Zweiten Weltkrieg war eine ,Bereinigung'nicht möglich gewesen. Doch sollten nicht mit staatlicher Billigung weiteBevölkerungskreise zu bestimmten Leistungen in berechtigter Erwartungbestimmter Gegenleistungen veranlaßt werden, mit denen auf Dauer erfah-rungsgemäß nicht zu rechnen war. Ausnahmen bildeten nur die brauchtum-lichen Nachbarschaften im ländlichen Südwestfalen, die in allen Notfällendurch persönliche und materielle Hilfe dem Nachbarn zur Seite traten. 36

34 Zum Bereich Versicherung als klassischem Anwendungsgebiet der Mathematik:Wolf-Rüdiger Heilmann, Die Rolle des Mathematikers in der Versicherungswirt-schaft. Ursprung, Wandel und künftige Herausforderungen, in: Versicherungswirt-schaft Heft 4 (1993), S. 239-244.

35 Vgl. die einseitige Darstellung der Grabhilfen-Proteste aus der Sicht derAufsichtsbeamten: Vesper, Sterbekassen, S. 436-461. Siehe auch: Walter Slatmann,Mathematische Grundlagen für die Umstellung der Lebens- und Rentenversicherungaus Anlaß der Neuordnung des Geldwesens, in: Walter Härte, Währungsreform inder Privatversicherung, Hamburg 1948, S. 33-62.

36 Veröffentlichung des Zonenamtes, Dr. Sondermann, 1950.

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Das Zonenamt bejahte die Aufsichtspflicht der Grabhilfen, wenngleich

die Satzungen den Leistungsanspruch formal ausschlossen. Detmold for-

derte im Sinne des Fortschritts die Umwandlung in Gegenseitigkeitsvereine

und setzte die Aufsichtsverfahren nach dem Reichsmarkabschluß wieder in

Gang. Aber die Hilfen schrieben: Die Masse der Mitglieder falle der

Wohlfahrt zur Last, während die Gesellschaften beim kapitalkräftigen Teil

Kleinsterbegeld-Abschlüsse anstrebten. Die Rechtsprechung habe vor allemim Nationalsozialismus eine Ausweitung erfahren, die dem Totalitätsstre-

ben der Aufsichtsbehörden zu sehr entgegenkommen sei. „Der soziale

Gedanke ist in den Gemeinschaften stärker, als das mißtrauische Zonenauf-

sichtsamt annimmt."

Die Kontrolle deformierte die Nachbarschaften, aber zunächst wartete

Detmold ab und zeigte für die Argumentation der Hilfen Verständnis. Das

Zonenamt erklärte, daß es bei den neuen geschickt abgefaßten Satzungen

auf die kontinuierliche Überprüfung der Praxis als Nothilfe ankomme. Der

Anwalt der Herforder Hilfen betonte, daß in den bewußt kleinen Bezirken

jeder Vertrauensmann die Lage der Betreuten kenne. Doch Detmold hielt

die soziale Selektivität für nicht erwiesen: In der Praxis würden 150 Mark

und mehr in jedem Fall und in meist gleicher Höhe gewährt.

Dr. Slatmann sah in den professionellen Versicherungen die Moderne

verwirklicht und betonte die Todesrisiken und verkleinerte die Nachwuchs-chancen. Die Naturgesetze, nach denen eine Gemeinschaft in Abhängigkeit

von der Altersschichtung absterbe, seien für den Laien schwer übersehbar;erst ihre Anwendung hätte die Tür zum modernen Versicherungswesengeöffnet. Slatmann wollte die Vereine zu ihrem Glück zwingen: sie auf

unbegrenzte Dauer zahlungsfähig erhalten, indem sie — ohne scharfe

Definition eines Versicherungsunternehmens — fallweise zu aufsichts-pflichtigen Unternehmen erklärt wurden. Er erkannte ihre genossenschaft-lichen Elemente, und doch zielte seine Argumentation daran vorbei, daß

die Versicherten zugleich die Versicherer waren. Er unterstellte materielleErwartungen an eine Organisation: Jeder sollte damit rechnen können, daßauch bei seinem Tod das festgesetzte Sterbegeld gezahlt werden konnte. Er

sorgte sich um die Jüngeren, denn die Sterblichkeit stieg mit der Alterung

der Mitglieder. „Auch das in den letzten Jahrzehnten beobachtete Absinkender Sterblichkeit hebt diese Tatsache nicht auf, sondern schiebt den ange-

deuteten Zustand nur in gewissem Maße hinaus ... ". Er stellte die Nach-wuchsfrage in einer Zeit, in der große Versicherungen die kleine Lebensver-

sicherung ausbauten und wirtschaftliche Einflüsse ein Abwandern des

Nachwuchses brachten. „Die Solidität ist auch die Grundlage des Vertrau-

ens des einzelnen Mitgliedes, das die finanzielle Sorge um eine würdige

Bestattung mit ruhigem Gewissen seiner Sterbekasse überlassen kann und

dabei die Gewißheit hat, daß die Kosten der Bestattung die hinterbliebenen

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Angehörigen nicht belasten werden, wenn die Reihe demnächst an ihmist." 37

Verschärft wurde die Aufsicht mit ihrer Neuordnung im Bundesauf-sichtsamt, das über große Versicherungen selbst die Aufsicht führte unddie Beobachtung kleinerer Vereine den Ländern überließ. Dem föderalisti-schen Prinzip des neuen Staates entsprechend beaufsichtigte das Düssel-dorfer Wirtschaftsministerium die Herforder Kassen via Bezirksregierungund Kreisbehörde seit 1954. Die Einstellung der regionalen Instanzen warambivalent: ergeben nach oben und verständnisvoll nach unten. 1954sprach Landrat Griese von der Gefahr, daß Kassen sich auflösen würdenund der Kreis Herford mit Wohlfahrtsmitteln einspringen müßte.

Die Hilfen hatten Inflation und Staatsversagen erfahren und hielten beieiner größeren Vorratshaltung von Geld die Mitglieder für nicht gesichert.Ahle verwarf auch eine Prognose der Sterbefälle, da es hieß: „Alte leben,und Junge sterben!" Der Protest richtete sich gegen die soziotechnischenAspekte der Reform. Die Laarer wollten einander helfen und „den uns vonunseren Vätern überkommenen Geist der nachbarlichen Hilfsbereitschaft"bewahren. Der Widerstand verzögerte die Modernisierung des Versiche-rungswesens nur ein wenig. Hiddenhausen war gegen die Beitragserhöhung:„Wir werden in Zukunft nicht nur keinen Mitgliederzugang aus den Reihender Schulentlassenen haben, sondern unsere jüngsten und jungen Mitglie-der werden ihren Austritt erklären." Aber um den Anspruch auch desletzten Mitgliedes sicherzustellen, verlangte Detmold das Anwartschafts-deckungsverfahren. Die Behörde nehme es damit sehr ernst, habe aberkeinerlei Polizeicharakter sondern sei ein „wohlwollender Helfer der Ver-eine".

Für die Kreisverwaltung pflegten die Hilfen eine Überlieferung undüberstanden zwei Währungsreformen, wünschten keine Geldansammlungund befürchteten eine Besteuerung. Das Ministerium aber begründete dieReform soziologisch: Das Umlageverfahren stelle in der Gründungszeitgeringe Anforderungen führe jedoch mit der Alterung zu steigenden Ko-sten, so daß einige ausscheiden müßten und im Alter schutzlos seien, woraufder Zugang meist ausbleibe und die Auflösung komme. Ein Ebenmaß wollteder Staat: Die Kasse nach der abgerundeten Mustersatzung mit gleichmäßi-gen Beiträgen und hohen Rücklagen, die Jahre mit vielen Todesfällen ohneEntrüstung und Austritte überstand. Doch die Laarer Haushaltungsvor-stände sagten: „Wir machen aus unserer Gemeinschaft keine Versicherung.Man kann unsere Satzung verbieten. Sie wurde uns sowieso während dernationalsozialistischen Diktatur aufgezwungen. Niemand aber wird es uns

37 Walter Slatmann, Die staatliche Versicherungsaufsicht in der Praxis, Düssel-dorf 1953, passim.

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verwehren können, dem Nächsten zu helfen, wenn uns unser Herz treibt,das zu tun."

Vor die Wahl gestellt, sich umzustellen oder aufzugeben, lösten sich vieleGrabhilfen auf. Komplex waren die Ursachen im Einzelfall. Bieren zerfiel,da Nachwuchs fehlte, Not nicht mehr bestand und Jüngere bei der Volks

-fürsorge waren. Als 1955 die Aufsichtsentscheidung gegen Mennighüffenfiel, sagten die Rechtsanwälte: Daß die Grabhilfe nur geldliches Denkenzur Grundlage haben sollte, dafür sei sie den Menschen viel zu heilig.Düsseldorf aber wollte die Rechte der Versicherungsnehmer gegen einenMißbrauch der Machtstellung der Versicherer schützen.

Es war die eigene Sicht der Dinge, die den Konflikt schürte. Der Staatbehauptete seine Kompetenz, indem er Grabhilfen als Versicherungendefinierte, Versicherte und Versicherer trennte und so eine Privatrechtsge-sellschaft definierte, deren Konflikte und Krisen er zu meistern suchte.1959 verwies zwar das Oberverwaltungsgericht Münster auf den wissen-schaftlich ungeklärten Begriff Versicherungsgeschäft und Versicherungs-unternehmen und ließ so eine Lücke für Vertrauensgemeinschaften, die aufdie Verrechtlichung von Unterstützung verzichteten. Aber das Ministeriumkritisierte das Urteil: Es sei „dem Staat die Pflicht besonderer Fürsorge"auferlegt, weil der Einzelne gerade im „Zeitalter der Massengesellschaft"sich selbst kein Urteil darüber bilden könne, welchen Unternehmen er seinVertrauen schenken dürfe.

Als Mennighüffen das Landesverwaltungsgericht anrief, erklärten dieAnwälte: Kein Staatsbürger, der sich mit Gleichgesinnten zu edlem Han-deln zusammentue, gebe Veranlassung, sich beaufsichtigen zu lassen,„wenn alle Beteiligten gleichen Sinnes und gleichen Herzens sind." Mitegoistischen Erwägungen, die heute die Menschheit zu sehr erfüllten, wolleman nichts zu tun haben, und mit versicherungsähnlichen Bestimmungenwerde der Geist der Nächstenliebe ausgeschaltet und ein kaufmännischerBetrieb aufgezogen. „Sie selbst wollen, weil einer den anderen kennt, indieser schönen Vereinigung in der Ruhe weiterleben, in der sie bisher gelebthaben. "

Der Staat leitete den Niedergang der Hilfen in den 50er Jahren ein, unddie wiederaufsteigenden Versicherungen drängten sie in eine Nebenrolle.Die jungen Leute kamen nicht nach sondern gingen zu Lebensversicherun-gen. Viele Laarer waren bei einer Gesellschaft versichert und gehörten nochzur Grabhilfe, um denen zu helfen, die sich selbst nicht mehr versichernkonnten. Sie waren dazu nur in der billigsten Form bereit und machten beieiner Umwandlung in eine Versicherung nicht mehr mit. Sie waren sich derHilflosigkeit der alten Menschen bewußt aber wollten die vorgegebeneFürsorgepflicht der Behörden ad absurdum führen. In Bonneberg gingendie Überlegungen in die andere Richtung: Der Vorstand akzeptierte die

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Umstellung auf technische Grundlagen (40 Pfennig im Monat), da so vielealte Leute lange bezahlt und noch nichts erhalten hatten.

In den Herforder Grabhilfen waren vorwiegend Minderbemittelte; eswurden auch Externe bei dringender Bedürftigkeit mit Geld oder Sachwer-ten unterstützt. Für das Ministerium war eine individuelle Prüfung derBedürftigkeit nicht erkennbar, dagegen eine Vermögensbildung nach tech-nischen Methoden und ein Rechtsanspruch auf die stetigen Leistungendeutlich. Doch Sundern beklagte den Verfall der Verantwortung als Vorbo-te der „Zerstörung unserer gesellschaftlichen Ordnung" und betonte dieethischen Werte gegenüber der Sicherung materieller Ansprüche durch einBeitragssystem.

Die Nothilfen waren gegen die Reform, um nicht durch eine dritteInflation Rücklagen zu verlieren. Einen einprägsamen Brief mit Zeitkoloritschrieb 1957 der Hiddenhausener Kassierer. „Im Jahre 1948, in der Wocheals allen Bürgern der Bundesrepublik 40,— Deutsche Mark ausgezahltwurden, mit diesem Gelde aber niemand einen Toten beerdigen konnte,hüllten sich alle Lebens- und Sterbeversicherungen und auch Behörden in

tiefes Schweigen. Die Hilfe am Grabe in Hiddenhausen hatte aber in dieserWoche 2 Sterbefälle und konnte dank ihrer Umlage für jeden Fall volle300,— DM auszahlen. Unter den geschilderten Umständen gibt es keinWunder, daß der Neid aller Lebens- und Sterbeversicherungen erwecktwird und die Agenten dieser Versicherungen sich wie Wilddiebe auf unsereMitglieder stürzen, allerdings ohne Erfolg."

Der Staat spannte die unteren Behörden in die laufende Aufsicht derörtlichen Kassen ein, und die juristischen Kommentare folgten der harten

Linie in der Tradition der Reichsaufsicht: grenzten die Aufsichtsfreiheit einauf beliebige Zuwendungen im engen Kreis bei altruistischem Motiv. 38 Bald

stellten die verbleibenden Grabhilfen selbst Berechnungen an. Hiddenhau-sen wollte 1958 wissen, wie hoch die Rücklage sein sollte und rechnete sichaus: Buchen wir jährlich DM 1.000 zu der Rücklage und kommt keineInflation, haben wir nach 50 Jahren eine Rücklage von DM 50.000.

Die soziologische Entwicklung ist spannend. Da sich Austritte junger

Leute in den 60er Jahren häuften, sank der Nachwuchs aus den eigenenReihen. Beiträge mußten steigen und Zinserträge dazukommen, die von deraktiven Bevölkerung erbracht waren. So stiegen die Vermögen, und die,Versicherungsidylle` aus dem kulturellen Erbe des Patriarchats standgegen die Selbständigkeit im Denken junger Leute, die nicht schon für dieZeit nach ihrem Tod sorgen wollten und aus dem Dorf gingen. Aber dieAlten gedachten der Gründer und machten ihre langen Wege bei denSammlungen.

38 Vgl. Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, S. 102-105.

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1961 stellte sich die Nachwuchsfrage, doch soziale Einflußnahme nütztewenig. Herringhausen versuchte nahezu erfolglos wegen der Vorteile öf-fentlicher Versicherungen, die Eltern zu veranlassen, ihren Einfluß geltendzu machen. Die intensivierte Mitgliederwerbung signalisiert das gestörteGenerationenverhältnis nach der Armut. Schließlich gab es noch jenewenigen Grabhilfen, die den Sicherheitsanforderungen standhielten und imLaufe der Jahre Geldpolster für interessante Leistungen bildeten.

Der Prozeßverlust in Mennighüfferi brachte die Logik der Akkumulation,und Jugendliche zahlten monatlich 50 Pfennig und Erwachsene 90 Pfennig.Aber Dünne wollte keine ermäßigten Beiträge für Jüngere. Ein System, dasjungen Leuten Vorteile bot, lehnten Ältere mit langjähriger Zahlung ab.Den staatlichen Vorschlag, für Jüngere das Sterbegeld zu erhöhen, empfandStift-Quernheim als ungerechte Benachteiligung der Älteren. Detmold er-klärte 1964 den Sachbearbeitern der Kreise: Die betreuten Kassen sträub-ten sich gegen jede Einmischung, aber Beratung bei der Beitrags- undSterbegeldstaffelung sei erforderlich. Laufend würden Staffelungen abge-lehnt, anscheinend weil die älteren Vorstände glaubten, damit würde ihnenetwas genommen. Wenn im Konkurrenzkampf die Kassen bestehen wollten,müßten sie mit einem zeitgerechten Tarif etwas bieten. Während die Ehredes Alters für die Kassen eine Rolle spielte, stellte der Staat die Nach

-wuchsfrage. Detmold bemerkte zur Aufnahme von Älteren: Die Beiträgeständen in keinem Verhältnis zu den Kosten im Todesfall, und es werdeeine noch ungünstigere Altersschichtung erreicht, woraus sich in vielenFällen der Widerstand der Jüngeren ergebe.

Das Denken der Grabhilfen lag jenseits von Nutzenüberlegungen. Dieunbemittelten Frauen im Altersheim Herford Goltzstraße wurden von derUhlandstraße aus sozialen Erwägungen nicht zur Umlage herangezogen.Doch mit der Zeit zog geldliches Denken in die Grabhilfen ein. Quernheimsprach bei schleichender Inflation von Streichungen und Austritten, fallsdas Sterbegeld nicht wesentlich erhöht würde. Die verbliebenen HerforderGrabhilfen kamen 1966 als Quasi-Versicherungen auf Weisung des Ministe-riums unter Aufsicht: Bei den hohen Mitgliederzahlen in Stiftberg (2.714),Falkstraße (1.618) und Diebrockerstraße (1.875) könnte von einer menschli-chen Bindung nicht gesprochen werden. Ihr Anwalt erläuterte den Staats-beamten den Sinn der Vereinigungen: Es sei die Mentalität des Minden-Ravensberger, ein starkes Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und sich denNotlagen des Mitmenschen anzunehmen; es gebe einen gewissen „Stolzdieser Menschen, erst zuletzt den Staat in Anspruch zu nehmen, nachdemer erfolglos versucht hat, sich selbst zu helfen."

Als 1966 ein technisch einwandfreies Beitrags- und Leistungssystemoktroyiert wurde, beschloß die Grabhilfe Bürgerschule Falkstraße undAltstadt ihre Auflösung. Der Vorstand war nicht zu der notwendigen

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Mehrarbeit bereit. Bei stabiler Währung ersetzten auch Privatguthaben dienachbarlichen Fonds. Arbeiterfamilien trugen erkleckliche Weihnachtsgel-der auf Sparbücher, es gab auf dem Land die eigene Vorsorge mit einigentausend Mark, und so florierten die Geldinstitute mit der Sparsamkeit derRavensberger. Nach den Rentenanhebungen hatten viele Ältere genügendGeld und sorgten testamentarisch vor. Allmählich verwandelten sich Grab-hilfen zu Kapitalsammelstellen für das Kreditgewerbe, dessen Erträge eineAnonymisierung der Generationenbeziehungen ermöglichten.

Die versicherungstechnische Reform führte zu erheblichen Rücklagen,die teils für den Kapellenbau verwandt wurden. Sundern wollte der Ge-meinde 20.000 Mark zum Bau einer Leichenhalle leihen. In den 60er Jahrenkam es zur kräftigen Leistungserhöhung der umgestellten Kassen, zumalsteigende Zinserträge den Mitgliederschwund kompensierten. Gemein-schaftsgefühl und Selbstbehauptung charakterisierten die Grabhilfe Men-nighüffen, während viele andere Vereinigungen spätestens seit den 60erJahren Prozessen der Alterung und Auszehrung unterlagen. Der Staatplädierte für das altersgerechte Leistungssystem, und hin und wieder kamauch Nachwuchs, doch herrschte Niedergang vor. Diebrock betonte dasgünstige Verhältnis des Beitrages zum Sterbegeld. „Jugendliche sollten sichdaher ihre Austrittserklärung wohl überlegen."

Den Entwicklungspfad der Grabhilfen kennzeichnete eine Optimierung,die das Überleben bei steigenden Anforderungen ermöglichte. Es kam dasEinzugsverfahren mit Zahlscheinen für ein Sparkonto, während früher nurim Todesfall von Haus zu Haus zu sammeln war. Der Selbstbehauptungs-wille äußerte sich in der Auffassung, daß die Auflösung der QuernheimerKasse sich örtlich auf den Landtagswahlkampf auswirke. Der Schwunddurch Austritte und dann nur noch durch Tod prägte die Entwicklung, diedurch Treue zu einer Tradition aus Notzeiten hinausgezögert war. Vieledachten bei gestiegenem Lebensstandard an große vielversprechende Versi-cherungen bei erhöhtem Berufs- und Unfallrisiko.

Nach den Auflösungen kam 1974 die liberale Wende mit dem Änderungs-

gesetz über die Versicherungsaufsicht. Nun konnte Detmold kleinere Verei-

ne von der laufenden Aufsicht freistellen, wenn nach der Art der Geschäfteeine laufende Beaufsichtigung zur Wahrung der Belange der Versichertennicht erforderlich erschien. Diese Voraussetzungen konnten bei Vereinenmit örtlich begrenztem Wirkungskreis, geringer Mitgliederzahl (bis 500)und geringem Beitragsaufkommen (bis 10.000 Mark) vorliegen. Es wurde

wegen des engen Kontakts unter den Mitgliedern und der einfachen Ge-schäfte eine ausreichende Selbstkontrolle für möglich gehalten — wie schonim Zweiten Weltkrieg. Die Valdorfer aber erinnerten sich an den mühevol-

len Schriftwechsel in den 50er Jahren und meinten, ,,daß für die Sterbekas-se heute keine Veranlassung besteht, die Behörde aus der Aufsichtspflicht

zu entlassen!"

35 Zeitschr. f. d. ges. Versicherungsw. 4

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Nun prosperierten jene Kassen, die den Berechnungen folgten. Mathema-tiker regten eine hochverzinsliche Kapitalanlage an, und manches Jahrdeckten die Zinsen die Sargkosten zum Erstaunen der Versammelten.Schließlich wandelten sich die Vereine zur gemütlichen Cafe-Runde. Um1990 existierten im Kreis Herford noch sieben Sterbekassen mit 260 bis1.350 Mitgliedern, 2.500 bis 13.900 Mark Beitragseinnahmen und Bilanz-summen von 50.000 bis 250.000 Mark. Heute sichern Menschen ihre Grab-pflege durch Spareinlagen zur Verfügung der sich kümmernden Verwand-ten. Wenn diese fehlen oder sich versagen, tritt an ihre Stelle die HerforderGesellschaft für Dauergrabpflege Ostwestfalen, der es um eine Dauerpflegeder Ruhestätte nach dem letzten Willen der Menschen geht.

Grabhilfen gehörten zur vergangenen Welt des gegenwärtigen Todes undSorge um ein würdiges Begräbnis. Es gab die Totenfeier im Hause mitAndacht, die nachbarlichen Leichenbitter und Sargträger. Es waren spar-same Zigarrenarbeiter, die das Geld zusammenlegten für ihre Beerdigungdurch die Familie. Die parochialen Einrichtungen erlebten ihren Aufstiegin den 20er Jahren, als Versicherungssysteme dysfunktional wurden, blie-ben bis zum Weltkrieg im Gleichgewicht und verfielen unter dem Druckdes Staates und der Austrittswelle durch eine Jugend mit modernen Beru-fen und Werten. Nachbarschaften verloren ihre essentiellen Funktionen anInstitutionen und Unternehmen, während die freudigen Verbindungenüberdauerten. Aus Treue zum Vereinswesen überlebte manche Grabhilfeund pflegte die Kultur: Man hörte einen Vortrag über die „Bestattungssit-ten im Wandel der Zeit".

Sterbekassen zerfielen leicht, weil die Ehrenämter den Männern im Ortim Alter schwerfielen. Die Versicherungen in der Massengesellschaft hätteneher das letzte Dorf erreicht, wenn nicht die Systemkrisen eine Renaissanceörtlicher Nothilfen hervorgerufen hätten. Aber die Grabhilfen wichen wie-der dem Projekt der Moderne, denn der Staat bewahrte die Erinnerung anihr Versagen auf lange Sicht. Der Nährboden der Aufsicht war die Imagina-tion des Konfliktes zwischen ,Versicherern' und ,Versicherten`, während dieHilfen die Eintracht zu leben versuchten und viel taten: leicht die Grabstei-ne rüttelten, um ihre Standfestigkeit zu prüfen. Die Reform fand ihrenWiderstand im Ravensberger Land, aber die Mathematik drang in dieseWelt ein und machte sie berechnender.