die wolke des nichtwissens 1

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    INHALTS VERZEICHNIS5. Auflage 1995 @ Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg Alle Rechte vorbehaltenDruck: Freiburger Graphische Betriebe ISBN 3 89411 292 1

    EinleitungDer Prolog1. KapitelVon vier Stufen christlicher Lebensfhrung und ber die Art derBerufung dessen, fr den dieses Buch geschrieben wurde.

    2. Kapitel Eine kurze Ermahnung zur Demut und zu dem in diesem Buchbeschriebenen Werk.3. KapitelWie man das Werk dieses Buches beginnen soll und wie es allenanderen geistlichen bungen weit berlegen ist.

    4. Kapitel Von der Krze dieses Werks und von der Unmglichkeit, durchgeistige Wibegierde oder die Ttigkeit der Vorstellungskraft zu diesem Werkzu gelangen.

    5. Kapitel Da whrend dieser geistigen bung alle geschaffenen Wesen,die je gelebt haben, jetzt leben oder knftig leben werden, mitsamt all ihrem

    Tun durch die Wolke des Vergessens bedeckt werden mssen.6. Kapitel Eine kurze Errterung des Themas dieses Buches in Form einerFrage.

    7. Kapitel Wie man sich in diesem Werk gegenber aller Gedanken, vorallem solchen, die durch die eigene Wibegierde und die natrlicheVerstandeskraft entstehen, verhalten soll.

    8. Kapitel Eine genaue Errterung von gewissen Zweifeln, die bei diesemWerk entstehen knnen. Es wird in Frageform gezeigt, wie man die Wibegier

    der natrlichen Verstandeskraft ausschalten mu und wie die Stufen und Teiledes aktiven und kontemplativen Lebens zu unterscheiden sind.

    9. Kapitel Da whrend der Beschftigung mit diesem Werk der Gedankeselbst an das heiligste Wesen, das Gott je schuf, eher hinderlich als frderlich ist.10. Kapitel Woran man erkennen kann, wann die eigene gedanklicheAktivitt keine Snde ist und falls sie eine Snde ist, wann es sich um lliche,wann um schwere Snden handelt.11. Kapitel Da man jeden Gedanken und jede Regung danach beurteilensoll, was sie sind und da Unbekmmertheit gegenber llichen Snden stetszu vermeiden ist.

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    12. Kapitel Da durch dieses Werk nicht nur die Snden zerstrt, sondernauch die Tugenden geweckt werden.

    13. Kapitel Was Demut an sich ist, wann sie vollkommen und wannunvollkommen ist.

    14. Kapitel Da ein sndhafter Mensch ohne vorhergehendeunvollkommene Demut unmglich die Tugend der vollkommenen Demuterlangen kann.15. Kapitel Eine kurze Widerlegung des Irrtums, da es keinen anderenGrund zur vollkommenen Demut gebe als den Gedanken an die eigenemenschliche Erbrmlichkeit.

    16. Kapitel Da ein wahrhaft bekehrter und zur Kontemplation berufenerSnder kraft dieses Werkes eher zur Vollkommenheit als durch irgendeinanderes Werk gelangt; und da er dadurch auch am ehesten von Gott dieVergebung seiner Snden erhalten kann.

    17. Kapitel Da ein wahrhaft kontemplativer Mensch nichts mit dem aktivenLeben zu tun haben will, sich nicht darum kmmert, was in seiner Nhe getanoder ber ihn gesprochen wird und es nicht fr ntig hlt, sich gegenberseinen Kritikern zu rechtfertigen.

    18. Kapitel Da sich bis zum heutigen Tag alle Aktiven ber dieKontemplativen beschweren, wie sich Martha ber Maria beklagte, und da nurUnwissenheit der Grund fr diese Klage ist.

    19. Kapitel Eine kurze Verteidigungsrede des Autors dieses Buches, woringezeigt wird, da die Kontemplativen volles Verstndnis fr die mit Wort undTat vorgebrachten Beschwerden der Aktiven haben sollen.

    20. Kapitel Wie der allmchtige Gott alle jene wirksam verteidigen wird, welche die Beschftigung mit Seiner Liebe nicht wegen ihrer eigenenVerteidigung unterbrechen wollen.

    21. Kapitel Eine genaue Auslegung des Evangelienwortes: "Maria hat denbesten Teil erwhlt".

    22. Kapitel Ober die wundersame Liebe, welche Christus fr Maria,stellvertretend fr alle Snder empfand, die wahrhaft bekehrt und zurGnadengabe der Kontemplation berufen sind.

    23. Kapitel Wie Gott jene im Geist verteidigen und versorgen wird, diewegen ihrer Liebeshingabe sich nicht selbst verteidigen oder versorgen wollen.

    24. Kapitel Was christliche Liebe an sich ist und wie sie auf kunstvolle undvollkommene Weise im Werk dieses Buches enthalten ist.

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    25. Kapitel Da die vollkommene Seele whrend der Ausbung dieses Werksniemandem auf dieser Welt besondere Beachtung schenkt.

    26. Kapitel Da das Werk dieses Buches ohne eine ganz spezielle Gnade oderohne eine lange Erfahrung in der gewhnlichen Gnade besonders mhevoll ist;

    [es wird auch gezeigt], wann das Werk von der Seele mit Hilfe der Gnade undwann von Gott selbst gewirkt wird.

    27. KapitelWer in dem gnadenhaften Werk dieses Buches wirken soll.28. Kapitel Da man es nicht wagen darf, in diesem Werk zu wirken, bevorman sein Gewissen ordnungsgem von all seinen besonderen Tatsndengereinigt hat.

    29. Kapitel Da man sich geduldig in diesem Werk mhen mu, die darausentstehende Pein zu ertragen hat und da man niemand richten darf.30. KapitelWer die Fehler anderer Leute tadeln und verurteilen darf.31. Kapitel Wie man sich zu Beginn dieses Werkes gegenber allensndhaften Gedanken und Regungen verhalten soll.

    32. KapitelVon zwei geistigen Kunstgriffen, die fr einen Novizen in diesemWerk ntzlich sind.

    33. Kapitel Da die Seele durch dieses Werk von ihren besonderen Snden wie auch von den daraus folgenden Strafen befreit wird, da aber dennoch indieser Welt keine vollkommene Ruhe zu finden ist.

    34. Kapitel Da Gott Seine Gnade frei und ohne jede Vermittlung vergibtund da man sie auch nicht durch irgendwelche Mittel erwerben kann.

    35. Kapitel Von drei Hilfen, von denen ein Anfnger in der KontemplationGebrauch machen sollte, nmlich der Lektre, der Selbstbesinnung und demGebet.

    36. Kapitel Von der Selbstbesinnung jener, die sich mit dem Werk diesesBuches bestndig abmhen.37. KapitelVon den persnlichen Gebeten jener, die das Werk dieses Buchesunablssig ausben.

    38. KapitelWie und warum gerade das kurze Gebet bis zum Himmel dringt.39. KapitelWie ein vollkommen Wirkender beten soll; was das Gebet an sichist; welche Worte sich am besten fr das Gebet eignen, falls man mit Wortenbeten mchte.

    40. Kapitel Da die Seele whrend der Dauer dieses Werkes einembesonderen Laster oder einer besonderen Tugend keinerlei spezielle Beachtungschenkt.

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    41. Kapitel Da man in allen anderen Werken, die geringer als dieses einesind, Ma halten soll, nur nicht in diesem einen.

    42. Kapitel Da man nur und gerade durch Malosigkeit in diesem Werk zurMigung in allen anderen Dingen befhigt wird.

    43. Kapitel Da jede Bewutheit und Empfindung des eigenen Wesensaufgegeben werden mu, wenn die Vollkommenheit dieses Werkes je in diesemLeben wahrhaft gefhlt werden soll.

    44. Kapitel Wie es die Seele bei sich selbst anstellen soll, jede Bewutheitund Empfindung des eigenen Seins zu zerstren.

    45. Kapitel Eine ausfhrliche Errterung einiger Tuschungen, die sich beidiesem Werk zutragen knnen.

    46. Kapitel Eine ausfhrliche Anleitung, wie man diesen Tuschungenentgehen kann und wie man eher mit geistigem Verlangen als mit schwererkrperlicher Anstrengung wirken soll.

    47. Kapitel Eine genaue Anleitung zu diesem Werk, das in der Reinheit desGeistes zu wirken ist; wobei auch erklrt wird, da man Gott das eigeneVerlangen auf ganz andere Weise als den Menschen zu zeigen hat.48. Kapitel Da der Mensch Gott mit Leib und Seele dienen soll und da eran Leib und Seele belohnt werden wird; woran man erkennen kann, ob all die

    Wohlklnge und sen Empfindungen, die der Leib beim Gebet empfindet, gutoder bse sind.

    49. Kapitel Da das Wesen aller Vollkommenheit nichts anderes ist als einguter Wille; da alle Erlebnisse berirdischer Musik, Freude und Sigkeit, dieman auf dieser Welt haben kann, im Vergleich dazu nur Nebenschlichkeitensind.50. Kapitel Vom Wesen der keuschen Liebe und davon, da sich beimanchen solche sinnlich erfahrenen Trstungen selten einstellen, bei anderendagegen oft.

    51. Kapitel Da man sich sehr davor hten mu, etwas nicht sinnlich-konkretzu verstehen, was geistig ist, und da es besonders gut ist, beim Verstndnis derWrter "in" und "hinauf" Vorsicht walten zu lassen.

    52. Kapitel Wie die jungen, hochfahrenden Schler das Wort "in"miverstehen und welche Tuschungen daraus folgen.

    53. Kapitel ber verschiedene unpassende Verhaltensweisen, welchediejenigen an sich haben, denen es am Werk, das in diesem Buch beschrieben

    ist, fehlt.

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    54. Kapitel Wie man kraft dieses Werkes zu weiser Selbstbeherrschung undzu rechtem Verhalten des Leibes und der Seele gelangt.

    55. Kapitel Wie jene sich tuschen, die dem inneren Feuereifer folgen undohne die Fhigkeit zu geistiger Unterscheidung andere wegen ihrer Sndenverurteilen.

    56. KapitelWie jene sich tuschen, die sich mehr zur Neugier des natrlichen Verstandes und zur Gelehrsamkeit der theologischen Schulen hingezogenfhlen als zur gemeinen Lehre und geistlichen Unterweisung der HeiligenKirche.

    57. Kapitel Wie jene jungen, hochfahrenden Anfnger dies andere Wort"hinauf" miverstehen und von den daraus folgenden Tuschungen.

    58. Kapitel Da man sich nicht an St. Martin oder St. Stephan ein Beispielnehmen darf, um beim Gebet die Vorstellungskraft angestrengt und direkt zumHimmel emporzurichten.

    59. Kapitel Da man sich nicht an der leibhaftigen Himmelfahrt Christi einBeispiel nehmen darf, um beim Gebet die Vorstellungskraft angestrengt direktzum Himmel emporzurichten; und da man bei allem geistigen Wirken Zeit,Ort und Raum vergessen mu.

    60. Kapitel Da man den nchsten Weg zur Hhe des Himmels nur mitsehnschtigem Verlangen, nicht aber mit gewhnlichen Fuschritten zurcklegen kann.

    61. Kapitel Da alles Krperliche dem Geistigen untergeordnet und vondiesem nach dem Gesetz der Natur beherrscht wird und nicht umgekehrt.

    62. KapitelWoran der Mensch erkennen kann, ob sein geistiges Werk unterihm oder auerhalb seiner selbst, wann es gleichrangig mit ihm ist und wann inihm selbst, ber ihm und unter seinem Gott.63. Kapitel ber die Seelenkrfte im allgemeinen; und wie das Gemt imbesonderen eine Hauptwirkkraft ist, die in sich all die anderen Krfte und alles,worin diese wirken, enthlt.

    64. Kapitel ber die beiden anderen Hauptseelenkrfte, die Vernunft undden Willen sowie ber ihr Wirken vor und nach dem Sndenfall.65. Kapitel ber die erste Nebenwirkkraft mit Namen "Vorstellungskraft";ferner ber ihr Wirken und ber die Frage ihres Gehorsams gegenber demWillen vor und nach dem Sndenfall.

    66.

    Kapitel ber die zweite Nebenwirkkraft mit Namen "sinnliche Wahrnehmungsfhigkeit"; ferner ber ihr Wirken und ber die Frage ihresGehorsams gegenber dem Willen vor und nach dem Sndenfall.

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    67. Kapitel Da jeder, der ber die Seelenkrfte und die Art ihres Wirkensnicht Bescheid wei, leicht beim Verstndnis geistiger Worte und des geistigen Wirkens einer Tuschung erliegt; und da die Seele durch Gnade vergottetwird.

    68. Kapitel Da leiblich Nirgendwo geistig berall bedeutet, und da unseruerlicher Mensch das Werk dieses Buches als ein Nichts bezeichnet.

    69. KapitelWie das Gefhl des Menschen sich auf wunderliche Weise durchdie geistige Erfahrung dieses Nichts verndert, wenn dies im Nirgend gewirktwird.

    70. Kapitel Da wir, ebenso wie wir durch das Schwinden der leiblichenSinne am ehesten zur Erkenntnis des Geistigen gelangen, durch das Schwinden

    unserer geistigen Sinne am ehesten zur Erkenntnis Gottes kommen, sofern diesmit Hilfe der Gnade unter irdischen Bedingungen mglich ist.

    71. Kapitel Da manche die Vollkommenheit dieses Werkes nur im Augenblick der mystischen Ekstase erfahren knnen, whrend andere sie beinormaler seelischer Verfassung und wann immer sie wollen, erfahren knnen.

    72. Kapitel Da jemand, der dies Werk wirkt, einen anderen Kontemplativennicht nach dem Ma seiner eigenen inneren Erfahrung beurteilen darf.

    73. Kapitel Da wir nach dem Vorbild von Moses, Beseleel und Aaron, diemit der Bundeslade zu tun hatten, auf drei verschiedene Arten aus derbesonderen Gnade der Kontemplation Nutzen ziehen, da diese Gnadengabe injener Lade vorgebildet ist.

    74. Kapitel Da bei der Lektre oder der Errterung dieses Werks bzw. beider schriftlichen oder mndlichen Einfhrung in das Thema dieses Buches derdaran interessierte Mensch das Gefhl einer spontanen Bereitschaft zu ebendiesem Werk entsteht, wobei die Ermahnung des Prologs noch einmalwiederholt wird.

    75. Kapitel Von gewissen Zeichen, durch die man Gewiheit darbererhalten kann, ob man von Gott berufen ist, dieses Werk zu wirken.

    EINLEITUNG

    Im Zuge der heutigen Neubesinnung auf Krfte, die geeignet sind, ein wirksamesGegengewicht zum wissen.5chaftlichen Rationalismus unseres Computer-Zeitalters zubilden, hat man sich schon seit einiger Zeit in verstrktem Mae an die Werke der Mystiker

    INDEX

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    wieder erinnert. Auch die anonyme SchriftDie Wolke des Nichtwissens, die im Englanddes spten 14.Jahrhunderts entstand, erfhrt in unseren Tagen ein groes Interesse. Sie wirdals ein Text gepriesen, mit dessen Hilfe man sich von den Konsumzwngen unsererwestlichen Welt befreien und zu einem Leben aus dem Sein zurckfinden knne, ist doch ihr

    groes Thema die vllige Lsung des Menschen von allen beengenden und bedrngendenBindungen und die unbedingte Hingabe an das gttliche Sein.

    So erfreulich auf der einen Seite die Popularitt ist, welche einem Text wie derWolke desNichtwissensgerade heute zuteil wird, so sehr ist andererseits zu bedauern, da sie meist indirekten Zusammenhang mit der Zen-Meditation gebracht und mit dem Argument, sieknne fr den Christen als Beweis dafr dienen, da eine Verbindung des christlichenGlaubens mit der Spiritualitt des Zen mglich und gewinnbringend sei, miverstanden und

    auch mibraucht wird. Wer nmlich bereit ist, diese Schrift unvoreingenommen auf sichwirken zu lassen, wird bald bemerken, wie unvereinbar ihre ausschlielich auf demFundament des christlichen Glaubens fuende Mystik mit dem Zen ist. Hat im Zen der Meditierende das Ziel, durch eine auf jede gegenstndliche Konkretisierung verzichtende Meditation zur Einheit mit dem Kosmos zu finden, so geht es in derWolke wie in derchristlichen Mystik berhaupt um die Vereinigung der Seele mit Gott in derunio mystica.Um indes den Standort derWolke innerhalb der Tradition christlicher Mystik nher zubestimmen, mssen einige Bemerkungen ber ihre Hauptstrmungen vorausgeschicktwerden.

    Diese Hauptstrmungen sind gerade durch eine unterschiedliche Beschreibung des Weges zueiner unmittelbaren Gotteserfahrung entstanden. Die eine Richtung, die sich in denMeditationen des Anselm von Canterbury schon ankndigt und dann in den Werken vonTheologen wie Bernhard von Clairvaux und Bonaventura ihre groen Hhepunkte erreicht,basiert auf dem Grundgedanken, da Gott durch seine Menschwerdung menschlich fabargeworden sei. Zu dieser Menschwerdung habe ihn die Liebe getrieben, weshalb die Seele, dieihn erkennen wolle, seine Liebe erwidern und mit ihm in seinem Sterben eins zu werden

    suchen msse; denn Christus habe gerade in seiner Passion die grte Liebe erwiesen.Christliche Mystik ist daher zu einem gut Teil Christus bzw. Kreuzesmystik.

    Die zweite und ltere Hauptrichtung grndet sich auf eine Reihe von Schriften, welche dieneuplatonische Philosophie mit dem christlichen Glauben verbinden und demApostelschler Dionysius Areopagita zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit aber von einemsehr viel spter (ca. 500) lebenden syrischen Autor stammen.Kernpunkt dieser Mystik ist die Einsicht, da das Wesen Gottes als des ganz Anderen mitmenschlichen Kategorien nicht erfat werden knne. Da es eher mglich sei, zu sagen, was

    Gott nicht ist als was er ist, liegt dieser mystischen Richtung eine negative Theologiezugrunde, die somit den Gegenpol zur affirmativen Theologie der bernhardtschen und

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    franziskanischen Mystik bildet. Seitdem Pseudo-Dionysius in seinerMystischen Theologiedie Unmglichkeit aufgezeigt hatte, das Wesen Gottes mit den Mitteln menschlicher Sprachebegrifflich zu fassen, ist immer wieder darum gerungen worden, das Unsgliche dennochdurch die Sprache und in der Sprache zu vermitteln, wobei man hufig auf den Sprachbehelf

    des Paradoxons zurckgriff. So wird der Mensch, der sich mit Gott vereinigen will,aufgefordert, im Verzicht auf seine eigene Erkenntnisfhigkeit gerade in derundurchdringlichen Dunkelheit bzw. in der Wolke des Nichtwissens auf das Licht dergttlichen Gegenwart zu hoffen.

    Dieses Bild der Wolke des Nichtwissens hat seinen biblischen Ursprung im Bericht von Moses' Begegnung mit Gott in der Wolke auf dem Berg Sinai sowie in der Aussage des Psalmisten, da Gott in verbergender Dunkelheit wohne. Unter den Kirchenvtern war

    wohl, wie man gezeigt hat, Gregor d. Gr. der erste, der mit dem Wolkennebel die kreatrlicheGebrechlichkeit des Menschen versinnbildlichte, die ihn an der Schau Gottes hindert. AuchGregor von Nyssa gebraucht das Bild bei seiner Deutung von Moses' Aufstieg auf dengttlichen Berg; bei ihm freilich trennt die Wolke nicht den Menschen von Gott, sondern derMensch, der sich in hchstem Mae um die Erkenntnis Gottes bemht, erfhrt die Wolke alsOrt, wo Gott sich paradoxerweise gerade im Dunkel seiner Unbegreiflichkeit zu erkennengibt.

    Bei seiner eigenen Verwendung dieser traditionsreichen Bildvorstellung lehnt sich unser

    Autor indes, wie die Forschung gezeigt hat, eng an die SchriftBenjamin Major von Richardv. St. Victor an. Dort ist es ebenfalls diese Wolke, die Mensch und Gott trennt und die wie beiunserem Autor durch eine Wolke des Vergessens ergnzt wird, mit der die geschpfliche Weltzu bedecken ist. Zugleich aber wei sich unser Autor mit Richard v. St. Victor sowie mitThomas Gallus, dem Abt von Vercelli und dem englischen Franziskaner Robert Grossetestedann einig, da es angesichts des versagenden Verstandes der Liebe mglich ist, das Dunkelzu durchdringen und das gttliche Sein durch die affektive Hingabe zu erfahren.

    Es ist sicher kein Zufall, da die pseudo-dionysische Mystik um eine affektive Komponentegerade zu einer Zeit bereichert wurde, als sich die bernhardische und franziskanische Mystikauf dem Hhepunkt ihrer Entfaltung befand. Dies hatte zugleich auch die Konsequenz, dasich der negative Gottesbegriff der pseudodionysischen Tradition wieder mit eineransatzweise personalen Gottesvorstellung verband. Diese Tatsache spiegelt sich sehr klarauch in der Wolke des Nichtwissens und zeigt damit, wie sie in der Entwicklung derchristlichen Mystik einen klar umrissenen Standort einnimmt: Ganz im Gegensatz zum Zenist in derWolke mehrfach von einem auch persnlich aufgefaten Gott die Rede: Er isteiferschtiger Liebhaber und Brutigam der Seele (Kap. 2), er steht und wartet, bis die Seele

    kommt (Kap. 26).Es ist ferner bemerkenswert, da der Autor auch Christus miteinbezieht,obwohl er ganz im Sinne des pseudo-dionysischen Gottesverstndnisses darauf hinweist, da

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    der konkrete Gedanke an seine Person oder Passion bei diesem Werk nichts ntze (Kap.12).An Maria von Bethanien, die imMittelalter gern als Prfiguration der mystischen Seele gedeutet wird, hebt der Verfasser hervor, da sie sich aus Liebe zu ihrem Gott in dasunerforschliche Dunkel begebe, dennoch aber erlebt sie ihn als ein gegenwrtiges, personales

    Gegenber. Die Art, wie der Autor die Gotteserfahrung der Seele in derWolke beschreibt,erinnert besonders an Bernhard von Clairvaux, der in seinen so einflureichenHoheliedpredigten der seelischen "experientia" eine hohe Bedeutung beigemessen hatte. Inhnlicher Weise wird nmlich auch in derWolke betont, es komme alles darauf an, da dieSeele sich bereite, durch die eigene Erfahrung ("experience') die Gotteswirklichkeit zu"fhlen ". Das Wort "to feel", fr das unser Autor eine besondere Vorliebe hat, meintwesentlich mehr als das Wort "fhlen ", das in unserer Sprache so abgenutzt und mitfalschen, negativen Assoziationen belastet ist, da es in vorliegender bersetzung meist mit

    "erfahren" bzw. "erleben" wiedergegeben wird, denn impliziert ist stets die Totalitt derexistentiellen Erfahrung.

    Die Liebeshingabe der Seele wird in derWolke hufig als das eine "Werk ", worauf allesankomme, bezeichnet. Es wird beschrieben als geistig-geistliche bung (einelateinischebersetzung aus dem 15.Jahrhundert gibt den Begriff mit "exercitium" wieder); sie bestehein der unbedingten Bereitschaft, das Liebesverlangen ausschlielich auf Gott um seiner selbstwillen zu richten und dabei jeden konkreten Gedanken an etwas Irdisches, selbst dieErinnerung an einzelne Snden und Tugenden, ferner jede Bercksichtigung einer gttlichen

    Eigenschaft von sich zu weisen und statt dessen in dem dunklen Nichts zu weilen, das dieGrenze zwischen Mensch und Gott markiert. Lediglich die Grundempfindung der eigenengeschpflichen Unzulnglichkeit und Sndhaftigkeit msse der Mensch beibehalten. Wenndaher unser Autor dem Leser empfiehlt, er solle seine Liebe in die Worte "Snde" und "Gott"kleiden (Kap. 36f), so sind damit sozusagen die beiden Endpunkte dieses mystischenVollzuges bezeichnet.

    Auch dann folgt der Verfasser derWolke der Tradition christlicher Mystik, da er die

    mystische unio nur als das Ende eines geistigen Weges zur Vollkommenheit definiert.Vorausgehen mu die schonungslose Selbsterforschung, die der Seele ihre pervertierteGottebenbildlichkeit bewut werden lt und in ihr die Demut erweckt. Immer wieder wirddarauf hingewiesen, da der Kontemplative sich gem den Vorschriften der Kirche reinigenlassen msse. Da der Autor dabei keinerlei Wert auf irgendeine Form der Selbstkasteiunglegt, ist ein angenehm auffallender Zug, der den englischen Mystikern berhaupt zu eigen ist.

    Als vorbereitende Hilfen fr die Erfahrung der mystischen Vereinigung werden dieVerkndigung des gttlichen Wortes und das Gebet genannt (Kap. 35).Aber auch nach der

    Absolvierung dieser Vorstufen liegt es nicht im Belieben des Kontemplativen, sein Ziel zuerreichen, vielmehr weist der Verfasser unmiverstndlich darauf hin, da die unio nur als

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    gttliches Gnadengeschenk Wirklichkeit werde, wodurch sich wieder ein wesentlicherUnterschied zum Zen ergibt. Darber hinaus betont unser Autor, da die Seele bei diesemmystischen Vollzug nicht von ihrer sozialen Umwelt isoliert sei: sie habe gerade dadurchauch Gemeinschaft mit allen Glubigen und werde sogar zu einem Nutzbringer fr die

    Gemeinschaft (Kap. 4); vor allem werde sie dadurch erst voll eingegliedert in die Einheit desmystischen Leibes Christi (Kap. 25).

    Was die Wolke so unverwechselbar und originell macht, ist nicht zuletzt das wacheBewutsein des Autors von der Unzulnglichkeit menschlicher Sprache, das er seinem Leserin breiter Ausfhrlichkeit und in noch strkerem Mae als es bei Pseudo-Dionysius der Fallist, zu vermitteln sucht. Er knpft dabei an die mittelalterliche Lehre von der analogen Entsprechung alles Seienden, insbesondere der Analogie zwischen dem geistigen und dem

    sinnlichen Bereich, an, eine Lehre, die brigens auch das Wissen um die psychosomatischenZusammenhnge und speziell um die krperlichen Auswirkungen der mystischen Kontemplation miteinschliet (Kap. 61). Auf diese Vorstellung von der analogen Entsprechung zwischen Geistigem und Sinnlichem ist zunchst sein eigentmlichesTeufelsbild zurckzufhren, das auf heutige Leser recht amsant wirkt: Der Teufel habe, sosagt er, nur ein Nasenloch, da es ihm an einer Nasenscheidewand fehle, und die besondere Nasenform habe er sich zur leiblich-konkretisierenden Verdeutlichung der geistigenTatsache gewhlt, da die ihm verfallenen Snder ber keine geistige Unterscheidungskraftverfgten (Kap. 55).

    Der gleiche Analogiegedanke, da ein geistigerGehaltin sinnlicher Entsprechung erscheint, prgt dann vor allem die Errterung des mystischen "Werkes" der Seele. Hier nimmt der Autor die sinnliche Veranschaulichung aus der Bibel, denn entsprechend dermittelalterlichen Bibelexegese konnte der biblische Wortlaut zu mehrfacher Hinsicht auchin mystischer Bedeutung - ausgelegt werden. So sieht der Verfasser das mystische "Werk" derSeele vorgebildet in dem kunstvoll angefertigten und in Exodus 25 beschriebenen "Werk" der Bundeslade. Wie diese Lade die mosaischen Gesetzestafeln enthielt, so enthalte das

    mystische "Werk" alle Tugenden auf kunstvolle Weise in sich. In hnlicher Weise wird, wieschon erwhnt, Marthas Schwester Maria als Prfiguration der mystischen Seele gesehen,denn si.e hat "den besten Teil erwhlt ". An der Art und Weise, wie unser Autor diesenWortlaut des Evangelium interpretiert (Kap. 21), erkennt man, was fr ein ungewhnlichfeines Sprachbewutsein er gehabt hat. Sprache ist fr ihn nicht zuletzt etwas Materielles,da sie mit den krperlichen Sprechorganen gebildet wird (Kap. 61). Darum vollzieht sichdas mystische Werk im Grunde auch jenseits der Sprache, im sprachlosen Schweigen (Kap.7). Wenn der Kontemplative aber einmal das Bedrfnis habe, das Werk in Sprache zukleiden, dann solle er zu einem einsilbigen Wort greifen, weil die Sprache auf diese Weise

    genau so auf ihre Eigentlichkeit reduziert sei wie die Seele, die sich in ihren Wesensgrundbegibt.

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    Erstaunlich modern wirkt die Warnung unseres Autors, man solle die Bildhaftigkeitmystischer Sprache, insbesondere die Verwendung rumlicher Kategorien nicht wrtlichauffassen. Wenn er sich dabei fters wiederholt, sollte man bedenken, da dieser Hinweis auf

    mythische Elemente in der Sprache besonders notwendig war in einer Zeit, die noch ganz inBildern dachte und in der sich daher auch nicht selten schwrmerische Irrtmer einstellten.Trotz dieser Skepsis gegenber einer bildhaften Sprache ist die Wolke aber in einem sehrlebendigen Stil geschrieben, zu dem nicht zuletzt gerade auch eine ganze Anzahl von Bildernund Gebrden beitragen.

    Die Lebendigkeit der Argumentation ist schlielich auch auf die Tatsache zurckzufhren,da die Wolke in eine briefhnliche Form gekleidet ist: Der Autor fhrt einen Dialog mit

    dem Adressaten, nimmt dessen mgliche Fragen vorweg und sucht auch etwaige Einwndezu entkrften. Dieser bewut erzeugte Eindruck eines geistlichen Gesprchs verleiht demWerk einen sehr persnlichen Ton. Der Adressat ist nmlich nicht nur eine literarischeFiktion, wie sie hufig in der Absicht gewhlt wurde, die Form der Darbietung zu beleben.Vielmehr mssen wir in dem angesprochenen Leser einen persnlichen Schler des Autorssehen, der sich lngere Zeit in der vita activa bewhrt hat und nun, obwohl er erstvierundzwanzig Jahre alt ist, auf der "erwhlten" Stufe der vita contemplativa angelangtist. Um sich ganz der Kontemplation widmen zu knnen, hat er sich fr eine einsame Lebensform entschieden, was freilich durchaus nicht bedeuten mu, da er ein Einsiedler

    war. aber die konkrete Form seiner Lebensweise lt sich jedoch nichts Definitives sagen;mglicherweise war er ein Laienbruder, der aus lndlichen Kreisen stammte und ber keinegrere Bildung verfgte.

    Dieser Leser hatte sich offenbar zu Beginn seiner neuen Lebensform an den Autor mit derBitte um schriftliche Anleitung zur Kontemplation gewandt (vgl. Kap. 48), und gegen Endedes Buches wird er ermuntert, weitere Fragen zu stellen. Sicher war dieser Leser nicht dereinzige konkrete Anla fr die literarische Ttigkeit unseres Autors. Wir besitzen von ihm

    noch andere Texte, nmlich das Buch von der mystischen Seelenfhrung und einen Briefber das Gebet, die ebenfalls auf Bitten eines Lesers geschrieben wurden,. auerdem sinddiesem anonymen Autor mit grter Wahrscheinlichkeit einige weitere Texte zuzuschreiben,nmlich ein Traktat ber das Studium der Weisheit (eine Bearbeitung des Benjamin Minordes Richard von St. Victor), ein Brief ber die Unterscheidung seelischer Regungen, einTraktat ber die Unterscheidung der Geister und schlielich die schon erwhnte freiebertragung der Mystica Theologia des Pseudo-Dionysius. All diese Werke besttigen denEindruck, den wir schon aus dem Prolog der Wolke gewinnen knnen, da es nmlich unterden praktizierenden Kontemplativen einen regen geistigen Gedankenaustausch gegeben hat.

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    Die entscheidende Rolle bei der Frderung und Erhaltung dieses geistlichen Lebens fiel denSeelenfhrern zu, unter denen unser Autor durch seine groe Erfahrung, auf die er selbstanspielt (Kap. 51), einen hervorragenden Platz einnimmt. Genauere Kenntnisse ber ihnhaben wir nicht, weil er es vorzog, in der Anonymitt zu bleiben, und aus seinen Werken lt

    sich nur weniges erschlieen. Auf jeden Fall zeigt seine Argumentationsweise sehr deutlich,da er ber eine groe theologische Schulung verfgt haben mu. Er hat sich nicht nur mit Pseudo-Dionysius und Thomas Gallus, die er beide namentlich erwhnt,auseinandergesetzt, sondern auch mit vielen anderen Kirchenlehrern, vor allem Augustin,Bernhard, Wilhelm von St. Thierry, Hugo von St. Victor und Richard von St. Victor. Dieuerung, er sei recht ungelehrt (Kap. 1), ist daher nur als eine Bescheidenheitsformel zuwerten.

    Aufgrund der bisher skizzierten Entstehungsumstnde derWolke lt sich auch ihrVerhltnis zur kontinentalen, insbesondere zur deutschen Mystik umreien. Da in Englandzwischen den Seelenfhrern und den Kontemplativen ein reger Austausch bestand, erinnertin auffallender Weise an die Gottesfreunde in Deutschland, wo etwa ein Heinrich von Nrdlingen durch geistliche Briefe die Mystikerin Margaretha Ebner unterwies. Auch dieemphatische Art, mit der in der Wolke theologische Gelehrsamkeit als untauglich frmystische Erfahrungen abgelehnt wird, obwohl unser Autor selbst groe theologischeKenntnisse besa, hat eine deutliche Entsprechung in dem, was wir ber die Gottesfreundewissen. Zu Beginn von Kap. 47 berichtet der Autor von "einigen meiner Freunde in Gott",

    und auerdem wird der Adressat auch als "in Gott geliebter Freund" angeredet. Da freilichdas Motiv der Gottesfreundschaft eine alte Tradition innerhalb der Theologie hat, habenderartige Formulierungen keine letzte Beweiskraft. Einen sehr interessanten Hinweis fr die Beantwortung der Frage nach etwaigen kontinentalen Beziehungen finden wir indes imVorwort zur bereits erwhnten lateinischen bersetzung derWolke; dort wird gegen die"Hresie der Begarden" Stellung genommen. Diese in Deutschland verbreitete Sekteignorierte die christliche Verankerung der pseudo-dionysischen Mystik und propagierte dieAuflsung des Individuums in einer pantheistisch verstandenen All-Einheit. berhaupt mu

    es auch in England hier und da pseudomystische Gruppen gegeben haben, was aus denInvektiven des Autors gegen die absonderlichen Verhaltensweisen mancher Zeitgenossen zuerschlieen ist.

    Darber hinaus ist zu vermuten, da der Verfasser noch zu hretischen Gedanken, die vonanderer Seite verbreitet wurden, Stellung nehmen wollte. So klingt die Art, wie er in Kap. 67in orthodoxer Auslegung des Bibelwortes Ps. 81,6 lehrt, da der Mensch in der mystischenunio vergottet werde, wie eine gezielte Zurckweisung der Lehre Meister Eckharts von derVergottung des Menschen im Sinne einer restlosen Verschmelzung des menschlichen Wesens

    mit dem gttlichen Sein. Unser Autor betont mit besonderem Nachdruck, da der Menschnur durch die Wirkung der Gnade vergottet werde und da er bei und trotz dieser

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    Vergottung dennoch ein von Gott getrenntes Geschpf bleibe. Lehrt Meister Eckhart dieGeburt Gottes in der Seele durch den im Seelengrund innewohnenden gttlichen Funken,den er noch durch zahlreiche andere Bildvorstellungen verdeutlicht, so spricht unser Autorvon einer solchen gttlichen Kraft nicht. Wohl aber gebraucht auch er das scholastische

    Motiv des Seelengrundes zur Umschreibung des eigentlichen Wesens der Seele, wodurch sieihre Gottebenbildlichkeit besitzt. Wenn sie sich darum von allen sinnlichenWahrnehmungen lst und sich ganz auf diesen Grund konzentriert, ist sie ganz Geist unddarum Gott am nchsten. Da im Bereich des Geistigen alle Gegenstze in einercoincidentiaoppositorum zusammenfallen, begegnet in der Mystik als Synonym zum Seelengrund auchdie Vorstellung von der Spitze des Geistes, des apex mentis, die unser Autor ebenfalls inseine Argumentation mit einbezieht (Kap. 37 u. 68).

    Fr die Einordnung derWolke in die sptmittelalterliche Mystik ist ferner die Tatsache sehraufschlureich, da sie in einer Handschrift zusammen mit einem Werk erscheint, das denTitel Spiegel der einfachen Seelen trgt. Dies ist diebearbeitende bersetzung eines in Paris entstandenen franzsischen Originals, welches als das Hauptdokument der Brdervom freien Geist gilt und unter dem Einflu der Eckhartschen Lehre entstanden ist. DieserText enthlt eine poetischekstatische, in ihrem affektiven Charakter weit ber die Wolkehinausgehende Ausdeutung der pseudo-dionysischen Mystik, wobei sich immer wiedersprachliche Zuspitzungen finden, die mit der kirchlichen Lehre nur mehr schwer vereinbarsind. So werden besonders die vllige Ruhe und der reine Friede der mystischen Seele betont,

    woran die quiettistische Tendenz dieser Bewegung zu erkennen ist. Es ist mglich, da unserAutor gerade diese Tendenz abzuwehren sich bemht, wenn er nicht mde wird, zu betonen,welch groe Mhe das mystische Werk bereite. Die Gefahr eines weiteren Miverstndnissesliegt in der Aussage des Spiegels der einfachen Seelen, da die Seele Abschied nehme vonallen Tugenden (wobei auch alle guten Werke impliziert sind); denn bei diesem Werk, dasbestndig bei ihr bleibe, brauche sie die Tugenden nicht mehr. Auch in dieser Frage uertsich unser Autor wesentlich vorsichtiger: Nicht nur hebt er hervor, da das Werk nicht etwasDauerhaftes sei, weshalb es immer aufs neue gewirkt werden msse, sondern er betont auch,

    da diese Tugenden smtlich durch das Werk gewirkt wrden.

    Die Gewagtheit mancher uerungen des Spiegels erklrt sich aus einem absolutenVerstndnis der geistigen Freiheit, das dieser Bewegung ja auch ihren Namen gegeben hat.Den englischen Mystikern ist nun dieses Thema ebenfalls wichtig, auch dem Verfasser derWolke, obwohl er es dort nicht ausfhrlich errtert. In seinem Brief ber dieUnterscheidung seelischer Regungen kommt es aber sehr deutlich zur Sprache. DieseSchrift ist offenbar fr einen Leser bestimmt, der wegen weltlicher Bindungen weder ein reinkontemplatives Leben fhren konnte, noch sich mit einer bloenvita activa begngen wollte,

    d.h. er praktizierte wohl einen damals in Laienkreisen beliebten Kompromi, der in demVersuch bestand, zwar nicht den Verantwortlichkeiten dieser Welt zu entfliehen, dennoch

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    aber nicht auf die Intensitt mystischer Erfahrung zu verzichten. Walter Hilton, einenglischer Mystiker, der mit unserem Autor in vielem verwandt ist, hat dem Problem des"Mixed Life" einen ganzen Brief an eine hhergestellte weltliche Persnlichkeit gewidmet.Wenn man dazu den Prolog derWolke liest, wird man bemerken, wie der Verfasser damit

    rechnet, da nicht nur rein kontemplative Leser seinen Text zu Gesicht bekommen, sondernauch solche, die sich nur zeitweise der Kontemplation hingeben knnen. Einem solchen Lesererklrt nun derBrief ber die Unterscheidung seelischer Regungen, da die Wahl einerbestimmten Lebensform fr jene nicht ausschlaggebend sei, die sich fr die von Paulusbeschriebene Freiheit der Kinder Gottes entschieden htten, denn diese Freiheit sei beralldort zu finden, wo der Geist Gottes herrsche. Wer Gott gewhlt habe, tue alles ihm zuliebe,und darum werde die Art der Beschftigung, der man nachgehe, gleichgltig, weil er gleichsam dazwischen zu finden sei: "Whle ihn, und du sprichst schweigend und beim

    Sprechen schweigst du; du it, whrend du fastest und fastest, whrend du it." Den gleichenGedanken finden wir in der in manchem unsererWolke geistesverwandten TheologiaDeutsch des Frankfurters, einer pseudo-dionysisch geprgten Laientheologie, die freilich dermenschlichen Verstandeskraft eine grere Bedeutung beimit. Eine besondere geistigeVerwandtschaft besteht schlielich auch zwischen derWolke und der Mystik des Johannesvom Kreuz, bei dem das Thema der dunklen Seelennacht seine strkste sprachlicheGestaltung erfahren hat.

    Die bersetzung derWolke versucht, den mittelenglischen Text so genau wie mglich

    wiederzugeben und auch Eigentmlichkeiten des sprachlichen Stils durchscheinen zu lassen,soweit dies die Rcksicht auf klare Verstndlichkeit zult.

    Bibliographische Hinweise

    Zugrunde gelegte Ausgabe: Hodgson, Ph., hg., The Cloud o[ Unknowing and the Book o[ PrivyCounselling, Early English Text Society. Original Series 218 (Oxford, 1944, Nachdruck 1973) Als Band231 dieser Reihe hat Hodgson auch die brigen Schriften des Autors herausgegeben unter dem Titel:Deonise Hid Diuinite (Oxford 1958). Neuenglische Ausgabe:

    Wolters, C., hg., The Cloud of Unknowing (Harmondsworth 1961) Gesamtdarstellungen der englischenMystik: Coleman, T.W., English Mystics of the Fourteenth Century (London, 1938) Colledge, E., TheMediaeval Mystics of England (London, 1962) Hodgson, Ph., Three 14th-Century English Mystics

    (London, 1967) Knowles, D., Englische Mystik (bers. v. K.-D. Ulke, Dsseldorf, 1967) Riehle, W.,Studien zur englischen Mystik des Mittelalters (Heidelberg, 1977) Underhill, E., The Mystics of the Church(London, 1925; New York, 1964) Walsh, J., hg. Pre-Reformation English Spirituality (New York, 1966)

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    O Gott, vor dem jedes Herz offenliegt, zu dem jeder Wille spricht und dem keinGeheimnis verborgen ist: ich bitte Dich, reinige das Verlangen meines Herzens mit

    dem Geschenk Deiner unaussprechlichen Gnade, auf da ich Dich vollkommen liebenund wrdiglich preisen mge. Amen.

    DER PROLOG

    Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wer immer du bist,der dieses Buch hat, weil es dir entweder gehrt oder weil du es aufbewahrst, esausgeborgt hast oder jemandem berbringst, ich bitte dich und lege dir mit sovielNachdruck und Bestimmtheit ans Herz, als mir die Pflicht zur Nchstenliebe erlaubt,

    da du deine ganze Willenskraft und Umsicht darauf verwendest, das Buch weder vorzulesen, abzuschreiben, seinen Inhalt nicht mndlich weiterzugeben und es nichtzuzulassen, da es von jemand gelesen, abgeschrieben oder da sein Inhalt mndlichweitergegeben werde auer von jemand oder fr jemand, der nach deinem Wissen sichmit lauterem Willen und in ungeteilter Hingabe entschlossen hat, ein vollkommenerJnger Christi zu sein, nicht nur in der aktiven Lebensform, sondern auf der hchstenStufe des kontemplativen Lebens, wozu die vollkommene Seele, solange sie noch indiesem sterblichen Leibe weilt, durch Gnade zu gelangen imstande ist. [Auch sollte esnur ein Leser sein], der sich nach Krften bemht und sich nach deinem Wissen schon

    seit langem durch ein tugendhaftes, aktives Leben bemht hat, die Voraussetzungenfr ein kontemplatives Leben zu erlangen; andernfalls wrde ihm nmlich dieses Buchnichts ntzen.

    Zudem ermahne und bitte ich dich im Namen der christlichen Liebe: Lege demMenschen, der das Buch liest, abschreibt bzw. seinen Inhalt mndlich weitergibt, ihn vorgelesen bzw. mndlich erklrt bekommt, ans Herz, da er sich Zeit nehme, dasBuch von Anfang bis Ende zu lesen, mndlich weiterzugeben, abzuschreiben oder

    anzuhren, wie ich auch dich darum gebeten habe. Denn vielleicht ist zu Beginn oderin der Mitte vom Thema in einer Weise die Rede, die an dieser Stelle in der Luft hngtund noch nicht ganz erklrt ist; aber wenn die Aussage nicht da erklrt ist, so sicherlichbald darauf oder aber am Ende. Wenn man nmlich einen Gedankengang nur zum Teilaufnimmt, kann man dadurch leicht irregefhrt werden. Damit also weder du noch alleanderen Leser diesem Irrtum verfallen, bitte ich dich um Gottes Liebe willen: tu wasich dir sage. Ich wnsche mir, da sinnliche Schwtzer, Leute, die sich ffentlich selbstoder andere loben oder tadeln, Lsterzungen und Neuigkeitenkrmer sowie alle Artenvon Nrglern dieses Buch nie zu Gesicht bekmen. Denn nie war es mein Bestreben,

    fr sie solche Dinge zu schreiben.

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    Deshalb wnsche ich nicht, da sie oder irgendjemand von diesen wibegierigen,gelehrten oder auch ungebildeten Leuten sich damit zu schaffen machen. Ja, selbst

    wenn es Leute mit sehr guter aktiver Lebensfhrung sind, ist das Thema dieses Buchesdennoch nichts fr sie. Anders steht es mit solchen, deren ueres Leben zwar aktiv ist,

    die aber durch den inneren Ansporn des geheimnisvollen, gndigen Geistes Gottesmit Seinen unerforschlichen Ratschlssen eine Bereitschaft verspren, am Hhepunktdes kontemplativen Geschehens teilzuhaben zwar nicht auf die Dauer, wie es deneigentlichen Kontemplativen zukommt, sondern lediglich dann und wann. Wennsolche Leute dieses Buch zu Gesicht bekmen, wrde es sie mit Gottes Hilfe sehrtrsten.

    Dieses Buch ist in fnfundsiebzig Kapitel eingeteilt; die letzten Kapitel handeln vongewissen Anzeichen, durch welche man sich genau prfen kann, ob man von Gottberufen ist, sich in diesem geistlichen Werk zu ben oder nicht. Mein in Gott geliebterFreund, ich bitte und ersuche dich: widme dich mit Flei der Art und Ausbung deinerBerufung und danke Gott von Herzen, damit du dich mit Hilfe Seiner Gnade in jenemStand, auf jener Stufe und in jener Lebensform standhaft bewhrst, die du im Kampfgegen die hinterlistigen Angriffe deiner leiblichen und geistigen Feinde mit guter Absicht gewhlt hast und da du die Krone des ewigen Lebens empfangen mgest.

    Amen.

    Kapitel 1

    Mein in Gott geliebter Freund, wisse, da es nach meiner ungelehrten Meinung vierStufen und Formen des christlichen Lebens gibt, und diese sind: die gewhnliche, diespezielle, die erwhlte und die vollkommene Stufe. Die drei ersten Stufen und Formenknnen in diesem Leben begonnen und zu Ende gefhrt werden, mit der viertendagegen kann man zwar durch Gnade hienieden beginnen, aber sie wird nie enden,

    sondern ewig whren in der Wonne des Himmels. Und die gleiche Reihenfolge, in derdu sie hier aufgefhrt siehst zuerst die gewhnliche, dann die spezielle, danach dieerwhlte und endlich die vollkommene Lebensform hat auch, scheint mir, unser Herrin Seiner groen Barmherzigkeit eingehalten, als Er dich rief und dich mit derSehnsucht deines Herzens zu Sich zog. Zunchst weit du genau, da Gott in Seinerunendlichen Liebe, durch die Er dich geschaffen hat, als du ein Nichts warst, und derdich um den Preis Seines kostbaren Blutes erkauft hat, als du in Adam verloren warst,es nicht zulassen wollte, da du in deinem frheren Stand und in deiner frherenLebensweise soweit von Ihm entfernt bliebst, als du noch ein gewhnliches

    Christenleben in Gemeinschaft deiner weltlichen Freunde fhrtest. Und darumentfachte Er gndig dein Verlangen, band es an den Strick der Sehnsucht! und fhrte

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    dich so zu einem speziellen Stand und einer speziellen Lebensform, damit du Seinen

    speziellen Dienern ein Diener seiest und um dort zu lernen, wie man spezieller und

    geistlicher in Seinem Dienst leben kann, als du seither gelebt hattest oder httest

    weiterleben knnen. Und was geschah dann? Offenbar wollte Er um der Liebe

    willen, die Sein Herz an dir immer erzeigt hat, seitdem du erschaffen bist, nichtso leicht von dir lassen. Und was tat Er daraufhin? Hast du nicht bemerkt, mit

    welchem Eifer und wie gndig Er dich auf die dritte Stufe und Lebensform

    gezogen hat, welche die erwhlte genannt wird? In dieser Weise und Form eines

    in sich zurckgezogenen Lebens kannst du lernen, mit den Fen deiner Liebe2

    jener Lebensform entgegenzugehen, die als letzte von allen vollkommen ist.

    2Es war in mystischer Exegese blich, jede Erwhnung von Fen in der Bibel als Sinnbild der mystischen Liebe der Seele zu

    deuten.

    Kapitel 2

    Nun berlege und erkenne, was du in deiner elenden Schwche wirklich bist. Was bistdu und womit hast du es verdient, auf diese Weise von unserem Herrn berufen zu werden? Das wre mir ein mdes, elendes und in Trgheit dahindmmerndes Herz,das vom Zug dieser Liebe und dem Klang dieses Rufes nicht geweckt wrde! Htedich jedoch, Elender, vor deinem Feind und halte dich nie fr frmmer oder besser,weil du dieser Berufung gewrdigt wurdest oder weil du in der erwhlten Lebensform

    stehst, sondern halte dich fr desto elender und verdammter, es sei denn, du tust mitHilfe der Gnade und untersttzt durch geistlichen Rat alles, was in deiner Macht steht,um deiner Berufung gem zu leben. Deinem geistlichen Brutigam gegenber solltestdu um so demtiger und hingebungsvoller sein, weil Er "der allmchtige Gott, derKnig der Knige und Herr der Herren"1 sich so tief zu dir herablie und dich inSeiner Gnade aus der groen Herde Seiner Schafe auserwhlte, einer Seiner engstenFreunde zu sein und der dich auf die frische Weide gefhrt hat2 , damit du dort durchdie Sigkeit Seiner Liebe genhrt werdest als Vorgeschmack deines Erbteils, deshimmlischen Knigreichs. Fahre deshalb bitte mit deinem Werk unbeirrt fort. Schaue

    nun vorwrts und la fahren, was hinter dir liegt.3 Achte auf das, was dir fehlt und nichtauf das, was du hast, so wirst du am schnellsten demtig werden und es bleiben. Deinganzes Leben mu von jetzt ab immer von der Sehnsucht erfllt sein, wenn du auf derStufenleiter zur Vollkommenheit aufsteigen willst. Diese Sehnsucht mu immer indeinem Willen durch die Hand des allmchtigen Gottes und mit deiner Einwilligungentfacht werden. Aber eines sage ich dir: Er ist ein eiferschtiger Liebhaber4 undduldet niemand neben sich, auch will Er nur, wenn Er ganz allein mit dir ist, in deinem Willen wirken. Er verlangt keine Hilfe, nur dich selbst. Er will, da du nur auf Ihn

    schaust und Ihn blo gewhren lssest. Halte du Fenster und Tren frei von Fliegenund belstigenden Feinden.5 Und wenn du bereit bist, dies zu tun, brauchst du dichnur in Demut mit deinem Gebet nach Ihm auszustrecken, und alsogleich wird Er dir

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    helfen. Mache dich also ans Werk und la mich sehen, wie du dich anstellst. Er ist jederzeit bereit und wartet nur auf dich. Was aber mut du tun und wie mut du esanstellen?

    1

    1 Tim. 6,15;Offbg.17,14; 19,16.2

    Ps. 22 (Vulgata); Ez. 34,14.3

    Phil.3,13.4

    Vgl. Exod. 20,5.5

    Ein inmittelalterlicher Homiletik beliebtes, aus der Exegese von Jer. 9,21 gewonnenes Bild dafr, da der Menschsich davor hten solle, durch seine leiblichen Sinne zur Snde verleitet zu werden.

    Kapitel 3

    Erhebe dein Herz zu Gott mit einer demtigen Regung der Liebe; meine Gott selbstund keine Seiner Eigenschaften. Empfinde einen Widerwillen davor, an irgend etwas

    auer an Ihn zu denken, auf da nichts in deinem Verstande und in deinem Willen wirke als allein Er selbst. Bemhe dich nach Krften, alle von Gott je erschaffenenLebewesen mitsamt ihren Werken zu vergessen, damit dein Dichten und Trachten aufkeines von ihnen gerichtet sei oder nach ihnen verlange, weder im allgemeinen nochim besonderen. La sie in Ruhe und beachte sie nicht. Dies ist das Werk der Seele, dasGott am besten gefllt. Alle Engel und Heiligen empfinden Freude ber dieses Werkund bemhen sich mit Flei, es nach ihrem besten Vermgen zu frdern. Die bsenFeinde freilich toben, wenn du damit beschftigt bist; sie versuchen es mit allen ihnenzu Gebote stehenden Mitteln zu Fall zu bringen. Allen Menschen auf der Erde istdieses Werk eine wundersame Hilfe, auch wenn du nicht weit, warum. Ja sogar denSeelen im Purgatorium wird Erleichterung von ihrer Pein durch dieses Werk zuteil.Und kein anderes Werk reinigt dich selbst so sehr und macht dich so lauter wie dieses.Dabei ist es von allen das leichteste und am schnellsten zu vollbringende Werk, wenndurch Gnade in der Seele ein sprbares Verlangen entsteht; ohne Gnade freilich ist esfr dich zu hart und zu schwer. Gib also nicht auf, sondern gib dir solange Mhe damit, bis du Verlangen danach empfindest. Denn zu Beginn deiner bung bemerkst dunichts als eine Finsternis, sozusagen eine Wolke des Nichtwissens, genau weit du

    nicht, was das ist, auer da du in deinem Willen ein von allem entbltes Verlangennach Gott sprst. Du magst dich bemhen wie du willst, dennoch bleiben dieseDunkelheit und diese Wolke zwischen dir und deinem Gott und hindern dich, Ihn mitdem Lichte deiner geistigen Verstandeskraft in deiner Vernunft deutlich zu erkennenoder in seliger Liebe in deinem Herzen zu spren. Mache dich deshalb bereit, in dieserDunkelheit solange wie mglich zu verweilen und immerfort nach dem, den du liebst1zu rufen; denn wenn du Ihn je fhlen oder sehen knnen wirst, sofern dies hieniedenmglich ist, so kann dies doch immer nur in jener Wolke und Dunkelheit geschehen.Wenn du dich indes eifrig in diesem Werk bemhst, so wie ich es dir rate, glaube ichwohl, da Gott in Seiner Gnade dir diese erwhnte Schau gewhrt.

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    1 H1.3,1;5,6.

    Kapitel 4

    Damit du aber nicht in diesem Wirken irregehst und glaubst, es sei anders als es

    wirklich ist, will ich dir ein bichen mehr darber sagen, wie ich es auffasse. Manbraucht nicht viel Zeit, wie manche meinen, um dieses Werk einmal wirklich zu tun,denn es ist das krzeste Werk, das man sich denken kann. Es ist weder lnger nochkrzer als der kleinste Teil der Zeit. Diesen kleinsten Teil der Zeit nennen die Astronomen in ihrer Definition ein Zeit-"Atom".2 Und weil es so klein ist, ist esunteilbar und fast unbegreiflich. Dies ist die Zeit, von der geschrieben steht: Man wirdRechenschaft von dir fordern darber, wie du die ganze Zeit, die dir gegeben wordenist, verwendet hast.3 Es ist auch durchaus richtig, da du Rechenschaft darber ablegen

    mut, denn der kleinste Augenblick ist weder lnger noch krzer, sondern gleich langwie eine einzige Regung, die in der Hauptwirkkraft deiner Seele, nmlich dem Willen,entsteht. Denn ebenso viele Willensakte und Wunschvorstellungen nicht mehr undnicht weniger sind in einer Stunde in der Willenskraft mglich und tatschlich vorhanden, wie es kleinste Augenblicke in einer Stunde gibt. Und wrst du durchGnade rckverwandelt in den ursprnglichen Stand der Seele, wie sie vor demSndenfall war, dann wrst du durch eben diese Gnade Herr dieser Regung oderRegungen; keine ginge dann ungenutzt vorbei, sondern alle streckten sich zu demGipfel des Begehrenswerten und dem hchsten Ziel menschlichen Wollens empor, das

    da ist Gott. Denn Gott gleicht sich unserer Seele an, indem Er Seine Gottheit von ihrerreichen lt; und unsere Seele ist Ihm angeglichen kraft der Wrde unsererErschaffung nach Seinem Bild und Gleichnis.4 Und Er allein und nichts darber hinausist viel mehr als genug, um das Wollen und Verlangen unserer Seele zu stillen. UnsereSeele wird durch die Kraft dieser umwandelnden Gnade fhig, Gott durch die Liebeganz zu fassen, der doch fr alle erschaffenen Erkenntniskrfte, als da sind die Engelund die menschliche Seele, ganz unfalich ist. (Ich meine, Er ist unfalich fr ihreErkenntnis, nicht aber fr ihre Liebe, deshalb nenne ich sie in diesem Falle

    Erkenntniskrfte.) Alle vernunftbegabten Geschpfe, sowohl Engel wie Menschen,besitzen jede fr sich eine Hauptwirkkraft, welche die Erkenntniskraft heit, und eineandere Hauptwirkkraft, welche die liebende Kraft heit; fr die erste dieser beidenKrfte, die Erkenntnisfhigkeit, ist Gott als ihr Schpfer immerdar unfalich; fr diezweite, die liebende Kraft, ist Er fr jeden einzelnen Menschen vllig falich. Insofernkann die einzelne liebende Seele nur in sich selbst, kraft ihrer Liebe Ihn 'erfassen, der volle Genge5 und noch unvergleichlich mehr ist, um das Verlangen aller Menschenund aller Engel, die es je geben mag, zu stillen. Und das ist das ewige, herrliche Wunderder Liebe, das kein Ende nehmen wird; denn Er wird es immer vollbringen und wird

    nie aufhren, es zu vollbringen. Wer durch Gnade zu sehen vermag, der sehe, denn eszu fhlen ist endlose Wonne, das Gegenteil aber ist endlose Pein. Wer deshalb durch

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    Gnade umgestaltet ist und dadurch bestndig seine Willensregungen, ohne die er vonNatur aus nicht leben kann, in acht zu nehmen vermag, wird immer einen Vorgeschmack der unendlichen Wonne verspren und in der himmlischen Seligkeitdie volle Speise erlangen. Wundere dich deshalb nicht, da ich dich ermuntere, dieses

    Werk zu tun. Denn dies ist das Werk (wie du spter hren wirst), das der Menschfortwhrend gewirkt htte, wre er ohne Snde geblieben, und fr das er erschaffenwurde; es wurde auch alles fr ihn erschaffen, um ihm dabei zu helfen und ihn darin zufrdern, und es ist das Werk, durch das seine GottEbenbildlichkeit wiederhergestelltwerden soll. Wenn er in diesem Werk versagt, fllt er tiefer und tiefer in die Snde undmehr und mehr von Gott ab. Wirkt er aber ohne Unterla in diesem Werk und tut erdies allein und nichts anderes, dann steigt er stetig hher und hher ber die Sndehinauf und nher und nher zu Gott. Gehe deshalb sorgsam mit der Zeit um und siehzu, wie du sie verwendest; denn nichts ist kostbarer als die Zeit. In einem einzigenAugenblick, so kurz er auch ist, kann man den Himmel gewinnen und verlieren. Es hateinen tieferen Sinn, da die Zeit kostbar ist, denn Gott, der sie gibt, verteilt niemalszwei Augenblicke auf einmal, sondern einen nach dem anderen. Und dies tut Er, weilEr die Ordnung und den natrlichen Lauf Seiner Schpfung nicht umstoen will.Denn die Zeit ist fr den Menschen geschaffen und nicht der Mensch fr die Zeit.Daher will Gott, der Beherrscher der Natur, in der Zumessung der Zeit der natrlichenRegung in der menschlichen Seele nicht vorgreifen, denn eine solche Regung ereignetsich jeweils in einem einzigen Augenblick. So kann der Mensch am Jngsten Tag vor

    Gott keinerlei Entschuldigung vorbringen, wenn er ber seine Verwendung der ZeitRechenschaft ablegen mu, und er kann nicht sagen: "Du gabst zwei Augenblicke aufeinmal, und ich habe immer nur jeweils eine Regung." Aber jetzt wirst du bekmmertfragen: "Was soll ich tun? Da es doch wahr ist, was du sagst, wie soll ich ber jedeneinzelnen Augenblick eigens Rechenschaft ablegen? Ich, der ich jetzt vierundzwanzig Jahre alt bin und bis zu diesem Tag nie achtgab auf die Zeit? Wollte ich es jetztgutmachen, so weit du wohl eben weil du mir diese Worte geschrieben hast -, da esnach dem Gesetz der Natur oder durch die gewhnliche Gnade fr mich unmglichist, auf Augenblicke achtzugeben oder ihre Vergeudung gutzumachen mit Ausnahmeder noch kommenden. Und auerdem wei ich aus Erfahrung genau, da ich ausbergroer Schwche und Trgheit des Geistes aus hundert knftigen Augenblickennicht auf einen einzigen achtgeben kann, so da ich aus diesem Grunde gnzlichverwirrt bin. Hilf mir jetzt, um der Liebe Jesu willen!" Das hast du gut gesagt: "um der;Liebe Jesu willen"; denn in der Liebe Jesu liegt deine Hilfe. Die Liebe ist eine Kraft, diealle Dinge miteinander vereint. Liebe daher Jesus, und alles was Er hat, wird dein sein.Durch Seine Gottheit ist Er der Schpfer und Geber der Zeit; durch Seine Menschheitist Er der wahre Hter der Zeit; durch beides, Seine Gottheit und Seine Menschheit,

    richtet Er am besten und hat das volle Recht, von uns Rechenschaft ber unsereVerwendung der Zeit zu verlangen. Verbinde dich daher mit Ihm durch das Band der

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    Liebe und des Glaubens, und kraft dieses Bandes wirst du mit Ihm verbunden sein undmit all denen, die durch die Liebe ebenso mit Ihm verknpft sind: das heit, mitUnserer Lieben Frau, der heiligen Maria, die in der Flle ihrer Gnade die Zeit wohl inacht zu nehmen wute, mit allen Engeln im Himmel, die nie Zeit vergeuden knnen,

    und mit allen Heiligen im Himmel und auf Erden, die durch Jesu Gnade in der Kraftihrer Liebe die Zeit recht wahren. Siehe, darin liegt Trost, verstehe meine Wort wohlund ziehe Nutzen daraus. Doch auf eins mchte ich dich vor allem hinweisen: Ichkann mir nicht vorstellen, da jemand wahrhaftige Gemeinschaft mit Jesus und Seinerhochgeehrten Mutter, Seinen erhabenen Engeln und Seinen Heiligen beanspruchenkann, der sich nicht nach Krften bemht, mit Hilfe der Gnade die Zeit in acht zunehmen, so da er fr seinen Teil, wenn auch nur im kleinen, sich als Nutzbringerdieser Gemeinschaft erweist, wie es jene, mit denen er Gemeinschaft haben will, zuihrem Teil auch tun. Achte deshalb auf dieses Werk und auf seine wunderbareWirkung im Innern deiner Seele. Denn, richtig verstanden, ist es blo eine pltzlicheRegung, die gleichsam unversehens schnell zu Gott berspringt, wie ein Funke aus derKohlenglut schiet. Man wrde staunen, wollte man alle Regungen zhlen, dieinnerhalb einer einzigen Stunde in der fr dieses Werk bereiten Seele gewirkt werdenknnen. Es gengt indes eine einzige dieser Regungen, damit der Mensch pltzlichund vollkommen alle erschaffenen Dinge vergit. Doch sofort nach jeder Regung ltihn die Verderbtheit des Fleisches wieder auf einen Gedanken oder eine Erinnerung aneine begangene oder noch nicht ausgefhrte Tat verfallen. Doch was tut's? Denn gleich

    danach erhebt sich die Regung wieder ebenso pltzlich wie zuvor. Daran kann man die Art dieses Wirkens auf einfache Weise begreifen und klar erkennen, da sie weitentfernt ist von Phantasievorstellungen, falschen Vorspiegelungen derVorstellungskraft oder abwegigen Meinungen; denn diese entstehen nicht durch eineso hingebungsvolle und sanfte, blinde Liebesregung, sondern durch einen stolzen, vorwitzigen und ausschweifenden Verstand. Solch ein stolzer, vorwitziger Verstandmu stets hinabgedrckt und mit Fen getreten werden, wenn dieses Werk in derReinheit des Geistes wahrhaftig gewirkt werden soll. Denn falls jemand durch denmndlichen Vortrag oder ein Gesprch von der geistigen bung dieses Werks hrtund nun glaubt, er knne oder msse durch mhselige Geistesarbeit dazu kommen, sotuscht sich ein solcher Mensch gewaltig, wenn er sich dann hinsetzt und in seinemKopf grbelt, wie das wohl sein kann, und indem er in seiner Neugier vielleicht seineVorstellungskraft auf widernatrliche Weise anstrengt und so eine Art Werk erfindet,das weder leiblich noch geistig ist. So gefahrvoll ist diese Tuschung, da er, wennGott in Seiner groen Gte an ihm nicht ein barmherziges Wunder erweist und ihn bald dazu bringt, das Werk aufzugeben und sich dem Rat der in diesem WerkErfahrenen unterwirft, entweder in wilden Irrwahn oder groen Unfug verbunden mit

    geistlichen Snden und teuflischem Betrug verfallen wird; und dadurch kann er leichtdas Leben wie auch die Seele fr immer verlieren. Sieh dich deshalb um der Liebe

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    Gottes willen vor bei diesem Werk und strenge auf keinen Fall deinen Verstand unddeine Vorstellungskraft an. Denn wahrlich, ich sage dir, man kann nicht dazu gelangen,indem man diese anstrengt; la daher beide sein und wirke nicht mit ihnen. Undglaube nicht, da ich, weil ich von einer Dunkelheit oder Wolke spreche, eine Wolke

    meine, die aus Dunst geballt ist, wie er in der Luft schwebt, oder eine Dunkelheit, wiesie zur Nachtzeit bei dir zu Hause herrscht, wenn deine Kerze gelscht ist. Denn einesolche Dunkelheit und Wolke kannst du mit der Vorstellungskraft und dem Verstandselbst am hellsten Sommertag vor deinem geistigen Auge sehen, nicht anders als du dirumgekehrt in der dunkelsten Winternacht ein helles, leuchtendes Licht vorstellenkannst. Solch ein Irrtum sei ferne von dir; so meine ich es nicht. Wenn ich nmlich"Dunkelheit" sage, so meine ich einen Mangel an Wissen; so wie dir alles, was du nicht weit oder vergessen hast, dunkel erscheint, weil du es nicht mit deinem geistigen Auge siehst. Aus diesem Grund wird die Wolke nicht eine Wolke der Luft, sonderneine Wolke des Nichtwissens genannt, die sich zwischen dir und deinem Gott befindet.

    2Im Urtext des Neuen Testaments der Begriff fr 'Augenblick', im Mittelalter die kleinste Zeiteinheit (etwa

    1/6 Sekunde). 3 VgI. Matth. 12,36 und besonders Anselm von Canterbury ,Meditatio II(Migne,PatTologia Latina I 58, col. 723). 4 Gen. 1,26. 5Joh. 1,16;Kol. 2,9.

    Kapitel 5

    Wenn du je zu dieser Wolke gelangen und so darin weilen und wirken willst, worumich dich bitte, dann mut du in gleicher Weise, wie sich ber dir, zwischen dir unddeinem Gott die Wolke des Nichtwissens befindet, auch eine entsprechende Wolkedes Vergessens unter dir, zwischen dir und allen Kreaturen, die je erschaffen wurden,ausbreiten. Du denkst vielleicht, da du von Gott weit entfernt bist, weil diese Wolkedes Nichtwissens zwischen dir und Ihm ist; aber, richtig verstanden, bist du sicher vielweiter von Ihm entfernt, wenn es keine Wolke des Vergessens zwischen dir und allen

    Kreaturen gibt, die je geschaffen wurden. Jedesmal, wenn ich sage: "alle Kreaturen, dieje geschaffen wurden", meine ich nicht nur die Geschpfe selbst, sondern auch all ihrTun und ihre Wesensmerkmale. Ich nehme kein einziges Geschpf aus, sei esleiblicher oder geistiger Art noch ein Wesensmerkmal oder ein Werk irgendeinesGeschpfes, seien sie nun gut oder bse; alle mssen nmlich kurzerhand durch die Wolke des Vergessens verdeckt sein, wenn du dies Werk vollbringst. Whrend esmanchmal sehr vorteilhaft sein kann, an gewisse Merkmale von bestimmten, besonderen Geschpfen zu denken, ist es bei diesem Werk von geringem oder gar

    keinem Nutzen. Die Erinnerung oder der Gedanke an irgendein von Gott geschaffenes Wesen oder an eine Seiner Taten ist eine Art geistiges Licht; das Auge deiner Seele blickt dann darauf und ist daran geheftet, wie das Auge des Schtzen auf die

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    Zielscheibe, auf die er schiet. Dabei mu ich dich auf eines hinweisen: Alle Dinge, andie du denkst, sind, solange dieses Denken whrt, ber dir und zwischen dir unddeinem Gott. Und je mehr du auer Gott noch anderes im Sinne hast, desto weiter bistdu von Ihm entfernt. Ja, wenn es geziemend und schicklich wre, so zu sprechen [dann

    mte man sagen]: Bei diesem Werk ntzt es wenig oder gar nichts, wenn man anGottes Gte und Erhabenheit, an Unsere Liebe Frau oder an die Engel und Heiligenim Himmel denkt, auch nicht an die Freuden im Himmel, das heit, es ntzt nichts,deine besondere Aufmerksamkeit auf sie zu richten in der Absicht, dadurch besser undschneller ans Ziel zu gelangen. Ich meine, da man sich hier und bei diesem Werk inkeiner Weise so verhalten drfte. Denn obwohl es gut ist, ber die Gte Gottesnachzudenken und Ihn darob zu lieben und zu preisen, ist es doch viel besser, an Seinbloes Sein zu denken und Ihn um Seiner selbst willen zu lieben und zu preisen.

    Kapitel 6

    Jetzt wirst du mich fragen: "Wie soll ich an Ihn denken, und was ist Er?" Darauf kannich dir nur antworten: Ich wei es auch nicht. Denn du hast mich mit deiner Frage indie gleiche Dunkelheit und in die gleiche Wolke des Nichtwissens versetzt, in der ichdich selbst gern she. Denn alle anderen Geschpfe und ihre Werke ja sogar die WerkeGottes selbst kann man durch Gnade zur Gnze erkennen, und es ist gut mglich, sichmit ihnen in Gedanken zu beschftigen. Aber Gott selbst kann kein Menschgedanklich erfassen. Und daher will ich alles, was ich denken kann, hinter mir lassen

    und zum Gegenstand meiner Liebe das erwhlen, das nicht gedacht werden kann.Denn Gott kann wohl geliebt, aber nicht gedacht werden. Von der Liebe lt er sichfassen und halten, vom Intellekt jedoch nicht. Und wenn es darum auch zuweilen gutist, an die Gte und Erhabenheit Gottes im besonderen zu denken und wenn das auchden Geist erleuchtet und einen Teil der mystischen Kontemplation bildet, mssendoch solche Gedanken bei diesem Werk abgeworfen und mit einer Wolke des Vergessens bedeckt werden. Sodann mut du mit festem, freudigem Schritt ber sieemporsteigen und mit einer innigen und sen Liebesregung versuchen, das Dunkel,

    das ber dir ist, zu durchdringen. Bohre den spitzen Speer der sehnenden Liebe indiese dichte Wolke, und la nicht davon ab, was immer geschehen mag.

    Kapitel 7

    Sollte je in dir ein Gedanke aufkommen und sich zwischen dich und dieses Dunkeldrngen mit der Frage: "Was suchst du und was willst du?", so sage, Gott mchtest duhaben: "Ihn begehre ich, Ihn suche ich und nichts als Ihn." Und wenn dich derGedanke fragt, was dieser Gott sei, so sage ihm, da es Gott ist, der dich geschaffenund erkauft und durch Gnade zu Seiner Liebe auserkoren hat; und dann sage ihm, daer von Gott nichts wei. Deshalb sprich zu ihm so: "Geh nun wieder hinunter", undstoe ihn mit einer Regung der Liebe schnell hinab, auch wenn er dir recht fromm

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    erscheint und du glaubst, da er dir helfen mchte, Gott zu suchen. Er will dir vielleicht auf verschiedenartige Weise Gottes erhabene und wunderbare Gte insGedchtnis rufen und dir sagen, da Gott sehr sanft und liebevoll, gndig undbarmherzig ist.1 Und du kannst ihm keinen greren Gefallen tun, als ihn anzuhren,

    denn er wird am Ende immer weiterschwtzen, bis er dich herabzieht zum Gedenkenan das Leiden Christi. Dort zeigt er dir dann Gottes wunderbare Gte, und nichts istihm lieber, als da du ihm Gehr schenkst. Denn alsbald will er dir dein frheres,elendes Leben zeigen, und viel leicht will er, whrend du noch daran denkst und es vordir siehst, irgendeinen Ort in dein Gedchtnis rufen, an dem du vormals geweilt hast,so da du zuletzt, ohne es zu bemerken, dich als Folge deiner Zerstreutheit vlligverlierst. Diese Zerstreutheit rhrt aber daher, da du dem Gedanken zunchst Gehrgeschenkt, auf ihn reagiert, ihn aufgenommen und ihn dann sich selbst berlassen hast.Dabei war, was er vorbrachte, gut und heilig, so heilig sogar, da jeder Mann oder jedeFrau, die da glauben, sie knnten zur Kontemplation gelangen ohne viele vorausgehende trstliche Meditationen ber ihre eigene Elendigkeit, das LeidenChristi und Gottes groe Gte und Erhabenheit, sicherlich irregehen und ihren Vorsatz verfehlen. Wer sich jedoch lange in diesen Meditationen gebt hat, mu siehinter sich lassen und tief unter die Wolke des Vergessens hinabdrcken und sie dorthalten, wenn er je zur Wolke des Nichtwissens vorstoen will, die zwischen ihm undseinem Gott schwebt. Wann immer du dich deshalb zu diesem Werk entschliet unddich durch Gnade von Gott berufen fhlst, dann erhebe dein Herz zu Gott mit einer

    demtigen Regung der Liebe. Habe nur Gott im Sinn, der dich erschuf, erkaufte undgnadenvoll zu diesem Werk gerufen hat, und lasse keine anderen Gedanken ber Gott bei dir ein auch nicht alle oben erwhnten, es sei denn, du hast ein besonderesVerlangen danach; denn es gengt vollauf ein nacktes Verlangen nach Gott ohne einenanderen Grund als Ihn selbst. Wenn du aber dieses Verlangen in ein Wort einkleidenmchtest, um dich besser daran halten zu knnen, so nimm nur ein kurzes Wort miteiner einzigen Silbe; das ist besser als eines mit zwei Silben, denn je krzer es ist, desto besser pat es zum Werk des Geistes. Solch ein Wort ist das Wort "Gott" oder dasWort "Liebe". Whle welches du willst, oder auch ein anderes einsilbiges nach deinemBelieben. Hefte dieses Wort an dein Herz, auf da es von dort nicht weiche, was immerauch geschehen mag. Dieses Wort sei dein Schild und Speer, ob du dich nun im Kriegoder im Frieden befindest. Mit diesem Wort sollst du auf die Wolke und dieDunkelheit ber dir einhauen. Mit Hilfe dieses Wortes sollst du alle Arten vonGedanken so heftig unter die Wolke des Vergessens werfen, da du einem Gedanken,der sich an dich herandrngt und dich fragt, was du willst, mit nicht mehr Worten alsdiesem einen entgegnest. Und wenn er dir anbietet, dir in seiner groen theologischenGelehrsamkeit das Wort auszulegen und dir seinen Gehalt im einzelnen zu

    beschreiben, so sag ihm, da du es lieber in seiner Ganzheit und nicht zerlegt odererklrt haben mchtest. Hltst du an diesem Ziel fest, dann kannst du sicher sein, da

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    der Gedanke nicht lange bei dir verweilen wird. Und weshalb? Weil du nicht zult,da er an solchen trstlichen Meditationen Nahrung findet, wie wir sie oben erwhnthaben.

    1 Vgl.z.B.joeI2,13.

    Kapitel 8

    Aber jetzt wirst du mich fragen: "Was ist das fr ein Gedanke, der sich bei diesem Werkso an mich herandrngt? Ist er etwas Gutes oder Bses? Und wenn er etwas Bses ist,dann wundere ich mich ", wirst du sagen, "warum er die Kontemplation einesMenschen so sehr zu steigern pflegt. Denn manchmal erscheint es mir sehr trstlich,dem, was er mir sagen will, zu lauschen. Er bringt mich nmlich, wie ich glaube, dazu,manches Mal ob des Leidens Christi, zuweilen wegen meiner Erbrmlichkeit und auchaus vielen anderen Grnden bittere Trnen zu weinen, die mir sehr heilig erscheinenund mir sehr gut tun. Deswegen glaube ich nicht, da ein solcher Gedanke imgeringsten schlecht sein kann. Aber wenn er gut ist und mir mit seinen trstlichenErzhlungen so viel Gutes erweist, dann mu ich mich sehr wundern, warum du michbittest, ihn abzuschtteln und weit weg unter die Wolke des Vergessens zu drcken."Diese Frage scheint mir gut gestellt, und daher mchte ich darauf antworten, so gut iches vermag. Wenn du mich fragst, was sich denn in diesem Werk so sehr an dichherandrngt und dir helfen will, so sage ich dir, da es eine scharfe und genaue

    Gedankenvorstellung deiner natrlichen Verstandeskraft ist, die in deiner Vernunft imInnern deiner Seele eingeprgt ist. Wenn du mich daher fragst, ob der Gedanke gutoder schlecht sei, so sage ich: er mu seinem Wesen nach gut sein, denn er ist ein Abglanz des gttlichen Urbildes. Aber der Gebrauch, den du davon machst, kannsowohl gut wie schlecht sein. Er ist gut, wenn die Verstandeskraft durch Gnadeerleuchtet wird, damit du dadurch deine Erbrmlichkeit, das Leiden Christi, die GteGottes und Seine wunderbaren Werke in Seinen krperlichen und geistigenGeschpfen erkennst; und dann ist es kein Wunder, wenn der Gedanke, wie du sagst,deine Kontemplation so steigert. Aber er ist schlecht gebraucht, wenn er vom Stolzund von jenem Vorwitz der Gelehrsamkeit und Buchweisheit der Theologenaufgeblht ist, mit dem sie eifrig danach trachten, nicht als demtige Schler undMeister in der Gottesgelehrtheit oder der Kontemplation, sondern als hochfahrendeSchler des Teufels und Meister im Betrgen und eitler Selbstdarstellung zu gelten.Bei anderen Mnnern und Frauen, seien es Ordens-oder Weltleute, ist die Verwendung und Wirkung dieser natrlichen Verstandeskraft dann vom bel, wennsie mit hochmtigen und vermessenen Kenntnissen von weltlichen Dingen undfleischlichen Vorstellungen aufgeblht ist und weltliche Ehren, eitle Vergngungen

    und Schmeicheleien sowie den Besitz von Reichtmern begehrt. Fragst du mich,warum du den Gedanken unter die Wolke des Vergessens drcken sollst, da er doch von Natur gut ist und daher dir so gut tut und bei richtiger Verwendung deine

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    Kontemplation so sehr steigert, so antworte ich dir: Bedenke, da es zwei Arten desLebens in der Heiligen Kirche gibt. Die eine ist das aktive, die andere daskontemplative Leben. Das aktive Leben ist das niedrigere, das kontemplative dashhere. Das aktive Leben hat zwei Stufen, eine hhere und eine niedrigere, und ebenso

    hat das kontemplative Leben zwei Stufen, eine niedrigere und eine hhere. Diese zweiLebensarten sind nun miteinander so verbunden, da keine ohne teilweise Berhrungder anderen vllig erreicht werden kann, obwohl sie doch in manchem sehrverschieden voneinander sind; denn die hhere Stufe des aktiven Lebens ist zugleichdie niedrigere Stufe des kontemplativen Lebens. Darum kann ein Mensch nicht ganzaktiv sein, ohne teilweise kontemplativ zu sein und auch nicht ganz kontemplativ(soweit man hienieden davon berhaupt sprechen kann) ohne eine gewisse Teilhabeam aktiven Leben. Mit diesem aktiven Leben ist es so bestellt, da es auf Erdenbegonnen und beendet wird. Anders verhlt es sich dagegen mit dem kontemplativenLeben: dies wird hier begonnen und dauert immerdar, denn der Teil, den Maria sicherwhlte, wird nimmer von ihr genommen werden. Im aktiven Leben ist man um vieles besorgt und bemht, aber im kontemplativen sitzt man im Frieden mit nur einereinzigen Beschftigung. Der niedrigere Teil des aktiven Lebens besteht aus guten undaufrichtigen ueren Werken der Barmherzigkeit und der ttigen Nchstenliebe. Derhhere Teil des aktiven und der niedrigere Teil des kontemplativen Lebens besteht inernsten, geistigen Selbstbesinnungen, im fleiigen, bekmmerten und zerknirschtenBedenken der menschlichen Erbrmlichkeit, in der mitleidsvollen Versenkung in das

    Leiden Christi und Seiner Diener sowie in der danksagenden, lobpreisendenBetrachtung der Herrlichkeit gttlicher Gaben, Seiner Gte und Seines Wirkens in allSeinen physischen wie geistigen Geschpfen. Aber der hhere Teil derKontemplation, soweit er hienieden erreicht werden kann, liegt ganz in dieserDunkelheit und Wolke des Nichtwissens mit einer Regung der Liebe und einerunbedingten, ausschlielichen Hingabe an das reine Sein Gottes.Im niedrigeren Teil des aktiven Lebens steht der Mensch auerhalb und unterhalbseines Selbst. Im hheren Teil des aktiven und im niedrigeren Teil des kontemplativenLebens ist der Mensch in sich selbst und wahrhaft bei sich. Aber im hheren Teil deskontemplativen Lebens steht der Mensch ber sich selbst und unter seinem Gott.ber sich selbst ist er, denn er hat sich vorgenommen, dahin durch Gnade zu gelangen,wohin er von Natur aus nicht kommen kann; das heit, es ist sein Ziel, sich im Geistmit Gott zu verbinden und zwar in der einigenden Kraft der Liebe und derbereinstimmung von gttlichem und menschlichem Willen. Ebenso wie es nachmenschlichem Verstande unmglich ist, auf die hhere Stufe des aktiven Lebens zukommen, ohne vorher die niedrigere Stufe berwunden zu haben, ebenso wenig kannman auf die hhere Stufe des kontemplativen Lebens gelangen, bevor man nicht die

    niedrigere Stufe hinter sich gelassen hat. Und ebenso wie es fr einen Menschenungehrig wre und ihn in seiner Meditation behindern wrde, wenn er auf dieser

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    niedrigen Stufe an alle jene ueren leiblichen Werke denken wrde, die er getan hatoder zu tun htte, wie heilig diese Werke an sich auch immer sein mgen, ebensounangemessen und hinderlich ist es fr einen Menschen, der in dieser Dunkelheit undin dieser Wolke des Nichtwissens mit einer sehnenden Regung der Liebe zu Gott um

    Seiner selbst willen wirken mchte, wenn er irgend welche Gedanken oderMeditationen ber Gottes Wundergaben, Seine Gte und die Schpfung Seinerkrperlichen und geistigen Werke hochkommen lt und ihnen gestattet, sichzwischen ihn und seinen Gott zu drngen, seien diese Gedanken auch noch so heilig,angenehm oder trstlich. Das ist der Grund, warum ich dich bitte, einen solchenscharfsinnigen, klaren Gedanken von dir zu weisen und mit einer dichten Wolke des Vergessens zu bedecken, wenn er auch noch so fromm ist oder dir noch so sehr verspricht, dir bei deinem Vorhaben zu helfen. Denn die Liebe vermag in diesemLeben bis zu Gott zu dringen, nicht aber die Erkenntnisfhigkeit des Verstandes.Solange die Seele in diesem sterblichen Leibe weilt, ist die Klarheit unseres Verstandes,mit dem wir ber alles Geistige, und insbesondere ber Gott, nachdenken, mitgewissen Tuschungen vermengt; es kme einem Wunder gleich, wenn diese nichtunser Werk verunreinigten und zu groen Irrtmern fhrten.

    Kapitel 9

    Und deshalb mu dein Verstand mit seiner scharfsinnigen Aktivitt, der dich stets zu belstigen sucht, wenn du dich zu diesem Werk der blinden Liebe bereitest, stets

    hinabgedrckt werden; denn drckst du ihn nicht hinab, wird er dich hinabdrcken.Wenn du nmlich glaubst, ganz in dieser Dunkelheit zu weilen und nichts in deinemSinn zu haben als Gott, und du dann genau zusiehst, findest du, da dein Sinn in Wahrheit nicht von diesem Dunkel, sondern von einer verstandeshellen Betrachtungvon etwas Geringerem als Gott erfllt ist. Und wenn es sich so verhlt, dann ist diesesEtwas gewi zeitweilig ber dir und zwischen dir und deinem Gott. Nimm dir deshalb vor, solche verstandeshellen Betrachtungen abzuschtteln, seien sie noch sogottgefllig oder angenehm.

    Denn eins mu ich dir sagen: Solch ein blindes Liebesverlangen nach Gott um Seinerselbst willen und eine heimliche Liebe, die unmittelbar auf diese Wolke desNichtwissens gerichtet ist, ntzt dem Heil deiner Seele mehr, ist wertvoller in sichselbst, gefllt Gott sowie allen Heiligen und Engeln im Himmel am besten und ist besonders hilfreich fr deine leiblichen und geistlichen Freunde, seien sie am Lebenoder tot. Und es ntzt dir mehr, dieses Verlangen innerlich in deinem Herzen zu habenund zu spren, als wenn das Auge deiner Seele fr die Kontemplation oder geistigeSchau aller Engel oder Heiligen im Himmel geffnet wre, oder wenn du die frohe,festliche Musik vernehmen wrdest, die bei ihnen in himmlischer Seligkeit erklingt.

    Wundere dich indes nicht darber; denn knntest du Gott einmal so deutlicherkennen, wie du Ihn durch Gnade in diesem Leben zu fhlen und zu erfahren

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    vermagst, dann wrdest du auch so denken wie ich hier rede. Sei berzeugt davon, dader Mensch niemals eine vllige Gotteserkenntnis auf Erden erzielen kann: eineGotteserfahrung jedoch ist durch Gnade, sofern Gott sie gewhrt, mglich. Deshalbrichte deine Liebe auf diese Wolke; oder um mich ganz genau auszudrcken: La Gott

    deine Liebe zu dieser Wolke emporziehen, und versuche, mit Hilfe Seiner Gnade allesbrige zu vergessen. Denn wenn schon ein unwillkrlicher Gedanke an irgend etwasGeringeres als Gott sich deinem Willen und Verstand aufdrngt und dich weiter vonGott entfernt als du es sonst wrest, weil er dich hindert und somit noch unfhigermacht, die Frucht Seiner Liebe zu genieen und zu fhlen: wie sehr wird dann wohlein Gedanke, den du willentlich und mit Absicht an dich heranlt, dich bei deinem Vorhaben hindern? Und wenn bereits der Gedanke an irgendeinen besonderenHeiligen oder an etwas rein Geistiges fr dich ein solches Hindernis bedeutet, wie sehrwird dann erst der Gedanke an irgendeine bestimmte Person in diesem armen Lebenoder an irgend etwas Materielles oder Weltliches dich bei diesem Werk hindern undhemmen? Ich sage nicht, da solch ein bloer, pltzlicher Gedanke an irgend etwasGutes und rein Geistiges, aber Gott Untergeordnetes, der sich an deinen Willen oderdeinen Verstand herandrngt, oder den du willentlich an dich herangelassen hast inder Absicht, dadurch deine Kontemplation zu steigern, etwas Schlechtes sei, obschoner dich an dieser Art der geistlichen bung hindert. Nein, Gott verhte, da du es soauffassest. Ich sage vielmehr, da diese Gedanken, obwohl sie an sich gut undgottgefllig sind, bei diesem Werk eher hindern als ntzen. Denn gewi gibt sich, wer

    auf der Suche nach vollkommener Gotteserfahrung ist, nicht mit dem Gedanken anirgendeinen Engel oder Heiligen im Himmel zufrieden.

    Kapitel10

    Anders aber steht es um den Gedanken an einen irdischen Mann oder eine Frau bzw.an etwas Materielles oder Weltliches, was immer es auch sei. Denn wenn einunwillkrlicher, pltzlicher Gedanke an Personen oder Dinge dieser Art gegen deinenWillen und Verstand in dir hochkommt (was dir brigens nicht als Snde angerechnet

    wird, weil es die Folge der Erbsnde ist, deren Regung strker als deine Kraft ist, wovon du aber in der Taufe gereinigt wirst), und wenn eine derartige pltzlicheRegung oder ein solcher Gedanke nicht alsbald verscheucht wird, dann wird deinfleischliches Herz in seiner Schwche sofort erregt, und es entsteht ein Verlangen, wenn es sich um etwas handelt, das dir gefllt bzw. vordem gefiel, oder aber einWiderwille, wenn es sich um etwas handelt, das dich bedrckt oder vordem bedrckthat. Dieses Kleben an den Dingen kann fr jene Mnner und Frauen, die einfleischliches Leben fhren und schon schwere Snden begangen haben, den geistigenTod bedeuten; bei dir aber und allen anderen, die mit aufrichtigem Willen der Welt

    entsagt und sich zu einer Form des geweihten Lebens in der Heiligen Kirche verpflichtet haben, sei diese Form im verborgenen oder ffentlich, und die sich

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    berdies nicht von ihrem eigenen Willen und Verstand bestimmen lassen, sondern vondem Willen und geistlichen Rat ihrer Vorgesetzten, seien diese Ordensleute oder Weltgeistliche, ist ein derartiges Verhaftetsein des fleischlichen Herzens mit denEmpfindungen des Gelstens oder Widerwillens nur eine lliche Snde. Der Grund

    liegt darin, da ihr euer ganzes Wollen nach dem Glaubenszeugnis und Rat eineserfahrenen Seelenfhrers fest in Gott gegrndet und verwurzelt habt, als ihr mit jenerLebensform den Anfang machtet, in der ihr euch noch jetzt befindet. Wenn aber dies Verhaftetsein des fleischlichen Herzens mit den Empfindungen des Gelstens oderWiderwillens lange ungehindert andauern darf, dann entsteht daraus zuletzt mit deiner vollen Zustimmung eine Verbindung mit dem geistigen Herzen, welchesgleichbedeutend mit deinem Willen ist, und daraus folgen die Hauptsnden. Und diesgeschieht, wenn du oder einer jener Leute, von denen ich spreche, willentlich dieErinnerung an einen Mann oder eine Frau bzw. an irgend etwas Materielles oder Weltliches heraufbeschwren. Wenn es sich dann um Personen oder Dinge handelt,die dich bekmmern oder vordem bekmmert haben, dann erwchst in dir eineleidenschaftliche Wut und ein Verlangen nach Rache, was man Zorn nennt. Oder aberes entsteht grausame Verachtung und Abscheu gegen die Personen, an die du dicherinnerst, begleitet von bswilligen und mibilligenden Gedanken, was man Neidnennt. Oder es ergreift dich eine Schlaffheit, eine Unlust zu irgendeiner guten,krperlichen oder geistigen Ttigkeit, und dies nennt man Trgheit. Wenn es aberetwas ist, das dir gefllt oder einst gefiel, dann bereitet dir der Gedanke daran, was

    immer es auch sei, einen bermigen Genu, der so gro ist, da du bei diesemGedanken verweilst und schlielich dein Herz und deinen Willen daran hngst unddeine leiblichen Sinne damit nhrst, so da du in diesem Zustand nach keinemanderen Besitz verlangst und dir nur wnschst, stets in zufriedener Ruhe mit jenemObjekt leben zu knnen, an das du denkst. Bezieht sich dieser Gedanke, den dusolchermaen heraufbeschwrst bzw. aufnimmst, sobald er sich bei dir einstellt, und bei dem du mit groem Entzcken verweilst, auf die Gre deiner natrlichenVeranlagung, deines scharfsinnigen Verstandes, der erlangten Gnade oder auf deinenStand, deine uere Erscheinung und Schnheit, so ist dies der Stolz. Wenn er sich aufweltliche Gter, Reichtmer, den Viehbestand oder was sonst der Mensch alles habenoder worber er Herr sein kann, bezieht, dann ist das Habgier. Wenn das Denken auferlesene Speisen oder Getrnke oder irgendeine Gaumenfreude gerichtet ist, dann istdies die Hauptsnde der Unmigkeit; und wenn es sich mit Liebeslust, sinnlichenVergngungen oder mit anzglicher Unterhaltung, mit Schmeichelei oder Koketterieeines Mannes oder einer Frau befat, dann ist es die Unkeuschheit.

    Kapitel 11

    Ich sage das nicht etwa, weil ich glaube, da du oder irgendein anderer, von denen ichspreche, schuldig seien und derartige Snden auf sich geladen htten, sondern weil ich

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    mchte, da du jeden Gedanken und jede Regung daraufhin berprfst, was sie sindund dich eifrig bemhst, schon die erste Regung und den ersten Gedanken an Dinge,die dich zur Snde verleiten knnen, zu vernichten. Denn eins mu ich dir sagen: Wersich nicht darum kmmert oder dem ersten Gedanken noch wenig Bedeutung beimit

    - auch wenn er fr ihn gewi keine Snde bedeutet -, der ist nicht dagegen gefeit,unwillkrlich lliche Snden zu begehen. Lliche Snden knnen zwar hienieden von keinem Menschen vllig vermieden werden. Aber alle jene, die den Weg zur Vollkommenheit erlernen wollen, mssen sich stets vor einer Unbekmmertheitgegenber llichen Snden hten, wo nicht, wrde ich mich nicht t wundern, wennsie bald in schwere Snden verfielen.

    Kapitel 12

    Willst du also stehen und nicht fallen1

    , so schwche die Strke deines Willens niemalsab, sondern haue bestndig mit dem spitzen Speer der sehnenden Liebe auf diese Wolke des Nichtwissens ein, die zwischen dir und deinem Gott hngt. Empfinde Abscheu davor, an irgend etwas anderes als an Gott zu denken und gib diesenGedanken nicht auf, was dir auch widerfahren mag. Denn nur dieses Werk besitzt dieEigenschaft, den Grund und die Wurzel der Snde schlechthin zu vernichten. Wenndu noch so viel fastest2 , noch so lange wachst, noch so frh aufstehst, noch so hartliegst, ein noch so hrenes Gewand trgst ja, und wenn du dir, falls es erlaubt wre, dieAugen ausstechen, die Zunge aus dem Mund schneiden, die Ohren und die Nase noch

    so fest verstopfen, deine verborgensten Glieder entfernen und deinem Krper jedeerdenkliche Pein zufgen wrdest, so hlfe dir dies gar nichts; denn trotzdem wrdedie Snde sich weiter in dir regen und aufsteigen. Und mehr noch, was kann es dirntzen, wenn du noch so sehr vor Trauer ber deine Snden oder das Leiden Christiweinst oder die Freuden des Himmels noch so sehr im Sinne hast? Es wird dir sicher viel Gutes, groe Hilfe, viel Nutzen und manche Gnadengaben einbringen; aber imVergleich zu jener blinden Liebesregung vermgen die geschilderten Gedanken ohnediese Liebe nur wenig zu vollbringen. Dieses Werk der blinden Liebe ohne diese

    zustzlichen Gedanken ist der beste Teil, den Maria whlte.3

    Und diese ntzen ohnedas Werk wenig oder nichts. Es vernichtet nicht nur den Grund und die Wurzel derSnde, soweit das hienieden mglich ist, es lt auch die Tugenden entstehen. Wennman das Werk der blinden Liebesregung nur richtig begreift und anfngt, enthlt esalle Tugenden auf kunstvolle Weise und ohne Beeintrchtigung in sich. Mag derMensch ber noch so viele Tugenden verfgen, so werden sie doch alle, falls er dieseLiebesregung nicht hat, durch irgendeine verkehrte Absicht beeintrchtigt und bleibendann aus diesem Grunde unvollkommen.Denn die Tugend ist nichts anderes als eine beherrschte und mavolle Liebe, die ganz

    zu Gott um Seiner selbst willen gerichtet ist. Denn Er selbst ist so sehr derausschlieliche Grund aller Tugenden, da eine Tugend unvollkommen bleibt, wenn

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    sich jemand zu ihrer Verwirklichung gedrngt fhlt durch einen zustzlichen Grundauer Gott, selbst wenn dieser der Hauptgrund bleibt. Dies kann man am Beispiel vonein oder zwei Tugenden stellvertretend fr alle anderen erkennen. Dabei fllt unsere Wahl zu Recht auf die Demut und die christliche Liebe, denn wer diese beiden

    vollkommen erlangen kann, braucht keine anderen, besitzt er doch alle.

    11Kor.10,2 -2 Vgl. 1 Kor. 13,3.- 3 Vgl.Kap.7

    Kapitel 13

    Versuchen wir zuerst, das Wesen der Demut zu erfassen: da es sich umunvollkommene Demut handelt, wenn der Grund ihrer Entstehung noch etwasanderes auer Gott selbst ist, auch wenn er dabei der Hauptgrund bleibt, und da essich um vollkommene Demut handelt, wenn sie durch das bloe Sein Gottesverursacht ist. Zuvrderst mu man wissen, was Demut an sich ist, und erst wenn mandies klar erkannt und begriffen hat, kann man danach ihre Verursachung in geistiger Wahrhaftigkeit viel besser erfassen. Demut an sich ist nichts anderes als eineschonungslose Erkenntnis und Erfahrung des eigenen Selbst in seiner Beschaffenheit.Denn wer wirklich erkennt und erfhrt, wie er ist, mte gewi auch wirklich demtigsein. Zwei Grnde gibt es fr diese Demut: der eine ist die schmutzige Erbrmlichkeitund Hinflligkeit des Menschen, ein Zustand, in den er durch die Snde gefallen ist

    und den er immer irgendwie an sich erfahren mu, solange er in diesem Leben weilt,und wre er noch so heilig. Der andere Grund ist die berstrmende Liebe undErhabenheit des gttlichen Seins, bei dessen Betrachtung die ganze Natur erbebt, dieGelehrten sich als Narren entlarven1 und alle Engel und Heiligen geblendet werden; sosehr, da ihnen ich wei nicht was widerfhre, wenn Er nicht kraft Seiner gttlichen Weisheit ihnen davon nur soviel zu erschauen gbe, als dem Mae ihrer Befhigungdurch ihre Natur und die Gnade entspricht. Der zweite Grund ist vollkommen; denner wird in alle Ewigkeit whren. Der zuerst genannte Grund jedoch ist unvollkommen,denn er wird nicht nur am Ende dieses Lebens vergehen, sondern die Seele kann sogaroft in diesem sterblichen Leib durch die Flle der Gnade, die ihr Verlangen wesentlichsteigert so oft und so lange Gott ihr gewhrt, sich in dieser Demut zu ben -, pltzlichund vollkommen alles Wissen und jede bewute Empfindung