achim thom 60 jahre alt

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MITTEILUNGEN - NEWS Akademie der Wissenschaften der DDR gekommen, um am Autbau eines lnstituts ftir Wissen- schaftstheorie und -organisation mitzuwirken. Mehr und mehr verschrieb er sich der Wissenschafts- geschichte, ~tindete und leitete im Rahmen des nunmehrigen Akademieinstituts for Theorie, Geschichte und Organisation tier Wissenschaft erfolgreich den Bereich Wissenschaftsgeschichte. 1979 erhielt er eine Akademieprofessur. Mit der Abwicklung des Instituts nach der Wende befindet er sich seit 1992 im sogenannten Alters~ibergang. Trotz dieser widrigen Umst,~nde wurde seine Schaffenskraft nicht gebremst, wie seine Mitwirkung an zahlreichen wis~nschaftlichen Projekten beweist- und nicht zuletzt sein eigener Beitrag auf diesem Kolloquium unter Beweis stellte. Sein wissenschaftshistorischerArbeitsschwerpunkt ist die lnstitutionalge~hichte der Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, und er befa6te sich in letzter Zeit insbesondere mit Aspekten der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sowie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Das Kolloqui um wurde eingeleitet mit einem Beitrag yon RiJdiger vom Bruch (Berlin) tiber ,,Die Stadrals St~tte der Begegnung", worin er sich insbesondere mit der gelehrten Geselligkeit im Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts befaBte. Martin Guntau (Rostock) behandelte das Problem Wissenschaft und Region unter dem Blickwinkel ,,Bildung und Forschung in der Peripherie'" am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns. An diesen Aspekt knfipfte auch Bernhard vom Brocke (Marburg) mit seinem Vortrag ,,Friedrich Althoff und die Wissenschaft in Marburg. Konturen einer Strategie, oder: Hochschulpolitik als Mittel der Integration einer annektierten Provinz in den preugischen Staat" an. Horst Kant (Berlin) diskutierte unter dem Titet ,,Physik in Berlin vor der Jahrhundertwende im Kontext ihrer kommunikativen Strukturen - Eine Betrachtung zu m6glichen Untersuchungsfeldern'" die kommunikativen Vernetzungen und ihre Funktionsbedingungen, die die Berliner Wissenschafts- landschaft zu jener Zeit so fruchtbar werden lieBen. Mit seinem Beitrag ,,Der Raum der Wissen- schaft" gab Hubert Laitko dem Ganzen nicht nur eine wissenschaftstheoretischeKlammer, sondern stellte zugleich methodologische IJberlegungen t'tir eine weitere Bearbeitung dieser Thematik zur Diskussion. Zwei weitere Kolloquiumsbeitr~ige nahmen st~rkeren Bezug auf den J ubilar - so Gi.inter Kr6ber (Berlin) mit einer wissenschaftsmetrischen Analyse der Publikationstfitigkeit von Hubert Laitko und Ernst R6hl (Berlin) mit launigen Anmerkungen zum Verhfiltnis Wissenschaft und Presse. Der Tagungsband wird unter dem gleichen Titel (Hrsg. H. Kant) Ende des Jahres im ,,Verlag ftir Wissenschafts- und Regionalgeschichte Dr. Michael Engel, Berlin" erscheinen, vermehrt nicht nut um den wegen widriger Umst~inde leider ausgefallenen Vortrag von Lubo~ Novy (Prag) fiber ,,Entwicklungslinien der tschechischen Mathematik 1850-1918". sondern um sechs weitere Be itrfige zum Thema von Schiitem und Freunden Hubert Laitkos sowie einer Bibliographie der Laitkoschen Publikationen. Horst Kant (Berlin) Achim Thom 60 Jahre alt Achim Thom, seit 1977 am Karl-Sudhoff-lnstitutfar Geschichte der Medizin und Naturwissenschaf- ten ttitig und von 1982 bis 1995 sein Direktor, wurde am 14. August 1995 sechzig Jahre alt. Nach Kriegsende hatte es den damals noch jungen, langen, diinnen Thorn - ein ,Gewichtiger", wie er in einer Laudatio zum 50. Geburtstag genannt wurde, ist er hie gewesen - aus dem heutigen Polen in den Harz verschlagen, hungrig - hungrig nach Essen, Wissen und Leben. Zu verlieren hatte er, wie viele Menschen, denen der Krieg nahe Verwandte, Heimat, Hab und Gut geraubt hatte, nichts. Der 1949 gegriindete ostdeutsche Staat, die DDR, er6fthete ihm eine Zukunft, brauchte junge Leute, die sich mit Engagement fiar den Wiederaufbau und die sozialistische Idee einsetzten. Achim Thorn tat das: Er studierte Philosophie und begann an der Medizinischen Fakulttit der Universittit Leipzig Medizinstudenten und ~,rzte in Philosophie zu unterrichten und weiterzubilden. Die Akzep- tanz und Toleranz, mit denen er jedem Diskussionspartner entgegentrat, und die Griindlichkeit, Differenziertheit und Entwicklungsf'~aigkeit seines Denkens brachten ihm trotz und wegen seiner marxisti~hen Grundhaltung allseitig Anerkennung und Vertrauen ein. Als Achim Thorn 1977 den Lebrstuhl f~ir Geschichte der Medizin am Karl-Sudhoff-Institut erhielt, war er nicht nur ein bereits erfahrener und bei Studenten wie Kollegen geschtitzter Hoch- NTM N.S. 3(1995) 273

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Akademie der Wissenschaften der DDR gekommen, um am Autbau eines lnstituts ftir Wissen- schaftstheorie und -organisation mitzuwirken. Mehr und mehr verschrieb er sich der Wissenschafts- geschichte, ~tindete und leitete im Rahmen des nunmehrigen Akademieinstituts for Theorie, Geschichte und Organisation tier Wissenschaft erfolgreich den Bereich Wissenschaftsgeschichte. 1979 erhielt er eine Akademieprofessur. Mit der Abwicklung des Instituts nach der Wende befindet er sich seit 1992 im sogenannten Alters~ibergang. Trotz dieser widrigen Umst,~nde wurde seine Schaffenskraft nicht gebremst, wie seine Mitwirkung an zahlreichen wis~nschaftlichen Projekten beweis t - und nicht zuletzt sein eigener Beitrag auf diesem Kolloquium unter Beweis stellte. Sein wissenschaftshistorischer Arbeitsschwerpunkt ist die lnstitutionalge~hichte der Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, und er befa6te sich in letzter Zeit insbesondere mit Aspekten der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sowie der Akademie der Wissenschaften der DDR.

Das Kolloqui um wurde eingeleitet mit einem Beitrag yon RiJdiger vom Bruch (Berlin) tiber ,,Die Stadrals St~tte der Begegnung", worin er sich insbesondere mit der gelehrten Geselligkeit im Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts befaBte. Martin Guntau (Rostock) behandelte das Problem Wissenschaft und Region unter dem Blickwinkel ,,Bildung und Forschung in der Peripherie'" am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns. An diesen Aspekt knfipfte auch Bernhard vom Brocke (Marburg) mit seinem Vortrag ,,Friedrich Althoff und die Wissenschaft in Marburg. Konturen einer Strategie, oder: Hochschulpolitik als Mittel der Integration einer annektierten Provinz in den preugischen Staat" an. Horst Kant (Berlin) diskutierte unter dem Titet ,,Physik in Berlin vor der Jahrhundertwende im Kontext ihrer kommunikativen Strukturen - Eine Betrachtung zu m6glichen Untersuchungsfeldern'" die kommunikativen Vernetzungen und ihre Funktionsbedingungen, die die Berliner Wissenschafts- landschaft zu jener Zeit so fruchtbar werden lieBen. Mit seinem Beitrag ,,Der Raum der Wissen- schaft" gab Hubert Laitko dem Ganzen nicht nur eine wissenschaftstheoretische Klammer, sondern stellte zugleich methodologische IJberlegungen t'tir eine weitere Bearbeitung dieser Thematik zur Diskussion.

Zwei weitere Kolloquiumsbeitr~ige nahmen st~rkeren Bezug auf den J ubilar - so Gi.inter Kr6ber (Berlin) mit einer wissenschaftsmetrischen Analyse der Publikationstfitigkeit von Hubert Laitko und Ernst R6hl (Berlin) mit launigen Anmerkungen zum Verhfiltnis Wissenschaft und Presse.

Der Tagungsband wird unter dem gleichen Titel (Hrsg. H. Kant) Ende des Jahres im ,,Verlag ftir Wissenschafts- und Regionalgeschichte Dr. Michael Engel, Berlin" erscheinen, vermehrt nicht nut um den wegen widriger Umst~inde leider ausgefallenen Vortrag von Lubo~ Novy (Prag) fiber ,,Entwicklungslinien der tschechischen Mathematik 1850-1918". sondern um sechs weitere Be itrfige zum Thema von Schiitem und Freunden Hubert Laitkos sowie einer Bibliographie der Laitkoschen Publikationen.

Horst Kant (Berlin)

Achim Thom 60 Jahre alt

Achim Thom, seit 1977 am Karl-Sudhoff-lnstitut far Geschichte der Medizin und Naturwissenschaf- ten ttitig und von 1982 bis 1995 sein Direktor, wurde am 14. August 1995 sechzig Jahre alt.

Nach Kriegsende hatte es den damals noch jungen, langen, diinnen Thorn - ein ,Gewichtiger", wie er in einer Laudatio zum 50. Geburtstag genannt wurde, ist er hie gewesen - aus dem heutigen Polen in den Harz verschlagen, hungrig - hungrig nach Essen, Wissen und Leben. Zu verlieren hatte er, wie viele Menschen, denen der Krieg nahe Verwandte, Heimat, Hab und Gut geraubt hatte, nichts.

Der 1949 gegriindete ostdeutsche Staat, die DDR, er6fthete ihm eine Zukunft, brauchte junge Leute, die sich mit Engagement fiar den Wiederaufbau und die sozialistische Idee einsetzten. Achim Thorn tat das: Er studierte Philosophie und begann an der Medizinischen Fakulttit der Universittit Leipzig Medizinstudenten und ~,rzte in Philosophie zu unterrichten und weiterzubilden. Die Akzep- tanz und Toleranz, mit denen er jedem Diskussionspartner entgegentrat, und die Griindlichkeit, Differenziertheit und Entwicklungsf'~aigkeit seines Denkens brachten ihm trotz und wegen seiner marxisti~hen Grundhaltung allseitig Anerkennung und Vertrauen ein.

Als Achim Thorn 1977 den Lebrstuhl f~ir Geschichte der Medizin am Karl-Sudhoff-Institut erhielt, war er nicht nur ein bereits erfahrener und bei Studenten wie Kollegen geschtitzter Hoch-

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schullehrer, sondern hatte auch schon wesentliche Leistungen auf wissenschaftlichem Gebiet aufzuweisen, die spiirbare Konsequenzen fiir den medizinischen Alltag der DDR hatten:

Interessiert hatte ihn schon immer die philosophische Begriindung psychiatrischen Handelns, das Menschenbild in der Psychiatric, womit enge BeriJhrungspunkte zu strittigen Fragen der allgemeinen medizinischen Krankheitslehre gegeben waren ~. Achim Thorn schuf die theoretischen Grundlagen einer Sozialpsychiatrie in der DDR, die ab den 70er Jahren etabliert wurde. 9 Diese Leistung brachte ihm wissenschaftliche Kontakte nicht nur im 6stlichen Europa, sondern auch in der Bundesrepublik und allen weiteren L~indern ein, in denen sich eine gemeindenahe Psychiatriereform anbahnte.

l]ber diese Schwerpunktsetzung hinaus bearbeitete er pers6nlichkeitspsychologische und psy- chotherapeutische Fragestellungen, die zur philosophischen Fundierung und Etablierung der Gebiete Medizinische Psychologic und Psychotherapie in der DDR beitrugen, r~ Vor allem brachten sic eine neue, hohe Bewertung der Rolle des Subjekts in der marxistischen Philosophic mit sich, das bis dato vielfach vulgfirmaterialistisch zu einem ,,Ensemble der Verhfiltnisse", zu einem vom Sein bestimm- ten Wesen reduziert worden war.t~ Mit seiner rhetorischen Ausstrahlung und hohem wissenschaft- lichen Ethos bemiihte sich Thorn, diese neuen Einsichten praktisch umsetzen zu helfen.t2

SchlieSlich hatte sich Achim Thorn bereits solchen, in der DDR als ideologisch problematisch angesehenen und daher zun~ichst tabuisierten Themen, wie der Psychoanalyse und ihrer Geschichte, zugewandt und sic einer sachmotivierten Aufarbeitung geGffnet. ~3

Auf diesen Grundlagen autbauend und sic weiterfiihrend, dehnte Achim Thom ab Anfang der 80er Jahre als Direktor des Kart-Sudhoff-lnstituts dessen fachliches Profil welt fiber die Geschichte der Medizin auf das Gebiet der Medizinischen Ethik aus, Probteme der lntensivmedizin wurden gemeinsam mit Klinikern diskutiert und Stellungnahmen publiziert. 14 Vor allem aber entriB er das Thema .,Sterben und Tod" dem Tabu, diskutierte dariiber in zahllosen Veranstaltungen mit Studenten, ,~,rzten, Krankenschwestern und der Offentlichkeit. I~

8 Thorn, A., Weise, K.: Widerspr/iche im theoretischen Krankheitsverstfindnis unserer Medizin, ihr Charakter, ihre Ursachen und ihre Folgen. Z. tirztl. Fortbild. 71 (1977) 983 ff., 1080 ff., 1132 ff.

9 Thom, A.: Sozialpsychiatrie in der sozialistischen Gesellschaft - philosophische und wissen- schaftstheoretische 0berlegungen zur Entwicklungsgeschichte und Prognose. In: Sozialpsych- iatrie in der sozialistischen Gesellschaft. Hrsg. von B. Schwarz, K. Weise und A. Thorn. VEB Georg Thieme, Leipzig 1971, S. I I--44.

10 Thorn, A.: Stand und Probleme der Integration psychologischer Erkennmisse in der Medizin. Psychologic f(ir die Praxis 2 (1984) 2, 5-14.

I I Thorn, A.: Zur aktuellen Relevanz des Subjektbegriffes in der Pers6nlichkeitspsychologie. In: Psychologic der Pers6nlichkeit und Pers6nlichkeitsentwicklung. Hrsg. von H. Schr6der. Karl-Marx-Universitfit, Leipzig 1982; Thom A., Weise, K.: Zur Stellung des Subjekts im theoretischen Objektverst~ndnis der Medizin - Entwicklungstendenzen und aktuelle Probleme. Mitteilungsblatt der Gesellschaft fiir experimentelle Medizin der DDR 2/1976.

12 Thom, A.: Ethische Aspekte des Therapeut-Patient-Verhfiltnisses in der Psychotherapie. Psychia t. Neurol. med. Psychol. 33 (1981 )76--80.

13 Katzenstein, A., Sprite, H.F., Thom, A. (Hrsg.): Die historische Stellung und die gegenwGa'tige Funktion der von Sigmund Freud begrtindeten Psychoanalyse im Proze8 der Formierung einer wissenschaftlich fundierten Psychotherapie. Bezirkskrankenhaus ffir Psychiatric, Bernburg 1981.

14 K6rner, U., Seidel, K., Thom, A. (Hrsg.): Grenzsituationen des Lebens. VEB Gustav-Fischer- Verlag, Jena 1981; Thorn, A., KOrner, U., Engelmann, L., Schneider, D.: Ethische Probleme des ~irztlichen Handelns in der Intensivmedizin. In: Handbuch der lntensivmedizin. Hrsg. von D. Schneider, L. Engelmann und P. Heinrich. J.A. Barth, Leipzig/Heidelberg 1992, S. 17-28.

15 Hahn, S., Thorn, A.: Sinnvolle Lebensbewahrung - humanes Sterben. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1983.

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Den Schwerpunkt der medizinhistorischen Forschung am KarI-Sudhoff-lnstitut legte er auf die Medizin im Nationalsozialismus - ein bis Anfang der 80er Jahre in 0st und West gleichermaBen vernachltissigtes Thema. Die yon ihm und seinen Mitarbeitern durchgefiihrten Tagungen und die Publikationen fanden internationale Anerkennung.16

Achim Thorn sah die DDR mit ihren Machtstrukturen, der lntoleranz und dem Dogmatismus durchaus kritisch und tiuBerte das auch bei konkreten Anltissen bescheiden, niemanden verfirgem wollend, immer Einsicht in angebliche politische Notwendigkeiten habend. Nie ging es ihm darum, den sozialistischen Staat abzuschaffen. Er wollte ihn humaner gestalten, indem er selbst anst~dig und ehrlich zu leben und zu arbeiten versuchte- auch dabei ganz Mensch, mit menschlichen Grenzen und Schwiichen.

,~uBerlich ist der L6we Achim Thorn schon als junger Mensch grau gewesen; jetzt scheint er es auch innerlich geworden zu sein. Wenn er nun zu seinem 60. Geburtstag das Direktomt des Karl-Sudhoff-lnstituts abgeben muB, wird er sein Pokergesicht aufsetzen und es freundlich und nicht grollend, scheinbar mit stoischer Ruhe, hinnehmen. Nur wer ihn gut kennt, wird bemerken, wie sich die weiBen Haare strtiuben, ein bittres Zucken um den Mund geht und die grauen Augen stumpf geworden sind wie Asche.

Susanne Hahn (Dresden)

16 Thorn, A., Caregorodcev, G.I. (Hrsg.): Medizin unterm Hakenkreuz. VEB Vertag Volk und Gesundheit, Berlin 1989.

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