die heutige standardoperation beim unguis incarnatus— frage nach dem urheber und dem rechten namen

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70 Operative Orthopfidie und Traumatologie Operat. Orthop. Traumatol. 2 (1990), 70 74 (Heft 1) Historischer Beitrag Die heutige Standardoperation beim Unguis incarnatus- Frage nach dem Urheber und dem rechten Namen J6rn Henning Wolf Institut ffir Geschichte der Medizin und Pharmazie der Christian-Albrechts-Universit/it Kiel (Vorsitzender Direktor: Prof. Dr. J. H. Wolf) Keinem Arzt wird im Angesicht jener Erkrankung, die wir den eingewachsenen Nagel (Unguis incarna- tus) nennen, die historisch zu beantwortende Frage gewissermagen auf den Nfigeln brennen, wie die Bezeichnung der Operation - ob zu Recht mit dem Urhebernamen ,,Emmert" versehen - tatsfichlich lauten soll. Indes, der Sachverhalt ist ein wenig ver- worren, verwickelter zumindest als es den Anschein hat, und eine klfirende Notiz daher an diesem Ort berechtigt, zumal die aufgekommene Benennungs- frage, fiber den Zielpunkt hinaus in konzentrischen Kreisen sich fortpflanzend, geschichtliche Reminis- zenzen weckt. Was ist der Anlag der Er6rterung? In der Vorbemerkung seines thematischen Beitrags in dieser Zeitschrift hat Hans Dietmar Strube auf eine Unstimmigkeit im ,,tiblichen Sprachgebrauch" hingewiesen, und wir k6nnen seine Beobachtung durch den Befund ergfinzen, dab selbst ein in seinen Recherchen sonst vorbildlich zuverlfissiges Werk wie das Reallexikon der Medizin [18] den Irrtum mit der grogen W6rterbiichern eigenen Autoritfit besie- gelt. Der Autor der Operationsbeschreibung im vor- liegenden Heft hat aber nicht nur den offensichtli- chen Fehler entdeckt, sondern kurzerhand auch einen Korrekturversuch unternommen. Sein Vor- schlag, die zweifellos abwegige Benennung ,,Em- met-Plastik" ffir das beim Unguis incarnatus heute nach herrschender Auffassung angezeigte Operati- onsverfahren in ,,Emmert-Plastik" umzufindern, leuchtet auf den ersten Blick ein, denn die erstrebte Richtigstellung weig sich auf einen Artikel zu beru- fen, der mit dem Titel ,,Zur Operation des einge- wachsenen Nagels", von Carl Emmert verfagt, 1884 im ,,Centralblatt ffir Chirurgie" [6] erschien. Un- wahrscheinlich also, dab es sich bei dem durch das obschon gelfiufig gewordene Pseudeponym ,,Em- met" ffilschlich zum Ahnherrn unserer Operation erkorenen, 1828 in Virginia geborenen Thomas Addis Emmet d. J., der sich seit seinem 30. Lebens- jahr ausschlieBlich der klinischen Frauenheilkunde gewidmet und 1874 seine plastische Operation des Portiorisses bekanntgegeben hat, wirklich um den Urheber der Operationsmethode beim eingewach- senen Zehennagel handelt. Doch wer war jener ,,Professor in Bern", wie Carl Emmert sich ohne fachliche Etikette nennt, welche Pers6nlichkeit und welcher spezifische Beitrag zum etablierten Opera- tionsprinzip verbergen sich hinter dem neuerdings im Zusammenhang mit der Unguis-incarnatus-Be- handlung apostrophierten Namen? Carl Emmert (Abbildung 1) entstammte einer Ge- nerationsfolge von Arzten, die in ihrer Zeit mit be- kannten Leistungen hervorgetreten, jedoch der Nachwelt nur in vereinzelten historischen Zusam- menhfingen bewuBt geblieben sind. Als Sohn des aus G6ttingen stammenden Carl Friedrich Emmert (1780 bis 1834), der seit 1812 gleichzeitig als Profes- sor der Vieharzneiwissenschaft an der Berner Tier- arzneischule sowie der Geburtshilfe und Chirurgie an der Medizinischen Fakultfit der damaligen Aka- demie in Bern, einer Vorlfiuferin der Universitfit, wirkte, wurde Carl Emmert am 18.1. 1813 geboren

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Page 1: Die heutige Standardoperation beim Unguis incarnatus— Frage nach dem Urheber und dem rechten Namen

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Operative Orthopfidie und Traumatologie

Operat. Orthop. Traumatol. 2 (1990), 70 74 (Heft 1)

Historischer Beitrag

Die heutige Standardoperation beim Unguis incarnatus-

Frage nach dem Urheber und dem rechten Namen

J6rn Henning Wolf

Institut ffir Geschichte der Medizin und Pharmazie der Christian-Albrechts-Universit/it Kiel

(Vorsitzender Direktor: Prof. Dr. J. H. Wolf)

Keinem Arzt wird im Angesicht jener Erkrankung, die wir den eingewachsenen Nagel (Unguis incarna- tus) nennen, die historisch zu beantwortende Frage gewissermagen auf den Nfigeln brennen, wie die Bezeichnung der Operation - ob zu Recht mit dem Urhebernamen ,,Emmert" versehen - tatsfichlich lauten soll. Indes, der Sachverhalt ist ein wenig ver- worren, verwickelter zumindest als es den Anschein hat, und eine klfirende Notiz daher an diesem Ort berechtigt, zumal die aufgekommene Benennungs- frage, fiber den Zielpunkt hinaus in konzentrischen Kreisen sich fortpflanzend, geschichtliche Reminis- zenzen weckt. Was ist der Anlag der Er6rterung?

In der Vorbemerkung seines thematischen Beitrags in dieser Zeitschrift hat Hans Dietmar Strube auf eine Unstimmigkeit im ,,tiblichen Sprachgebrauch" hingewiesen, und wir k6nnen seine Beobachtung durch den Befund ergfinzen, dab selbst ein in seinen Recherchen sonst vorbildlich zuverlfissiges Werk wie das Reallexikon der Medizin [18] den Irrtum mit der grogen W6rterbiichern eigenen Autoritfit besie- gelt. Der Autor der Operationsbeschreibung im vor- liegenden Heft hat aber nicht nur den offensichtli- chen Fehler entdeckt, sondern kurzerhand auch einen Korrekturversuch unternommen. Sein Vor- schlag, die zweifellos abwegige Benennung ,,Em- met-Plastik" ffir das beim Unguis incarnatus heute nach herrschender Auffassung angezeigte Operati- onsverfahren in ,,Emmert-Plastik" umzufindern, leuchtet auf den ersten Blick ein, denn die erstrebte Richtigstellung weig sich auf einen Artikel zu beru-

fen, der mit dem Titel ,,Zur Operation des einge- wachsenen Nagels", von Carl Emmert verfagt, 1884 im ,,Centralblatt ffir Chirurgie" [6] erschien. Un- wahrscheinlich also, dab es sich bei dem durch das obschon gelfiufig gewordene Pseudeponym ,,Em- met" ffilschlich zum Ahnherrn unserer Operation erkorenen, 1828 in Virginia geborenen Thomas Addis Emmet d. J., der sich seit seinem 30. Lebens- jahr ausschlieBlich der klinischen Frauenheilkunde gewidmet und 1874 seine plastische Operation des Portiorisses bekanntgegeben hat, wirklich um den Urheber der Operationsmethode beim eingewach- senen Zehennagel handelt. Doch wer war jener ,,Professor in Bern", wie Carl Emmert sich ohne fachliche Etikette nennt, welche Pers6nlichkeit und welcher spezifische Beitrag zum etablierten Opera- tionsprinzip verbergen sich hinter dem neuerdings im Zusammenhang mit der Unguis-incarnatus-Be- handlung apostrophierten Namen?

Carl Emmert (Abbildung 1) entstammte einer Ge- nerationsfolge von Arzten, die in ihrer Zeit mit be- kannten Leistungen hervorgetreten, jedoch der Nachwelt nur in vereinzelten historischen Zusam- menhfingen bewuBt geblieben sind. Als Sohn des aus G6ttingen stammenden Carl Friedrich Emmert (1780 bis 1834), der seit 1812 gleichzeitig als Profes- sor der Vieharzneiwissenschaft an der Berner Tier- arzneischule sowie der Geburtshilfe und Chirurgie an der Medizinischen Fakultfit der damaligen Aka- demie in Bern, einer Vorlfiuferin der Universitfit, wirkte, wurde Carl Emmert am 18.1. 1813 geboren

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als Prfifer mit gewissen Einkfinften an den Doktor- examina teilzunehmen [9]. 1861 erhielt er eine plan- mif3ige Professur und bald darauf (1863) sogar das Ordinariat for Staatsarzneikunde, ein Fach, das seit dem frfihen 19. Jahrhundert an deutschsprachigen Universitfiten eingef0hrt worden war und eine Kombination aus der Gerichtlichen Medizin und der Hygiene im Sinne der 6ffentlichen Gesundheitspfle- ge oder sogenannten ,,Medizinischen Polizei" dar- stellte. Aber nicht genug: rund zwei Jahrzehnte spfi- ter, von 1885 bis 1897, begegnen wir Emmert zu- sfitzlich als Lehrer und Institutsdirektor for die aus der Pharmakologie als eigenstfindige Disziplin her- vorgegangene Toxikologie [7], ein Wissensgebiet, auf dem sein Onkel August Gottfried Ferdinand Emmert (1772 bis 1819) sich seinerzeit als bekannter Experimentalforscher in Tfibingen einen Namen gemacht hatte [11].

Abb.1 Carl Emmert (1812 bis 1903) (nach einer anonymen Originalfotografie im Besitz des Medizinhistorischen Instituts der Universitfit Bern).

und in Biel als Schweizer eingeb/irgert [12]. Er be- suchte in seiner Vaterstadt die Literarschule, da- nach das Gymnasium in Stuttgart. Sein Medizinstu- dium begann Emmert wiederum in Bern, er schlog es 1835, im selben Jahr wie sein Bruder Wilhelm, an der Kgl. Friedrich-Wilhelms-Universitfit in Berlin mit der Erlangung des medizinischen Doktorgrades ab. Nach einem, wie es damals ~blich war, Studien- aufenthalt an einem der f~hrenden Zentren der Medizin in Europa - Emmert wfihlte als Ort Paris - kehrte er ins heimatliche Bern zurOck und begann seine Tfitigkeit als Assistenzarzt. In dieser Zeit er- wachte das ihn kennzeichnende Interesse fur die Chirurgie, obgleich - und darin liegt die l]berra- schung im Hinblick auf Emmerts Rolle als zukOnfti- ger Chirurg - seine iugere akademische Karriere eine v611ig andere Richtung nahm. Schon die Habili- tation 1836 aufgrund seiner Schrift , ,Ueber die En- digungsweise der Nerven in den Muskeln, nach ei- genen Untersuchungen" galt den Gebieten der Phy- siologie des Menschen und der Pathologie. 1855 fibernahm Emmert die Vertretung des Faches Ge- richtliche Medizin an der Berner Universitfit. Zwar lehrte er, 1853 zum Honorarprofessor ernannt, un- entgeltlich, aber das Amt war doch wenigstens mit dem ihm bis dahin vorenthaltenen Recht verkn0pft,

l]berblickt man den Werdegang dieses nicht nur im akademischen Milieu als Inhaber des doppelten Lehramts, als zeitweiliger Dekan der Medizinischen Fakultfit und Rektor der Universitit prominent ge- wordenen, sondern auch in der stadtbernischen Ju- stiz als Gerichtsarzt titigen Mannes, so verblfifft die Annahme, er sei auch noch ein aufgrund eigener Erfahrung aus hinreichender BerufsausObung kom- petenter Chirurg gewesen. In der Tat, Carl Emmert hat, wie wir seinen ver6ffentlichten Kasuistiken entnehmen k6nnen, mit einer nicht nfiher bestimm- baren Frequenz, in freier chirurgischer Praxis ver- schiedenartige Eingriffe vorgenommen, und er blieb zeitlebens zumindest sporadisch als aktiver Thera- peut mit freilich begrenztem operativen Repertoire, vor allem abet als didaktischer Schriftsteller der Chirurgie verbunden. Immerhin mug er sich durch kontinuierliche Arbeit im wundirztlichen Metier soviel manuelle Fertigkeiten bewahrt und mug er soviel praktisches Wissen besessen haben, dab ihm nicht nur 1861 beinahe die Berner Professur fOr Ge- burtshilfe fibertragen wurde [7], sondern Emmert sich als namhafter Autor eines anerkannten chirur- gischen Lehrbuchs Geltung verschaffte. Ein impo- nierend breites, selbst for die medizin-, universi- tilts- und unterrichtsgeschichtlichen Verhfiltnisse un- gew6hnlich umfassendes Gebiet beherrschte dem- nach Carl Emmert, wie sein literarisches Werk auch in den 0brigen Disziplinen beweist, das in seinem obschon langjihrigen Wirken entstanden ist. Bald nachdem er als 90jfihriger seine Berufstfitigkeit auf- gegeben und sich nach 66 Jahren in den Ruhestand

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Abb.2 Emmerts erstmalige Darstellung seines Operationsprinzips [3].

begeben hatte, endete das Leben Carl Emmerts am 23.12. 1903.

Wo liegt nun aber der Angelpunkt f/Jr die Vermu- tung, Emmert sei der mal3gebliche Autor oder gar Urheber des modernen Standardverfahrens bei der operativen Therapie des eingewachsenen Grol3ze- hennagels? Die Annahme legt sich nahe, weil sich Carl Emmer t keinem medizinischen Gegenstand so oft publizistisch zugewandt hat wie der von ihm er- probten und empfohlenen Operationsmethode. 12Iber 40 Jahre vor dem Erscheinen der von Strube herangezogenen Mitteilung hat Emmert , und zwar 1841, seine Vorgehensweise konzipiert und diese bereits 1842 im ersten Heft der von ihm als Periodi- kum geplanten, hauptsfichlich chirurgische The- men behandelnden ,,Beitrfige zur Pathologie und Therapie" ver6ffentlicht [3] (Abbildung 2). Und ob- woh! er die Behandlungstechnik naturgemfil3 auch

durch sein zwischen 1847 und 1870 in drei Auflagen erscheinendes ,,Lehrbuch der Chirurgie" [5] zu propagieren suchte, sah sich Emmert in der Zwi- schenzeit durch die offenkundig geringe Rezeption seiner Methode veranlaf3t, sie 1869 erneut in einem gesonderten Artikel darzustellen. Anscheinend ver- sprach sich Emmert , mit der Ver6ffentlichung in Langenbecks Archiv [4] endlich seinem Operati- onsprinzip zum Durchbruch zu verhelfen. Doch we- der die Originalmittei|ung im renommierten Organ der Chirurgen noch wiederholte Referate in verbrei- teten medizinischen Literaturrevuen der Zeit ver- mochten zu bewirken, dab Emmerts Konzept in Chirurgenkreisen Anwendung und Anerkennung land.

Was war der Grund, lag es in der Natur der Sache, dab Emmert mit seinem Verfahren nicht re~ssierte, worin bestand der Kerngedanke? Gestfitzt auf die

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seinerzeit anerkannte pathogenetische Vorstellung, dab es sich beim sogenannten Unguis incarnatus bzw. der Incarnatio unguis in Wirklichkeit nicht um einen ProzeB handelt, der zum Einwachsen des GroBzehennagels in die seitlichen Weichteile fOhrt, sondern bei dem der Nagelrand lediglich ,,fiber- wachsen" wird, trat Emmert entschieden daffir ein, ausschlieBlich die den Nagelrand tiberdeckenden Weichteile in ihrer vollen Ausdehnung radikal mit dem Messer abzutragen, nicht dagegen den zeitwei- lig zu Unrecht als Ursache inkriminierten Nagel zu beseitigen, ihn also weder als Ganzes noch Teile da- von zu entfernen, ebensowenig die entsprechenden Partien der Matrix zu exstirpieren, sondern sowohl den Nagel unversehrt als auch die Matrix unangeta- stet zu belassen.

Mit diesem engagierten, zwischen 1842 und 1884 dezidiert wiederholten Plfidoyer fur die Beschrfin- kung des Eingriffs auf den Nagelwall unter strikter Schonung von Matrix und Nagel nimmt in der lan- gen, bis in die spfitantik-fr~hmittelalterliche Periode zurfickreichenden Geschichte der von ffihrenden medizinischen Schriftstellern ihres Zeitalters gefiu- Berten Lehrmeinungen zum Problem des einge- wachsenen GroBzehennagels jener professionell ei- ne eigenartig mehrgesichtige Rolle spielende Carl Emmert einen zwar nicht vereinzelt, aber doch sel- ten vonde r Chirurgenzunft vertretenen Standpunkt ein. Man kdnnte die Tradition der unterschiedlichen Doktrinen fiber den Gegenstand auf die Formel bringen: Die Frage, ob Erhaltung, Entfernung oder zumindest Spaltung des Nagels geschehen solle, trennte die Geister. W~ihrend Autoren wie im 7. Jahrhundert Paulus von Aegina [15] als Vermittler galenischen Wissens oder um 1000 in C6rdoba der maurische Arzt Abfi l-Qfisim (Albucasis) [1] oder im mittleren 14. Jahrhundert in Sfidfrankreich der bedeutendste mittelalterliche Chirurg Guy de Chau- liac [10] eine nur bedingte Nagelresektion vorschlu- gen, empfahl diese zum Beispiel im spfiteren 16. Jahrhundert der hervorragende Anatom und Chir- urg in Oberitalien Girolamo Fabrizzi d'Aquapen- dente als regulfire MaBnahme. Anh~inger seiner Methode - bewuBt oder unbewuBt diese forfffih- rend oder modifizierend - finden sich bis in die Mo- derne. Der Verzicht indessen auf die radikale oder partielle Nagelentfernung, bei welcher der ohnehin schmerzgeplagte Patient die zusfitzliche Qual eines brutalen NagelausreiBens durchlitt, mindere nach Ambroise Pard [14], dem vorzfiglichen franzdsi-

schen Chirurgen im 16. Jahrhundert, keineswegs den Heilerfolg - so lautete das aus reicher Erfah- rung geschdpfte Urteil eines Mannes, der sich bei seinem Handeln von dem humanit~ren Motiv leiten lieB, dab - 0berspitzt ausgedrOckt - chirurgische Kur nicht in martialische Tortur ausarten dfirfe. Im Prinzip steht demnach Emmerts Verfahren, auch wenn es dutch den von proximal nach distal, zu- n~chst schr~g von hinten, dann entlang dem Nagel- rand gef0hrten Schnitt von der mit einem Einstich des Messers beginnenden Ausffihrung des Eingriffs nach Pard abweicht, jedoch mit der nagelerhalten- den Tendenz der von dem groBen Chirurgen der Frfihneuzeit angewendeten Methode verhfiltnism~- Big nahe. Gefolgsleute indes oder stillschweigende Verb0ndete land Emmert gleichwohl in geringer Zahl. Walton Browne [2], Chirurg am Royal Hospi- tal in Belfast, nennt 1884 die Nagelentfernung einen Hauptfehler, w~hrend der Kieler chirurgische Poli- kliniker Ferdinand Petersen [16] sich im selben Jahr zwar grunds~tzlich Emmerts Methode ausdrficklich anschlieBt, schlieBlich abet doch, mit anderer Be- wandtnis (um ,,den Zeh aseptisch zu machen"), den Nagel extrahiert. Eine kritische Erw~ihnung, die zwar im Resultat einer ablehnenden Beurteilung gleichkommt, erf~hrt Emmerts Operationsmodus immerhin 1881 im ,,Lehrbuch der Speciellen Chir- urgie" des Gdttinger Klinikers Franz Kdnig [13].

Wir stellten lest: Was sich heute als Standardme- thode herausgesch~ilt hat, kn0pft erkennbar an ein Verfahren an, das auf der Grundlage traditioneller Operationsprinzipien in j0ngeren franzdsischen Chirurgenschulen perfektioniert worden ist. Dabei meinen wir nicht den ebenfalls von Strube zitierten Edouard Qudnu [17], der sich haupts~ichlich auf- grund histologischer Befunde for die begrenzte Ma- trixresektion aussprach und zu Emmert in keinerlei Beziehung steht, sondern wir denken in erster Linie an Guillaume Dupuytren. Zu seiner gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unter der groBen Zahl von Varianten offenbar weitverbreiteten operativen Praktik bei der Behandlung des eingewachsenen Nagels weist unser heutiges Standardverfahren eine deutliche N~he auf. Dieser groBen Chirurgenpersdn- lichkeit des ausgehenden 18. und frfihen 19. Jahr- hunderts einen Beitrag zu widmen, ist ohnedies ei- nem k0nftigen Heft vorbehalten und somit AnlaB einmal mehr. Was das Fazit for den vorstehenden Zusammenhang und mithin ffir die gestellte Na- mensfrage anlangt - soil die Antwort lauten: Weder

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, ,Emmet-Operation" noch ,,Emmert-Operation" (woffir der Ausdruck ,,Plastik" gleichfalls kaum zu- trfife)? Der Medizinhistoriker will nicht Sprachge- brauch dekretieren. Und selbst wenn wir ffir die ge- genwfirtig ftihrende Operation Urheberschaft und Benennungsanspruch Carl Emmert aberkennen, so verdient er unseren Respekt als einer, der das Pro- blem optimaler Therapie des lfistigen Leidens be- harrlich durchdacht und umfassend ausgeleuchtet hat.

Literatur

1. Abfi 1-Qfisim (Albucasis): De chirurgia, II 91. Ed. J. Channing. Clarendon Oxford 1778.

2. Browne, W. J.: Treatment of in-grown toe-nail. Brit. med. J. 2 (1884), 857.

3. Emmert, C.: Ueberwachsung des Nagets der rechten grossen Zehe mit Fleisch... In: Beitr/ige zur Patho- logie und Therapie. Huber, Bern 1842, S. 171-177.

4. Emmert, C.: Zur Operation des eingewachsenen Na- gels. Arch. klin. Chit. 11 (1869), 266-277.

5. Emmert, C.: Lehrbuch der Speciellen Chirurgie, 3. Aufl., Bd. 2. Fues, Leipzig 1870, S. 604-605.

6. Emmert, C.: Zur Operation des eingewachsenen Na- gels. Centralbl. Chir. 11 (1884), 641-642.

7. Eulner, H.-H.: Die Entwicklung der medizinischen Spezialfficher an den Universitfiten des deutschen Sprachgebietes. Enke, Stuttgart 1970, S. 133 u. 176.

8. Fabrizzi d'Aquapendente, G. : Opera Chirurgica, II: De chirurgicis operationibus Bolzetta, Padua 1647, S. 129.

9. Feller, R.: Die Universitfit Bern 1834-1934. Haupt, Bern- Leipzig 1935, S. 204-205.

10. Guy de Chauliac: Chirurgia magna VI,2,4. Ed. L. Joubert, Lyon 1585; Neudruck Wiss. Buchgesell- schaft, Darmstadt 1976, S. 334.

11. Hirsch, A.: August Gottfried Ferdinand Emmert. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 6 (1877). Nachdruck Duncker u. Humblot, Berlin 1968, S. 88.

12. Im Hof, U., et al. (Hrsg.): Die Dozenten der berni- schen Hochschule. Erg. Bd. zu: Hochschulgeschichte Berns 1528-1984. Bern 1984, S. 84.

13. Koenig, F.: Lehrbuch der Speciellen Chirurgie, 3. Aufl., Bd. 3. Hirschwald, Berlin 1881, S. 618.

14. Par6, A.: Oeuvres completes, XV 31, Ed. J. F. Malgaigne, Paris 1840-1841, Bd. 2, S. 457.

15. Paulus Aegineta: Totius rei medicae libri septem, VI 85. Ed. J. Cornarius. Herragious, Basel 1556, S. 243; griech. Ausg. v. I. L. Heiberg. Teubner, Leip- zig 1921-1924, Bd. 2, S. 126-127 (CMG IX 1.2).

16. Petersen, F. : Zur Operation des eingewachsenen Na- gels. Dtsch. reed. Wschr. 10 (1884), 196.

17. Qu6nu, E.: Des limites de la matrice de l'ongle. - Applications au traitement de l'ongle incarn6. Bull. Mem. Soc. Chir. 13 (1887), 252-258.

18. Reallexikon der Medizin und ihre Grenzgebiete, Bd. 2. Urban & Schwarzenberg, M0nchen - Wien - Bal- timore 1977, S. 100.

get'fasse?'." Prof. Dr. med. JOrn Henning Wolf Direktor des Instituts fi~r Geschichte der Medizin und Pharmazie der Christian-A lb rechts- Univ e rsitiit Brunswiker Stral3e 2 D-2300 Kiel 1