kalkaneusfrakturen
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Dislozierte Kalkaneusfrakturen sindaufgrund der komplexen Anatomie undschwierigen Weichteilsituation als Pro-blemfrakturen zu behandeln. Der Kal-kaneus nimmt die zentrale Rolle bei derLastübertragung ein. Mit 4 Gelenkflä-chen artikuliert er mit dem Talus im un-teren Sprunggelenk und dem Kuboid(Abb. 1). Die Form und die Knochen-struktur sind durch asymmetrische me-diale Lasteinleitung und den nach me-dial offenen Winkel zwischen den Längs-achsen von Talus und Kalkaneus geprägt[2]. Deshalb sind die mediale und sus-tentaculäre Kortikalis kräftig, die der la-teralen Wand dagegen sehr dünn. DieSpongiosa unter der posterioren Facetteist auf einer Dicke von etwa 1 cm hochverdichtet. Unterhalb des Sinus tarsi istein Dreieck mit sehr wenig Spongiosa(„neutrales Dreieck“) [4]. Eine festeBandverbindung zwischen Sustentacu-lum tali und Talus bewirkt, dass dasSustentaculum bei Frakturen nahezuimmer „am Ort“ bleibt.
Verliert der Kalkaneus seine Formund Länge, werden die Kraftübertra-gung des Triceps surae und die Span-nung der Plantaraponeurose gemindert– Folgen sind der Einbruch des Fuß-längsgewölbes, ein posttraumatischerPlattfuß und ein Verlust der abfedern-den Funktion der Plantaraponeurose,die Energie speichern und wieder abge-ben kann.
Unfallursachen sind v. a. der Sturzaus größerer Höhe und Verkehrsunfäl-le.
Art und Ausmaß der Fraktur sindabhängig von der Stellung des Fußes
zum Zeitpunkt des Unfalls, der Kno-chenqualität und der Größe der einwir-kenden Gewalt.Die primäre Frakturliniewird durch den Processus lateralis talibestimmt, der wie eine Axt in den Kal-kaneus hineingetrieben wird [3, 5]. Se-kundäre Frakturlinien können bei fort-gesetzter Krafteinleitung entstehen. So-
Trauma und Berufskrankheit 3 · 2001 223
Trauma Berufskrankh2001 · 3: 223–226 © Springer-Verlag 2001 Standards in der Unfallchirurgie
Michael Ernst Wenzl · Stefan Fuchs · Christian Jürgens · Dietmar WolterAbteilung für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, BG-Unfallkrankenhaus Hamburg
Kalkaneusfrakturen
Dr. Michael Ernst WenzlAbteilung für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,BG-Unfallkrankenhaus Hamburg,Bergedorferstraße 10, 21033 Hamburg,E-Mail: [email protected],[email protected],Tel.: 040-73062456, Fax: 040-73062403
Zusammenfassung
Es wird ein Überblick über die Diagnostikund Therapie der Kalkaneusfrakturen gege-ben, wobei auf die Anatomie und Biomecha-nik, die Frakturpathologie, die bildgebendenVerfahren und die gebräuchlichen Klassifika-tionen eingegangen wird. Konservative undoperative Therapieoptionen werden unterBerücksichtigung von Indikation,Technik,Nachbehandlung, Komplikationen und Fol-geeingriffen aufgezeigt.
Schlüsselwörter
Kalkaneusfrakturen · Klassifikation ·Operative Therapie · Konservative Therapie
Abb. 1 � Ansicht auf den Kalkaneus von oben
mit finden sich häufig 4 Hauptfragmen-te:
∑ anteromediales sustentaculumtragen-des Fragment
∑ posterolaterales oder Tuberfragment∑ posteriores Facettenfragment∑ Processus-anterior-Fragment
Sämtliche Knochenstücke können auchin sich noch mehrfach brechen. Bedingtdurch den Weichteilzug kommt es zueiner Verkürzung und Verbreiterung des Kalkaneus sowie zu einer Varusfehl-stellung. Der Tubergelenkwinkel wirdverringert, und damit wird die Gesamt-höhe des Kalkaneus gemindert. Die la-terale Wand ist „ausgebuchtet“ mit Be-hinderung der Peronealsehnen und An-stoßen der Außenknöchelspitze am Kal-kaneus.
Diagnostik
Pulsstatus und Neurostatus werden fest-gestellt, ggf. werden auch eine Doppler-sonographie und Kompartmentdruck-messung durchgeführt.
Das OSG wird in 2 Ebenen geröntgt,zum Vergleich erfolgen Röntgenaufnah-men der Gegenseite im seitlichen Strah-lengang.
Die CT wird in koronarer und ggf.in axialer Schichtung mit zweidimen-sionaler Rekonstruktion vorgenommen,die Kernspintomographie kommt seltenzum Einsatz.
Begleitende Wirbelsäulenverletzun-gen werden in 20% der Fälle gefunden,im Bereich der unteren Extremitätenund des Beckens werden ebenfalls häu-fig Begleitverletzungen diagnostiziert.
Während der Operation wird mitRöntgenbildverstärker gearbeitet.
Klassifikationen
Auf Basis der Röntgenuntersuchung wirdnach Böhler [1] und Essex-Lopresti [5]klassifiziert. Unterschieden werden
∑ extraartikuläre Frakturen und∑ intraartikulären Frakturen.
Letztere werden noch unterteilt in
∑ „tongue-type“∑ „joint-depression-type“∑ „comminuted type“
Auf der Basis der Computertomogra-phie werden die Klassifikationen nachSanders [7] und Zwipp et al. [9] ange-wendet. Bei letzterer wird der Kalkaneusin 5 Hauptfragmente und 3 Gelenkeunterteilt. Bei der Gesamteinschätzungdes Schweregrads der Fraktur werdennoch der Weichteilschaden und eineeventuell vorliegende mehrfache Frak-turierung eines der Hauptfragmente be-rücksichtigt (Abb. 2).
Konservative Therapie
Indikation
Undislozierte Kalkaneusfrakturen mitAusnahme der Entenschnabelfrakturwerden konservativ therapiert, ebensoalle operationswürdigen Frakturen mitKontraindikationen für die operativenTherapie.
Kontraindikationen
Kontraindikationen sind:
∑ Kompartmentsyndrom (Faszienspal-tung)
∑ offene Frakturen [mindestens Abstrich-entnahme zur Keim- und Resistenzbe-stimmung,Wundversorgung, Refobacin-miniketteneinlage (Septopal®) undDrainage]
∑ Gefäßschäden (Rekonstruktion)
Therapiemaßnahmen
Zur Therapie werden eingesetzt:
∑ abschwellende Maßnahmen (Hoch-lagerung, Antiphlogistika, milde elasto-kompressive Wickelung, Kühlung; dor-sale Unterschenkelgipsschiene zur Ru-higstellung und Spitzfußprophylaxe)
∑ Thromboseprophylaxe∑ nach Weichteilkonsolidierung frühfunk-
tionelle Therapie∑ Kompressionsstrumpf Klasse II∑ ggf. Lymphdrainage∑ Entlastung an Unterarmgehstützen
oder im maßgefertigten Unterschenkel-gehapparat für etwa 6–8 Wochen; da-nach Teilbelastung mit 10 kg Körperge-wicht für 4–6 Wochen;Vollbelastungnach etwa 12 Wochen
∑ ggf. Anpassen von umfassend gewalk-ten Kork-Leder-Einlagen oder von or-thopädischem Schuhwerk.
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Standards in der Unfallchirurgie
M. E.Wenzl · S. Fuchs · C. Jürgens · D.Wolter
Fractures of the calcaneus
Abstract
The diagnosis and therapy of calcaneal frac-tures are reviewed with details of anatomyand biomechanics, fracture pathology, radio-graphic and computer tomographic evalua-tion, and the classification systems in currentuse. Operative and conservative treatmentoptions are highlighted with reference to theindications for each and the techniques andpostoperative therapy required, the possiblecomplications, and the revision proceduresfor their correction.
Keywords
Fractures of the calcaneus · Classification ·Operative therapy · Conservative therapy
Trauma Berufskrankh2001 · 3: 223–226 © Springer-Verlag 2001
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Hier sind zu nennen:
∑ sekundäre Dislokation nach zu früherBelastung oder nach funktionellerTherapie
∑ Übersehen eines Kompartmentsyn-droms
∑ thrombembolische Ereignisse∑ bei konservativer Therapie dislozierter
Frakturen Defektheilung mit Fehlstel-lung und Belastungsinsuffizienz
Operative Therapie
Indikation
Dislozierte extra- und intraartikuläreFrakturen sowie offene Frakturen wer-den operativ behandelt.
Kontraindikationen (für offene Reposition und interneOsteosynthese)
Kontraindikationen sind:
∑ ausgeprägter Haut- und/oder Weich-teilschaden
∑ Diabetes mellitus∑ periphere arterielle Verschlusskrankheit∑ konsumierende Erkrankungen oder
chronische Infektionen∑ Alter und Aktivitätsniveau
∑ Alkoholabusus u. a.
Aufklärung
Es muss aufgeklärt werden über
∑ Operationsverfahren, ggf. autologeSpongiosaplastik
∑ allgemeine Komplikationen (Nachblu-tung, thrombembolische Ereignisse,Bluttransfusionen)
∑ operationsspezifische Komplikationen(s. unten)
∑ Folgen des konservativen Vorgehensbei dislozierten Frakturen (Defekthei-lung; Anschlussarthrosen bei Fehlstel-lung; chronisches Schmerzsyndrom beiBelastung)
∑ mögliche Arthroseentstehung mit Be-lastungsinsuffizienz im unterenSprunggelenk und Kalkaneokuboidal-gelenk auch bei anatomischer Reposi-tion, da abhängig vom Ausmaß derFraktur evtl. nur eine Teilrepositionmöglich ist
∑ Folgeeingriffe (Materialentfernung,Arthrodesen, plastisch-chirurgischeMaßnahmen)
Operationsvorbereitung
Es muss innerhalb von 4–6 h operiertwerden, ansonsten nach Abschwellung(meist nach 6–10 Tagen). Es ist keine be-sondere Operationsvorbereitung nötig.
Anästhesie und Lagerung
Es wird in Allgemein- oder Spinalanäs-thesie (cave: ggf. Spongiosaentnahmeaus vorderem Beckenkamm) in Rücken-lagerung mit gebeugtem Knie und freiemFuß operiert. Alternativ ist Seitenlage-rung auf die unverletzte Seite möglich.
Operationstechnik
Interne Fixation
Im Allgemeinen wird offen reponiertund intern fixiert. Als Standardzugangwird der erweiterte laterale Zugang ge-wählt [8].
Ziele der internen Fixation sind:
1. Korrekte Reposition des Subtalargelenks2. Wiederherstellung der Fersenkontur in
Bezug auf die Länge, die Breite und denTuber-Gelenk-Winkel, zur Gewährleis-tung einer korrekten Funktion des Tri-ceps surae und einer Spannung derPlantaraponeurose!
3. Aufhebung der Vorwölbung der latera-len Wand zur Vermeidung eines Pero-nealsehnenimpingements und einesAußenknöchelkontaktsyndroms
4. Anatomische Reposition des Kalkaneo-kuboidalgelenks
Es wird ein Hautschnitt von der Basisdes 5. Mittelfußknochens, parallel zur
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Abb. 2 � Klassifikation der Kalka-neusfrakturen nach Zwipp et al. [9]:Die regulären 5 Hauptfragmenteentsprechen: 1 sustentaculäres,2 tuberositäres, 3 posteriores Facet-tenfragment, 4 Processus anterior,5 anteriores Facettenfragment. Die 3Gelenke entsprechen dem hinterenSubtalargelenk, dem Kalkaneokubo-idalgelenk und dem vorderen Subta-largelenk, aus Zwipp et al. [9]
Fußsohle fersenwärts bogenförmig hin-ter die Fibula vorgenommen.Die Schnitt-führung erfolgt senkrecht auf den Kno-chen (cave: Peronealsehnen und N. su-ralis).Auf diese Weise wird ein komplet-ter Einblick in das untere Sprunggelenkgewährt, evtl. auch das Kalkaneokuboi-dalgelenk nach Mobilisierung der Pero-nealsehnen dargestellt. Der Fettkörperhinter der Achillessehne wird ggf. zurPalpation der medialen Wand und desSustentaculums reseziert. Die lateraleWand des Kalkaneus wird abgehoben,die posteriore Facette repositioniert undtemporär mit Kirschner-Drähten fixiert.Die Verkürzung und Varusfehlstellungwerden z. B. durch eine Schanz-Schrau-be im Tuberfragment, die als „Joystick“benutzt wird, beseitigt. Das Reposi-tionsergebnis wird temporär mit Dräh-ten fixiert.
Es wird eine stabile interne Osteo-synthese durchgeführt, wobei als mög-liche Implantate
∑ H-Platte,∑ AO-Platte nach Sanders (Fa. Synthes),∑ Low-contact-Platte aus Ulm oder∑ Titan-Fixateur-interne-System,TiFix®
(Fa. Litos, Hamburg), mit einer winkel-stabilen Schrauben-Platten-Verbindung
in Frage kommen. Bei größeren Defek-ten werden ggf. eine autologe Spongio-saplastik (Entnahme aus dem gleichsei-tigen vorderen Beckenkamm, bei Seiten-lage auch dem hinteren Beckenkamm)oder ein kortikospongiöser Knochen-block eingesetzt. Intraoperativ erfolgt ei-ne Antibiotikaprophylaxe,evtl.wird eineRefobacinminikette (Septopal®) einge-legt.
Externe Fixation
Bei der externen Fixation besteht dasProblem des Pininfekts. Die externeFixation wird ggf. mit Schrauben oderKirschner-Drähten kombiniert. Bis zurdefinitiven internen Versorgung durchmediale Klammer erfolgt eine temporä-re Fixateur-externe-Anlage.
Nachbehandlung
Wundkontrollen und Verbandswechselerfolgen täglich. Es wird für 6 Wochenentlastet, anschließend kann für weitere
6 Wochen mit 10 kg Körpergewicht teil-belastet werden.Ansonsten wird wie beider konservativen Behandlung vorge-gangen.
Komplikationen
Häufige Komplikationen sind:
∑ Wundheilungsstörung (bis 20%)∑ Fersenbeinosteitis∑ Nervenläsion (N. suralis oder dessen
Äste, N. tibialis)∑ sekundärer Korrekturverlust∑ Pseudarthrose (selten; besonders bei
frühsekundärer Versorgung)∑ Peronealsehnenimpingement∑ Außenknöchelkontaktsyndrom∑ Tarsaltunnelsyndrom∑ Arthrose im USG und Kalkaneokuboi-
dalgelenk∑ Anschlussarthrosen im OSG und der
Fußwurzel
Folgeeingriffe
Als häufige Folgeeingriffe sind zu nen-nen:
∑ Metallentfernung nach 6–12 Monaten,u. U. auch früher, bei Beschwerden
∑ Arthrodesen im USG oder Kalkaneoku-boidalgelenk oder Tripelarthrodese
∑ Teilresektion der lateralen Kalkaneus-wand und Tenolyse bei Peronealsehnen-impingement bzw. Außenknöchelkon-taktsyndrom
∑ selten Osteotomie und Stellungskorrek-tur, evtl. in Kombination mit Arthrodesedes USG
Berufliche Rehabilitation
Bei schwerer und schwieriger körper-licher Tätigkeit (z. B. Maurer oder Dach-decker) können frühzeitig eine Umschu-lung oder weiterqualifizierende Maß-nahmen nötig werden.
Begutachtung
Gesetzliche Unfallversicherung
Es werden folgende MdE bewertet:
∑ Unter 10 v. H. bei guter, anatomiege-rechter Ausheilung ohne Funktionsmin-derung
∑ Bis 40 v. H. bei dystropher Extremitätoder Fersenbeinosteitis [6]Die häufigste MdE ist 20 bzw. 30 v. H.,abhängig v. a. von der Beweglichkeit imoberen und unteren Sprunggelenk, derFehlstellung und den Arthrosezeichen
∑ Bei beidseitigen Frakturen ist in Aus-nahmefällen eine MdE bis 70 v. H. mög-lich.
Private Unfallversicherung
Bei ausschließlicher Betroffenheit desFußes erfolgt die Einschätzung nachFußwert von 1/3–3/5; ansonsten wird ab-hängig von den Befunden mit bis zu 4/7Beinwert bewertet.
Literatur1. Böhler L (1931) Diagnosis, pathology and
treatment of fractures of the OS calcis. J BoneJoint Surg 13:75–89
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4. Eastwood DM, Phipp L (1997) Intra-articularfractures of the calcaneum: why such contro-versy? Injury 28: 247–259
5. Essex-Lopresti P (1952) The mechanism, reduc-tion, technique, and results in fractures of theos calcis. Br J Surg 39: 395–419
6. Grosser V, Kranz HW, Seide K,Wolter D (2000)Die Einschätzung der MdE nach Fersenbein-brüchen – Qualitätsspiegel für Therapeutenoder Gutachter? In: Hierholzer G, Kortmann HR,Kunze G, Peters D (Hrsg) Gutachtenkolloquium15. Springer, Berlin Heidelberg New York,S 139–146
7. Sanders R (2000) Displaced intra-articular frac-tures of the calcaneus. J Bone Joint Surg Am82: 225–250
8. Thermann H, Hüfner T, Schratt HE, Albrecht K,Tscherne H (1999) Therapie intraartikulärerFersenbeinfrakturen bei Erwachsenen. Unfall-chirurg 102: 152–166
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