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Jörg Kohlmeyer

Die Tore nach Thulien

Fantasy Roman

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Jörg Kohlmeyer

Die Tore nach Thulien

1. Episode – Dunkle Gassen

(WILDERLAND)

Coverhintergrund und Logogestaltung: Diana Rahfoth

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2014 by Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-417-0

www.null-papier.de/tnt

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Inhaltsverzeichnis

Schmiede und Söldner.............................................................8

Katze oder Maus...................................................................14Andacht.................................................................................18

Tanz der Dolche....................................................................25Mord in Sieben Schänken.....................................................30

Falsches Spiel........................................................................34Schlaf der Schatten................................................................43

Ermittlungen..........................................................................48Ein Blick zurück....................................................................62

Schattenkrieger......................................................................73Berichte und Pläne................................................................80

Lauernder Skorpion...............................................................88Überfall bei Nacht.................................................................94

Feuer und Flamme...............................................................102Söldner, Eule, Leutnant.......................................................107

Skorpion..............................................................................119

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Zum Buch

Danke, dass du mit dem Kauf dieses ebooks das Indie-Litera-tur-Projekt »Tore nach Thulien« unterstützt! Das ist aber erstder Anfang. Lass Dich von uns zu mehr verführen…

Was sind die »Tore nach Thulien«?

Die „Tore nach Thulien“ sind Dein Weg in die phantastische,glaubwürdige und erwachsene Fantasy-Welt von Thulien. Siewerden Dir die Möglichkeit geben, mit uns gemeinsam anden großen Geschichten zu arbeiten und der Welt mehr undmehr Leben einzuhauchen.

Unter www.Tore-nach-Thulien.de kannst du uns besuchenund Näheres erfahren. Wir freuen uns auf Dich!

Wie kannst du uns heute schon helfen?

Nimm einfach an den regelmäßigen Abstimmungen teil!

Per Mehrheitsentscheid machen wir am Ende der Abstim-mungen dann den nächsten Schritt auf unserem gemeinsamenWeg durch Thulien. Wir würden uns freuen, wenn du uns be-gleitest!

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Autor

Jörg Kohlmeyer, geboren in Augsburg, studierte Elektrotech-nik und arbeitet heute als Dipl.-Ing. in der Energiewirtschaft.Schon als Kind hatte er Spaß am Schreiben und seine ersteAbenteuergeschichte mit dem klangvollen Namen »Die dreimagischen Sternzeichen« passt noch heute bequem in eineHosentasche.

Der faszinierende Gedanke mit Bücher interagieren zu kön-nen ließ ihn seit seinem ersten Kontakt mit den AbenteuerSpielbüchern nicht mehr los und gipfelte im Dezember 2012in seinem ersten Literatur-Indie-Projekt »Die Tore nach Thu-lien«. Immer dann wenn neben der Familie noch etwas Zeitbleibt und er nicht gerade damit beschäftigt ist, seinen ältes-ten Sohn in phanatasievolle Welten zu entführen arbeitet erbeständig am Ausbau der Welt »Thulien«.

www.Tore-nach-Thulien.de

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Schmiede und Söldner

r mochte Leuenburg auf Anhieb. Eine Stadt ganz nach

seinem Geschmack. Klein, überschaubar und nur we-nig Hohes Getier, wie er die gutbetuchten Bürger und Beam-ten nannte. Hier würde er schon eine Möglichkeit finden, sei-nen letzten Sold ganz nach Söldnerart aufzubringen. Dienächste Heuer stand sowieso bevor und mit ihr die Chanceauf ein völlig neues Leben. Eine gute Gelegenheit also, dasBisherige gebührend zu verabschieden. Bei dem Gedankenan gutes Essen, süffiges Bier und ein weiches Bett, womög-lich noch in liebreizender Gesellschaft, rieb sich Berenghorgenüsslich die Hände.

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Mit seinem massigen, bulligen Körper schlenderte er ge-lassen durch die Straßen und Gassen der alten Herzogstadt.Er ließ sich von den Massen treiben und verzichtete darauf,sich wie sonst durch die Menschenmenge zu schieben. Heutewar ein schöner Tag und er hatte gute Laune, und das bedeu-tete, dass er gewillt war, mehr Rücksicht zu nehmen undnachsichtiger zu sein als es eigentlich seine Art war. VielEnergie musste er diesbezüglich aber nicht aufbringen, denndie Leute taten ihr Übriges. Sobald sie seine hünenhafte Ge-stalt sahen, begannen die meisten schon von alleine damit,

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Platz zu machen und der Rest schob sich spätestens beim An-blick seines narbenübersäten Gesichts zur Seite. Zwischenseinen Schulterblättern hing ein gewaltiger Zweihänder. DerGriff, der knapp über den Kopf des Söldners hinausragte, warvon weitem sichtbar und ließ bereits erahnen, was der riesigeKrieger auf dem Rücken trug.

Den Kopf geschoren und das Gesicht voller Bartstoppelnamüsierte er sich fast ein wenig über die Reaktionen derMenschen und ein kleiner Teil von ihm genoss es sogar. Ei-gentlich mied er Menschenansammlungen dieser Art ganzgerne, doch gerade nach einer längeren Anstellung wie derletzten zog es ihn zu eben jenen.

In Leuenburg würde er ein paar Tage bleiben, bis zumBeginn der Reise war ja noch Zeit. Vermutlich gerade so lan-ge, bis sich wieder ganz von allein der Drang nach Freiheitund Einsamkeit einstellte. Nun galt es jedoch, zuerst eine net-te und gemütliche Unterkunft zu finden. Nicht das ihm dernächtliche Aufenthalt im Freien etwas ausgemacht hätte,doch wenn er schon mal eine Stadt wie diese besuchte unddas Soldsäckel noch dazu prall gefüllt war, hatte er nichts ge-gen die Annehmlichkeiten des bürgerlichen Lebens.

Neben den diversen Schönheiten der Stadt, von denen dieein oder andere auch gerne mal anbiedernd den Rocksaumhob, stach ihm nach geraumer Weile eine kleine Schmiedeins Auge. Sofort meldete sich eine in vielen Jahren antrainier-te Söldnereigenart und sorgte dafür, dass er die kleine Hand-werkerklitsche ansteuerte. Der nach vorn offene und nurdurch einen Ladentisch vom übrigen Straßengeschehen abge-trennte Schmiederaum war klein. Der untersetzte, stämmigeSchmied mit Unterarmen dick wie Baumstämme, und die au-genscheinlich gehaltene Ordnung ließen Berenghor aber so-fort wissen, dass er hier an der richtigen Adresse war. An den

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mit Ruß verschmierten Wänden hingen Schwerter und Helle-barden unterschiedlichster Machart, allesamt Zeugnisse derhohen Kunst ihres Eigentümers. Die Esse war groß und dieGlut sah hervorragend aus.

Als der Schmied Berenghor bemerkte, stand er gerade amBlasebalg und blies in rhythmischen Stößen den vom Feuerso begehrten Sauerstoff hinein. Mit einem letzten, kräftigenStoß überließ er die Glut dann sich selbst und trat an den La-dentisch. Berenghor fiel sofort auf dass der Schmied keineder sonst bei seinem Anblick gewohnten Reaktionen in denAugen zeigte. Allenfalls den gebotenen Respekt eines Hand-werkers vor einem potentiellen Kunden. Nicht mehr undnicht weniger.

»Was willst du?« knurrte der Schmied und stützte sichmit seinen kräftigen Armen auf die Theke.

Berenghor korrigierte sich sofort. Dieser Schmied hattenicht nur keinen Respekt, er war geradezu frech und ungeho-belt. Eigentlich hatte er sich an einem schönen Tag wie die-sem etwas anderes vorgenommen, doch nun würde er dasSpielchen mitmachen. Ganz langsam beugte er sich runter,den Handwerker vor sich dabei nicht aus den Augen lassend.

»Kannst du schmieden?« fragte er und stellte dabei dengrößtmöglichen Zweifel, zu dem er in der Lage war, zurSchau.

Sofort verfinsterte sich der Blick seines Gegenübers.Gleichwohl hatte der sich aber im Griff und deutete mit über-trieben theatralischer Geste in die Schmiede. »Nun ja, eigent-lich hatte ich mal Bäcker gelernt aber … du siehst ja, was ausmir geworden ist.« Sein Mund verzog sich dabei zu einemschiefen Grinsen und nur mit viel gutem Willen konnte mandarin echte Erheiterung erkennen.

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»Warst damit nicht sonderlich erfolgreich, was?« stiegBerenghor sofort darauf ein.

Der Schmied lehnte sich ein bisschen nach vorne undmusterte ihn eingehend. Auch ihm schien das Spiel zu gefal-len, setzte er doch eine absolut geringschätzige Miene auf.»Für dich hätt’s noch gereicht!«

Mit einer schnellen Bewegung griff Berenghor hinter denRücken und zog seinen Zweihänder hervor. Sirrend kam dieKlinge aus der Scheide und landete mit einem metallischenKlirren, keine Handbreit vor der Brust des Schmieds, auf derAuslage. Dieser rührte sich jedoch keinen Deut.

»Reicht’s hierfür auch?« knurrte der Söldner und strichmit einer Hand zärtlich über die Schneide.

»Was macht jemand wie du mit so einer Klinge?«

»Sie benutzen!« zischte Berenghor, konnte sich dabeiaber ein grimmiges Lächeln nicht verkneifen. Ihm gefiel diegrobschlächtige Art des untersetzten Schmiedes. Berenghorwar in seinem Söldnerleben vielen Männern begegnet undhatte gelernt, die Schaumschläger von den Standhaften undPrinzipientreuen zu unterscheiden. Jener hier war einer derletzteren. Geradlinig, frei heraus und nicht unterzukriegen.

Dem Schmied entging die Geste nicht und scheinbardachte er ähnlich, rang er sich doch auch ein ehrliches Grin-sen ab. »Darf ich?« fragte er und zeigte dabei auf denZweihänder.

Du kennst sie also doch, die Gepflogenheiten und den Re-spekt unter Kriegern, dachte sich der hünenhafte Söldner undnickte. Aufmerksam sah Berenghor dem Schmiedemeister zu.Auffallend war, dass ihm das Gewicht der Waffe nichts aus-zumachen schien. Sofort hatte er das Gleichgewicht der Klin-

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ge gefunden und begann, sie zu führen. Bemerkenswert war,dass er von vornherein darauf verzichtete, ihr seinen Willenaufzuzwingen. Er ließ dem Schwert seinen Schwung undbremste es nicht aus, eines der vielen Geheimnisse im Kampfmit Zweihändern.

»Sie hat schon viele Schlachten gesehen.« stellte er fest,als er über beide Arme hinweg die ausgestreckte Klinge be-gutachtete.

»Und sich immer wacker geschlagen.« ergänzte Bereng-hor.

»Das glaub ich dir gern. Es ist lange her, dass ich eineKlinge wie diese sah.« bemerkte der Schmied nachdenklich.

»Ist vermutlich die letzte ihrer Art.« antwortete Berenghorbeiläufig und lehnte sich auf den Ladentisch, dass das Holzächzte. »Eigentlich mach ich das ja selbst, aber ab und ankommt sie in den Genuss ganz besonderer Pflege. Du siehstmir so aus, als wärst du genau der Richtige dafür.«

»Richtiger als du allemal«, stichelte der Schmied und leg-te den Zweihänder wieder auf den Auslagetisch.

»Das will ich hoffen, sonst hat deine Bude ihre bestenTage gesehen«, entgegnete der riesige Söldner und schlug da-bei so heftig auf den Tisch, dass die ganze Holzunterkon-struktion verdächtig zu schwanken begann.

»Lass gut sein, in der Herrin Namen« beschwichtigte derSchmied schnell. »Ich werde mich gut um sie kümmern. Dasrichtige Öl und ein guter Schleifstein werden hier Wunderwirken.«

Berenghor nickte, er hatte verstanden.

»Wie lange?«

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»Morgen.«

»Was wirst du mir dafür abknöpfen?«

Der Schmied legte den Kopf schief und betrachtete noch-mal angestrengt den Zweihänder. »Zwei Taler als Anzahlungund bei Abholung noch einen«, grinste er den riesigen Söld-ner an.

Berenghor stieß einen Pfiff aus. Das war ein stolzer Preis.Jeden anderen hätte er für diese Frechheit sofort unter denTisch getreten, doch diesem hier ließ er sie durchgehen. Nawas soll’s, dachte er sich. Der Soldsäckel war voll und beidem, was er vorhatte, würde er höchstwahrscheinlich keinesmehr brauchen. Berenghor streckte dem Schmied seine Pran-ke entgegen. »Wir sind im Geschäft.«

Sein Gegenüber schlug ein. Kurze Zeit später wechseltenzwei Taler ihren Besitzer und der Zweihänder blieb in derObhut des Handwerkers. Im ersten Moment fühlte sich Be-renghor nackt, entblößt. Mehr als einmal ertappte er sich da-bei, wie er mit der Hand über die Schulter langte, um nachdem Zweihänder zu greifen. Manche sagten, das Schwert ei-nes Söldners war seine Seele, sein zweites Ich. Berenghorkonnte das zwar nicht von sich behaupten, doch lag ihm vielan dieser Klinge. So manche Schlacht hatte er damit ge-schlagen, und mehr als einmal war sie sein Lebensretter ge-wesen. Noch war er nicht dazu bereit, sich von ihr zu trennen,und was die Zukunft brachte, das wusste nur die Herrin.

Nachdem das Geschäft abgeschlossen war, hatte sich Be-renghor noch ein wenig mit dem Schmied unterhalten. Asen-fried, so war sein Name, nannte ihm eine passable Unterkunftmit humanen Preisen und guter Schlafstatt. Der Weg dahinwar nicht weit und so hatte Berenghor beschlossen, sich denGoldenen Erker anzusehen.

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Katze oder Maus

chon lange hatte Zahar sie beobachtet. Zunächst war er

ihr gefolgt, hatte ihren Gang studiert und aus ihren Be-wegungen heraus versucht sie einzuschätzen. Ein nettes klei-nes Mädel, das musste er zugeben. Zu schade, dass er sichnicht näher mit ihr würde befassen können. Sie war nur einAuftrag und ein Auftrag erforderte Genauigkeit und Präzisi-on, keine Zeit für Kapriolen und künstlerische Adern. Je län-ger er sie beobachtete, umso mehr kam er zu dem Schluss,dass sie für ihn kein Problem darstellen würde. Im Gegenteil,beinahe lächerlich für jemanden seines Kalibers, es kam einerBeleidigung gleich. Wähnte sie sich wirklich so sehr in Si-cherheit?

S

Seufzend machte sich Zahar daran, den Abstand zu ver-ringern. Wieder eines der Opfer, das nicht wusste, worauf essich eingelassen hatte. Hinter der nächsten Wegbiegung kameine kleine, dunkle Gasse, die nur wenige Menschen benutz-ten und der keine besonders große Aufmerksamkeit entge-gengebracht wurde. Ein netter kleiner Ort für ein Stelldich-ein. Ein schmieriges Grinsen machte sich auf seinem Gesichtbreit und mit einer geübten Bewegung versicherte er sich,dass seine Waffen griffbereit waren. Der Abstand war mitt-

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lerweile auf ein paar wenige Schritte zusammengeschmolzen.Gerade nah genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.Dann hatten sie die Gasse erreicht. Die junge Frau trat durchden kleinen Torbogen ins Dunkel dahinter und ihr unauffälli-ger Verfolger tat es ihr gleich. Sofort verschmolz Zahar mitden Schatten und während man die weiblichen Konturen derjungen Frau noch erahnen konnte, war von ihm nichts mehrzu sehen. Lautlos tauchte er unter dem Torbogen durch, sei-nen Blick dabei starr nach vorne gerichtet. Die Jagd hatte diefinale Phase erreicht und er spürte die innere Erregung. Dol-che glitten aus geölten Scheiden.

Dort vorne war sie. Sie war stehen geblieben. Kein Pro-blem für ihn. Zwei Schritte, vielleicht drei, aber nicht mehr.Im nächsten Moment stand er hinter ihr und … griff ins Lee-re!

Sichtlich überrascht und leicht verstört prallte er einenSchritt zurück. Was war hier los? War er in der richtigenGasse? Schweiß stand plötzlich auf seiner Stirn und er fühlte,wie kleine Rinnsale desselben über seinen Rücken liefen. Eswar eine Falle! Die Erkenntnis traf ihn im selben Momentwie der blanke, kalte Stahl, der tief in seine Seite getriebenwurde. Eine schmale Hand legte sich über seine Lippen, sieroch nach Lavendel. Er spürte keinen Schmerz. Der Trefferwar tödlich, keine Frage, doch nicht sofort. Sie wollte, dass erwusste, wer ihm den tödlichen Stich versetzt hatte und siewollte, dass er wusste, dass er nicht der Jäger sondern der Ge-jagte war. Soviel war ihm nun klar. Gerne hätte er Asayanoch gewarnt, doch dies war nun nicht mehr möglich. Erfühlte bereits, wie die Kraft mit jedem Blutstropfen, der aufden kalten, steinigen Boden fiel, aus seinem Körper floss. DieHand lag noch immer auf seinem Mund und ging nun mit

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ihm zu Boden. Den dumpfen Schlag, mit dem sein Kopf aufdas dreckige Pflaster schlug, spürte er schon nicht mehr.

Das war erledigt. Zufrieden richtete sich Shachin wieder auf.Den Dolch steckte sie unbesehen zurück in das Halfter, dasihr quer über die Brust gespannt war und hinter dem Rückenmit einer Schnalle zusammengehalten wurde. Nach einemkurzen, prüfenden Blick auf den leblosen Körper schlendertesie gelassen und teilnahmslos blickend in Richtung Ende derGasse. Die Leiche ließ sie einfach liegen. Keine Hektik, kei-ne Unruhe, das waren die Erfolgsrezepte, um einen Tatort un-behelligt verlassen zu können. Lange hatte sie gelernt undseitdem oft genug die Gelegenheit gehabt, es in der Praxisumsetzen zu können. Skrupel hatte sie dabei schon lange kei-ne mehr. Sie war immer bemüht, unnötige Opfer zu vermei-den, und ihre Arbeit so sauber wie möglich zu erledigen.Auch der hier hätte nicht sterben müssen. Sie verstand sowie-so nicht, warum diese alte Sache noch immer für Wirbelsorgte. Als sie den Leichnam eben betrachtete, war ihr sofortder schwarze Skorpion auf dem linken Handrücken aufgefal-len. Sie wusste, was er bedeutete und, was noch viel wichti-ger war, wer dahinter stand. In ihrer Branche liefen die Ge-schäfte nun mal auf eine ganz subtile Art und Weise ab.Emotionen waren dort fehl am Platz und nur allzu oft brach-ten eben diese meist Probleme mit sich. Sie hatte diesenGrundsatz stets beherzigt. Sicherlich fiel es das eine Malleichter und das andere Mal schwerer, aber Gefühle mit in dieArbeit zu bringen hatte sie bisher immer vermieden. Warumman ihr in dieser Sache noch immer nachstellte konnte siesich selbst nicht erklären, doch wusste sie nun, dass sie nochimmer auf der Hut sein musste.

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Shachin blieb plötzlich unvermittelt stehen. Etwas stimm-te nicht. Der Schatten dort vorne am Ende der Gasse wareben noch nicht da gewesen. Sie rührte sich nicht. SämtlicheMuskeln in ihrem geschmeidigen Körper spannten sich undeine unwirkliche Ruhe legte sich im nächsten Moment auf dieGasse.

Der Schatten bewegte sich und etwas blitzte für denBruchteil einer Sekunde auf. Shachin trat einen Schritt zurSeite. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Lichtverhält-nisse der Gasse gewöhnt, und das Dunkel war einem grauenZwielicht gewichen. Sie waren also zu zweit gewesen, stellteShachin überrascht fest. Nun gut, dass würde sie als Fehlerihrerseits verbuchen müssen, doch noch war nicht alles verlo-ren. Im Gegenteil, es würde ein offener und fairer Kampfwerden. Kein Versteckspiel und keine Schatten mehr. Vonjetzt an stand nur noch das Können des Einzelnen im Vorder-grund. Sie ging einen Schritt vor, und die Gestalt am anderenEnde tat es ihr gleich. Shachin hielt kurz inne und machtedann abermals einen Schritt. Und wieder, einem Spiegelbildgleich, ahmte der Fremde ihre Bewegung nach. Auf diese Artund Weise näherten sich die beiden Kontrahenten langsam.Der Tanz würde gleich beginnen und ein zartes Lächeln um-spielte Shachins Lippen. Sie mochte diesen Kampf schonjetzt.

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Andacht

ie erste der letzten sechs Nächte vor dem großen Auf-

bruch hatte er in Andacht verbracht. Schweigend, aufden Knien und die Insignien der Herrin fest in den Händenhaltend. Eine Zeit der Ruhe, eine Zeit der Einkehr. Niemalswar er sich selbst so nah wie in diesen Momenten der völli-gen Hingabe, und auch wenn es dieses Mal anders gewesenwar, so hatte er dennoch wieder ihre Anwesenheit und Prä-senz gespürt. Schlicht gekleidet, ohne Zeichen des Rangeswar er an den Altar getreten, waffenlos und mittellos, so wiees geschrieben stand.

D

Es war kalt in der kleinen Kapelle, unterhalb des Grün-walder Tores gewesen und auch die ersten Strahlen der spä-ten Frühjahrssonne hatten seinen zitternden, frierenden Kör-per nicht wärmen können. Mit dem dritten Schrei des Hahnshatte er sich langsam aus seiner knienden Haltung gelöst unddas Gefühl, dass bereits wenige Stunden nach Sonnenunter-gang verschwunden war, kehrte erst jetzt, im Sitzen, langsamund schmerzvoll in die Beine zurück.

Gleichmäßig rieb er sich mit beiden Händen über Ober-schenkel und Wade. Weg vom Herz, runter zum Fuß, so wie

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es ihn vor vielen Jahren die alten Priester gelehrt hatten. Im-mer wieder, wenn er sich dieser Tortur unterzog, musste ersich an deren Ende fragen, wie es diese alten Herren nurschafften, jede dritte Nacht in dieser unbarmherzigen Haltungzu verbringen. Selbstdisziplin und Leidensfähigkeit, dessenwar er sich sicher, hatten die alten Priester oben auf dem Leu-enberg mehr als genug. Es musste aber noch etwas anderesgeben, ein Geheimnis oder einen Trick, den man ihm nie bei-gebracht hatte. Und wenn nicht, dann war vielleicht genaudas der Grund, warum er den Weg des Kriegers, des Soldateneingeschlagen und seine Füße nicht auf den Pfad der Herringesetzt hatte.

Ein Kribbeln in den Zehen riss ihn aus seinen Gedankenund er wusste, dass es nun an der Zeit war aufzustehen. Vor-sichtig zog er sich an dem alten, verwitterten und mit Moosbewachsenen Altar hoch. Es fiel ihm nicht schwer, dasGleichgewicht zu halten und nach ein, zwei Schritten spürteer, wie die Kraft langsam in seine Beine zurückkehrte. Errichtete sich vollends auf und sah sich tief durchatmend um.Tristan mochte die kleine, halb verfallene Kapelle. Es kamennicht viele Leute hier her und wenn, dann hielten sie sichnicht lange auf. Ein Stoßgebet und vielleicht ein kleines Op-fer, mehr wurde diesem Leuenburger Kleinod nicht mehr ge-gönnt, und umso mehr gefiel im der Gedanke, hier seine sel-tenen Andachten der Herrin zu verbringen.

Die ersten Strahlen der Sonne traten von Osten her kom-mend über die Zinnen der Stadtmauer und tauchten den In-nenhof der Kapelle in ein sanftes, graugrünes Licht. Der Rau-reif auf den bemoosten Steinen glitzerte und auch auf denkleinen, silbernen Fäden der Spinnennetze spiegelten sich dieStrahlen der Sonne wider. Das erste Licht des Tages war fürTristan der Beginn seines Dienstes. Mit einem letzten Blick

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auf die Kapelle drehte sich der junge Leutnant um und mach-te sich auf den Weg zurück zur Garnison. Heute in sechs Ta-gen würde die Reise in den Norden beginnen und bis dahingab es noch vieles zu organisieren.

Er lief den schmalen, gewunden Pfad den kleinen Hanghinauf und stand dann fast direkt vor dem Grünwalder Tor.Man hatte die Stadtmauer damals direkt oberhalb der kleinenGrotte errichtet und das Tor am nördlichen Ende des Hangesplatziert. Früher war die Kapelle ein belebter Ort gewesen,doch nach Vollendung des herzoglichen Domes im Scherben-viertel hatte sie mehr und mehr an Bedeutung verloren. DasGanze lag nun schon über einhundert Jahre zurück und heuteerinnerte nicht mehr viel an die Blütezeit dieses kleinen Got-teshauses. Nur dem aufmerksamen Beobachter oder einemregelmäßigen Gast mochte auffallen, dass an jedem Tag undzu jeder Jahreszeit ein kleines Windlicht im Fensterbogenhinter dem Altar brannte, sorgsam gehegt und gepflegt. Einstiller Verehrer des alten Gemäuers oder eine alte, hoffnungs-volle Mahnwache mochten hier am Werke sein. Für Tristanjedenfalls war die alte Kapelle ein Ort der Ruhe, ein Ort desFriedens und immer, wenn eine wichtige Entscheidung in sei-nem Leben bevorstand, kam er hierher.

Es dauerte nicht lange und Tristan hatte die Garnison im Os-ten der Stadt erreicht. Der alte Bau ragte über die ihn umge-benden Häuser heraus und trotz seiner Größe passte er sichDank des Fachwerks hervorragend in den Stadtteil ein. AmTor vollzog sich gerade der Wachwechsel und Tristan trat miteinem kurzen Nicken in den Innenhof. Noch war es weitge-hend still und nur in wenigen Fenstern flackerte Kerzen-schein. Das würde sich bald ändern. Sobald der Weckrufdurch den Hof hallte, würden die Rekruten und Soldaten ihre

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Kammern verlassen und in hektische Betriebsamkeit ausbre-chen. Der Morgenappell war das erste Zeremoniell am Tagund die Waibel würden gegenüber ihren Vorgesetzten dieVollzähligkeit der Truppe melden. Tristan war bis zu seinerAbreise vom Morgenappell befreit und so beschloss er, kurzseine Morgentoilette zu erledigen und dann in den Zeughofzu gehen. Dort hatte er in den letzten Tagen die Vorbereitun-gen für die Reise getroffen und allerlei Rüstzeug, Werkzeugund Nahrungsmittel heranschaffen lassen. Ein Fuhrwerk, fürlängere Reisen ausgelegt, stand auch schon bereit und wurdevon Handwerkern geprüft, umgebaut und instandgesetzt. Al-les in allem war schon einiges geschehen, doch stand immernoch genug aus und Tristan hoffte, dass er alles bis zum Tagder Abreise würde organisieren können.

Am meisten gespannt war er auf die siedlungswilligen Zi-vilisten. Herzog Grodwig von Leuenburg hatte einen Aufrufquer durch das Land kundtun lassen, in dem er für sein Sied-lungsprojekt im Wilderland warb. Der Aufruf war rein frei-williger Natur und jeder Interessierte konnte ihm Folge leis-ten.

Das Siedlungsprojekt war Teil einer groß angelegtenKampagne des Herzogs, den Einfluss Leuenburgs bei derKrone zu vergrößern und den bisher wilden und unzivilisier-ten Landstrich im Norden von Thulien zu bevölkern. DerHerzog versprach sich damit offenbar eine langfristige wirt-schaftliche und militärische Präsenz im Wilderland undselbstverständlich hatten es ihm auch die dortigen Rohstoff-vorkommen und Bodenschätze angetan. Dieses ehrgeizigeProjekt würde in mehreren Phasen ablaufen und Tristan solltedabei mit seinem Gefolge die Speerspitze darstellen. Einensicheren und gangbaren Weg auskundschaften, Siedlungslanderschließen und einen ersten Außenposten errichten, so laute-

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te sein Auftrag, und seit dessen Erteilung dachte und arbeiteteTristan an nichts anderem mehr.

Der Zeughof lag im hinteren Teil der Garnison, direkt ander östlichen Stadtmauer. In dem sonst mit allerlei Kisten undFässern zugestellten Areal befand sich jetzt in der Mitte eingroßer, hölzerner Wagen. Eisenbeschlagene Räder mit Spei-chen standen abmontiert daneben und eine große Deichselsamt Vorderachse lag unmittelbar hinter dem Gefährt. Nochwar es still im Zeughof, doch schon bald würde wieder rhyth-misches Hämmern und Schlagen durch die Flure und Gängerings um hallen.

Die Morgentoilette war schnell erledigt und nachdemnoch keine Handwerker zu sehen waren beschloss Tristan,einen Blick in die Vorratskammer zu werfen. Neben dem üb-lichen Hartgebäck, dem gepökelten Fleisch und den getrock-neten Früchten vom letzten Jahr würden sie auch wertvollesSaatgut mit auf ihre Reise nehmen. Allen voran Weizen undRoggensamen sollten im nächsten Frühjahr als Grundlage fürdie spätere Landwirtschaft dienen.

Als Tristan gerade in den noch dunklen Gang auf derNordseite des Zeughofes trat, sah er flüchtig, wie ein dunklerSchemen einen kurzen Blick in den Gang warf und dann has-tig im gegenüberliegenden Flur verschwand. Einem erstenImpuls folgend eilte Tristan vor und sah sich rasch nach allenSeiten um. Der Flur, in dem die Gestalt verschwunden war,lag still und ruhig im Dunkeln. Auf der anderen Seite desGanges allerdings, stand die Tür zur Vorratskammer weit of-fen. Tristan runzelte die Stirn und lief zur Tür. Er hatte plötz-lich ein ungutes Gefühl und als er sie erreichte, wurde ausdiesem Gefühl erschütternde Gewissheit.

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Das Schloss war gewaltsam aufgebrochen worden und esbestand kein Zweifel, dass die Gestalt von eben sich daran zuschaffen gemacht hatte. Nur ein paar Sekunden früher und erhätte sie auf frischer Tat ertappt. Den Eindringling aber jetztnoch zu verfolgen, würde keinen Sinn mehr haben. Der Täterhatte die Garnison sicher schon längst verlassen. Ärgerlichtrat Tristan gegen die Holztür, die dabei mit einem Schepperngegen die Wand knallte. Verbittert und wütend zugleich saher sich den Schaden an.

Die Vorräte waren aus den Kisten geholt worden undlagen verstreut auf dem Boden. Fast das ganze Hartgebäcklag zerbröselt zwischen den Trockenfrüchten und dem gepö-kelten Fleisch und nahezu jedes Behältnis war zertrümmertoder zumindest durchlöchert. Am schlimmsten jedoch war,dass die Säcke mit dem Saatgut aufgeschnitten worden wa-ren. Die Körner lagen in der ganzen Vorratskammer verteilt.Als wäre das nicht genug, hatte der Eindringling auch nochein beistehendes Wasserfass aufgebrochen und damit denkompletten Boden getränkt.

Tristan erkannte sofort, dass ein großer Teil des Saatgutesverloren war. Das, was er noch retten konnte, begann er so-fort zusammenzusammeln und schichtete es an einer vomWasser verschonten Stelle auf. Trockenobst und Pökelfleischkonnte man ersetzen und auch der Verlust des Hartgebäckswar zu verschmerzen, aber das Saatgut… Tristan schüttelteden Kopf. Noch einmal besah er sich ausgiebig den Schaden.Dann wandte er sich ab und zog die kaputte Tür hinter sichzu.

In diesem Moment kamen ihm Vorkommnisse der ver-gangenen Tage wieder in den Sinn, denen er bisher keine be-sondere Bedeutung zugemessen hatte. Da war der Wagnergewesen, der sich über plötzlich fehlendes Werkzeug oder

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mangelhafte Ware beschwert hatte. Oder der Gerber, demman die Kuhfelle sprichwörtlich vor der Nase gestohlen hat-te. Bisher hatte Tristan die Schuld eher bei den Handwerkernselbst gesucht, und diese Dinge auf ihre Vergesslichkeit odergar ihr übertriebenes Geschäftsgebaren und Kaufmannsla-mentieren geschoben. Das jedoch, konnte er nun nicht mehr.Jetzt war er sich sicher, dass die Reise systematisch sabotiertwurde. Irgendjemand hatte Interesse daran, dass sich dieFahrt in den Norden verzögerte oder überhaupt nicht erststattfand. Von nun an musste er vorsichtig sein und jedenSchritt sorgfältig abwägen. Die Tatsache, dass sich der Täternahezu ungehindert innerhalb der Garnison bewegen konnte,würde das Ganze sicher nicht einfacher machen.

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Tanz der Dolche

och immer umkreisten sich die beiden Kontrahenten

in der dunklen Gasse. Bisher hatte keiner einen ernst-haften Versuch gestartet. Es war mehr ein Austaxieren, einBeschnüffeln des Gegenübers. Welcher Stil war der seine?Wann machte er einen Fehler? Shachin kannte alle Facettenund Kniffe des Kampfes. Früh hatte sie gelernt, ihr Gegen-über einzuschätzen. Was war er für ein Typ? Welche Charak-tereigenschaften lagen seinen Bewegungen zugrunde? In vie-len Fällen waren es Hochmut oder Verachtung, die dem Geg-ner letztendlich zum Verhängnis wurden, doch dieser hiertrug weder das eine noch das andere in seiner Haltung. Erwar gut, sogar sehr gut. Ein Meister seines Fachs und Sha-chin erkannte das neidlos an. Nichts verriet seine nächstenAbsichten. Sie musste nun all ihr Können in die Waagschalewerfen. Alles oder Nichts, sonst würde sie zum ersten Mal inihrem Leben als Verlierer aus dem Kampf gehen. Und wasdas bedeutete, war ihr bewusst.

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Plötzlich ging für den Bruchteil einer Sekunde ein Ruckdurch ihren Gegner. Instinktiv drehte sie sich zur Seite undkonnte den Luftzug spüren, den der wie rasend heranwirbeln-

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de Wurfstern hinter sich herzog. Mit einem dumpfen Schlagbohrte er sich irgendwo hinter ihr in die Wand.

Nicht schlecht. Wie hast du das gemacht? Shachin ver-lagerte ihr Gewicht und wechselte die Richtung. In einer flie-ßenden, tausendmal geübten Bewegung griff sie nach demDolch, und für ein ungeübtes Auge flog er ihr geradezu in dieHand. Ihr Gegenüber schien von dieser Vorstellung nichtsonderlich beeindruckt zu sein. Auch er wechselte wieder dieRichtung.

Auf diesen Moment hatte sie gewartet. Mit einer katzen-gleichen Bewegung sprang sie nach vorne und stieß sich da-bei seitlich von der Wand ab. Ihr Dolch vollführte eine halbeDrehung. Die Luft sirrte. Der Stoß zielte auf sein Herz undsie war sich sicher zu treffen, doch plötzlich glitt Metall vonMetall ab. Funken sprühten. Wie hatte er es so schnell ge-schafft, den Dolch zwischen sich und ihre Klinge zu bringen?

Er ist nicht nur sehr gut, er ist unglaublich!, korrigiertesie sich in Gedanken und fing ihren Schwung ab. Sofort wir-belte sie herum und erkannte einen weiteren Dolch in seineranderen Hand. Ganz langsam nahm er ihn herunter. ShachinsAugen folgten der Bewegung und im nächsten Moment ex-plodierte ihr Gegenüber förmlich. Von einer Sekunde auf dieandere war er heran und ein wahrer Schlaghagel, ein Leucht-feuer aus blitzenden Klingen und Schneiden, ging auf sie her-ab. Sofort hatte sie Schwierigkeiten. Ihre bisher vom Sach-verstand geführten Bewegungen gingen in rein instinktiveReaktionen über. Immer wieder hieb er auf sie ein, und vonSekunde zu Sekunde hatte sie es schwerer, die Schläge ge-bührend zu empfangen. Sie kamen von oben, von unten undvon den Seiten. Lange, das wusste sie, würde sie das nichtdurchhalten.

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Shachin wehrte sich so gut sie konnte. Ab und an gelanges ihr sogar, einen Konterangriff anzusetzen und auch wenndieser meistens nicht sonderlich erfolgreich war, so ver-schaffte sie sich Luft damit. Es war ein Tanz, ein Spiel unddie Rollen waren klar verteilt. Beide wussten, was sie taten,beide verstanden es, mit ihren Klingen umzugehen, doch warder gefährliche Fremde klar im Vorteil. Er war ein Meisterseines Faches, einer, zu dem selbst die Könner ihrer Brancheaufschauten.

Shachin musste diesen Kampf so schnell wie möglich be-enden, wenn sie überleben wollte. Ein Sieg war hier und jetztausgeschlossen, sofern ihr Gegenüber keinen Fehler begingund das konnte sie, nach dem bisher Gesehenen, ausschlie-ßen. Schon wieder griff er an. Mit einer Schlagkombination,die Tränen der Herrin genannt wurde, versuchte er sie nunaußer Gefecht zu setzen. Das Ende sollte nicht tödlich sein,lediglich ihre Kampfkraft stark verringern. Glück für Sha-chin, dass sie die richtige Antwort darauf kannte. Wiedersprühten Funken und rutschten Klingen aneinander ab. Ge-schickt drehte sie sich anschließend um ihre eigene Achseund gleichzeitig eine viertel Drehung um ihren Gegner her-um. Sie wollte versuchen ein Ende der Gasse in den Rückenzu bekommen und mit dieser Aktion gelang ihr das auch.

Langsam zog sie sich anschließend zurück. Schritt fürSchritt, stets abwehrend und parierend. Zu eigenen Angriffenwar sie kaum noch in der Lage. Ihrem Gegner entging ihreAbsicht nicht. Immer wieder versuchte er seitlich an ihr vor-beizukommen, um sie anschließend wieder in die Mitte derGasse drängen zu können, doch Shachin konnte das bisher er-folgreich verhindern. Wie lange noch wusste sie nicht, dochdie Tatsache, dass ihr Leben davon abhing, verlieh ihr eineungeahnte Beweglichkeit.

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Der Kampf verlangsamte sich etwas und Shachin fassteneuen Mut. Scheinbar waren seine Kräfte auch nicht uner-schöpflich. Den Dolch stets in der Wacht des Falken, einerfür sie typischen Abwehrtechnik, haltend, ging sie Schritt umSchritt in Richtung Ende der Gasse. Mit der anderen Handtastete sie sich an der Häuserwand entlang. Plötzlich traf sieauf etwas kaltes, metallisches, mit spitzen Zacken an den En-den. Der Wurfstern, durchfuhr es sie. Sie hielt einen Momentinne und es gelang ihr, unbemerkt den Stern aus der tro-ckenen, porösen und mit Lehm verputzten Strohwand zu zie-hen. Dieser alten Bauweise würde sie vermutlich ihr Lebenzu verdanken haben. In einer für sie eher untypischen Art riefsie in Gedanken ein kurzes Stoßgebet aus, dankte demSchicksal, dass die Mauer den Stern so leicht freigegebenhatte und machte sich bereit.

Ihr Gegenüber hielt inne. Etwas hatte seine Aufmerksam-keit erregt. Ganz sachte drehte er den Kopf ein wenig nachhinten. Die Gefahr, die in diesem Moment von ihr ausging,schätzte er offensichtlich als gering ein, denn für den Bruch-teil einer Sekunde schloss er sogar die Augen. Im nächstenMoment änderte sich seine Haltung abrupt. Er trat demonstra-tiv einen Schritt zurück und ein letztes, kurzes Aufblitzen imZwielicht der Gasse verriet Shachin, dass er die Dolche hatteverschwinden lassen. Ihr war sofort klar, dass er scheinbarnicht daran dachte, den Kampf jetzt und hier fortzusetzen. Obihn der damit unweigerlich entgangene Sieg verärgerte warnicht zu erkennen. Vollkommen emotionslos stand er da.Auch Shachin veränderte daraufhin ihre Haltung, die Körper-spannung jedoch hielt sie aufrecht.

Dann wusste sie plötzlich, warum er den Kampf so unver-hofft unterbrochen hatte. Rufe und Stiefeltritte wurden laut.Jemand näherte sich. Sie würden in wenigen Augenblicken

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Publikum bekommen. Publikum war nicht gut, Publikummachte Probleme. Nun verschwand auch ihr Dolch im Halfterüber ihrer Brust, den Wurfstern jedoch hielt sie weiterhin ver-borgen. Ihr Blick traf sich mit dem des Widersachers und ei-ner stillen Übereinkunft gleich, deuteten beide ein Nicken an.Es war kein Gruß, keine Geste der Freundschaft und auchnicht der Versuch einer ersten sozialen Kontaktaufnahme.Möglicherweise die Andeutung von Respekt, aber ganz si-cher das gegenseitige Versprechen, dass dieser Kampf nochnicht zu Ende war.

Im nächsten Moment drehten sich beide um, und als dieStadtwache hastend um die Ecke kam, waren beide bereits imZwielicht der Gasse verschwunden.

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Mord in Sieben Schänken

er Herzog musste erfahren, was geschehen war. Er

war der Urheber, der Schirmherr dieser Reise und ge-wissermaßen auch der Finanzier. Selbstverständlich war esTristan unangenehm, lagen doch die Reise an sich und derengesamte Vorbereitung in seiner Verantwortung. Und den-noch, der Herzog musste wissen, was hier vor sich ging. Im-merhin trieb sich ein Fremder unbehelligt in den Mauern derGarnison herum, und wer konnte schon wissen, was er nochalles im Schilde führte.

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Tristan machte sich sofort auf den Weg. Inzwischen wardas Leben innerhalb der Mauern der Garnison erwacht. Re-kruten liefen mit freiem Oberkörper zu den Brunnen und dieRottenführer trieben sie dabei unentwegt zur Eile an. DieStallmeister brachten frisches Wasser und Stroh zu den Nutz-tieren und die Küchenbullen, wie die Köche innerhalb derMauern genannt wurden, begutachteten die frischen Lieferun-gen der Händler Leuenburgs. Der Kasernenalltag war in vol-lem Gange und auch wenn es auf den ersten Blick nach heil-losem Chaos aussah, steckte doch hinter jeder Aktion eineausgefeilte Methodik.

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Es dauerte eine Weile, bis Tristan im ersten Stock desHaupthauses angekommen war. Hier hatte der Hauptmannder Stadtwache, Taris, sein Quartier und er war direkt demHerzog unterstellt. Alles, was der Hauptmann erfuhr, wurdeauch dem Herzog zugetragen und Tristan hatte nicht vor, dieBefehlskette zu umgehen, auch wenn er sich sicher war, aufdie Schnelle eine Audienz beim Herzog zu erhalten.

Als er den langen Gang, der zum Büro des Hauptmannsführte, betrat, fiel ihm auf, dass dessen Tür bereits offenstand. Laute Stimmen waren zu hören und Tristan hatte sofortdas Gefühl, dass etwas geschehen sein musste. Haben sieetwa schon erfahren was in der Vorratskammer vorgefallenwar? Tristan beschleunigte seine Schritte. Schon von weitemsah er den Hauptmann, wie er sich mit dem Wachhabendender Nachtwächter unterhielt. Wild gestikulierend sprach derHauptmann auf ihn ein. Als Tristan das Zimmer betrat, dreh-ten sich beide zu ihm herum. Der Hauptmann war ein Mannmittleren Alters. Erste graue Strähnen zogen sich vereinzeltdurch das schwarze, kurz gehaltene Haar. Hohe Wangenkno-chen und aufmerksame Augen unterstrichen seine markantenGesichtszüge. Ihm entging nichts und seinen scharfen Ver-stand konnte man förmlich greifen. Anders der Wachhabendeneben ihm. Sein Gesicht war rundlich, mit dicken Pausba-cken. Die Augen, vom Nachtdienst rot unterlaufen und müde,lagen tief in ihren Höhlen. Er hatte einige Strapazen hintersich und das sah man ihm deutlich an. Insgeheim fragte sichTristan, ob auch er die durchwachte Nacht so offen im Ge-sicht trug.

Tristan nahm Haltung an und grüßte sowohl den Haupt-mann als auch den Nachtwächter.

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»Ihr kommt wie gerufen, Tristan!« Sofort winkte ihn derHauptmann heran. »Heute Nacht hat es einen Toten gegeben.Ein Mordopfer, soviel steht jetzt schon fest.«

Tristan, ein wenig überrumpelt, runzelte die Stirn.

»Wachmann Cutrig hier hat ihn gefunden.« Taris deuteteauf den untersetzten Mann gegenüber. »Er fand den Toten inder Dunklen Gasse, direkt hinter dem Goldenen Erker.«

»Mir scheint, dass die gestrige Nacht allgemein recht un-ruhig gewesen ist«, antwortete Tristan nachdenklich und ver-suchte dabei, etwas Ordnung in seine Gedanken zu bekom-men. Langsam machte sich auch bei ihm die schlaflose Nachtbemerkbar, und er fragte sich, wann die gnadenlose Müdig-keit durchschlagen würde.

Nun war es der Hauptmann, der die Stirn in Falten warf.

»Wie meint ihr das, Tristan?«

»In den frühen Morgenstunden, noch vor Sonnenaufgang,hat es einen Einbruch in die Garnison gegeben. Die Vorrats-kammer war das Ziel und der Eindringling hat sein Ziel er-reicht.«

Der Hauptmann zeigte nicht die kleinste Regung. Ent-schlossen und bestimmend blickte er abwechselnd Cutrig undTristan an.

»Cutrig, auch wenn Ihr Euch das Dienstende heute Mor-gen redlich verdient habt, kann ich Euch noch nicht entlassen.Ihr werdet Tristan, nach seinem Bericht, bei den Ermittlun-gen über den Toten zur Seite stehen.«

Tristan sah verwirrt zu Taris.

»Hauptmann Taris, sicher ist der Todesfall …«

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»Mord!«, verbesserte ihn der Hauptmann.

»… der Mord…« fuhr Tristan korrigierend fort, »… vonBedeutung, aber der Aufbruch in den Norden steht bevor undich habe damit noch alle Hände voll zu tun.«

»Ihr wurdet für dieses Unterfangen freigestellt, doch nunmüsst ihr noch Zeit finden, Euch um den Mord zukümmern.« Taris sah Tristan eindringlich an. Dieser wolltewidersprechen, doch der Hauptmann kam ihm in schneiden-dem Tonfall zuvor. »Ich dulde keinen Widerspruch, Leut-nant! Das ist ein Befehl!«

Tristan schluckte die Erwiderung, die ihm auf der Zungelag, zähneknirschend hinunter und nickte. »Jawohl HerrHauptmann.« Es war ihm gar nicht Recht, in Gegenwart einesSoldaten derart in den Senkel gestellt zu werden, doch Tris-tan erkannte schnell, dass der Hauptmann Recht hatte. Wo-möglich bestand sogar eine Verbindung zwischen dem Ein-bruch und dem Toten in der Dunklen Gasse. Wie auch im-mer, Tristan würde sich dieser Sache annehmen müssen, unddie Zuteilung von Cutrig konnte sich im Nachhinein sogarnoch als Vorteil herausstellen.

Als der Hauptmann sah, dass sich sein Leutnant dem Be-fehl fügte, wurde sein Tonfall sofort versöhnlicher. Langsamtrat er auf Tristan zu und lächelte väterlich.

»Doch nun berichtet mir erst einmal, was sich heute Mor-gen in der Vorratskammer abgespielt hat.« Er machte eineeinladende Geste und nahm an seinem Schreibtisch Platz.

Nachdem Taris den Wächter Cutrig entlassen und zumfrühstücken in die Küche geschickt hatte, begann Tristanschließlich zu erzählen.

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Falsches Spiel

er Goldene Erker war eine Kaschemme. Das einzig

Goldene an ihm war sein Name und vielleicht seinBier, doch dem wollte Berenghor heute Abend näher auf denGrund gehen. Wenigstens hatte der Schmied bei der Entfer-nung nicht zuviel versprochen. Das Gasthaus war wirklichnicht weit entfernt von der Schmiede und quasi nicht zu ver-fehlen. Die Gerüche von vergorenem Gerstensaft und Abfäl-len gingen ihm voraus. Der Goldene Erker lag im Osten derStadt, etwas südlich von der Stadtgarnison. Das Viertel wareher eines der heruntergekommenen mit dem klangvollen Na-men Sieben Schänken. Wo sich die anderen sechs verbargen,hatte Berenghor noch nicht herausgefunden, doch beim An-blick des Goldenen Erkers war er sich nicht mehr sicher, ober es überhaupt wissen wollte. Das vergleichsweise kleineHaus war zwischen zwei große Fachwerkbauten geradezuhineingepresst worden. Die Holzfassade wies mehr als nurein paar Spuren von Verwitterung auf und die einstige Farbewar nicht mehr zu erkennen. Ein kleines, windschiefes Schildhing knapp oberhalb der Tür. Sämtliche Fensterläden im obe-ren Stockwerk waren geschlossen und machten nicht denEindruck, als ließen sie sich ohne brachiale Gewalt jemals

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wieder öffnen. Die Fenster im Untergeschoss waren mit ein-fachem Butzenglas versehen. Ruß von innen und Dreck vonaußen machten ein Durchsehen jedoch unmöglich. Die Türzum Schankraum stand offen, und von innen drang dumpfesGelächter und Gesang auf die Gasse. Einen kurzen Momentdachte Berenghor daran, zum Schmied zurückzugehen undseinen Zweihänder zu holen, doch dann entschied er sich an-ders. Dies war sicher ein Ort für Stadtstreicher und Halunken,doch im Fall der Fälle würden seine Fäuste hier mehr bewir-ken als ein beinahe zwei Schritt großes Langschwert. Und au-ßerdem trug er ja noch das ein oder andere Messerchen amLeib.

Mit dem ersten Schritt über die Schwelle stieg ihm sofortein beißender Geruch in die Nase. Eine Mischung ausSchweiß, Bier und Rauch. Selbst für einen späten Nachmittagwie heute war im Goldenen Erker viel Betrieb. Fast alle Ti-sche waren besetzt und der Wirt hatte alle Hände voll zu tun.Eine ältere Frau ging zwischen den Stühlen umher. Das großeTablett auf ihrer Schulter balancierend, nahm sie immer wie-der leere Tonkrüge auf oder stellte schaumig gefüllte ab.

Berenghor lehnte sich an die Theke und suchte den Wirt.»Noch’n Zimmer frei?«

Der Wirt musterte Berenghor im Vorbeigehen kurz.»Zehn Heller pro Nacht und Nase.«

Der Preis ging in Ordnung und Berenghor nickte.

»Vorkasse und hier auf die Hand!«, rief der Wirt vom an-deren Ende der Theke, als er gerade wieder einen Krug ein-schenkte.

Das war klar, murmelte der Söldner und kramte in seinemSoldsäckel.

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»Drei Nächte in der Fürstensuite«, witzelte Berenghor, alser die Münzen auf den Tresen warf. Klimpernd kullerten sieüber das speckige Holz und blieben in einer Bierlache liegen.

»Ihr bekommt das Beste, das ich habe«, antwortete derWirt unheilvoll und wischte sich die Münzen samt dem altenBier in die Schürze.

»Gib mir mal ’nen Krug von deinem edlen Tropfen. An-ders hält man es hier ja nicht aus«, forderte Berenghor denWirt lachend auf, warf abermals klimpernd ein paar Münzenauf den Tresen und sah sich im Schankraum um. Der Wirtschien sich nicht weiter in ein Gespräch verwickeln lassen zuwollen. Er stellte Berenghor stumm den Krug hin und machtesich wieder an die Arbeit.

Berenghor hatte Schwierigkeiten, diesen Zeitgenosseneinzuschätzen. Er war im Stress, keine Frage, aber dennochhätte er erwartet, dass gerade er einem Fremden etwas aufden Zahn fühlen wollte.

Mal sehen, wie sich der Abend entwickeln würde. Nochwar es früh, der Alkoholpegel vergleichsweise niedrig unddie Gemüter noch ruhig. Berenghor wusste aus eigener Erfah-rung, dass sich das mit zunehmender Stunde schnell ändernkonnte.

Bei einem Blick in die Runde meinte Berenghor deneinen oder anderen Handwerker ausmachen zu können, unddie Gruppe hinten im Erker verdiente ihren Lebensunterhaltsicher nicht mit legalen Geschäften. Auch Glücksspiel warvertreten. An einem großen runden Tisch polterten immerwieder Würfel über das Holz, und ab und an warfen die Spie-ler Münzen in die Mitte des Tisches. Berenghor beobachtetedie Zocker und nach einer Weile hatte sich ein kleines Ver-mögen angesammelt. Die Stimmung am Tisch wurde ange-

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spannt. Einer würde in wenigen Minuten der glückliche Ge-winner sein und die anderen hatten die Zeche zu zahlen. Be-renghor schmunzelte. So war es immer, und der Trick dabeiwar, stets auf der Gewinnerseite zu stehen. Er selbst hatte daszwar rein politisch gesehen nicht immer geschafft, doch alsSöldner war das nicht sonderlich problematisch. Man mussteam Ende nur überleben, und wenn doch einmal der vereinbar-te Sold ausblieb, nahm man sich einfach, was einem zustand.Notfalls auch mit Gewalt.

Den Gesichtsausdrücken nach zu urteilen war die heißePhase beim Würfelspiel erreicht. Berenghor spitzte die Ohrenund sah aufmerksam hinüber. Scheinbar hatte noch jeder derSpieler die Chance auf den großen Pott und umso größerwurde bei jedem die Anspannung. Der Kriegerinstinkt deshünenhaften Söldners sagte ihm, dass Ärger in der Luft lag.Gleich würde etwas passieren, da war er sich sicher. Er wit-terte diese Dinge immer im Voraus und bisher hatte er sichnoch nie getäuscht. Auch der Wirt schien etwas bemerkt zuhaben. Wie ein verwundetes Tier lief er rastlos hinter demTresen auf und ab und wischte sich dabei immer wieder ner-vös die Finger an der Schürze ab. Sein Blick zuckte laufendunruhig zum Tisch und dann wieder auf den Tresen.

Plötzlich hallte ein Jubelschrei gefolgt von lautem Lachendurch den Schankraum. Der Sieger stand also fest. Eingroßer, hagerer Mann mit schulterlangem Haar griff über denTisch und zog die Beute zu sich heran. Die Würfel lagennoch frisch gefallen auf dem Tisch und die Verlierer konntenihre Blicke im ersten Moment nicht davon losreißen. Für siewar der letzte Wurf zum Schicksalswurf geworden. Bereng-hor konnte nur erahnen wie viel auf dem Spiel gestanden hat-te, doch den Gesichtern nach zu urteilen gut und gern einMonatsverdienst oder mehr. Jetzt würde sich zeigen, wer ein

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guter Verlierer war. Der eine senkte den Kopf und saß teil-nahmslos da. Sein Nachbar schob sich erbost vom Tisch wegund sprang wutentbrannt auf. Nach einem bösen Blick aufden Sieger warf er den Stuhl zur Seite und rannte aus der Tür.Blieb also noch einer. Berenghor sah sich den Burschen ganzgenau an. Langsam stemmte der sich hoch und warf dabeidem Sieger der Runde einen hasserfüllten Blick zu. Bereng-hor kannte diesen Blick und sah seine Vermutung bestätigt.Dieser hier würde Ärger machen.

Es war ruhig geworden im Schankraum. Alle Augen ruh-ten auf dem letzten Verlierer und keiner wagte es, ein Wortzu sprechen. Eigentlich hatte Berenghor nichts gegen eine ge-pflegte Kneipenschlägerei, schon gar nicht in einer Kaschem-me wie dieser, doch bei einer Schlägerei würde es hier ganzsicher nicht bleiben. Heute Abend würde Blut fließen.

Der große Hagere stand nun ebenfalls langsam auf. Mansah sofort, dass er kein Interesse an einem ernst gemeintenKonflikt hatte, doch die Aussicht auf das kleine Vermögenvor sich schien ihm Mut zu machen. Er wollte etwas sagen,doch sein Gegenüber kam ihm zuvor. Sofort entbrannte einehektische Diskussion und mehr als nur einmal wurden sichgegenseitig Wörter wie Betrüger oder Falschspieler an denKopf geworfen. Berenghor hatte Mühe dem hitzigen Wortge-fecht zu folgen und gerade als er sich amüsiert zurücklehnenwollte, sprang dem Dürren urplötzlich ein Messer in dieHand. Na das ist mal ne interessante Wendung, dachte sichBerenghor und stieß sich sachte vom Tresen ab. Er hätteeinen ganzen Silbertaler darauf verwettet, dass der andere zu-erst sein Messer zücken würde.

Grundsätzlich hielt sich der Söldner ja aus fremden Ange-legenheiten raus, gerade bei heiklen Geschichten wie dieserhier, doch irgendwie hatte er das Verlangen, einzuschreiten.

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Ein Blick auf den Wirt verriet ihm, dass der keinen Fingerkrumm machen würde. Unangenehm war es ihm, das verrietsein nervöser Blick, doch auf der anderen Seite war diese An-gelegenheit sicher nichts Neues für ihn. Vermutlich wusste ersogar, dass sich die Angelegenheit von selber lösen würde.

Auch die anderen Gäste hatten mittlerweile das Messerbemerkt. Sie standen von ihren Plätzen auf und bildeten einenKreis um die beiden Streithähne. Das geschah so selbstver-ständlich, als ob es nichts Ungewöhnliches sei und quasi zumAlltag im Goldenen Erker gehörte. Leicht angesäuert stelltesich auch Berenghor in den Ring der umstehenden Männerund begann damit, sich langsam hinter den Dürren mit demMesser zu schieben.

Da nahm er sich einmal vor, den ganzen Tag in Ruhe undFrieden, gesittet und kultiviert, zu verbringen und dann triebdas Schicksal seine Scherze mit ihm. Als ob es nicht wollte,dass ein Söldner wie er sich nicht wie einer verhielt. Er hattejedenfalls nicht vor, sich dieses Vorhaben von einem dürrenSpargel mit Zahnstocher verderben zu lassen. Außerdem wardas Bier hier hervorragend und unterm Strich war der Golde-ne Erker samt seiner Kundschaft gar nicht so übel.

Berenghor hatte den toten Winkel hinter dem Hageren er-reicht und wartete ab. Noch rührte sich keiner. Der Dürre ließdas Messer mit der Hand immer wieder nach vorne springenund machte dem anderen klar, was passieren würde, wenndieser ihm den Gewinn weiterhin streitig machen wollte. Derwiederum zog nun ebenfalls sein Messer. Auch er war ge-willt, weiter zu gehen als bisher. Berenghor machte sich be-reit. Er schob sich nochmal ein Stück weiter und stand danneine knappe Handbreit hinter dem Dürren. Keiner störte sichdaran, war es doch klar, dass ein Krieger wie er den bestenPlatz und die beste Sicht auf den Kampf haben wollte.

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Im nächsten Moment sprang der Dürre vor, und fiel plötz-lich wie von göttlicher Hand gefällt zu Boden. Die göttlicheHand war in diesem Fall die Faust von Berenghor. Er hattesie auf den Kopf des Langen krachen lassen, noch währendder den ersten Schritt in Richtung seines Gegners machte.Wieder war es absolut still im Schankraum. Alle Blicke wa-ren auf den gewaltigen Söldner gerichtet. Der wiederum hobdie Hand, die noch immer den Bierkrug hielt, hoch und pros-tete allen zu. Mit einem zufriedenen Lächeln nahm er einengroßen Schluck.

»Glotzt mich nicht so an! Ich will in Ruhe mein Bier trin-ken und habe keine Lust auf Messerstechereien. Wenn je-mand etwas dagegen hat, kann er sich gerne mit mir verabre-den.« Berenghor grinste nach dieser Ansprache noch zufrie-dener in die Runde. Dann fand sein Blick den schlechten Ver-lierer. »Mach dich vom Acker. Den Gewinn kannst du dir ab-schminken.«

Für den Bruchteil einer Sekunde schien es sich der Kerlzu überlegen. Als Berenghor jedoch kurz seinen mächtigenOberkörper streckte und ihn auffordernd ansah, suchte erdann doch das Weite. Der dritte Verlierer im Bunde saß nochimmer auf seinem Stuhl, hatte die Szene jedoch mit großenAugen verfolgt.

»Nimm dir die Kröten. Er hier…« Berenghor deutete aufden bewusstlosen Dürren, »… hat sie sich verspielt, als er be-reit war, dafür zu töten.«

Das kleine Häuflein Elend verstand erst nicht so recht,doch als Berenghor ihm aufmunternd zulächelte, kratzte er al-len Mut zusammen und begann damit, das Geld aufzusam-meln.

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Nach und nach verzogen sich die Schaulustigen wieder.Die Show war vorbei und nach einigen Minuten kümmertesich jeder nur noch um seinen eigenen Kram. Berenghor mar-schierte gelassen zum Tresen zurück und bestellte ein weite-res Bier. Den leeren Krug stellte er mit einem lauten Rülpsenab.

»Dank dir und … das geht auf mich«, flüsterte der Wirtund nickte ihm erleichtert zu. Dieses Mal musste er keine derStadtwachen bestechen, um die Leiche loszuwerden. »Prinzi-piell habe ich nichts gegen gesunde Meinungsverschiedenhei-ten, doch irgendwann leidet selbst der Ruf des Goldenen Er-kers unter zu vielen toten Gästen.« Er grinste.

»Das verdankst du deinem Bier mein Guter«, antworteteBerenghor und nahm einen kräftigen Schluck aus dem gut ge-füllten Tonkrug. »Pass mal eben darauf auf.«

Der Söldner verspürte nach drei Litern Bier ein dringen-des Bedürfnis und machte sich, schon leicht wankend, aufden Weg. Von hinten hörte er den Wirt rufen.

»Einfach hinten auf die Gasse raus. Was anderes habenwir hier nicht.«

Es war nicht weit. Eine kleine Tür am Ende des Wirtshau-ses wies den Weg. Als Berenghor hinaustrat, umfing ihngraues Zwielicht. Es war spät geworden, sehr spät sogar. Ermachte sich nicht die Mühe, auf die Gasse zu gehen und öff-nete noch im Türbogen das Lederband der Hose. Gerade alser anfing sich zu erleichtern, hörte er einen dumpfen Ein-schlag. Etwas war neben ihm in die Hauswand einge-schlagen. Langsam drehte er den Kopf zur Seite und mit vomAlkohol leicht getrübten Blick konnte er, etwa auf Augenhö-he, einen mit spitzen Zacken versehenen Stern erkennen. Ersteckte in der Hauswand und blitzte sachte im tanzenden

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Lichtschein der offenen Tür. Überrascht und neugierig zu-gleich suchte er nach dessen Quelle. Etwas weiter hintenmachte er zwei Gestalten aus, die ohne Zweifel miteinanderrangen. Es hatte den Anschein, als sei zumindest eine davoneine Frau. Ihr kastanienfarbenes, schulterlanges Haar schim-merte im Dunkel der Gasse. Der Rest aber waren nur Schat-ten und Schemen.

Gleichgültig schüttelte Berenghor den Kopf und schlossdas Lederband der Hose. Hier musste er sich um nichts küm-mern. Er konnte einfach wieder in den Goldenen Erker gehenund die Tür hinter sich zuziehen. Und genau das machte erauch. Sofort umfing ihn wieder die warme, stickige Luft derKneipe, und voller Vorfreude auf die nächste Runde machteer sich auf den Weg zurück zur Theke.

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Schlaf der Schatten

hachin lief durch die nächtlichen Gassen Leuenburgs.

Sie wusste genau, wo sie hinwollte. Die Stadtwache hat-te sie in den Schatten nicht entdeckt und nun war sie auf demRückweg zu ihrem Versteck. Es war nicht ihre Art, sich ir-gendwo offiziell einzuquartieren. Lieber suchte sie sich ver-steckte, unbelebte Ecken. Dort war sie vor unliebsamen Be-suchern geschützt und für sich allein. Das Herdenverhaltender Menschen sagte ihr nicht sonderlich zu und gerne miedsie auch die großen Städte des Reiches. Mit der Tatsache,dass aber meist gerade dort die lukrativsten Aufträge auf siewarteten, hatte sie sich jedoch arrangiert.

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Das Adrenalin pulsierte noch durch ihre Adern. Ge-schmeidig und unentdeckt hastete sie zwischen den Häusernhindurch. Außer ein paar hoffnungslos Betrunkenen begegne-te ihr keine Menschenseele.

Sie dachte immerfort an den unheimlichen Gegner voneben. Wer war er? Wo kam er her? Sie hatte seinen Kampfstilschon einmal gesehen, dessen war sie sich sicher. Ob es da-mals aber auch gerade Er war, konnte sie nicht mehr sagen.Ein Meister war er, so viel stand fest. In ihren Kreisen Meis-

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ter der Klingen genannt. Jemand, der sein Wissen weitergabund einen Schüler hatte. Jemand, der selbst jahrelang gelernthatte, dann sein Wissen in der Praxis anwandte und vertiefteund nun selbst, mit eigenen Techniken und Finessen verse-hen, weitergab. Sie kannte sich in ihren Berufskreisen rechtgut aus, und sobald sie in ihrem Versteck angekommen war,wollte sie nochmals versuchen, sich zu erinnern. Unstrittigwar, dass es immer zwölf Großmeister verteilt auf das Reichgab. Ein jeder mit eigenem Unterschlupf und Schülern. Wennein Großmeister starb, wählten die übrigen einen neuen. Sowar immer gewährleistet, dass es für jede Technik einen eige-nen Großmeister gab. Shachin kannte drei der Großmeisterpersönlich, war sie doch bei ihnen in die Lehre gegangen.Zwei weitere waren ihr vom Sehen geläufig, doch die ande-ren sieben lagen im Dunkeln.

Shachin verhielt immer wieder in ihrem Lauf und lausch-te. Sie musste sicher sein, dass ihr der Meister, wie sie ihnvon nun an nennen wollte, nicht folgte. Der sichere Unter-schlupf war wichtig. Ein Ort der Regeneration und Ruhe. Esmusste ihr solange gelingen, das Versteck geheim zu halten,bis die Reise in den Norden begann. Dann, so ihr Plan, hattesie die Gelegenheit, eine Zeit lang abzutauchen, von derOberfläche zu verschwinden. Schon bevor sie vor einigen Ta-gen in Leuenburg angekommen war, hatte sie diesen Ent-schluss gefasst. Nun, mit dem Auftauchen dieses ernstzuneh-menden Gegners, hatte sich nichts daran geändert, eher imGegenteil. Sie musste weg aus den nördlichen Herzogtümern.Einige Zeit warten, bis Gras über die Sache gewachsen war,und das Siedlungsprojekt im Wilderland war wie geschaffendafür.

Einige Minuten und ein paar geschlagene Haken spätererreichte sie den Westen der Stadt. Jetzt war es nicht mehr

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weit. Die alte, verfallene Kapelle lag direkt an der Stadtmau-er, knapp unterhalb des Grünwalder Tores. Sie war kaum be-sucht, und die wenigen Gläubigen, die hier ihren Dienst ander Herrin verrichteten, blieben nie lange.

Leise und vorsichtig näherte sie sich dem alten Gemäuer.Vielleicht wusste der Meister bereits um ihren Aufenthaltsortund wartete hier auf sie. Wobei das äußerst unwahrscheinlichwar. Shachin hatte zwar den einen oder anderen Umweg inKauf genommen, war aber dennoch schnell und ohne langenAufenthalt gelaufen. Er hätte schon Flügel besitzen müssen,sollte er nun vor ihr hier sein.

Das schwarze Leichentuch der Nacht lag ruhig und stillauf der Kapelle. Von oben drang kein Licht in die Senke hin-ab und nur die kleine Kerze, die immer im Fensterbogen hin-ter dem Altar brannte, sorgte für einen fahlen Lichtschein.Die letzte Stunde vor der Dämmerung war kalt und ab und antrieb ein leichter Wind die Schatten der Kerze tanzend undspringend über den verwitterten Stein.

Shachin sah die Gestalt erst, als sie die Wegbiegung desSteiges hinter sich hatte. Stumm und unbeweglich kniete je-mand vor dem Altar. Sofort verschwand Shachin im Schatteneines Findlings, und plötzlich lag auch wieder der Dolch inihrer Hand. Auf den ersten Blick hatte sie gesehen, dass esnicht der Meister war und dennoch, Vorsicht war geboten.Sie hatte kein Interesse daran, hier entdeckt zu werden. DasVerhalten der Person dort unten würde nun über Leben oderTod entscheiden. Sollte sie Shachins Lager zu nahe kommen,musste sie sterben.

Es fing langsam an zu dämmern. Die Schatten begannendamit, dem diffusen Licht der aufgehenden Sonne Platz zumachen. Shachin harrte noch immer hinter dem Findling aus

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und beobachtete die kleine Kapelle. Zunächst hatte sie ange-nommen, dass es sich um einen einfachen Gläubigen handel-te. Doch nach einiger Zeit kam sie zu dem Schluss, dass erdafür irgendwie zu geordnet, zu diszipliniert aussah. Sie hatteeinen Soldaten vor sich, da war sie sich nun sicher. Vermut-lich war er ein Mitglied der Stadtwache, nur in Zivil.

Shachin sah sich um. Sie musste hier weg. Ihr Versteckhinter dem Findling war zu exponiert, und im Licht des hel-len Tages konnte man sie von weiter oben deutlich erkennen.Leise richtete sich Shachin auf. Im Schutz einiger kleiner Fel-sen machte sie sich auf den Weg in die Senke. Noch rührtesich der Soldat nicht, doch, so fürchtete sie, war das nur nocheine Frage der Zeit. Für ihn gab es nur den Weg über denkleinen Steig und dann würde er sie zwangsläufig entdecken.Nach ein paar Schritten hatte Shachin den Boden der Senkeerreicht. Sie hielt sich links und näherte sich der Gestalt vonSüden. Leise und jeden Schatten dabei ausnutzend, arbeitetesie sich Schritt für Schritt nach vorne. Dann hatte sie den Sol-daten im Profil. Er war noch sehr jung, womöglich knappüber zwanzig Winter alt. Das flachsblonde Haar fiel ihm bisauf die Schultern. Die Hände der kräftigen Arme waren zumGebet gefaltet, seine Augen geschlossen. Er trug nur schlich-te Kleidung und hatte augenscheinlich keine Waffen bei sich.Sie wusste nicht warum, doch würde es ihr Leid tun, müsstesie ihn wirklich den Hauch des Todes spüren lassen. Irgend-wo in der Nähe krähte ein Hahn und beim dritten Schrei gingplötzlich ein Ruck durch den jungen Soldaten am Altar.Schwerfällig, vermutlich vom Blutstau durch die unbequemeHaltung behindert, setzte er sich hin. Ein paar Minuten späterstand er auf und machte sich schließlich auf den Weg. Nunhatte Shachin die Möglichkeit, den Soldaten genauer zu mus-tern. Er war groß gewachsen und seine Bewegungen machten

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trotz der unscheinbaren, einfachen Gewandung unmissver-ständlich klar, dass er etwas vom Kampf verstand. Sie warfroh, dass hier kein Blut mehr fließen musste. Hinzu kam,dass er höchstwahrscheinlich Mitglied der Stadtwache war,vermutlich sogar ein Offizier.

Nachdem sie den Soldat nicht mehr sehen konnte, betratShachin die alte Kapelle. Hinter dem Altar ging es noch einStück weiter, in eine Art Grotte hinein. Die kleine Höhle wardunkel und von außen nicht zu entdecken. Von innen hinge-gen hatte man einen guten Überblick auf den Steig und denunmittelbaren Altarraum. Einziger Makel an diesem Unter-schlupf war, dass es keinen alternativen Fluchtweg gab. Sowie man hinein kam, musste man auch wieder hinaus. EinFeind, der wusste wo sich sein Opfer befand und noch dazuin der Überzahl war, konnte aus dem vermeintlich guten Ver-steck schnell eine Todesfalle werden lassen. Shachin wusstedas. Und dennoch, bisher war sie der Meinung gewesen, dasses in Leuenburg keines geheimen Fluchtweges bedurfte. Töd-lich, wenn sie sich irren sollte.

Die Schattenkriegerin wartete noch ein paar Stunden ab.Sie wollte ganz sichergehen, dass ihr der Meister nicht dochgefolgt war. Stumm und unbeweglich betrachtete sie denSteig und das Vorfeld der Kapelle. Nichts geschah, nicht ein-mal Gläubige verirrten sich an diesem Tag hierher. Erst nach-dem sie sich ganz sicher war, ließ sie sich erschöpft auf ihrLager sinken. Sofort fiel ein Teil von ihr in einen tiefen, er-holsamen Schlaf, der andere hingegen wachte. Genau so, wiesie es in den vielen Jahren ihrer Ausbildung gelernt und auchdanach immer und immer wieder praktiziert hatte. Shachinschlief. Sie schlief den Schlaf der Schatten.

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Ermittlungen

auptmann Taris nahm die Sache sehr ernst. Einem Mord

in Sieben Schänken musste man nachgehen, keine Fra-ge, doch der Einbruch in die Garnison war erschreckend undgefährlich zugleich, eine Erschütterung der Sicherheit derganzen Stadt. Ein Angriff auf die Stadtwache, und das warder Einbruch zweifelsfrei, kam einem Angriff auf den Herzoggleich und musste mit aller Härte und Konsequenz verfolgtwerden. So etwas hatte es noch nie gegeben und Taris sahsich neben seiner persönlichen Haltung in dieser Angelegen-heit auch dazu verpflichtet, die Ermittlungen selbst in dieHand zu nehmen.

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Tristan konnte das sehr gut verstehen, aber dennochwurmte es ihn auch. Der Einbruch mochte ein Angriff auf dieStadtwache gewesen sein und damit auch auf den Herzog,doch in allererster Linie war es ein Akt der Sabotage auf dasihm anvertraute Siedlungsprojekt. Wütend und von der ver-ständnisvollen Art des Hauptmanns nur wenig besänftigt, hat-te er sich auf den Weg zur Dunklen Gasse gemacht. Nicht je-doch ohne Wachmann Cutrig vorher noch einige Instruktio-nen bezüglich der Reise zu geben. Von heute an würde eineWache rund um die Uhr die Vorratskammer bewachen und

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eine weitere hatte ein Auge auf den Wagen und die Handwer-ker. Cutrig stand zwar auf Anordnung des Hauptmanns Tris-tan zur Verfügung, doch dieser hatte ihm keine Anweisungengegeben, wie er Cutrig einsetzen sollte. Und wenn es auchnicht im Sinne von Taris war, so musste er nun damit leben,dass Cutrig sich ab heute um die Sicherheit der Reisevorbe-reitungen kümmern würde und Tristan allein dem Mord inSieben Schänken nachging. Viel Zeit würde er damit aber si-cher nicht verschwenden.

»Dort hinten habe ich die Leiche gefunden«, erklärte dieNachtwache Tristan.

»Zu welcher Stunde?« Tristan eilte voran und suchte da-bei ungeduldig den Blick seines Begleiters.

»Schwer zu sagen. Na, ne knappe Stunde nach Mitter-nacht würd’ ich meinen. Der Körper war noch warm und dasBlut auf der Gasse frisch.«

Dann ist der Mord also unmittelbar vor dem Auftauchender Wache passiert, schlussfolgerte Tristan nachdenklich. Einpaar Schritte später hatte er den Tatort erreicht. Der Blutfleckwar noch zu sehen, die Leiche hingegen befand sich schon inder Garnison. »Das ist doch der Hintereingang zum Golde-nen Erker, oder nicht?«

Die Wache nickte, als der Leutnant auf eine windschiefeTür an der Seite der Gasse deutete. Tristan kannte diese Spe-lunke. Ein Ort für Schurken und Halunken, Herumtreiber undTunichtgute. Sieben Schänken war schon kein angenehmerStadtteil, doch die Gegend um den Goldenen Erker herumwar berüchtigt. Schlägereien oder gar Schlimmeres standenhier beinahe auf der Tagesordnung. Vermutlich ging das Op-fer der letzten Nacht auch auf das Konto einer dieser Schlä-gereien. Oft blieb es dabei ja nicht bei den Fäusten. Die

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Hemmschwelle war gering und häufig, und vor allem schnell,wurden Messer oder Dolche mit ins Spiel gebracht. Für Tris-tan war der Fall klar. Zunächst ist jemand wegen Geld oderwomöglich einer Frau in der Kaschemme nebenan aneinandergeraten. Die Auseinandersetzung wurde nach draußen ver-legt, und aus der Schlägerei wurde schnell bitterer Ernst. To-desfälle dieser Art gab es immer mal wieder in Leuenburg,und oft blieb die Suche nach den Tätern erfolglos.

Er hatte genug gesehen. Am liebsten wäre er wieder zu-rück in die Garnison gegangen, doch eine Mischung ausSelbstdisziplin und schlechtem Gewissen brachten ihn zudem Entschluss, wenigstens noch einen Blick in den Golde-nen Erker zu werfen. Taris’ Befehl war eindeutig gewesenund Tristan wollte ihn nicht allzu stiefmütterlich behandeln.Ein kurzer Abstecher in die Spelunke würde sicher nicht vielZeit kosten. Und wenn es so laufen sollte wie er erwartete,dann würde er sowieso nur zugeknöpfte, wortkarge Gestaltenvorfinden.

Selbst am Tag war es im Goldenen Erker trüb. Die Schank-stube war nahezu leer. Nur am Tisch beim Tresen saß eingroßgewachsener Mann und aß. Der Wirt war nicht zu sehen.Eine ältere Frau, trotz ihres Alters nur spärlich bekleidet, gingmit einem zerfransten Reisigbesen halbherzig über den Bo-den. Alles in allem ein trostloser Anblick. Tristan wollte ge-rade wieder kehrtmachen, als sein Blick nochmal auf dengroßen Mann am Tisch fiel. Erst jetzt erkannte er dessen ge-waltige Körperausmaße. In der Höhe gut und gerne zweiSchritt mutmaßte Tristan, und Arme so dick wie die Ober-schenkel einer jungen Frau. Einem inneren Impuls folgendnäherte er sich dem Tisch. Er wusste nicht warum, doch et-was hatte sein Interesse an diesem Kerl geweckt.

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Käse, etwas Honig und trockenes Brot lagen vor ihm aufeinem Holzbrett, daneben ein großer Krug mit Wasser. DasFrühstück war karg, doch nicht ungewöhnlich. Viele Leuen-burger aßen vormittags ähnlich, und nur die wenigsten konn-ten sich frisches Obst oder gar Säfte leisten. Ihm hier schiendie Art jedenfalls nichts auszumachen. Sein Appetit war großund seine Manieren überraschend gut. Beim Anblick des es-senden Mannes meldete sich plötzlich auch Tristans Magenund ihm wurde bewusst, dass er heute auch noch nichts ge-gessen hatte. Er würde das später nachholen. Jetzt musste ersich zunächst auf die Ermittlungen konzentrieren. Auf denletzten Metern versuchte Tristan, den Kerl am Tisch einzu-schätzen. Er hatte ohne Zweifel einen Krieger vor sich. Zwarfehlte ihm die entsprechende Waffe, doch war er sich sicher,dass es sie gab. Narben durchzogen sein Gesicht und trotz derAnwesenheit von Tristan hatte der Krieger noch kein einzigesMal aufgesehen. Selbstsicherheit, dachte er und trat mit ei-nem leisen Räuspern an den Tisch.

»Bekommt man bei der Stadtwache kein Frühstück oderwarum starrst du mich so an?«, gab der hünenhafte Kriegerplötzlich und ohne aufzusehen von sich. Gleich darauf wan-derte ein großes Stück Käse in seinen Mund.

Aufmerksamkeit, ergänzte Tristan in Gedanken. Der Riesehatte ihn sehr wohl bemerkt und auch gesehen. Ihm selbstwar das nicht aufgefallen. Tristan schob das auf seine durch-wachte Nacht in der Kapelle und versuchte, sich von diesemUmstand nicht allzu sehr beunruhigen zu lassen. Der Kriegersetzte in der Zwischenzeit das Frühstück fort. Tristan be-schloss, höflich zu bleiben, auch wenn es seinem Gegenüberscheinbar etwas an Respekt fehlte. Die Uniform jedenfallshatte auf ihn keinerlei Effekt.

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»Darf ich mich zu Euch setzen?« Sein Tonfall warfreundlich.

»Ich werd’s wohl nicht verhindern können, mh?« Jetztsuchte der Krieger das erste Mal den Blick von Tristan. Miteiner leicht genervt wirkenden Geste schob er das Brett vonsich und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Wasserkrug.Danach massierte er sich mit den Handflächen beide Stirnsei-ten.

»Nein, könnt Ihr nicht.«, antwortete Tristan ehrlich. SeinGegenüber stöhnte.

»Dann frag auch nicht!«, presste der Riese hervor, schlossfür einen kurzen Moment die Augen und erhöhte, für Tristandeutlich sichtbar, nochmal den Druck auf seine Schläfen.

Einer von der harten Sorte… mit einem Kater, dachte sichTristan und schmunzelte. Offen und direkt. Er mochte dieseCharaktereigenschaften, aber es gab nun mal Umgangsfor-men, die wegzulassen als unhöflich galt.

»Höflichkeit ist ein guter Anfang, findet ihr nicht?«

»Ruhe auch!«, antwortete der Krieger mit belegter Stim-me. Er nahm die Hände von der Stirn, ruckte ein wenig aufdem Stuhl hin und her und musterte Tristan so aufmerksames ihm möglich war. Wahrscheinlich hatte er es aufgegebenund eingesehen, dass er ihn nicht mehr so schnell loswerdenwürde.

»Mein Name ist Tristan, ich bin Leutnant der Stadtwachevon Leuenburg. Und Ihr?«

»Ich bin eine Jungfrau der Herrin und such’ ’ne Anstel-lung.«, antwortete der Riese stöhnend und mit steinernerMiene.

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Tristan beachtete die Provokation nicht. »Ihr seid nichtvon hier.«, überging er die letzte Bemerkung feststellend.

»Mag sein, aber goldrichtig bin ich hier trotzdem.«, erwi-derte sein Gegenüber mit einem schiefen Grinsen, das ihmaber deutlich misslang.

»Wie lange seid Ihr schon in der Stadt?«

»Weiß nicht mehr.« Der Krieger setzte eine übertriebennachdenkliche Miene auf und kratzte sich dabei am Kinn.Ihm saß offenbar der Schalk im Nacken.

Das Spiel sollte also beginnen. Tristan war nun doch froh,dass er sich dazu entschieden hatte, in den Goldenen Erker zugehen. Dieser Typ hier, verdächtig oder nicht, war interessantund Tristan wurde das Gefühl nicht los, dass er irgendwaswusste. Er würde das Spielchen mitspielen. »Habt Ihr …«,wollte Tristan gerade mit seiner Befragung weitermachen, alsihn sein Gegenüber unterbrach.

»Stopp, stopp!« Der Riese hob abwehrend eine Hand.»Was … was soll dieses Frage- und Antwort-Spielchen?«Verärgert fixierte ihn der Krieger mit funkelnden Augen.

Tristan beschloss, genauso offen und direkt wie sein Ge-genüber zu sein. »Heute Nacht hat es einen Toten gegeben. Inder Dunklen Gasse, hinter dem Goldenen Erker.« Er achtetegenau auf die Reaktion des Kriegers, doch selbst wenn eseine gab, so fiel sie Tristan nicht auf. Er bohrte weiter. »Ihrwisst nicht zufällig etwas darüber?« Auch diese Frage warehrlich gemeint, doch es gelang ihm nicht, seinen Argwohnganz aus der Stimme zu verbannen. Die Augen des Riesenblitzten gefährlich, und Tristan hatte sofort das Gefühl, einenFehler begangen zu haben. Nicht, dass er um seine Sicherheit

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bangen musste, eher dass er nun keine oder keine ehrlicheAntwort mehr erhalten würde.

»Ich weiß nichts über einen Toten«, sprach der Kriegertrotzig, schüttelte unterstreichend den Kopf und zog dabei dieMundwinkel weit nach unten. »Hab’ zwar selber schon vieleauf dem Gewissen, aber nicht hier!« Ein breites Grinsensprang Tristan plötzlich an, und diesmal gelang es seinemGegenüber auch.

Tristan musste schmunzeln. Er glaubte ihm. Sicherlichwar der Riese ein derber Typ ungehobelter Natur, aber auchmindestens genauso ehrlich. Manchmal musste man sich ein-fach auf sein Bauchgefühl verlassen, und in diesem Fallsprach es eindeutig für diesen grobschlächtigen Zeitgenossen.Tristan stand auf. Jetzt konnte er Hauptmann Taris ohneschlechtes Gewissen berichten, der Sache nachgegangen zusein. Für ihn war der Fall klar, und auch wenn der Riese vorihm am Tisch mehr wusste, war er sich sicher, dass der wahreTäter nie gefasst werden konnte. So streitlustig und verstrit-ten die Bewohner von Sieben Schänken auch waren, so ver-schlossen und verstockt konnten sie sein, wenn sich Offiziellein ihre Angelegenheiten mischten. Gäbe es die Reise in denNorden nicht, hätte er sicher mehr Zeit darauf verwendet,doch unter diesen Umständen war es genug. Tristan nicktedem Krieger zu und bedankte sich höflich für das Gespräch.Er wandte sich gerade um und wollte auf die Hintertür zuhal-ten, als es plötzlich hinter ihm brummte.

»Berenghor.«

Tristan hielt inne und drehte sich um. Fragend sah er zudem Riesen am Tisch.

»Berenghor ist mein Name.«

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Tristan nickte. Eine überraschende Wendung, mit der erso nicht mehr gerechnet hatte.

»Seltsamer Name für eine Jungfrau der Herrin.« Diesmalwar es an ihm, zu grinsen. Eigentlich missfiel es ihm, denNamen der Herrin spöttisch zu verwenden, doch machte er indiesem Fall eine Ausnahme. Berenghor winkte ab. »Die Zeitist lange vorbei. Heute arbeite ich für die andere Seite«, ant-wortete er und führte dann eine Faust mit gestrecktem Dau-men am Hals entlang. Eine eindeutige Geste. Wäre da nichtein amüsiertes Grinsen über Berenghors Gesicht gehuscht,Tristan hätte ihm geglaubt.

»Dass man Eure Dienste kaufen kann, glaube ich Euchgern. Nur frag ich mich, wo ihr Euer Werkzeug gelassenhabt.«

»Geölt und scharf muss es sein, wenn es den Hals dernächsten Jungfrau küsst.« Für einen kurzen Moment trat Stil-le ein. Dann lachten beide.

»Ich danke Euch für eure Offenheit, Berenghor. SollteEuch dennoch etwas einfallen, so könnt Ihr mich in der Gar-nison etwas weiter nördlich von hier finden.« Abermals dreh-te sich Tristan um und ging zur Hintertür.

»Nimm dich vor Frauen mit guter Figur und schulterlan-gem, kastanienbraunem Haar in Acht!«, rief ihm Berenghorhinterher. Tristan hielt noch mal kurz inne, sah sich jedochnicht mehr um und zog die Tür des Goldenen Erkers hintersich zu.

Der Wachmann, der ihn nach Sieben Schänken begleitethatte, stand noch immer auf der Gasse vor der Tür. Tristangab ihm ein Zeichen und beide machten sich auf den Rück-weg zur Garnison. Nun hatte ihm der Söldner doch noch eine

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Information zugespielt. Jetzt konnte er fast nicht mehr anders.Für einen kurzen Moment spielte er noch mit dem Gedanken,den Fall abzuhaken, doch sofort meldete sich das schlechteGewissen. Tristan atmete tief durch. Er würde noch einenBlick auf den Toten werfen müssen. Frauen mit guter Figurgab es in Leuenburg einige und kastanienbraunes Haar warzwar etwas ungewöhnlich, aber sicher nicht exotisch. Und al-lesamt trugen sie es lang, zumindest bis auf die Schultern. Al-les in allem nicht wirklich vielversprechend. Sollte ihm derTote nicht noch eine weitere Spur offenbaren, hatte er end-gültig seine Schuldigkeit getan. Auch Hauptmann Taris wür-de so denken, da war er sich sicher.

Die Leiche lag im Verlies der Garnison. Einem Gefängnis-trakt, der neben den Zellen für ungehorsame Soldaten und zi-vile Verbrecher auch eine kleine Leichenkammer besaß.Dunkel und feucht war es dort unten, und die Ratten ständigeGäste der Gefangenen. Außer einem schmalen Strohlager undden Nachttöpfen gab es nichts. Licht fiel nur über engeSchächte hinab, von denen die meisten sowieso vom Dreckund Unrat der Straßen verstopft waren. Kaum eine der Zellenwar belegt und die wenigen, die es waren, stanken erbärm-lich. Tristan kam nicht gerne hierher. Obwohl er wusste, dasshier unten niemand saß, der es nicht verdiente, taten ihm dieGefangenen Leid. Kein Tageslicht, schlechte Verpflegungund keinerlei Kontakt zur Außenwelt waren die Strafen, mitdenen die Gefangenen zu kämpfen hatten. Viele gingen daranzu Grunde, und die wenigen, die es überlebten, waren danachnicht mehr dieselben. Der Gefängniswärter betrachtete diesfreilich als Erfolg und sah sich in seiner Methodik bestätigt.Dem Herzog war dabei nur das Ergebnis wichtig, der Wegdorthin nicht sonderlich. Und selbst wenn er gewillt wäre, et-

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was zu ändern, spätestens am Stadtsäckel würde sein Vorha-ben kläglich scheitern. Die Kassen waren leer. Nicht nur imHerzogtum Leuenburg, auch im Rest des Reiches war bareMünze Mangelware. Der letzte Krieg vor fünf Jahren hatte,einem unüberschaubaren Strudel gleich, alles Geld aus denStadtsäckeln gesaugt und bis heute hatten sie sich davon nurunmerklich erholt.

Die Leichenkammer war ein schauriges Loch. In einerEcke stand eine große, rußende Öllampe und in der Mitte be-fand sich der Aufbahrungstisch. Altes Blut klebte an denHolzfüßen des Tisches und der Boden war mit blutigenSchleifspuren übersät. Tristan fragte sich, wie, in der HerrinNamen, jemand in diesem Drecksloch arbeiten konnte. VomGestank einmal ganz abgesehen. Ein Blick auf den Kerker-meister ließ es ihn erahnen. Der Kerl war nicht nur bleich, erwar weiß. Die Sonne kannte er vermutlich nur noch vom Hö-rensagen und er stank mindestens genauso schlimm, wie es inden Gefängniszellen roch. Die Augen waren rot unterlaufenund Tristan war sich sicher, dass es nicht an der Arbeit oderdem Stress lag. Wein und Schnaps, so vermutete er, hießenseine besten Freunde und er konnte ihm das nicht einmal ver-übeln. Jeder der längere Zeit hier unten verbrachte, musste ir-gendwann damit anfangen, seine Nerven und Sinne zu betäu-ben. Alkohol war da ein beliebtes Mittel.

Tristan entließ den Kerkermeister aus seinem Dienst, dieFackel behielt er bei sich. Das fahle Licht der Ölfunzel reich-te nicht einmal annähernd aus, um den Leichnam genauer zuuntersuchen.

Der Mann war ungefähr dreißig Winter alt und hatte dieGröße von Tristan. In Farben aus Schwarz und Rot trug erfremd anmutende Kleidung am Leib. Ein schmaler Gürtelumschlang die Taille des Mannes, von einer goldenen

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Schnalle zusammengehalten. Beiderseits der Schnalle säum-ten kleine Laschen und Schlaufen den Gürtel und in manchersteckten Dolche, Wurfpfeile oder Messer. Um den Hals desLeichnams war ein schwarzes Tuch gewickelt, das bei Bedarfbis über den Nasenrücken gezogen werden konnte. Tristankannte Tücher dieser Art, doch gehörten sie in Leuenburg de-finitiv nicht zur getragenen Mode. Ein Fremder lag dort vorihm aufgebahrt. Nicht von hier und auch nicht aus den nördli-chen Herzogtümern folgerte Tristan.

Vielleicht doch keine der üblichen Händel? Er sah nach-denklich auf den Leichnam herab. Die tödliche Wunde, sohatte er sich vom Kerkermeister sagen lassen, sei ein Stich indie Seite des Opfers gewesen. Absolut tödlich, auch mit so-fortiger Hilfe durch einen Feldscher. Tristan lief es eiskaltden Rücken runter. Der Täter hatte genau gewusst, was er tat.Kein großer Schnitt, kein großes Aufsehen, lediglich einwohl platzierter Stich. Tristan sah in die glanzlosen, erlosche-nen Augen des Toten. Er meinte, so etwas wie Überraschungund Unglauben in ihnen zu entdecken. Hatte er nicht ge-wusst, wie ihm geschah? Tristan beugte sich nach vorne, dieFackel dabei etwas weiter an den Leichnam haltend. Er sahsein eigenes Spiegelbild in den Augen des Toten, doch so vieler auch forschte, mehr entdeckte er nicht. Sein Blick ging zurWunde. Der Einstich war wirklich nicht sonderlich groß.Eine Wunde, wie sie ein Dolch oder ein größeres Messer ver-ursachen konnte. Der Stoff um das Loch war blutgetränkt unddas Fleisch dahinter blau unterlaufen. Tristan roch daran,doch außer dem bereits einsetzenden Verwesungsgeruchkonnte er nichts anderes feststellen. Unwillkürlich musste erwürgen, und wie aus dem Nichts legte sich ein bitterer Kloßin seinen Hals. Angewidert machte er einen Schritt zurück.Nicht, dass er von Giften oder derlei Sachen viel verstand,

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doch einen Versuch war es allemal wert. Als er sich wiederaufrichtete, blieb sein Blick an der linken Hand des Totenhängen. Ein Skorpion schmückte deren Rücken, schwarz undmit erhobenem Schwanz. Vom Stachel troff ein feiner, dün-ner Faden und die Augen glühten feuerrot. Ein schöner Stich,gekonnt gesetzt. Auch in Leuenburg kannte man Tätowierun-gen. Vor allem Krieger und Soldaten trugen diese oft zumZeichen ihrer Taten oder Gesinnung. Solch ein Symbol hin-gegen hatte Tristan noch nie gesehen. Du bist wirklich nichtvon hier. Langsam und nachdenklich trat er ein paar Schrittezurück und besah sich die ganze Szenerie noch einmal. EinFremder, soviel stand fest. Bewaffnet wie ein Krieger unddoch nur leicht bekleidet. Tristan schüttelte den Kopf. DerTote konnte ihm keine Antworten mehr geben. Die einzigeSpur, die er hatte, waren die Worte eines Halunken. Einesehrlichen Halunken zwar, aber doch eines Halunken. Für dieSuche nach einer Frau mit kastanienfarbenem, schulterlan-gem Haar hatte er weder die Zeit noch die Mittel, und Haupt-mann Taris würde ihm dafür niemals die benötigte AnzahlMänner zur Verfügung stellen.

Tristan war froh, die Leichenkammer hinter sich gelassen zuhaben. Nach seinem Ausflug in die Unterwelt, in die Abgrün-de menschlichen Lebens, die eigentlich soweit weg und dochnur ein paar Stufen unterhalb der Oberfläche Leuenburgs lau-erten, glich das Büro des Hauptmanns plötzlich einem Hortder Ruhe, des Lichts und des Lebens.

Der Bericht an Taris zeichnete kein sonderlich gutes Bildvom Stand der Ermittlungen, und dennoch wurde Tristan so-fort damit beauftragt, Männer auf die Gassen Leuenburgs zuschicken. Er hatte sich in Taris getäuscht. Ihm lag wirklichdaran, dass dem Mord nachgegangen wurde und bis jetzt

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scheute er noch keine Mühen und Kosten. Trotzig und reu-mütig zugleich hatte Tristan den Männern entsprechende Be-fehle gegeben. Viel versprach er sich aber nicht davon. Mehrals zweitausend Menschen lebten in der alten Herzogstadtund das Gewimmel in den Gassen war um diese Tageszeitunüberschaubar. Außerdem lag die Stadt nahe der Grenzezum Herzogtum Buchingen, der anderen nördlichen Provinzdes Königsreiches. Fremde kamen und gingen tagein tagausdurch die Tore, mochten es Händler, Handwerker oder Söld-ner sein. Die Stadt war voll und mit jedem Frühlingstag wur-den es mehr. Tristan war mittlerweile vorsichtig geworden,was seine Annahmen zum Erfolg der Ermittlungen anging.Der Hauptmann war im Recht gewesen, als er ihn auf denTatort und dessen Umgebung angesetzt hatte. Tristan wolltees ja nicht heraufbeschwören, doch konnte es gut sein, dass erauch diesmal mit dem Plan, die Gassen zu beobachten, Erfolghaben würde. Die Männer waren nun jedenfalls unterwegs,hatten ihre Instruktionen und Tristan endlich ein wenig Zeit,sich mit der Reise in den Norden zu befassen. Zunächst woll-te er sich davon überzeugen, dass Cutrig seinen AnweisungenFolge geleistet und Wachen im Innenhof und vor der Vorrats-kammer postiert hatte. Für den morgendlichen Tatort nahm ersich dann etwas mehr Zeit. Das Chaos in der Kammer warbeseitigt worden und alles, was sofort möglich war, auchschon ersetzt. Bis auf etwas Proviant und dem Saatgut lag al-les wieder an seinem Platz und scheinbar war heute Morgensogar eine Lieferung Obst eingegangen. Äpfel hielten sich beirichtiger Lagerung einige Wochen und würden ihnen in denwilden Landstrichen des Nordens eine willkommene Ab-wechslung sein. Erleichtert und zufrieden wollte Tristan dieVorratskammer wieder verlassen, als er unter einem kleinen,zusammengekehrten Haufen Saatgut etwas funkeln sah. Erbückte sich, strich die Samen vorsichtig zur Seite und griff

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nach einem kleinen Stück Metall auf dem Boden. Es war eineKette, aus feinen, silbernen Metallringen gefertigt, an derenEnde ein Anhänger in Form eines schwarzen Skorpions hing.Die Augen der Figur waren rot glühend und der Stachel, vondem ein feiner Faden troff, zum Kampf erhoben. Tristan run-zelte die Stirn. Ungläubig riss er die Augen auf und sofortkam ihm wieder der Tote in der Leichenkammer und dessenTätowierung auf der rechten Hand in den Sinn. Im nächstenMoment hastete er los.

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Ein Blick zurück

er Schlaf der Schatten war kein gewöhnlicher Schlaf.

Vielmehr ein Dämmerzustand zwischen der einenund der anderen Welt. Ein Teil des Körpers suchte dabei stetsdie Ruhe und Gnade der Träume, der andere hingegen immerdie rationelle Wirklichkeit des Verstandes. Die Kunst bestanddarin, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Strömungenherzustellen und zu erhalten. Gelang dies nicht, so fiel derVerstand in tiefen Schlaf oder eben jener blieb versagt. DerSinn dahinter bestand darin, weder das eine noch das andereExtrem voll zuzulassen. Der Schlaf der Schatten war eine Mi-schung aus verringerter Regeneration und verminderter Auf-merksamkeit. Man schlief nie völlig, doch war man auch nierichtig wach. Shachin beherrschte diese Technik und in Zei-ten großer Not ließ sie sich auch darauf ein.

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Es musste gegen Mittag sein, als sie den Schlaf der Schat-ten verließ. Genau konnte sie es in der Grotte hinter der Ka-pelle nicht sagen, doch die Art und Weise, wie die Schattenstanden, legte die Vermutung nahe. Leise erhob sie sich vonihrem Lager. Nahezu übergangslos kreisten ihre Gedankensofort wieder über den Meister im Kopf umher. SeineKampftechniken, seine Bewegungen, all das hatte sie schon

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einmal gesehen, irgendwann, vor langer Zeit. Unter normalenUmständen, wenn die Zeit es zugelassen hätte, wäre sie schonnoch dahinter gekommen, doch jetzt musste es schnell gehen.Das Wissen, wer ihr Gegner war, wie er dachte und handelte,war der Schlüssel für ihr Überleben. Aufgeben konnte ernicht und, da war sie sich sicher, wollte er auch nicht, nun dasein Kampfgefährte durch ihre Klinge umgekommen war.

Ein Pulver, Schwingen des Raben genannt, würde ihremGedächtnis auf die Sprünge helfen. Ein Halluzinogen wie esfrüher auch die heidnischen Priester verwendet hatten, um inbesonders denkwürdigen Momenten ihren Göttern nahe zusein. Allein für den Besitz konnte man sie lange ins Gefäng-nis werfen, in manchen Gegenden des Reiches sogar straffreiaufknüpfen. Das Pulver war, wie fast alles der alten Religion,aus dem Alltag der Menschen verdammt worden. Ketzerinwürde man sie schimpfen, wüssten die Heiligen und From-men der Herrin von ihrem Besitz. Jene, die noch immer anden alten Gebräuchen und der alten Religion festhielten, wur-den erbarmungslos gejagt und verfolgt. Tausende waren da-mals, vor mehreren Hundert Jahren, der so genannten Befrei-ung zum Opfer gefallen, und bis heute gingen die Erlöser derHerrin, wie sie sich selbst nannten, ohne Gnade gegen alljene vor, die sich nicht vom alten Glauben lossagen wollten.Als Zauberkünstler und Dämonenpaktierer wurden sie be-zeichnet, und das allein war für viele Erlöser die Rechtferti-gung zum Mord. In manchen Gegenden, so erzählte mansich, fielen sogar Kinder der Erlösung zum Opfer. Ein grau-sames Ritual, bei dem durch gewaltsamen Tod der Geist ei-nes Menschen vom Körper getrennt wurde. Ob die Erlöserjemals soweit gegangen waren, konnte Shachin nicht sagen,doch schenkte sie Schauermärchen dieser Art keinen Glau-ben. Sicherlich war die Verfolgung der Unreinen, wie die Er-

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löser alle Menschen anderen Glaubens nannten, brutal undabscheulich, doch war die religiös motivierte Assimilationdas eine, feiger Kindermord aber etwas ganz anderes.

Shachin gab eine Fingerspitze des Pulvers in einen mitWasser gefüllten Tonkrug. Sofort begann das Wasser damit,Blasen zu werfen und wenige Augenblicke später stieg bei-ßender Rauch auf. Shachin führte den Krug an ihr Gesichtund mit tiefen Atemzügen sog sie den Dampf in sich auf. Siemusste husten und im nächsten Augenblick einen Würgere-flex unterdrücken. Die Schwingen des Raben waren heim-tückisch und gefährlich. Eine falsche Dosierung des Pulversoder fehlerhafte Atemtechnik konnte für Ungeübte und Laienden Tod bedeuten. Denen wiederum, die ihr Handwerk ver-standen und wussten, worauf sie sich einließen, eröffnetendie Schwingen Wege und Pfade in ungeahnte Dimensionenihres Geistes. Dinge, die längst im Strudel der Zeit und denAbgründen des Verstandes vergessen geglaubt waren, tratenwieder hervor. Shachin hatte sogar von Menschen gehört, de-nen Dank der Schwingen ein Blick in eine mögliche Zukunftoffenbar wurde. Ihr selbst reichte ein Schritt in die Vergan-genheit. Eine Reise zurück in ihre Kindheit.

Shachin konnte spüren, wie sich ihre Sinne schärften. Ge-stochen scharfe Konturen und glasklare Töne begannen da-mit, ein Bild zu zeichnen. Es war nicht mehr nur die diskreteAbhandlung einzelner Empfindungen, sondern die vollkom-mene Überlagerung verschiedenster Eindrücke. Es war, alsbetrete sie mit einem unbekannten, sechsten Sinn eine neueDimension. Farben hatten plötzlich Geschmack und Tönewurden sichtbar. Unbeschreibliche Schönheit und überwälti-gende Klarheit trafen Shachin mit einer Wucht, die sie insStraucheln brachte. Sie musste sich an einem Felsen abstüt-zen. Langsam sank sie auf die Knie. Ihre Hände begannen zu

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zittern und Schweiß rann ihr über die Stirn. Sie wusste wasnun kam. Es war nicht ihre erste Reise mit den Schwingendes Raben, doch bei weitem ihre schwierigste. Soweit zurückwar sie noch nie gegangen, und soviel Pulver wie heute hattesie noch nie genommen. Shachin war stark und ihr Körperwusste um die Wirkung des Gifts in ihrem Blut, und den-noch, sie hatte Angst. Alle Konzentration war nach innen ge-richtet. Es begann ganz langsam. Vor ihrem geistigen Augedrehte sich die Zeit zurück. Erst in Tagen, Schritt für Schritt,dann in Wochen und schließlich in ganzen Monaten und Jah-ren. Aus kleinen Sprüngen wurden gewaltige, und die Bilderrasten. Sie musste sich noch stärker konzentrieren. Shachinwusste, wohin sie wollte, doch nicht, wann es soweit war.Fetzen aus ihrem Leben zogen wie der Wind an ihr vorbei.Momente aus der jüngeren Vergangenheit, Augenblicke ihrerJugend und schließlich die Jahre der Ausbildung.

Mit einem Schlag blieb die Zeit plötzlich stehen und einBild manifestierte sich. Shachins Augenlieder bebten vor An-strengung und Konzentration. Sie sah sich um. Ein dunklerOrt, die Seiten vom Fackelschein erhellt. Undeutlich konntesie zwei Schemen ausmachen, die sich am Rand ihres Blick-feldes unterhielten. Sie selbst bewegte sich rasch und nach ei-nem festen, eingeübten Rhythmus. Ohne Zweifel eine Lehr-stunde im Unterschlupf ihres Meisters. Plötzlich wurde sieabberufen und ging zur Seite, den Platz für einen der beidenSchemen freimachend. Der kleinere von beiden war ihr Meis-ter, Shachin erkannte ihn sofort wieder, auch nach all denJahren. Der andere war ihr unbekannt, doch irgendetwas anihm störte sie. Der Unbekannte begann mit seinen Übungen,und kaum eine Sekunde später war Shachin plötzlich klar,was sie störte. Er war nicht von hier, gehörte nicht zur Schu-le. Seine Bewegungen folgten ganz anderen Schemata, auch

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wenn das Ergebnis dasselbe war. Er focht einen Schatten-kampf.

Nun wusste Shachin, dass sie alles richtig gemacht hatte.Die Dosis des Pulvers war perfekt gewesen. Vor ihr vollführ-te der Meister aus der Gasse in Leuenburg seine Techniken,und ihr Großmeister hatte die Aufgabe, ihn zu bewerten. IhrMeister hob plötzlich die Hand. Etwas missfiel ihm. Der an-dere unterbrach seine Bewegungen und starrte sichtlich er-zürnt auf den Großmeister. Shachin sah irritiert zu. Was warhier los? Der Fremde machte eine wegwerfende Handbewe-gung. Sein Blick war voller Hass. Dann wusste sie, wovon sieeben, und damals unwissentlich, Zeuge geworden war. Eswar das Gesuch des Fremden, ein Großmeister zu werden. IhrMeister beherrschte den Ruf der Eule, eine der zwölf Schat-tenkampftechniken. Um Großmeister werden zu können,musste man den Meistergrad in allen zwölf Klassen errei-chen, und so wie es aussah, hatte der Fremde Pech. Er wurdeabgewiesen. Der Ruf der Eule würde ihm nun auf ewig ver-wehrt bleiben.

Ein jäher Schmerz durchbrach plötzlich das Bild und dieSchemen verzerrten sich zu hässlichen Fratzen. Nichts warmehr vergangene Wirklichkeit, keine alte Realität. Chaos undUnordnung übernahmen die Herrschaft, und die gesamte Sze-nerie wandelte sich in ein Abbild des Todes. Die Wirkungdes Pulvers war erschöpft und die Rückkehr in das Hier undJetzt setzte sofort und äußerst schmerzhaft ein. Der Geistwurde ohne Vorwarnung regelrecht zurückgerissen. Shachinöffnete die Augen, sie atmete schwer. Noch immer kniete sie,die eine Hand auf dem Felsen ruhend, in der Grotte. Nunwusste sie Bescheid. Sie schätzte, dass es ihr fünfzehnterWinter gewesen war, als der Meister des schwarzen Skorpi-ons darum gebeten hatte, den Ruf der Eule erlernen zu dür-

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fen. Ihr war nicht klar warum, doch hatte der Großmeisterdiesem Wunsch nicht entsprochen. Wenn dem auch bis heutenoch so war, dann musste sie ihrem alten Großmeister wahr-scheinlich im Nachhinein noch dankbar sein. Der Ruf derEule würde die Antwort auf den Stil ihres Gegners sein. Mitein wenig Glück rechnete er nicht mit dieser, zugegeben et-was eigenwilligen und seltenen, Technik. Shachin erhob sich.So schnell man auf die Schwingen des Raben aufsprang, soschnell fiel man von dort auch wieder herunter. Das flaue Ge-fühl in ihrer Magengegend würde bald vorbei gehen und demtrockenen Mund war mit etwas Wasser zu helfen.

Ein paar Minuten später hatte ihr Körper das Gift bereitsverarbeitet, und sie begann damit, ihre wenigen Habseligkei-ten zusammenzupacken. Die alte Kapelle war nicht mehr si-cher. Der Meister würde sie suchen und letzten Endes auchirgendwann hier nach ihr sehen. Er war wie sie. Er wusste umdie Strategien und Verhaltensweisen der Schattenkrieger, undbei der Frage nach einem guten Versteck würde er zwangs-läufig dieselbe Idee haben wie sie. Der Ort hier war geradezuverräterisch perfekt für jene, die wussten, wonach sie suchenmussten. Shachin wollte ihre Strategie ändern. Raus aus denSchatten, unter die Leute mischen und am normalen Alltagder Bürger Leuenburgs teilnehmen. Das Versteck in der Men-ge, in der Anonymität einer großen Stadt wie dieser, suchen.Die Gegend um die Dunkle Gasse wollte sie freilich meiden,doch prinzipiell war Sieben Schänken genau der richtigeNährboden für die Art Leute, unter die sie sich zu mischengedachte. Morgen sollte die Heuer zur Reise ins Wilderlandstattfinden und dann würde sie bis zur Abreise sowieso in derGarnison und damit von der Bildfläche verschwinden. Einzigder Aufbruch machte ihr noch etwas Sorgen. Würde es einAuszug mit Pauken und Trompeten werden, gar der Herzog

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mit am Stadttor stehen und die Siedlungswilligen persönlichverabschieden? Sie hoffte nicht. Ohne viel Aufsehens dieStadt verlassen, das war ihre Absicht. Sich die nächsten Wo-chen keine Gedanken über Verpflegung, Unterkunft und dasnächste Ziel machen zu müssen. Für sie war die Reise nurMittel zum Zweck. Von der Bildfläche verschwinden, unter-tauchen, bis Gras über die Sache gewachsen war. Sie wusstenicht warum, doch hatte sie mit ihrem letzten Auftrag Dingein Gang gesetzt, die sie vermutlich nur unter größten Schwie-rigkeiten wieder zum Stehen bringen konnte.

Zunächst hatte der Auftrag den Anschein gemacht, einervon vielen zu sein. Die übliche Geheimniskrämerei und einegängige Bezahlung. Das Ziel auf den ersten Blick nichts Be-sonderes. Zwar ein hochrangiger Bürger der Stadt, aber we-der geadelt noch im Besitz wichtiger Verbindungen dahinge-hend, so schien es zumindest. Angeworben in den dafür be-kannten Etablissements und über einen Mittelsmann beauf-tragt. Es ging wohl um eine Betrugsgeschichte, und der Ge-schädigte wollte sich für den erlittenen Verlust auf besondereArt und Weise bedanken. Sie hatte nicht wissen können, dasses sich bei ihrem Ziel offensichtlich um einen Agenten desHerzogs von Hohenstein gehandelt hatte, woher auch. Jeden-falls schwebte der Tote, bevor ihn sein Schicksal ereilte, ineiner für sie wider Erwarten absolut ungesunden Flughöhe in-nerhalb der Gesellschaft. Ihr Auftraggeber jedenfalls, war sei-nem Opfer bereits am Tag danach gefolgt und die Bezahlungdahin. Als wäre das nicht genug gewesen, hatte er vor seinemdefinitiv schmerzhaften und langsamen Ableben noch ge-plaudert, denn wiederum ein paar Tage später musste Shachinam eigenen Leib erfahren, dass auch sie nun auf der Ab-schlussliste stand.

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Sie hatte jedoch Glück im Unglück gehabt und war gera-de noch Zeuge seines unrühmlichen Todes geworden. DieUniformen der Buchinger Schwerter kannte sie, und nach de-ren Intermezzo mit ihrem Geldgeber musste sie nur noch einsund eins zusammenzählen. Das Opfer war entweder Mitgliedder Buchinger Schwerter oder aber des geheimen, herzogli-chen Nachrichtendienstes gewesen. Genau wusste sie es bisheute noch nicht, doch spielte das jetzt auch keine Rollemehr. Sie war auf der Flucht, und selbst hier, in den Landendes direkten politischen Gegners des Hohensteiner Herzogs,nicht sicher.

Nachdem sich Shachin vergewissert hatte, dass sämtlicheSpuren ihrer Anwesenheit in der Kapelle verschwunden wa-ren, machte sie sich auf den Weg. Sie warf sich ihr Cape überund zog die Kapuze dabei tief ins Gesicht. Es war kalt unddas Wetter schlecht. Sie würde nicht auffallen. Leichter Nie-selregen hatte eingesetzt und jeder der konnte, würde sich sogut es ging in seine Kleidung hüllen. Von ihren Waffen undder ledernen Hose war nichts mehr zu sehen. An der Seitetrug sie einen kleinen Beutel und auf dem Rücken, unter demCape ein Bündel. Ein paar Münzen hatte sie noch, und nach-dem sich der Magen seit ihrem Ausflug auf den Schwingendes Raben immer öfter meldete, beschloss sie, sich etwas zuessen zu suchen.

Leuenburg war in fünf Viertel aufgeteilt. Im Zentrum be-fand sich der Alte Markt mit der Herzogburg, dem Magistratund dem Zunfthaus. Hier lebten allen voran die oberen ein-hundert der Gesellschaft. Das Scherbenviertel mit dem Domder Herrin samt angeschlossenem Kloster lag im Süden derStadt. Ein eher ruhiger Teil, der von vielen Gläubigen undFrommen besucht und den Mönchen als Heimstatt diente.

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Sieben Schänken im Osten war der Sündenpfuhl Leuenburgs.Kaschemmen, Bordelle und zwielichtige Krämer gaben sichdort die Klinke in die Hand. Das Viertel zog Gesindel allerArt an wie die Motten das Licht. Nur wenige der ehrbarenBürger kamen dorthin, und wenn, waren es meist die männli-chen Vertreter auf der Suche nach der käuflichen Liebe.Fuhrheim lag im Westen Leuenburgs. Handwerker undHändler hatten sich dort niedergelassen und die Nähe zumTreidelhafen an der Leue sorgte für viel Betriebsamkeit. Dasletzte Viertel lag außerhalb der Stadt, der Treidelhafen. Leu-enburg war etwas abseits des großen nördlichen Stromes er-richtet worden, und die Hafenanlagen befanden sich etwazwei Kilometer nordwestlich der Stadt. Außer einer kleinenLokalität war dort nichts Interessantes zu finden. Schiffe, diedie Leue hinaufkamen wurden gelöscht oder beladen. DerTreidelhafen war geprägt von kleinen Zwischenlagerhäusernund vielen Fuhrwerken. Am Tag hektische Geschäftigkeit,am Abend beinahe ausgestorben. Jeder war bestrebt, seineWaren bis zum Einbruch der Nacht in Leuenburg zu wissen.Der Hafen war nicht sonderlich gut bewacht, und außer ei-nem kleinen Wehrturm gab es dort keinerlei Festungswerke.

Shachin entschied sich für den Alten Markt. Im Zentrumder Stadt pulsierte das Leben und Menschen aller Stände ka-men dort zusammen. Das Viertel verdankte seinen Namendem Wochenmarkt, der immer am Erlösertag seine Pfortenöffnete. Arme und Reiche, Fromme und Verruchte kamendorthin. Für jeden war etwas dabei und Geschäfte machteman am besten hier. Die Händler und Handwerker aus Fuhr-heim boten ihre Waren und Erzeugnisse feil, Schiffskapitäneriefen die nächste Heuer aus und die Bauern der Umgebungbrachten ihre Milch- und Fleischprodukte an den Mann.

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Es war Nachmittag, als Shachin am Wochenmarkt ankam.Die kleinen Gässchen zwischen den Ständen waren mit Leu-ten überfüllt. Ein Gedränge sondergleichen. Von überall herpriesen die Marktschreier ihre Waren an. Ob Kleidung,Fleisch oder Fisch, ob Waffen, Rüstungen oder Schreinersa-chen, für jeden war etwas dabei. Shachin schlenderte ein paarRunden über den Markt und suchte sich anschließend etwaszu essen. Einfache Kost, aber schmackhaft. Obgleich dasWetter schlechter und der Regen stärker wurde, waren dieStraßen und Gassen voll. Shachin hatte die Kapuze tief insGesicht gezogen und das Cape um die Taille geschlungen.Der Wind blies von Westen durch die Stadt und brachte nochmehr dunkle Wolken auf seinen Schwingen mit. Irgendwannwurde es ihr schließlich zu viel und sie suchte sich einen Un-terstand. Unter einem Arkadengang am Rande des Marktplat-zes fand sie ein trockenes Plätzchen. Auch hier schoben sichdie Leute dicht gedrängt vorbei, aber wenigstens war sie vordem Regen geschützt. Shachin klopfte sich die Regentropfenvon ihrem gut geölten Cape und zog die Kapuze herunter. Einwenig Luft und ein besseres Blickfeld würden sicher nichtschaden.

Shachin merkte auf. Auf den ersten Blick war alles nor-mal. Die Leute gingen ihren Dingen nach und keiner schienNotiz von ihr zu nehmen. Sie war eine von vielen in der Mas-se und quasi unsichtbar. Und dennoch, etwas stimmte nicht.Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Sämtliche Alarmsignale,zu denen sie Dank ihrer Ausbildung fähig war, meldeten sich.Ein unbehagliches Gefühl machte sich in ihr breit. War Erhier? Sofort trat sie einen Schritt zurück und verbarg sich hin-ter einer der Säulen. Jemand war hier, und dieser Jemand be-obachtete sie. Ob es der Meister war, konnte sie nicht sagen.Noch nicht. Ihre Augen flogen über die Menge. Der Regen

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hatte noch mal zugenommen und einem dünnen Schleiergleich legte er sich nach wenigen Metern über das Blickfeld.Es musste schon an Zauberei grenzen, sollte er sie durch denRegen hindurch sehen können. Der Beobachter war in ihrerNähe! Die Erkenntnis traf sie plötzlich wie ein Schlag ins Ge-sicht und sofort ging ihre Hand unter das Cape zum Dolch.Hinter ihr, er war hinter hier! Shachin wirbelte herum.

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Schattenkrieger

inen eifrigen jungen Leutnant hatte die Stadtwache ge-

schickt. Noch etwas grün hinter den Ohren, aber zuge-gebenermaßen sympathisch. Zunächst hatte Berenghor damitgerechnet, sich für die kleine Auseinandersetzung von ges-tern Abend rechtfertigen zu müssen. Ein bewusstlos Ge-schlagener und viel Bares im Goldenen Erker sprachen sichselbst in Sieben Schänken schnell herum. Der Söldner hatteeinen gehörigen Kater zu verzeichnen gehabt und war mitdem falschen Fuß aufgestanden. Die Hochstimmung von ges-tern hatte sich verflüchtigt. Heute war es regnerisch. Eingrauer Schleier lag über der Stadt, und so trist und trübe, wiesich das Wetter verhielt, so schlecht war auch die Stimmungdes Hünen. Er wollte heute eigentlich seine Ruhe haben undausgerechnet dann musste dieser Leutnant Tristan auftau-chen. Das einzig Positive daran, wenn er sich schon zu ihman den Tisch setzen musste, war, dass es nicht um den klei-nen Klaps auf den Hinterkopf ging. Ein Toter war hinter demGoldenen Erker gefunden worden und damit hatte Berenghornun wirklich nichts zu tun gehabt. Prinzipiell konnte man dasbei ihm zwar nicht ausschließen, aber in diesem Fall defini-tiv. Seine Stimmung hob sich daraufhin sogar ein Quäntchen,

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und Berenghor machte an die Sache mit den Zockern einenHaken.

Der Leutnant war überaus freundlich gewesen und hattesogar Humor an den Tag gelegt. Sicherlich war das die übli-che Masche, um an ein paar Informationen heranzukommen,doch irgendwie hatte er Eindruck auf Berenghor gemacht.Vermutlich lag es daran, dass er offen mit ihm gewesen war.Eigentlich kannte er das Von oben herab der Wachen undGardisten einer jeden Stadt oder Burg zur Genüge, und umsomehr überrascht war er von der Art des Leutnants gewesen.Diesem jungen Soldaten, noch unverdorben und nicht von derPolitik und den Machtspielen seiner Umgebung korrumpiert,konnte man seine Ideale förmlich ansehen, und in einer Welt,in der gebrochene Versprechen und Halbwahrheiten hoch imKurs standen, waren Ideale nicht das Schlechteste. Bisherhatte sich der Söldner aus fremden Angelegenheiten, vor al-lem wenn sie tödlich zu verlaufen drohten, herausgehalten.Es sei denn natürlich, man hatte ihn dafür bezahlt. HeuteMorgen hingegen hatte er bewusst das erste Mal mit diesemPrinzip gebrochen. Er war nach Leuenburg gekommen, ummit seinem alten Leben abzuschließen und auf diese Artkonnte er einen ersten Schritt in die richtige Richtung ma-chen. Berenghor hatte dem Leutnant seinen Namen verratenund ihm, wenn auch etwas salopp und indirekt, erzählt, waser gesehen hatte. Zu seinen wilden Zeiten hätte er sicher keinProblem damit gehabt, selbst zu einem Kapitalverbrechen zuschweigen, doch heute lagen die Dinge anders. Die Reise inden Norden sollte für ihn ein Neuanfang werden, und Be-renghor hatte nicht vor, diesen Neuanfang mit Lügen oderHalbwahrheiten zu beginnen.

Nun, da der Kater halbwegs abgeklungen und seine Launeeinigermaßen wiederhergestellt war, machte Berenghor sich

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auf den Weg. Der Schmied, Asenfried, sollte heute soweitsein. Wenn es auch nur ein Tag gewesen war, so vermissteBerenghor seinen Zweihänder doch sehr. Ihm fehlte das Ge-wicht im Rücken und dieses sonderbare Gefühl der Sicher-heit, das eineinhalb Kilo gefalteter Stahl verbreitete. Außer-dem wollte er Asenfried noch eine Skizze von dem Ding zei-gen, das gestern so unerwartet und knapp neben seinem Kopfin die Wand eingeschlagen war. Er hatte Derartiges noch niegesehen und, wer weiß, vielleicht würde er ja noch auf eigeneFaust losziehen und ein paar Recherchen anstellen. Die Reisein den Norden wurde vom Herzog und seiner Stadtwache or-ganisiert, und vielleicht konnte ihm die eine oder andere In-formation in dieser Sache bei der Heuer noch behilflich sein.

Der Schmied stand hinter der Esse und bearbeitete einStück Eisen mit kräftigen, regelmäßigen Schlägen. Er sahaus, als hätte er die Schmiede die ganze Nacht hinweg über-haupt nicht verlassen. Rußbeschmiert und schwitzend nickteer Berenghor zu, als er den Hünen an die Auslade treten sah.

»Mal schauen, wie lang ich brauch, um deine Bruchbudeauseinander zu nehmen«, brüllte der Söldner über denSchmiedelärm hinweg.

»… oder bist du mit meinem Liebling etwa klargekom-men?« Kritisch und eine Braue hochziehend stand er da. Dasfreche Grinsen strafte dabei jede Ernsthaftigkeit Lügen.

Der Schmied deutete daraufhin nur stumm mit dem Ham-mer auf eine große Holzkiste, in der allerlei Metallschrott undzerbrochene Waffen lagen. Ein Schaft sah dabei demZweihänder von Berenghor verdächtig ähnlich. »’Tschuldige,aber … ich kam mit dem alten Ding nicht klar.« Wieder die-ses versteinerte Gesicht. Wie schon gestern Abend.

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Berenghor folgte dem ausgestreckten Arm und musstegrinsen. Asenfried tat es ihm gleich.

»Wieder so gut wie neu!«, rief der Schmied und hielt mitdem Schlagen inne. Er griff nach oben, nahm ein in Leinengewickeltes Bündel von einem Regal und trat an den Aus-lagetisch.

Berenghor öffnete das Bündel und fuhr dann mit derHand über die frisch eingeölte Klinge. Seine Augen glitzer-ten. »Gute Arbeit, Meister.« In seiner Stimme schwang dies-mal ehrlicher Respekt mit. »Ich hätt’s nicht besser gekonnt«,schob er dann noch lachend hinterher.

»Natürlich hättest du es nicht besser gekonnt. Bist dochnur ein grobschlächtiger Söldner!« Asenfried griff nach demLeinentuch und warf es in eine der wenigen sauberen Eckender Schmiede. »Macht zwei Taler!« Der Schmied hielt Be-renghor auffordernd seine schwielige, verdreckte Hand hin.

»Kannst nicht mehr rechnen was? Der Ruß hat dir wohldein Hirn weich gekocht!« Berenghor warf entrüstet einenTaler auf den Ladentisch und griff nach dem Zweihänder.

»Man kann’s ja mal probieren. Bei euch Söldnern weißman doch nie, wie’s mit dem Rechnen bestellt ist.«

Berenghor winkte ab. Den Zweihänder warf er gekonntüber den Rücken und einen Augenblick später baumelte die-ser wieder im Halfter zwischen seinen Schulterblättern. Danngriff er nach einem Stückchen Kohle, das allein und verges-sen auf der Auslage sein Dasein fristete, und begann, auf demHolz zu zeichnen.

»He, das kostet extra! Ist kein verdammtes Atelier hier!«,schnaubte der Schmied und griff nach dem Kohlestück in Be-renghors Hand.

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Der ließ es sich aber nicht aus den Fingern winden undzeichnete weiter. »Gestern ist mir so was um die Ohren geflo-gen. Hast du das schon mal gesehen?«, fragte Berenghor, alser mit der Zeichnung des fünfzackigen Sterns fertig war.»Und mach hier bloß nicht so einen Wind wegen dem modri-gen Holz!«, ergänzte er murmelnd, für Asenfried jedoch im-mer noch gut hörbar.

Der Schmied überhörte geflissentlich Berenghors Kom-mentar, lehnte sich etwas nach vorne und betrachtete nach-denklich die Zeichnung. »Sei froh, dass sich das Ding nichtin deinen Kopf gebohrt hat. Mit der richtigen Technik gewor-fen, spaltet es dir deinen Dickschädel wie eine überreife Bir-ne. Sonderlich hart scheint dein Hirnkasten ja eh nicht zusein.« Dem letzten Satz verpasste Asenfried eine ganz beson-dere Note, die nun aber Berenghor seinerseits ignorierte.Abermals sah der Schmied die Zeichnung an. »Schattenkrie-ger…«, presste er verächtlich zwischen den Zähnen hervor.»Übles Volk ohne Ehre. Tötet aus dem Hinterhalt.« Der klei-ne, kräftige Schmied spie auf den Boden. »Beim Eichhorn,drüben im Grünwaldtal, hatte ich seinerzeit die Ehre, gegendieses Pack antreten zu dürfen. Ist nicht gut Kirschen essenmit denen. Innerhalb weniger Augenblicke war mein Haufenausgeblutet.«

»Du hast bei der Schlacht am Eichhorn mitgemacht? Beider Herrin! Ich habe meinen Zweihänder einem alten, zittri-gen Knacker anvertraut!« Ungläubig starrte der hünenhafteSöldner auf den Schmied. Dieser erwiderte den Blick leichtsäuerlich. Man sah ihm an, dass er in diesem Moment seinAlter verfluchte und dem frechen Flegel vor sich gerne Ma-nieren beigebracht hätte.

»Was sind schon fünfzig Winter«, gab dieser aber nurgleichgültig wirkend wieder und zuckte mit den Schultern.

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Berenghor hatte eigentlich vorgehabt, noch etwas mehrSpaß auf Kosten des Schmieds und seinem Alter zu haben,doch dessen Reaktion brachte ihn zum Umdenken. DerSchmied war unterm Strich ein netter Kerl, und plötzlichstellte sich Berenghor die Frage, was wohl auf ihn wartenwürde, sollte er jemals das Alter von Asenfried erreichen. Erhatte ihn auf Anfang vierzig geschätzt, fünfzig hingegen warein hohes Alter, zumindest für einen Kämpfer. Krieger hattenprinzipiell zwei Möglichkeiten, ein hohes Alter zu erreichen.Entweder zeichneten sie sich in jungen Jahren durch großeFeigheit oder hervorragende Kampfeigenschaften und Mutaus. Bei Asenfried tippte er auf Letzteres. Der kleine Mannvor ihm wirkte auf einmal gar nicht mehr so klein. Nebendem Respekt vor seinem meisterlichen Handwerk war daplötzlich noch etwas anderes. Berenghor empfand eine ArtVerbundenheit mit dem Schmied. Eine Verbundenheit, wieMänner sie spürten, die gemeinsam Schwerter zogen. Sicher-lich, Asenfried und Berenghor waren niemals Seite an Seitegestanden und würden das mit allergrößter Wahrscheinlich-keit auch nicht mehr tun, aber dennoch. In diesem Schmiedsteckte ein Gefährte der ersten Stunde, ein Kamerad, einWaffenbruder.

Für einen kurzen Moment fühlte Berenghor so etwas wieScham in sich aufkeimen. Selbstverständlich wollte er es garnicht so weit kommen lassen, und sofort konzentrierte er sichwieder angestrengt auf die Kohlezeichnung. Er hoffte instän-dig, der Schmied habe seinen kurzen Gefühlsausbruch garnicht bemerkt. »Schattenkrieger…«, wiederholte er den Aus-druck, den Asenfried eben benutzt hatte und warf dabei dieStirn in Falten. Er hatte dieses Wort schon mal gehört undahnte, was sich dahinter verbarg.

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»Ich weiß nicht, was dieser Abschaum hier zu suchen hat.Wenn’s nach mir ging, würden die am nächsten Galgen bau-meln.« Asenfried schüttelte aufgebracht den Kopf.

»Städte ziehen Abschaum an wie der Unrat die Ratten.«philosophierte Berenghor.

»Dieser Abschaum kommt nicht einfach so hierher. Diehaben eine Aufgabe, einen Auftrag. Nichts Gutes, wenn dumich fragst«, erwiderte Asenfried.

Berenghor beschloss in diesem Moment, auf eigene Faustder Sache nachzugehen. Dem Schmied sagte er nichts davon,auch nicht von dem Toten in der Dunklen Gasse. Er wusstenun, wonach er Ausschau halten musste, und bis zur Abreisewar noch Zeit. Morgen würde die Anheuerung sein und bisdahin wollte er sich etwas umsehen und Augen und Ohren of-fenhalten. Er verabschiedete sich von Asenfried und machtesich auf den Weg. Heute sollte Markt sein und der Tag warnoch jung. Es konnte nicht schaden, den Händlern undMarktschreiern einen Besuch abzustatten, und wenn man sichschon selbst eine Aufgabe auferlegte, durfte sie auch gernemit dem angenehmeren Teil beginnen.

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Berichte und Pläne

ein Herz schlug schnell und der Atem ging stoßweise. Er

war den Weg von der Vorratskammer bis runter in dieLeichenhalle gerannt. Eigentlich wollte er dieses abscheuli-che Loch nicht mehr so schnell betreten, doch hier und jetztmusste es sein. Es roch noch schlimmer als vorhin, doch dies-mal war Tristan froh, dass die Leiche noch auf dem Tisch lag.Bald würde man den toten Körper den Flammen übergeben.Eine Maßnahme, die während des letzten Krieges aufgrundder Seuchengefahr ergriffen und bis heute beibehalten wurde.

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Aufmerksam hielt er den Anhänger aus der Vorratskam-mer an die Tätowierung der rechten Hand des Toten. Sie gli-chen sich wie ein Ei dem anderen. Tristan musste schlucken.Es gab also einen Zusammenhang zwischen dem Toten unddem Einbruch in die Vorratskammer. Die Erkenntnis ließ al-les augenblicklich in einem anderen Licht erscheinen, dennTristan war sofort klar: Es musste sich mindestens um zweiTäter handeln. Der Mord hinter dem Goldenen Erker war inder Nacht von gestern auf heute geschehen, der Einbruch je-doch erst am Morgen danach. Bisher war es bei dem Mordnur um die Frage des Täters gegangen, nun jedoch wurdeauch das Warum interessant. In den meisten Fällen war das

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Motiv der ausschlaggebende Punkt, der die Täter über kurzoder lang an den Galgen brachte. In Sieben Schänken hinge-gen waren Motive nicht unbedingt notwendig, und wenndoch, dann ging es immer um das Selbe: Frauen und Geld.Das Motiv hatte Tristan bisher als pauschalen Ärger in Sie-ben Schänken abgetan, doch jetzt war die Situation eine ande-re. Sicherlich bestand auch die Möglichkeit, dass der Einbre-cher in der Nacht zuvor den Mord hinter dem Goldenen Er-ker begangen und seinem Opfer die Kette entwendet hatte,doch war dies eher unwahrscheinlich. Ein Mörder würdenach seiner Tat nicht noch einen Einbruch durchführen undriskieren, dabei geschnappt zu werden. Er würde vermutlicherst Gras über die Sache wachsen lassen und dann erneut zu-schlagen. Tristan war sich sicher, dass der Tote in der Gasseund der Einbrecher irgendwie zusammengehörten. Wenn demso war, dann hatten sie nun einen Gegenspieler und der Ein-brecher von heute morgen musste auf der Hut sein. Nach die-ser Erkenntnis wollte Tristan Hauptmann Taris nochmaleinen Besuch abstatten. Er musste ihn auf dem Laufendenhalten, und mit ein wenig Glück gab es sogar schon Neuig-keiten von den Männern auf den Gassen.

Tristan hatte aber Pech, Hauptmann Taris war nicht da. Erfand ihn weder in seinem Büro, noch auf dem Gelände derGarnison. Vermutlich erstattete er gerade beim Herzog Be-richt. Für Tristan gab es im Hinblick auf den Mord jetzt we-niger zu tun. Die Männer trieben sich noch immer auf denGassen herum und bisher gab es keine positiven Rückmel-dungen. Tristan wollte die Zeit nutzen, und stattete den Hand-werkern im Zeughof einen Besuch ab. Die Arbeiten am Wa-gen gingen gut voran. Die Vorderachse samt Deichsel warbereits montiert und die Räder lehnten auch nicht mehr anden Seiten, sondern lagen auf den dafür vorgesehenen Rad-

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aufhängungen. Sämtliche Eisenbeschläge hatten die Hand-werker rundum erneuert. Mit dem neuen Aufbau würde derWagen etwas größer werden, als es sonst bei Gefährten dieserArt üblich war. Tristan hatte vor einiger Zeit eine Zeichnungdes Radmachermeisters gesehen, und auch wenn er nicht vielvom Handwerk verstand, war er doch sofort begeistert gewe-sen. Der Wagen sollte eine Mischung aus rollender Festungund Transportmittel werden. Es war vorgesehen, die Seiten-wände in regelmäßigen Abständen mit Eisenbeschlägen zuverstärken und bis auf Deckenhöhe hochzuziehen. Eine Planewürde es nicht mehr geben, und auch das Dach sollte ausHolz konstruiert und durchgehend sein. Über eine Einstiegs-öffnung am hinteren, nach oben abgeschrägten Ende solltedie Besatzung in das Wageninnere gelangen können. Eineweitere Öffnung am anderen Ende des Wagens fungierte alsDurchgang zum Kutschbock. Durch den vermehrten Einsatzvon Holz und Eisen würde der Wagen ein deutlich höheresEigengewicht bekommen. In Verbindung mit Besatzung undLadung sogar so viel, dass eigens vier Pferde als Zugtierezum Einsatz kommen mussten. In den langen Seiten des Wa-gens wurden zur Rundum-Verteidigung kleine Öffnungenvorgesehen, die in ihrer Form und Ausprägung an Schieß-scharten erinnerten. Das Prunkstück hingegen bildete einMantikor auf dem Dach des Wagens. Der Mantikor wurde imVerlauf des letzten Krieges von den Waffeninspekteuren desReiches zur Bekämpfung weit entfernter Ziele entwickelt. ImPrinzip war der Mantikor eine vergrößerte Abart der bekann-ten Armbrust. Mithilfe einer handbetriebenen Spannvorrich-tung wurde er vorgespannt, und konnte beim Einsatz in kür-zester Zeit voll gespannt und mit einem daumendicken Bol-zen geladen werden. Seine Reichweite betrug ungefähr drei-hundert Meter und hatte bei einem Treffer meistens nicht nureine verheerende, sondern auch eine demoralisierende Wir-

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kung auf den Feind. Obwohl er selbst den Einsatz des Manti-kors im Krieg nicht miterlebt hatte, hatte sich Tristan mit derWaffe vertraut gemacht. Noch vor einigen Wochen trainier-ten seine Soldaten und er regelmäßig damit; Spannen, Trim-men und Zielen. Immer und immer wieder dieselbe Abfolge,solange, bis jeder Handgriff saß und die Männer selbst in dereinsetzenden Dämmerung einen Hasen auf einhundert SchrittEntfernung durchbohren konnten.

Alles in allem war Tristan mit den Arbeiten am Wagensehr zufrieden. Er sah den Schmieden bei ihrer Arbeit nochetwas über die Schulter und machte sich anschließend auf denWeg zur Vorratskammer. Beruhigt stellte er fest, dass dortnoch immer eine Wache aushielt. Hier war scheinbar alles inbester Ordnung, und das erste Mal an diesem Tag hatte er dasGefühl, wieder alles im Griff zu haben. Bis heute Morgenwar ja auch alles nach Plan verlaufen. Einem Uhrwerk gleichhatten alle Rädchen wie vorgesehen ineinander gegriffen undihre Arbeit gemacht. Doch wie so oft bei Uhrwerken hatteeine kleine Störung ausgereicht und das ganze System insTrudeln gebracht. Die Lage war jetzt zwar wieder im Griff,doch hatten sie Zeit verloren. Auch typisch für ein fehlerhaf-tes Uhrwerk. Tristan musste nun zusehen, dass bis zum Auf-bruch wieder genug Nahrungsvorräte, vor allem Hartgebäckund Pökelfleisch, vorhanden waren. Ein kurzer Abstecher indie Küche der Garnison und Tristan brachte in Erfahrung,dass die Bestände schon morgen aufgefüllt werden sollten.Eine gute Nachricht mit Potenzial, dachte sich Tristan undmachte sich abermals auf den Weg zu Hauptmann Taris. EinPlan begann währenddessen in seinem Kopf zu reifen, und ir-gendwie musste er dabei an Speck, Mäuse und eine großeFalle denken.

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Diesmal brauchte er nicht lange suchen und fand Taris in sei-nem Arbeitszimmer im ersten Stock des Haupthauses. Er hat-te richtig vermutet, denn auch Taris war gerade eben erst zu-rückgekommen. Der Herzog war nun über die Vorkommnisseinformiert, und hatte dem Hauptmann klar und unmissver-ständlich zu verstehen gegeben, dass das Siedlungsprojektunter allen Umständen geschützt werden musste. Sabotageak-ten musste nachgegangen werden und seien künftig unbe-dingt zu verhindern. Taris erzählte Tristan von seiner Zusam-menkunft mit Herzog Grodwig. Kurz umrissen war sein Be-richt, und am Ende befreite er ihn auch von den Ermittlungenim Mordfall.

»Wir müssen alles daran setzen, dass die Reise in denNorden ohne weitere Probleme vorbereitet werden kann.«,sprach Taris. Er stand am Fenster, mit dem Rücken zu Tristanund sah in den Zeughof hinunter. Tristan stand in der Mittedes Raumes, vor dem Schreibtisch des Hauptmannes, undrührte sich nicht.

»Der Herzog hat mir nochmals klargemacht, wie wichtigihm diese Angelegenheit ist, Leutnant Tristan. Mit derselbenBeharrlichkeit wie der Radmachermeister und seine Schmie-de dort unten im Hof die handtellergroßen Eisenbeschläge inregelmäßigen Abständen auf die Holzwände des Wagensschlagen, müssen wir uns künftig um das Siedlungsprojektkümmern. Gewissenhaftigkeit steht dabei an erster Stelle,Leutnant.«

Tristan fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Der Haupt-mann war zu Beginn des Tages im Unrecht gewesen, als erTristan neben seiner Funktion als Verantwortlichem der Rei-se auch noch die Ermittlungen im Mordfall übertragen hatte.Er fürchtete nun eine Entschuldigung, und auch wenn erwusste, dass er im Recht gewesen war, so war es ihm jetzt ir-

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gendwie unangenehm. Er wollte nicht, dass sich sein Vorge-setzter bei ihm entschuldigen musste. Beiden war der Sach-verhalt klar, und gerade weil diese Tatsache so greifbar imRaum stand, war es für Tristan so schlimm. Er begann damit,sein Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den anderenzu verlagern.

»Die Meinung des Herzogs in dieser Sache unterstreichtEure Haltung von heute Morgen, Tristan.« Der Hauptmanndrehte sich um. Ein entgegenkommendes Lächeln umspielteseine Lippen, und Tristan wusste in diesem Moment, dass derHauptmann im Gegensatz zu den anderen Offizieren derStadtwache die Größe hatte, sich auch vor einem Untergebe-nen zu entschuldigen. Und gerade diese menschliche Größemachte die ganze Sache noch unerträglicher. »Verzeiht mirmeine Kurzsichtigkeit, Leutnant. Ihr habt mit den Vorberei-tungen schon genug zu schaffen, und es war falsch, Euchauch noch den Mordfall aufzubürden. Ich werde mich ab jetztselbst darum kümmern.« Taris trat einen Schritt heran undberührte dabei mit den Fingerspitzen der ausgestreckten Hän-de den Schreibtisch. Es sah beinahe so aus, als ziehe er, ei-nem Puppenspieler gleich, im Hintergrund unsichtbare Fädenund die Puppen der Garnison würden jeden Moment wiederdamit beginnen, nach seinen Vorstellungen zu tanzen.

»Verzeiht, Herr Hauptmann, wenn ich Euch da widerspre-chen muss, aber ganz so falsch, wie Ihr meint, lagt Ihr mitEurer Entscheidung nicht.« Tristan wählte jedes Wort mit Be-dacht. Gerade war ihm wieder eingefallen, warum er denHauptmann aufgesucht hatte, und jetzt wusste er auch, wie erdie unangenehme Situation für beide noch zum Guten wen-den konnte. »Nur dadurch, dass ich mit beiden Aufträgen be-traut war, konnte mir auch die Verbindung zwischen demMordfall und dem Einbruch in die Garnison auffallen.«

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»Eine Verbindung?«, Taris runzelte die Stirn und neigteden Kopf dabei sachte nach vorne. Er sah aus wie ein großerRaubvogel, dem Beute ins Blickfeld geraten war. Tristannickte und begann damit, dem Hauptmann alles von seinerEntdeckung zu erzählen.

Taris hörte aufmerksam zu. Immer wieder nickte er nach-denklich, unterbrach Tristan jedoch kein einziges Mal. Alsder Leutnant schließlich mit seinen Ausführungen zu Endewar, schüttelte er nachdenklich den Kopf. »Diese Entwick-lung gefällt mir ganz und gar nicht. Die Sabotage unsererVorbereitungen ist ein Angriff. Ein Angriff auf die Garnisonund damit auf den Herzog selbst. Wir können das nicht hin-nehmen. Die Sicherheit des Siedlungsprojektes hat oberstePriorität!« Taris war fest entschlossen. Seine Stimme bebte.»Bisher bin ich ehrlich gesagt nur von einem schlichten Ein-bruch ausgegangen, zwar einem gewagten, aber nur einemEinbruch. Wenn das aber wirklich nicht das Werk eines Ein-zelnen gewesen sein soll, dann bekommt die Angelegenheiteine ganz andere Qualität.«

Tristan nickte. Er gab dem Hauptmann Recht. Auch inihm wuchs nun die Überzeugung, dass sich dahinter eine ge-wisse Systematik verbarg. Die Reise in den Norden war ohneFrage ein wichtiges politisches Ziel, und wie immer, wennPolitik im Spiel war, gab es auch jene, die anderer Meinungwaren. Und unter diesen fand sich meistens auch immer min-destens einer, der bereit war, etwas dagegen zu unternehmen.Jetzt aber war es wohl an der Zeit, ebenfalls etwas zu unter-nehmen.

»Leutnant Tristan. Wir werden die Wachen im Hof undbei der Vorratskammer verdoppeln. Keine Tagträumer, son-dern gute und verlässliche Männer. Die Abreise rückt immernäher, und ich gehe davon aus, dass damit einhergehend auch

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die Zahl der Attacken zunehmen wird. Darauf müssen wirvorbereitet sein!«

Tristan nahm Haltung an. »Jawohl Herr Hauptmann! Ichwerde das umgehend veranlassen! Können wir sonst noch et-was unternehmen?«, fragte er dann, noch immer stramm ste-hend.

Taris legte den Kopf leicht schief und musterte den Leut-nant von oben bis unten. »Mir scheint, Ihr habt euch bereitsGedanken gemacht. Immer raus mit der Sprache, Leutnant!«

Und so eröffnete Tristan seinem Hauptmann jenen Plan,der erst vor kurzem in seinem Kopf Gestalt angenommen hat-te.

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Lauernder Skorpion

s kostete sie eine ungeheure Willensanstrengung, die

instinktive Bewegung ihrer rechten Hand zu unter-drücken. Der kalte Stahl schien plötzlich ein Eigenleben ent-wickelt zu haben und wollte förmlich aus der Scheide sprin-gen. Langsam und unauffällig nahm sie ihre Hand herunter.Der Impuls war vorbei und die Beherrschung kam zurück.Vor ihr stand keiner der schwarzen Skorpione und auch nichtder Meister der Klingen. Ein Fremder starrte sie unverhohlenan, und als er ihren Blick bemerkte, fing er an zu grinsen. Einriesiger Bursche, geradezu ein Hüne. Den Kopf kahl gescho-ren und das Gesicht mit Bartstoppeln übersät. Auf seinemRücken hing ein großer Zweihänder und als Überwurf trug erein schweres Kettenhemd. Nur der Kragen des Leinenhemdesschaute oben über die ersten Kettenglieder hinaus und kräu-selte sich unterhalb des Kinns. Langsam trat er einen Schrittauf sie zu. Die Arme verschränkt und in der einen Hand einengroßen Krug haltend. Shachin hatte keine Lust auf ein Ge-spräch. Schon gar nicht mit einem Burschen wie ihm. Wahr-scheinlich ging es ihm ohnehin nur um das eine, und wenn ersie wirklich nur darauf reduzierte, sollte sie ihn vielleicht

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doch mit ihrem Dolch bekannt machen. Sie würde da sicheretwas arrangieren können.

»Nur nicht so schreckhaft meine Liebe«, säuselte der Rie-se und lächelte.

Shachin konnte, sehr zu ihrem Missfallen, nicht einmalsagen, dass es sonderlich schmierig oder zweideutig war. ImGegenteil, ein ehrliches und freundliches Lächeln flog ihr daentgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie ernst-haft darüber nach, ihm zu antworten, doch schon im nächstenMoment wirbelte sie herum und verschwand in der Menge.Sie hatte jetzt keinen Nerv dafür. Langsam aber sicher be-gann sie, überall den Meister zu sehen. Sie musste den Kopffrei bekommen und das konnte ihr hier nicht gelingen.

Das Treiben auf dem Markt hatte trotz des Regens nochzugenommen und Shachin kam nur langsam voran. Die Ka-puze tief ins Gesicht gezogen, schwamm sie in der Massemit. Ihre Rechnung war nicht aufgegangen. Sie war weit da-von entfernt, dass sich bei ihr ein Gefühl der Sicherheit ein-stellte. Das Bedürfnis, ständig jeden und alles im Blickfeld zuhaben war zu stark und hier auf dem Markt ein hoffnungslo-ses Unterfangen. Sie verließ den Marktplatz und lief einigeZeit ziellos durch die Gassen der alten Herzogstadt. Irgend-wann, ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, stand sie vor einemgroßen Platz, der genau die richtige Bühne darstellte für das,was sich dahinter befand: der Dom der Herrin. Shachin warunbewusst ins Scherbenviertel gelangt und vor ihr erhob sichder prunkvollste und mächtigste Bau von ganz Leuenburg.Shachin hatte in ihrem Leben weitaus größere und auch schö-nere Bauten gesehen, und doch war sie beeindruckt, zu wasdie Kirche der Herrin in einem Herzogtum dieser Größe im-stande war. Zügig überquerte sie den Vorplatz. Gerade, alssie die großen Stufen zum Eingangsportal hinauf wollte,

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nahm sie eine Bewegung am Rand des Platzes war. Sofortmeldete sich ihr Instinkt. Shachin ging weiter, als wäre nichtsgeschehen, doch alle Sinne waren auf die schwarz gekleideteGestalt gerichtet. Als sie das große Portal erreichte, machtesie eine Vierteldrehung und ging die seitlichen Stufen hinun-ter. Diese führten zwar etwas steiler, dafür aber auch umsokürzer ebenfalls hoch zum Eingangstor des Doms.

Es sind drei, stellte sie überrascht und ein wenig beunru-higt fest. Dieser hier war nicht der Meister, da war sich Sha-chin sicher. Ohne darüber nachzudenken, bewegte sie sich inseine Richtung. Mit jedem weiteren Skorpion, der sich inLeuenburg aufhielt, wurde die Gefahr größer, und jetzt war esan der Zeit, dass sie in die Offensive ging. Dem Meister al-lein entgegenzutreten war das eine, seine Schergen dabei imRücken zu wissen etwas ganz anderes.

Der Skorpion hatte sie nicht bemerkt. Er lief am Rand desPlatzes entlang, womöglich um dem Regen zu entgehen. Dumusst noch viel lernen, dachte Shachin bei sich, als sie sichlangsam in sein Fahrwasser schob. Sie wollte ihn lebend zufassen bekommen. Jede noch so kleine Information konnteihr einen Vorteil verschaffen. Es würde nicht einfach werden,etwas aus ihm herauszubekommen, doch Shachin hatte ihreMittel. Was am Ende zu tun sei, wusste sie, und auch wennihr der Tod eines Wehrlosen nicht behagte, so konnte sie hierkeine Milde walten lassen. In ihrem Geschäft galt das PrinzipDu oder Ich und jeder, der sich darauf einließ, wusste dasauch.

Der Skorpion gab sich nicht sonderlich viel Mühe, unent-deckt zu bleiben. Er machte eher den Eindruck, als sei ihmdieser Aspekt seiner Arbeit nicht so wichtig. Shachin folgteihm unauffällig und hatte währenddessen genug Zeit, seineBewegungen genau zu studieren. Der Mörder vor ihr war

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noch ein Schüler. Die Grundzüge und prinzipiellen Dingewaren ihm augenscheinlich geläufig, doch fehlte es ihm nochan der nötigen Erfahrung und Abgebrühtheit. Mehr als einmalkorrigierte ihn Shachin in Gedanken, und nach einiger Zeitkam sie zu dem Schluss, dass auch sie mittlerweile eine ganzpassable Lehrerin abgeben würde. Sie konnte sich nicht er-klären, warum der Meister diesen Burschen mitgenommenhatte. Er musste wissen, dass dieser hier Shachin nicht dasWasser reichen konnte und ihr im Fall der Fälle nicht einmalannähernd gewachsen war. Ein weiteres, sinnloses Opfer,denn tot war der Schüler vor ihr bereits, auch wenn er dasnoch nicht wusste. Eine zweite Möglichkeit, die Shachin ersteinige Augenblicke später in den Sinn kam, war, dass dieSkorpione noch einen weiteren Auftrag in Leuenburg hatten.Einen, der weitaus weniger praktischer Kampferfahrung be-durfte als der, eine der ihren zur Strecke zu bringen. Wenndem so war, dann hatte es der Skorpion vor ihr gar nicht aufsie abgesehen. Und dennoch, Shachin konnte kein Risiko ein-gehen.

Mit einem nur für sie hörbaren Seufzen schloss sie einwenig weiter auf. Es war Zeit, diese Jagd zu beenden. IhreHand glitt zum Dolch. Noch ein wenig weiter und die Schat-ten eines großen Gebäudes würden die beiden verschluckenund nur einen von ihnen wieder gehen lassen. In dem Mo-ment, als Shachin die Jagd beenden wollte, war ihr Opferplötzlich verschwunden. Sofort hatte sie das dumpfe Gefühl,in eine Falle geraten zu sein. Sollte ihr etwa ein ähnlicherFehler wie ihrem Opfer von heute Nacht unterlaufen sein?Shachin hielt inne und lauschte. All ihre Sinne waren zumZerreißen gespannt. Es war keine Falle. Sie wusste, dass ihrOpfer noch in der Nähe war, und sie wusste auch, dass es vonihrer Anwesenheit nichts mitbekommen hatte. Das ist dein

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Unterschlupf erkannte Shachin schmunzelnd. Sofort machtesie einen Schritt zurück und verschwand nun ihrerseits imDunkel der Schatten. Immerhin war es möglich, dass er sieunbewusst zum Nest der Skorpione geführt hatte. Es wider-sprach zwar allen Regeln der Kunst, doch würde sie das jetztauch nicht mehr wundern. Völlig sicher war sie sich jedochnicht und so entschied sie, zu warten. Eine Flucht war für denjungen Skorpion nicht möglich, und Shachin würde vor demVersteck ausharren und beobachten.

Die Zeit verging quälend langsam. Der Regen hatte auf-gehört und das Grau in Grau des Tages war dem schwarzenLeichentuch der Nacht gewichen. Alles lag still da, war dochdie letzte Stunde vor Sonnenaufgang immer die ruhigste.Man könnte meinen, der angehende Tag hole vor seinem Be-ginn nochmals tief Luft, um dann umso frischer und strahlen-der durch das Dunkel der Nacht zu brechen. Es würde bald zudämmern beginnen und noch immer lag der Skorpion in sei-nem Versteck und rührte sich nicht. Der Mondschatten desgroßen Hauses überragte die komplette Gasse und von derSonne war noch nichts zu sehen. Es war ein großes Lager-haus, in dessen Windschatten sich der Skorpion versteckthielt. Lange hatte sie beobachtet, und nach und nach kam siezu dem Schluss, dass er irgendwo in der Nähe des Eingangsseinen Unterschlupf hatte. Sicherlich gab es auch noch andereMöglichkeiten, doch keine war so gut wie jene, in der Sha-chin den Skorpion vermutete. Jetzt reduzierte sich alles aufdie Geduld. Abwarten und im richtigen Moment zuschlagen.Er musste sich vollkommen sicher fühlen, nur dann war einErfolg garantiert. Shachin kannte derartige Situationen undwusste genau, dass man der inneren Stimme, so weise undvernünftig sie auch klingen mochte, nicht nachgeben durfte.Er war noch da, ganz sicher. Und mit ihm die Chance für

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Shachin, das Kräftegleichgewicht wieder etwas zu ihrenGunsten zu verschieben. Dann kam er endlich, der Momentzum Losschlagen. Shachin erhob sich aus ihrem Versteck undglitt lautlos auf die andere Seite der Gasse. Kein Geräuschund auch kein Schattenspiel verrieten ihre Bewegungen unddennoch, plötzlich rührte sich etwas dicht vor ihr. Sie hieltden Atem an, der Dolch lag schon wie von selbst in ihrerHand. Der Skorpion bewegte sich. Er verließ sein Versteck.Shachin konnte ihn jetzt im fahlen Dämmerlicht gut erkennenund heftete sich sofort an seine Fersen. Nun musste es schnellgehen. Mit ein paar großen Schritten war sie fast an ihn her-an, als der Skorpion plötzlich eine kleine Seitentür des Lager-hauses öffnete und darin verschwand. Leicht irritiert verfolg-te Shachin unmittelbar hinter ihm kommend das Ganze, undohne lang zu überlegen, huschte auch sie lautlos durch dieTür.

Im Lagerhaus war es dunkel. Keine Fackeln oder Öllam-pen brannten und nur durch kleine Ritzen in den Holzwändendrang diffuses Licht von außen. Irgendwo weiter vorne er-kannte Shachin auf einmal ein kleines, flackerndes Licht. Sieging in die Hocke. Plötzlich hallten Rufe durch die weitenFlure und eine haushohe Stichflamme fauchte empor. Stahlblitzte im Zwielicht auf und Shachin reagierte instinktiv. Imnächsten Moment brach die Hölle los.

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Überfall bei Nacht

aris war zufrieden. Gerade hatte er seinen abendlichen

Rundgang durch die Garnison beendet. Das Tor, dassonst nur in Kriegszeiten verschlossen wurde, hatte er schlie-ßen lassen. Die Wachen dort und im Innenhof waren verdop-pelt worden und auch vor der Vorratskammer standen zweiPosten. Alles in allem waren sie gut vorbereitet und jetzt zumWarten verdammt. Wann und ob überhaupt wieder ein An-schlag auf die Garnison erfolgen würde, wusste Taris nicht.Überraschen konnte man sie nun jedenfalls nicht mehr. Nach-dem Leutnant Tristan und einige seiner besten Männer ge-gangen waren, hatte er noch lange über dessen Vorschlagnachgedacht. Ungefährlich war der Plan nicht, doch eine guteMöglichkeit, die Attentäter zu fassen. Vorausgesetzt, siewussten von der bevorstehenden Lieferung an die Garnison.Das Lagerhaus befand sich in Fuhrheim und war erst heutemit neuer Ware befüllt worden. Ein Teil davon sollte morgenzur Garnison gebracht werden. Wenn die Attentäter einenweiteren Versuch starten wollten, dann jetzt oder spätestensmorgen früh. Natürlich konnte Taris nicht jede Nacht Wa-chen im Lagerhaus postieren, doch zumindest einen Versuchwar es wert.

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Müde trat Taris an den kleinen Wandaltar, den er zu Eh-ren der Herrin im Schlafzimmer neben dem Büro errichtethatte. Er ließ sich auf die Knie fallen, faltete die Hände inein-ander und schloss die Augen. Die letzten Augenblicke einesTages gehörten, genauso wie die ersten, immer der Herrin.Taris war ein frommer Mann und hielt sich so gut es ging andie Gebote und Gepflogenheiten eines guten Gläubigen.Schon als Kind hatten ihn seine Eltern auf den Pfad der Her-rin gebracht und seitdem hatte er ihn nicht mehr verlassen.Zweifel an seinem Glauben gab es für Taris keine, auch wenner manchmal die Gegensätzlichkeiten und Widersprüche in-nerhalb des Glaubens nicht verstand. Auf der einen Seitewurde Nächstenliebe gepredigt, bedingungslos und ehrlichsollte sie sein. Im selben Atemzug aber forderte die Kircheauch beispiellose Härte und Unnachgiebigkeit gegen alle An-hänger und Verehrer des alten Glaubens. Gleichzeitig wurdeimmer wieder Gehorsam und Loyalität gegenüber der Herrinverlangt, aber auch zum Widerstand und Boykott der altenReligion aufgerufen. Für Taris war der alte Polytheismus Ge-schichte, eine längst vergangene Zeit voller Schrecken undDunkelheit. Die Herrin war die Ordnung und das Licht, dieGötter von einst aber nur noch ein Schreckgespenst der Ver-gangenheit, ein Schauermärchen für kleine Kinder.

Ruhe und Frieden fand Taris immer in der Tiefen Medita-tion, der hohen Phase der Andacht. Dabei waren seine Sinnebeinahe komplett nach Innen gekehrt und das eigene Selbstoffen für neue Empfängnisse des Glaubens. Heute wollte ihmdas alles aber nicht so recht gelingen. Immer wieder öffneteer die Augen, und seine Gedanken flogen über die Dächerund Gassen Leuenburgs, hin nach Fuhrheim, zu einem Lager-haus inmitten der Stadt. Taris ermahnte sich selbst immerwieder zur Konzentration und je stärker er sich mühte, umso

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mehr entfernte er sich von dem tiefen Zustand der Ausgegli-chenheit. Entnervt stand er schließlich auf, griff nach einemLederlappen und rieb sich das schweißnasse Gesicht ab. Sei-ne Uniform hatte er vor Beginn der Meditation abgelegt undnur das Leinenhemd über dem Körper gelassen. Diese Nachtsollte es nicht sein, und so legte er sich auf die weiche, mitStroh gefüllte Matratze und fiel augenblicklich in einen unru-higen Schlaf.

Es war noch dunkel, als Taris wieder erwachte. Etwas hatteihn aus dem Schlaf gerissen. Draußen rührte sich nichts. Errichtete sich auf und ging noch etwas schlaftrunken an das of-fenstehende Fenster. Der Hauptmann schlief meistens bei of-fenem Fenster. Die frische, kühle Luft tat ihm gut und er hör-te gern die Geräusche der Nacht. Sein Blick ging in den Hofhinunter. Etwas stutzig nahm er zur Kenntnis, dass die beidenWachen am Feuer eingeschlafen waren. Sie lagen reglos ne-ben dem kleinen, wärmenden Feuer. Erst auf den zweitenBlick fiel ihm auf, was an dem Bild nicht stimmte. Die Wa-chen lagen in voller Montur, ohne Decken auf dem Bodenund ihre Haltung sah nicht sonderlich erholsam aus. Tariskniff die Augen zusammen und spähte konzentrierter in denHof. Hinten am Wagen bewegte sich plötzlich etwas. Jemandschlich dort unten herum. Der Hauptmann riss die Augen auf.Sie versuchten es also noch einmal! Die Gestalt im Hof hieltjetzt eine Fackel in der Hand. Der Wagen, schoss es Tarisdurch den Kopf, Sie haben es auf den Wagen abgesehen! Imnächsten Moment lehnte er sich aus dem Fenster und rief:

»Alarm! Soldaten Leuenburgs, Alarm! Der Feind steht inder Garnison!« Taris griff nach dem Schwertgehänge amStuhl und rannte los. Zeit, um die Rüstung anzuziehen, warnicht mehr. Jetzt musste er schnell handeln, wollte er den An-

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greifer überwältigen. Mit großen Sprüngen hastete er denGang entlang und die Treppe hinab. Mittlerweile erklangenüberall Rufe. Taris glaubte für den Bruchteil einer Sekundeauch Waffengeklirr zu hören. Scheinbar hatten die Wachenvom Tor und der Vorratskammer den Angreifer bereits ge-stellt. Endlich erreichte er das Ende der Treppe und hastete inden Innenhof. Er musste sich kurz orientieren. Der Wagenhatte noch nicht wirklich Feuer gefangen. Die Metallbeschlä-ge verhinderten bis jetzt ein effektives Übergreifen der Flam-men, doch viel Zeit war nicht mehr. Hinter dem Wagen sah erverschwommene Schemen miteinander ringen. Taris rannteweiter. Im Vorbeilaufen erkannte er, dass einer der Wachenam Feuer die Kehle durchgeschnitten war, der anderen steck-te ein metallener Stern in der Stirnplatte. Für sie kam jedeHilfe zu spät. Gerade als er um den Wagen herumkam, muss-te er mit ansehen, wie die letzte der Torwachen zu Bodenging. Der Angreifer war komplett in schwarz gekleidet undsein Gesicht hinter einem Tuch, dass bis über den Nasen-rücken lief, versteckt. Beeindruckt und schockiert zugleichzählte Taris zwei Tote und mindestens zwei Schwerverletzte,wobei er sich sicher war, dass der Angreifer die beiden Tor-wachen nicht am Leben gelassen hatte. Er selbst machte bisjetzt nicht den Anschein, als sei er verletzt oder auf irgendei-ne Weise beeinträchtigt. Dann war Taris am Angreifer heran.Ihm war klar, dass er äußerst vorsichtig vorgehen musste. Ertrug keine Rüstung und das Gras war feucht. Ohne Stiefelwürde es schwer werden, nicht auszurutschen. Nachdem erkeinen Schild mitgenommen hatte, nahm er das Schwert inbeide Hände. Sein Gegner hatte ihn inzwischen bemerkt unddrang sofort auf ihn ein. Noch im Voranstürmen entledigtesich dieser seiner Fackel und warf sie im hohen Bogen aufdas Dach des Wagens. Taris entging die Bewegung nicht,doch konzentrierte er sich nur noch auf den bevorstehenden

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Zusammenprall. Er wusste, dass sein Gegenüber ein sehrernstzunehmender Gegner war. Immerhin hatte er mühelosvier Wachen überwältigt. Die Garnison war mittlerweile zumLeben erwacht. Die Gänge hallten wider von den Stiefeltrit-ten der Soldaten, und Waibel erteilten ihren Männern lautschreiend Befehle. Noch war der Innenhof außer den beidenKontrahenten leer, doch in wenigen Augenblicken würde sichdas ändern. Einige der Männer hatten ihren Hauptmann wohlerkannt, denn aufgeregt und mit ausgestreckten Armen zeig-ten sie nach unten in den Innenhof.

Funken schlagend trafen die beiden Waffen aufeinander.Die eine ein filigraner, gebogener Dolch und die andere einLangschwert in der typischen Art der Leuenburger Stadtwa-che. Noch war nicht klar, welcher der beiden Kämpfer dieOberhand gewinnen würde. Beide fochten sowohl im Angriffals auch in der Verteidigung. Doch obwohl der Kampf bishernur Sekunden dauerte, kam er Taris schon jetzt wie eineEwigkeit vor. Jede Bewegung, jede Aktion lief wie in Zeitlu-pe ab, war rein instinktiv und automatisch. Keine Zeit zumDenken, nur noch Aktion und Reaktion ohne jede Möglich-keit der Reflektion. Der schwarz Gekleidete kämpfte außer-gewöhnlich gut und irgendwie fremdartig. Seine Bewegun-gen entsprangen nicht der klassischen Schule des Reiches.Noch konnte Taris mithalten, doch ahnte er bereits, dass erdem Schwarzen unterlegen war. Der dachte scheinbar ähnlichund griff erneut an. Taris riskierte einen kurzen Blick auf dieGänge und Flure der Garnison. Immer mehr Wachen tratenaus ihren Kammern, manch eine sogar voll gerüstet, die meis-ten aber, wie auch Taris, nur in leichter Bettbekleidung.Scheinbar hatte der Angreifer Taris Blick bemerkt, denn erunterbrach den Kampf sofort. Einen kurzen Moment noch zö-gerte er, dann aber drehte er sich um und rannte nach Osten,

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auf die Garnisonsmauer zu. Das Tor war verriegelt, dortkonnte er nicht raus. Taris schaltete sofort und rief:

»Die Mauer! Er will über die Mauer!«

Einige der Wachen hatten verstanden und versuchten,dem Eindringling den Weg abzuschneiden. Leider vergebens.Nur eine war schnell genug und stellte sich dem Schwarzenin den Weg. Im nächsten Moment war sie tot. Ein fingerdi-cker Eisendorn hatte sich tief in ihr linkes Auge gebohrt. Ta-ris nahm sofort die Verfolgung auf. Noch im Laufen erkannteer einen Waibel und brüllte: »Ihr schwingt Euch sofort aufEuer Pferd. Sobald der Attentäter hinter der Mauer ist, müs-sen wir schneller sein als er!« Er machte eine befehlendeGeste und der Waibel nickte stumm. Sofort wandte der sichab, gab einigen Männern Zeichen und lief in Richtung Stal-lungen. Taris, noch immer barfuss und nur mit Lederhose undLeinenhemd bekleidet, hatte sein Schwert mittlerweile in dieScheide geschoben und war dem Angreifer dicht auf den Fer-sen. Jetzt sitzt du in der Falle, dachte sich Taris. Hier kommstdu nicht mehr raus. Siegessicher beschleunigte der Haupt-mann nochmal seine Schritte. Die Hand ging an das Heft sei-nes Schwertes. Gleich würde er ihn haben. Unerwartet hörteer im nächsten Moment einen dumpfen Einschlag in dieWand vor sich, und der Schwarze begann plötzlich damit, dieMauer hochzuklettern. Irritiert und verunsichert musste Tarismit ansehen, wie ihm der sicher gefangen geglaubte Fremdeauf den letzten Metern doch noch zu entkommen drohte. Jetztwar er schon auf der Mauerkrone und dann kippte er nachhinten weg. Kurz entschlossen lief Taris weiter. Erst kurz be-vor er die Mauer erreichte, sah er das Seil, das im oberenDrittel der Mauer an einem Eisenbolzen hing. Taris sprang abund griff nach dem Seil. Mit ein paar kräftigen Zügen gelang-te er auf demselben Weg nach oben, wie noch vor wenigen

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Augenblicken der Attentäter. Schon hatte er die Krone er-reicht und sah runter. Er hörte Schritte und sah einen Schattenüber die Gasse huschen. Vom Waibel und seinen Männernfehlte jede Spur und auch Hufschlag war nicht zu hören. DieMauer war hoch und für einen kurzen Moment zögerte derHauptmann. Dann, und eine unerwartete Willensanstrengungspäter, sprang auch er in die Tiefe. Mit einem lauten Klat-schen kam er unten auf. Der Boden war uneben und mit ei-nem Fuß knickte er weg. Ein stechender Schmerz schoss denFuß hinauf bis in den Kopf. Taris biss die Zähne zusammenund humpelte los. Noch konnte er den Fremden in der auf-kommenden Dämmerung erkennen, und so wie es aussah,hatte auch dieser den Sprung von der Mauer nicht ganz un-versehrt überstanden. Der Schwarze humpelte leicht unddoch wuchs der Abstand langsam aber stetig. Der Schmerzwich allmählich einem dumpfen Klopfen, das sich bei jedemSchritt unangenehm meldete. Taris verzog den Mund. We-nigstens konnte er seine Geschwindigkeit wieder erhöhen.Der Attentäter hatte die Garnison mittlerweile umrundet undmachte sich in Richtung Westen davon. Ab und an warf ereinen Blick über die Schulter. Er wusste, dass ihm der Haupt-mann noch auf den Fersen war. Von den berittenen Wachenfehlte noch immer jede Spur. Langsam fragte sich Taris, obnoch etwas anderes vorgefallen war. Vielleicht war der Ein-dringling, den er verfolgte, nicht der Einzige gewesen. Eskonnte gut sein, dass in der Garnison noch weitere Kämpfeausgebrochen waren.

Der Angreifer bog plötzlich in eine Nebengasse ein. Taristat es ihm gleich und war ihm nun wieder dicht auf den Fer-sen. Der Fremde mochte ihm im Kampf Mann gegen Manntechnisch überlegen sein, doch bei Geschwindigkeit und Kör-perkraft konnte er durchaus mithalten. Er schaffte es, den Ab-

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stand konstant zu halten. Seine Füße, ständig dem kalten, rau-en Stein ausgesetzt, waren inzwischen taub. Der Atem gingstoßweise. Am Ende der kleinen Gasse erkannte Taris plötz-lich eine weitere Gestalt. Ein Riese schob sich dort um dieHausecke und ohne zu wissen, was er tat, schrie HauptmannTaris aus voller Kehle:

»Haltet Ihn! Haltet den Feind des Herzogs!« Die letztenWorte presste Taris förmlich aus seinen Lungen. Die Luftblieb ihm kurz weg und er kam ins Straucheln. Im letztenMoment gelang es ihm, sich mit der Hand abzustützen undden Schwung des Laufes mitzunehmen. Sofort hastete er wei-ter. Den Blick starr nach vorne gerichtet, beobachtete er, wieder Riese scheinbar auf seinen Ruf reagierte. Er griff nach ei-nem großen Zweihänder, brachte sich gekonnt in Stellungund ließ ihn in dem Moment heruntersausen, in dem ihn derSchwarze passierte. Der Hauptmann sah sofort, dass auch derunbekannte Hüne sein Handwerk verstand. Gebannt verfolgteer das Schauspiel und sah, wie eine der beiden Gestalten zuBoden ging. Er hoffte inständig, es möge der Richtige sein.

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Feuer und Flamme

in schimmernder, furchtbar schneller Blitz schoss ihr

entgegen. Shachin ließ sich fallen und rollte über denBoden. Etwas flog haarscharf an ihrer Schläfe vorbei undschlug hinter ihr in die Wand ein. Sie wusste genau, was esgewesen war. Der Skorpion musste sie irgendwie bemerkt ha-ben. Sofort richtete sie sich wieder auf, blieb aber in gebück-ter Haltung. Sie musste sich orientieren, wenigstens eine Se-kunde lang. Die Stichflamme von eben war vergangen undhatte ein großes Regal in eine wahre Feuersbrunst verwan-delt. Dahinter nahm sie undeutlich Bewegung war. Hinter ihrwar die Tür, rechts und links von ihr ein langer Flur, der ander einen Seite von der Gebäudemauer, an der anderen Seitevon großen Lagerregalen gesäumt wurde. Beide Flure warenleer, also musste sich der Skorpion irgendwo vor ihr befin-den. Ich muss das Feuer in meinen Rücken bekommen, dachtesie und ging langsam und nach vorne gebeugt weiter. DerFeuerschein blendete sie und ihre Augen konnten sich nichtan das übrige Dunkel im Lagerhaus gewöhnen. Ein entschei-dender Nachteil, Shachin wusste das. Plötzlich hallten Rufedurch das Lagerhaus. Es war noch jemand hier, soviel standfest. Shachin machte einen weiteren Schritt nach vorne, dann

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sah sie ihn. Ein kurzer Schatten, der sich deutlich von demSchein des Feuers abhob. Sofort setzte sie sich in Bewegung.Sie wollte unbedingt an ihm dranbleiben, das Chaos zu ihremVorteil nutzen. Hinter dem brennenden Regal erkannte sienun deutlich, dass Männer der Stadtwache gegen einen weite-ren Skorpion kämpften. Ihr war sofort klar, dass dieser un-gleiche Kampf nicht mehr lange dauern würde. Eine der Wa-chen lag bereits regungslos am Boden, eine andere war ver-wundet. Eine dritte, womöglich ein Offizier, griff gerade inden Kampf ein.

Geschickt und unglaublich schnell näherte sie sich demanderen Skorpion. Er wollte seinem Kameraden zu Hilfe ei-len und schlich sich von der Seite an die Kämpfenden heran.Shachin schloss langsam zu ihm auf. Sie richtete sich nieganz auf, war immer in Lauerstellung und verschmolz förm-lich mit den tanzenden, flackernden Schatten der Regale. DerSkorpion griff sich plötzlich an die Brust und im nächstenMoment hatte er wieder einen Wurfstern in der Hand. Dies-mal nicht, dachte sich Shachin und warf sich nach vorne. DieEntfernung war perfekt für den Flug der Eule. Ein wunder-schön anzuschauender und geradezu eleganter Angriffss-prung. Shachin mochte diese Technik sehr und führte sie miteiner dementsprechenden Präzision und Perfektion aus. DerSkorpion reagierte zu spät. Es gelang ihm zwar noch, seinenDolch hochzureißen, doch verhindern konnte er den Treffernicht mehr. Ein wenig abgelenkt, drang Shachins Dolch an-statt in seine Brust in seine Schulter ein. Schreiend machteder Skorpion einen Satz nach hinten und krachte gegen dasRegal. Mit wutverzerrtem Gesicht sah er Shachin für denBruchteil einer Sekunde in die Augen und sie konnte seineEmotionen spüren. Auch das wird dir nichts nützen, lächeltesie grimmig in sich hinein und setzte ihm nach. Der Skorpion

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hatte mit einem Angriff gerechnet und versuchte, sich verge-bens zu wehren. Shachin wirbelte mit einer Finte nach vorne,drehte sich fast in derselben Sekunde einmal um die eigeneAchse und stand plötzlich hinter ihm. Sofort schoss ihr Armvor und kalter, tödlicher Stahl drang in weiches, warmesFleisch. Im nächsten Moment war sie bei ihm, drückte ihreHand auf seinen Mund und näherte sich seinem Ohr.

»Spürst du die Schwingen des Todes?«, flüsterte sie leise.Ihre Stimme bebte vor Anstrengung und Erregung. Der Skor-pion nickte. Auch ihm ließ sie Zeit, den Tod bewusst zu emp-finden. Zu lange hatten sie ihr nachgestellt und ihr nach demLeben getrachtet. Jetzt mussten sie dafür bezahlen und Sha-chin wollte jeden Einzelnen sein Versagen spüren lassen. Siealle sollten vom bitteren Kelch der Niederlage kosten. Mit ei-nem Ruck drehte Shachin die Klinge im Rücken ihres Opfersherum. Es knackte hörbar und die Augen des Skorpions ver-loren augenblicklich ihren Glanz. Der Tod hatte ihn ereilt undnoch bevor der Skorpion vollends zu Boden fiel, war Shachinschon wieder im Gewirr aus Rauch und brennendem Holzverschwunden.

Die letzte der Wachen focht mit dem Mut der Verzweif-lung gegen den noch verbliebenen Skorpion. Shachin erkann-te in ihm den Leutnant vom vergangenen Morgen. Er stand,diesmal in Rüstung und bewaffnet, mit dem Rücken zu ihr.Der Verwundete von eben lag am Boden und rührte sichkaum noch. Der Leutnant bemerkte Shachin und drehte sichein wenig zur Seite. Er rechnete wohl mit einem weiterenGegner und machte einen Schritt nach hinten. Der Skorpionnutzte diese kurze Unachtsamkeit aus und lies einen wahrenSchlaghagel auf den Leutnant niedergehen. Der Angriff zeig-te Wirkung. Scheinbar musste er mindestens einmal getroffenhaben, denn der Leutnant knickte ein und fiel auf die Knie.

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Jetzt war ein günstiger Moment. Erreichen konnte Shachinden Skorpion noch nicht, doch fiel ihr plötzlich wieder derWurfstern ein, den sie noch immer unter ihrem Cape trug.Ohne länger darüber nachzudenken, holte sie den Stern her-vor und schickte ihn mit einer kurzen aber kräftigen Bewe-gung ihres Handgelenks auf die Reise. Der Skorpion hatte dieGefahr noch nicht erkannt. Siegessicher setzte er zum tödli-chen Streich an, als der Wurfstern knapp oberhalb des Kehl-kopfes in seinen Hals schnitt. Überraschung und Unglaubenzeichneten sich auf seinem Gesicht ab, und mit dem letztenWimpernschlag erkannte er Shachin, die in diesem Momentdurch die Flammen sprang.

Der Plan war gut durchdacht gewesen. Sie hatten das Lager-haus schon vor Stunden betreten und sich die dunklen Eckenund Winkel zunutze gemacht. Taris hatte sofort sein Einver-ständnis erklärt, und Tristan umgehend mit dem Verpfle-gungsmeister der Garnison gesprochen und erfahren, wo dieVorräte der nächsten Lieferung an die Garnison zwischen-lagerten. Erst gestern waren sie auf der Leue von Süden her-aufgekommen und direkt nach Leuenburg verfrachtet wor-den. Tristan hatte den Verpflegungsmeister, sehr zu dessenVerwunderung, noch angewiesen, ohne Scheu und durchausausgiebig über die Lieferung zu sprechen. Der Köder mussteschließlich ausgelegt und publik gemacht werden. Tristanwar sich zwar sicher gewesen, dass die Attentäter bereitsVerbindungen und Quellen hatten, um an Informationen her-anzukommen, doch hatte er nichts dem Zufall überlassenwollen. Jede Quelle würde irgendwann versiegen. Imschlimmsten Falle mussten Tristan und seine Männer einigelangweilige Stunden in einem großen, stickigen Lagerhausverbringen. Im besten Falle jedoch hatten sie die Chance,

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einen neuerlichen Sabotageakt zu verhindern und mit etwasGlück sogar den Täter zu fassen. Alles schien so einfach, soklar, doch am Ende war es weit gefehlt. Der Fall, den keinerbedacht hatte und der ihnen allen auf schlimmste Art undWeise ihre Grenzen gezeigt hatte, war eingetreten. Eine Wa-che war tot, eine zweite schwer verwundet und der Leutnanterwehrte sich mit letzter Kraft seiner Haut. Etwas war gehö-rig schief gelaufen, etwas hatte keiner bedacht und nun wür-den sie alle den Preis dafür zahlen.

Jetzt gehst du zur Herrin!, schoss es Tristan durch denKopf. Schon mit einem dieser unheimlichen Kämpfer hatte ergenug zu tun, und jetzt näherte sich auch noch ein Zweitervon der anderen Seite. Er war gewillt, sein Leben teuer zuverkaufen, doch hatte er das Gefühl, nicht mehr sonderlichviel am Preis mitreden zu können. Ein unerwarteter Schlag indie Kniekehle zwang ihn zu Boden. Der Kampf, eben nochwild und hektisch, lief plötzlich langsam und absolut klar vorseinem inneren Auge ab. Er konnte sehen, wie sein Gegen-über den Dolch zum tödlichen Schlag erhob. Auf der anderenSeite sprang plötzlich der zweite Gegner über das bereits zer-brochene, in flammen stehende Regal. Durch den rotenSchein des Feuers schimmerte kastanienbraunes Haar undTristan wusste, dass dies der Mörder aus der Dunklen Gassewar. Irgendeine hämische, schadenfrohe Ecke seines Gehirnserinnerte ihn plötzlich besserwisserisch an die Worte Bereng-hors. Ein zynisches Lächeln umspielte daraufhin TristansLippen. Dann schloss er die Augen und ergab sich seinemSchicksal.

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Söldner, Eule, Leutnant

eute war der Tag der Anheuerung. Berenghor hatte sich

gestern Abend extra zurückgehalten und war früh zuBett gegangen. Er wollte heute nichts dem Zufall überlassenund sich gleich von Anfang an von seiner besten Seite zeigen.Es fiel ihm zwar nicht immer leicht und meistens, so dachteer zumindest, lag es sowieso an den Anderen und den äuße-ren Umständen, aber heute wollte er alles daran setzen. Fürihn war es die Chance auf ein neues Leben, einen neuen An-fang, und er hatte nicht vor, diese zu verpassen.

H

Es war noch dunkel, als er den Goldenen Erker verließ.Kein Vogel pfiff und selbst die Hühner waren noch ruhig.Der Klang seiner eisenbeschlagenen Soldatenstiefel auf demPflaster der Gassen hallte von den Fachwerkbauten wider. Erhatte noch viel Zeit. Die Anheuerung sollte zur zehnten Stun-de in der Garnison stattfinden. Ein kleiner Spaziergang, umden Kopf freizubekommen, konnte nicht schaden, und außer-dem hatte er Fuhrheim, das Viertel der Handwerker undKaufmänner, noch nicht gesehen. Berenghor störte die früheStunde nicht. Er genoss die menschenleeren Straßen undlauschte der Ruhe zwischen den Hausdächern. Vermutlichwar es bald wieder soweit, dass er den Trubel und die Ge-

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schäftigkeit der Stadt über hatte. Gut, dass sich ein Ende be-reits abzeichnete.

Gemächlich schlenderte er durch die Gassen, ein Lied ausalten Söldnertagen dabei im Kopf. Wenn er sich noch auf sei-nen Orientierungssinn verlassen konnte, musste er bereits inFuhrheim sein. Es gab zwischen den einzelnen Vierteln Leu-enburgs keine direkte optische oder bauliche Trennung. Le-diglich an dem sich langsam veränderten Erscheinungsbildder Häuser und Straßen konnte ein Fremder erkennen, dass erunterschiedliche Viertel durchquerte. Berenghor bog nachlinks auf eine breite Straße ein und blieb abrupt stehen. Imersten Moment dachte er, seine Sinne spielten ihm zu früherStunde einen Streich. Eine in schwarz gekleidete Gestaltrannte die Straße entlang, offensichtlich von einem halbnack-ten, wild brüllenden Mann verfolgt. Erst der Wurfstern, derihn nur knapp verfehlte, machte ihm schlagartig klar, dass ersehr wohl bei Sinnen war. Schattenkrieger, stellte Berenghorfest und zog ganz automatisch den großen Zweihänder vonseinem Rücken. In einer tausendmal geübten, fließenden Be-wegung ging er in Stellung, den Zweihänder dabei drohendzum Schlag erhoben. Na warte Bürschchen. Dich werd ichlehren, nach mir einen Wurfstern zu schmeißen. Berenghorfixierte seinen Gegner. Der Schwung würde ihn in Sekunden-bruchteilen von ganz alleine in sein Schwert treiben. Nur einIdiot konnte ihn jetzt noch verfehlen. Im nächsten Momentschlug Berenghor zu, und auf einmal ging alles furchtbarschnell. Der Schattenkrieger war plötzlich verschwunden undirgendetwas schlug hart gegen Berenghors Bein. Er verlor dasGleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Unsanft landeteer auf dem Kopfsteinpflaster der Gasse. Die Klinge desZweihänders glitt kreischend über den Pflasterboden.

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»Verfluchter Bastard!«, entfuhr es ihm zornig. Als er sichwieder aufrichtete, hastete auch schon der Andere an ihmvorbei. Er trug wirklich nur leichte Kleidung und war barfuss.Das Patschen der Füße konnte man weithin hören. Kopf-schüttelnd und dabei nur einen kleinen Moment zögernd liefer schließlich los und folgte den beiden. Rennen war nichtseine Stärke. Ausdauernd war er, keine Frage, doch ihm zuentkommen war nicht sonderlich schwer. Schon hatte erSchwierigkeiten, den Barfüßigen im Zwielicht der Dämme-rung zu erkennen. Vom Schattenkrieger sah er gar nichtsmehr. Außerdem war der Zweihänder zwar eine sicherlichbeeindruckende und imposante Waffe, doch für eine Verfol-gungsjagd gänzlich ungeeignet. Umständlich wuchtete ihnBerenghor während dem Laufen auf den Rücken. Sofort er-höhte sich seine Geschwindigkeit und er fand sogar wiederAnschluss an den Verfolger. Bei der nächsten Wegbiegunghuschte der Attentäter in eine kleine Nebengasse. Der Barfü-ßige folgte ihm, und auch Berenghor verschwand darin kurzeZeit später.

Tristan hielt die Augen noch immer geschlossen. Jeden Mo-ment musste ihn der Tod ereilen. Auf dem Boden kniend undmit gesenktem Kopf erwartete er, einem verwundeten Tiergleich, den Fangschuss des Jägers. Stattdessen fiel plötzlichetwas Schweres neben ihm zu Boden. Tristan riss die Augenauf und musste blinzeln. Der Rauch war mittlerweile dichtund beißend. Das Feuer hatte bereits auf die anderen Regaleübergegriffen. Neben ihm lag der Krieger, der ihn noch einenMoment zuvor zum Angesicht der Herrin schicken wollte.Ein handtellergroßer, zackiger Stern aus Metall steckte tief inseiner Kehle und das Blut pulsierte in Strömen aus der Wun-de. Tristan sah auf. Der Mörder, oder besser die Mörderin,

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aus der Dunklen Gasse rief ihm durch das Prasseln der Flam-men etwas zu. Er verstand sie nicht, richtete sich jedoch ver-wirrt auf. Jetzt war keine Zeit, Fragen zu stellen. Die Fremdehatte ihm zweifelsfrei das Leben gerettet und alles anderewürde man später klären. Tristan stellte mit Bestürzung fest,dass einer seiner Begleiter tot am Boden lag. Der anderekrümmte sich unter Schmerzen, und die ebenfalls in schwarzgekleidete Frau versuchte, ihn in Richtung Ausgang zuschleifen. Ein kurzer Blick über die Schulter und Tristan er-kannte, dass der Rückweg noch nicht versperrt war. Mit einerGeste gab er der Fremden zu verstehen, dass es ihnen nur ge-meinsam gelingen würde, den Schwerverwundeten aus dembrennenden Lagerhaus zu schaffen. Sie nickte, und mit ver-einten Kräften erreichten sie die Tür, durch die Tristan nochvor ein paar Stunden in Begleitung zweier Wachen dasLagerhaus betreten hatte.

Draußen war die Luft kalt und frisch. Tristan sog sie intiefen Zügen in seine brennenden Lungen. Den Verwundetenschleppten sie noch ein Stück vom Lagerhaus weg und legtenihn dann auf den Steinboden. Auch er musste stark husten,und jedes Mal durchfuhr in dabei eine neue Schmerzattacke.

Erschöpft sah Tristan zur fremden Kriegerin. »Habt Dankfür Eure Hilfe«, hauchte er mit kratzender Stimme, gefolgtvon einem Hustenanfall. Shachin zuckte nur mit den Schul-tern. Tristan war sich sicher, dass auch sie unter dem Feuerund dem Rauch gelitten hatte, doch wenn dem so war, zeigtesie es nicht.

Kerzengerade und mit wachem Blick stand sie neben ihmund suchte die Gassen ab. »Noch ist es nicht vorbei. Mindes-tens einer der Skorpione ist noch am Leben.«

»Ihr meint, es gibt noch mehr von diesen Attentätern?«

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Shachin nickte und deutete mit dem ausgestreckten Armin eine Gasse hinein. »Dort kommt er!«, zischte sie mit zu-sammengekniffenen Augen und machte sich bereit.

Tristan fuhr herum. Seine Hand ging sofort an das Heftseines Schwertes, doch Shachin war schneller. Wesentlichschneller. Ihr Dolch lag schon wieder leicht hin- und herwie-gend in ihrer Hand.

Er ist es, stellte sie nüchtern fest und spannte ihre Muskeln.Würden sie hier ihren Kampf von letzter Nacht fortsetzen?Shachin bekam Zweifel. Sie war immerhin nicht allein unddem Meister musste klar sein, dass der Leutnant sich nichtauf seine Seite schlagen würde. Du hast Schwierigkeiten. Einschadenfrohes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Hinter demMeister kamen zwei Gestalten angerannt. Ein leicht bekleide-ter Mann ohne Schuhe und ein Hüne mit einem großenZweihänder auf dem Rücken. Diese Nacht war wirklich vol-ler Überraschungen. Es reichte wohl nicht, dass es ausgerech-net der Leutnant von der Kapelle gewesen war, dem sie dasLeben gerettet hatte. Nun musste auch noch der Riese vomMarktplatz wie aus dem Nichts auftauchen.

Der Meister schlug plötzlich einen Haken und sprang ineine Nebengasse. Shachin reagierte sofort und rannte los. Erhatte sie wohl erkannt und die Situation richtig eingeschätzt.Flucht war für ihn jetzt die letzte Möglichkeit, noch heil ausder Sache herauszukommen. Shachin wollte das unbedingtverhindern. Wenn es eine Chance gab, ihn zu töten, dannjetzt, und töten musste sie ihn, wollte sie ihre Flucht vor denSkorpionen jemals wirklich beenden. Shachin rannte parallelzu der Gasse entlang, in der sie ihn vermutete. Plötzlich hörtesie Hufschlag von rechts. Jemand kam zu Pferd die große

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Gasse hoch. Sofort beschleunigte sie ihren Schritt. Ein kurzerBlick über die Schulter sagte ihr, dass ihr der Leutnant nichtfolgte. Das Leben seines Mannes war ihm scheinbar wichti-ger als der Tod des Meisters. Wohlwollend nahm sie diesenCharakterzug zur Kenntnis. Selten, dass jemand seine Zielenicht über das Wohl anderer stellte. Das Hufgetrappel wurdelauter. Im nächsten Moment passierte ein Trupp BerittenerShachins Gasse. Sie ritten im gestreckten Galopp und hattenes augenscheinlich sehr eilig. Ein Aufschrei ertönte plötzlichund nun wusste Shachin, dass auch sie den Meister jagten.Sie konnte nicht sagen warum, doch hatte sie auf einmal dasunbestimmte Gefühl, dass ihre Jagd erfolglos bleiben würde.

Endlich bog sie um die Häuserecke. Ein heilloses Durch-einander herrschte dort. Pferde wieherten und stiegen auf dieHinterläufe. Manche hatten ihre Reiter abgeworfen. Stöhnendlagen diese auf dem Straßenpflaster. Der leicht bekleideteVerfolger erreichte einen Moment später den Platz und hieltinne. Sein Brustkorb hob und senkte sich in rascher Folge.Von dem Hünen war nichts zu sehen und der Meister warverschwunden. Wahrscheinlich hatte er die Ankunft der Pfer-de ausgenutzt, sie zum Scheuen gebracht und war dann imallgemeinen Durcheinander entwischt.

Enttäuscht und erleichtert zugleich trat Shachin in ihreGasse zurück. Sie drehte sich um und machte sich auf denRückweg zum Lagerhaus. Langsam begannen die ersten Son-nenstrahlen die zwielichtigen Schluchten der engen GassenLeuenburgs zu fluten. Der Tag hatte begonnen und trieb dieSchrecken der vergangenen Nacht vor sich her. Das Lager-haus stand mittlerweile komplett in Flammen. Der Leutnantkniete neben seinem verwundeten Gefolgsmann und sprachmit ihm. Scheinbar war der Skorpion nicht dazu gekommen,seine Arbeit zu vollenden und so wie es aussah, würde sein

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Opfer die Verwundung überleben. Der Leutnant erhob sichund kam auf Shachin zu. Für einen kurzen Moment überlegtesie, ob sie nicht doch besser verschwinden sollte, entschiedsich dann aber anders. Sie hatte keine Ahnung, ob man ihraus dem Toten hinter dem Goldenen Erker noch einen Strickdrehen würde, doch nach der heutigen Nacht sah es ehrlichgesagt nicht danach aus.

»Und noch einmal: Habt Dank für Eure Hilfe. Mein Nameist Tristan, Leutnant der Stadtwache«, stellte sich Tristan vorund senkte dabei leicht den Kopf.

»Dankt mir nicht. Es war nur Zufall, Leutnant. Ich kamEuch nicht gewollt zur Hilfe.« Shachin schüttelte kurz ange-bunden den Kopf. Sie hatte kein Interesse an einer langenUnterhaltung. Außerdem wollte sie ehrlich mit ihm sein.

Tristan legte den Kopf leicht schief, nickte dann aber.»Ich danke Euch trotzdem, auch wenn Ihr damit nicht viel an-zufangen wisst.«

Shachin war reserviert und Tristan akzeptierte ihre Hal-tung. Die Attentäter und Shachin waren sich ähnlich, viel-leicht sogar von derselben Art. Es konnte gut sein, dass ihrdas unangenehm war.

»Wenn ich richtig gezählt habe, gehen drei dieser Verbre-cher auf Euer Konto.« Tristan suchte den Blick von Shachin.

Du bist klug, Tristan, erkannte Shachin neidlos an. Siewusste genau, worauf er hinauswollte. Wenn sie jetzt nichtaufpasste, konnte aus einer einfachen Antwort ein ungewoll-tes Geständnis werden. Shachin sah Tristan an. Vielleicht lagin der Frage des Leutnants aber auch etwas ganz anderes.Vielleicht war es ein Angebot, die Sache auf sich beruhen zulassen. Shachin entschied sich für Letzteres. »Dann zählt ihr

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besser als ihr kämpft.« Es klang wie eine Feststellung, nichtwie eine Beleidigung. Tristan nickte verstehend, und Shachinkonnte weder einen Vorwurf, noch eine Anschuldigung inseinem Blick erkennen. »Solange mich beides ans Ziel bringt,gibt es keinen Bedarf daran, etwas zu ändern.«

Shachin überlegte kurz, zuckte dann jedoch nur mit denSchultern und ließ es darauf bewenden. Sie machte ihm kei-nen Vorwurf. Er war ein Offizier der Stadtwache und weni-ger mit Kämpfen denn mit Verwalten beschäftigt.

Inzwischen hatte sie der Hüne mit dem Zweihänder aufdem Rücken erreicht. Auch sein Atem ging schnell und dasGesicht war rot angelaufen. Schweißperlen standen auf seinerStirn.

»Ich wusste doch, dass Ihr Eure Finger im Spiel habt, Be-renghor«, sagte Tristan schmunzelnd und deutete auf Sha-chin. »Schulterlanges, kastanienbraunes Haar!«

Berenghor grinste. Gleich würde wieder eine Spitze kom-men.

»Und was ist mit der guten Figur?«, schnaufte er. Schonwar sie raus. Pfeilschnell und für jemanden, der den Söldnernicht kannte, vollkommen unerwartet. Shachin musterte denHünen. Natürlich ging es um sie, und nach dem Auftritt desRiesen auf dem Wochenmarkt hatte sie auch nichts andereserwartet.

»Gestern Nachmittag konntest du deine Augen jedenfallsnicht von mir lassen«, stellte sie nüchtern fest. Erst jetzt er-kannte Berenghor Shachin. Sie war das schreckhafte Mäd-chen vom Markt. Noch ehe er etwas sagen konnte, fuhr siefort:

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»Ich dachte mir schon, dass es ein Fehler sein würde, denunwiderstehlichen Impuls, dich mit meinem Dolch bekanntzu machen, zu unterdrücken.« Shachin tat vollkommen unbe-teiligt, doch der Dolch, der schon wieder wie von selbst in ih-rer Hand lag, sprach eine ganz andere Sprache.

»Willst mich mit dem Zahnstocher kitzeln?« belustigtgriff der Söldner nach seinem Zweihänder. Shachin machteeinen Schritt zurück und Tristan ging dazwischen.

»Zwei Tote in einer Nacht reichen!« Beschwichtigendhob er die Hände und sah abwechselnd zu Shachin und Be-renghor. »Der tote Skorpion in der Dunklen Gasse und derBewusstlose im Goldenen Erker interessieren mich nicht undich würde es gerne dabei belassen.« Er sprach bewusst diesebeiden Vorfälle an. Eigentlich mochte er Druckmittel dieserArt nicht, doch vielleicht konnte er damit einen Streit bereitsim Keim ersticken. Er hatte Erfolg.

Berenghor verzog nur seinen Mund, nahm aber die Handvom Griff des Zweihänders. Shachin wartete noch einen Mo-ment und ließ dann ebenfalls ihren Dolch unter dem Capeverschwinden. Das war geregelt, für den Augenblick zumin-dest. Kurze Zeit später erschien Hauptmann Taris, jetzt aufseinem Pferd und mit Stiefeln versehen. Tristan berichteteihm in kurzen Worten, was geschehen war und auch Bereng-hor gab seine Sicht der Dinge zum Besten, ließ dabei jedochdie kleine Keilerei im Goldenen Erker gekonnt unter denTisch fallen. Als die Sprache auf Shachin kam, musste Tris-tan feststellen, dass die in schwarz gekleidete Kriegerin ir-gendwann still und heimlich verschwunden war. Gerne hätteer sie Hauptmann Taris vorgestellt, doch so musste er sichdamit begnügen, dem Hauptmann zu erzählen, dass seinÜberleben und das des Verwundeten nur ihrem Eingreifen zuverdanken war. Als sich der Hauptmann von der Situation

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schließlich ein Bild gemacht hatte und die Zufälle und Ver-strickungen im Bezug auf Berenghor und Shachin erkannte,war er sichtlich überrascht. Deutlich beeindruckt hingegenzeigte er sich vor allem von Shachins Rettungstat im Lager-haus. Kurze Zeit später brach er dann mit seinen Männernund dem Verwundeten zur Garnison auf. Er wollte sich um-gehend und persönlich an die Verfolgung des Meisters ma-chen. Tristan hingegen erhielt den Befehl, sich um das nochimmer in Flammen stehende Lagerhaus zu kümmern und an-schließend die Leichen der toten Attentäter zu bergen. Die fürheute angesetzte Anwerbung für die Reise in den Nordenwurde, sehr zu Tristans Missfallen, auf den morgigen Tagverschoben, und als er sich mit gemischten Gefühlen schließ-lich an die Arbeit machen wollte, fehlte von Berenghor plötz-lich jede Spur.

Von den weiteren vier toten Wachen erfuhr Tristan erst,als er am Abend müde und ausgelaugt in die Garnison zu-rückkehrte. Traurig nahm er Abschied von den Gefallenen.Jeden von ihnen hatte er selbst gekannt und der Verlustschmerzte ihn sehr. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dassihr Tod nicht umsonst gewesen war und der Verteidigung derGarnison und des Herzogs gedient hatte. Ein fahler Beige-schmack blieb aber trotzdem. Als die Sonne hinter den Tür-men der Stadtmauer langsam unterging, begann es wieder zuregnen. Tief hängende Wolken legten sich über die Herzog-stadt und es sah so aus, als würde es die nächsten Tage sobleiben. Tristan gefiel diese Entwicklung gar nicht. Er hattesich für den Auftakt der Reise in vier Tagen anderes Wettergewünscht. Sonnig und trocken sollte es sein und nicht regne-risch und nass. Die Leue führte zu dieser Jahreszeit sowiesoschon viel Wasser und der Regen würde die Sache nicht bes-ser machen.

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Tristan war müde und dennoch zwang er sich, die durch dieErmittlungen verlorene Zeit wieder reinzuholen. Ausgelaugtund erschöpft hatte er damit begonnen, die erste Route bis zurGrenze der Leuenburger Au zu planen. Die Leue floss in ei-nem großen Bogen über viele Meilen nach Osten und bogdann Richtung Süden in das Herz des Reiches ab. Der Land-strich war gut kartographisiert, und mehr als einmal studierteTristan das Kartenmaterial eingehend. Um ins Wilderland zukommen, mussten sie zunächst die Leue überqueren. Dafürgab es genau zwei geeignete Stellen. Eine Furt, etwas weiterim Südwesten, und eine Brücke, fast genau am nördlichenEnde des Bogens. Die Furt war nur bei gutem Wetter zu pas-sieren, die Brücke hingegen sollte immer frei begehbar sein.Tristan wusste, dass er sich entscheiden musste. Entwederwürden sie warten, bis der Regen nachgelassen und die Furtpassierbar war, oder sie hielten ihren Termin, waren dannaber gezwungen, den längeren Weg zur Brücke in Kauf zunehmen. Und es gab noch weitere Fragen, die beantwortetwerden mussten. Die Spur des Meisters verlor sich an derStadtgrenze von Leuenburg und niemand konnte sagen, obnoch immer Gefahr von den schwarzen Skorpionen ausging.Für alle Fälle hatte sich Tristan eine Möglichkeit überlegt, dieStadt getarnt und unauffällig zu verlassen. Ochsen sollten da-bei den Wagen einige Wegstunden in den Süden ziehen unddort von den eigentlich dafür vorgesehenen Pferden abgelöstwerden. Eine Plane würde dabei die ungewöhnliche Form desWagens samt Mantikor verbergen, und die Reisegruppe zuunterschiedlichen Zeiten die Stadt verlassen. Ob diese Maß-nahmen wirklich notwendig waren, wusste er nicht. Derzeitgenügte es ihm, sie in der Hinterhand zu wissen.

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Fragen hatte er viele, doch fehlten ihm die Antworten. Ernahm sich fest vor, diese Themen morgen mit HauptmannTaris zu besprechen. Für heute war genug gekämpft, sei esmit der Klinge oder der Feder. Die süße Stimme des Schlafessprach immer verlockender zu ihm und nach einem letzten,abschließenden Blick in den Zeughof ließ er sich schlussend-lich auch auf sein Lager sinken. Ruhe kehrte in der Garnisonvon Leuenburg ein, und auf ihren Schwingen trug sie die See-len jener Tapferen zu den ewigen Vorvätern, deren Körpermorgen den Flammen übergeben werden sollten.

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Skorpion

on seinem Versteck aus hatte er einen hervorragenden

Blick über Leuenburg. Die Stadtwachen suchten ihnseit mehreren Tagen erfolglos, und das sollte auch so bleiben,dafür würde er sorgen. Er konnte ihre berittenen Trupps se-hen und wusste, wann er sich wo aufzuhalten hatte. Ihnen ausdem Weg zu gehen, war ein Leichtes, und manch eine Pa-trouille wäre wohl nicht mehr zurückgekehrt, hätte er sichnicht vorgenommen, unentdeckt zu bleiben. Der Auftrag warerledigt, wenn auch zu einem höheren Preis als zunächst an-genommen. Leuenburg würde von nun an unruhig sein unddie Angst den Offiziellen im Nacken sitzen. Bisher meintensie, die Gefahren zu kennen, denen ein Herzogtum im Reichausgesetzt war, doch nun mussten sie mit etwas umgehen, dassie nicht kannten. Unsicherheit hing wie eine unheilvolleGlocke über der Stadt, Asaya konnte sie förmlich riechen. Erwar zufrieden mit seinem Werk und bis auf einen kleinenWehmutstropfen blieb Nichts, was seine Stimmung trübenkonnte. Zwar hätte er zu gerne noch diesem Eulenweib dieKehle durchgeschnitten, was ihm ja beinahe auch gelungenwäre, aber man konnte eben nicht alles haben. Außerdem wardas, was jetzt kam, gewaltig. Zu gewaltig, als dass er sich

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noch über derlei Nichtigkeiten aufregen wollte. Die zweiteStufe des großen Planes war eingeleitet und jetzt musste erdie ihm zugedachte Aufgabe erfüllen. Das Paket würde sichbald auf den Weg machen, und er musste dafür sorgen, dasses Leuenburg sicher und unbeschadet erreichte. Für denBruchteil einer Sekunde lief es selbst ihm kalt über denRücken, als er daran dachte, was die alte Herzogstadt nochvor sich hatte, doch dann huschte ein siegessicheres, kaltesLächeln über sein Gesicht. Im nächsten Moment stand erlautlos auf und verschmolz sofort, einem Schatten gleich, mitdem Dunkel und dem Zwielicht zwischen den Bäumen.

E N D E

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Ausblick

chreie in der Dämmerung und überall Feuer. Feuer undRauch. Liam hielt seine Familie fest an sich gedrückt.

Seine Frau sah sich immer wieder verwirrt und zutiefst ver-ängstigt nach allen Seiten um, und Nalia, seine Tochter, ver-grub ihr Gesicht tief in seinem Wams. Er wusste nicht, wasgeschehen war, doch sah er deutlich die Hütten im Westendes Dorfes brennen. Schatten bewegten sich dazwischen,huschten von einem flackernden Feuerschein zum anderen.Rufe hallten durch das graue Zwielicht, das dem Beginn desTages voranging, und Waffengeklirr drang die kleine Anhöhezur Mitte des Dorfes herauf. Noch ließ das Inferno auf sichwarten, doch schon bald würde es auch ihre Hütte erreichen,da war sich Liam sicher. Menschen rannten an ihnen vorbei,in Panik, in Angst und Schrecken versetzt. Manche warenblutverschmiert, mit leeren Blicken und die Gesichterschmerzverzerrt. Liam war wie versteinert, paralysiert, undetwas zwang ihn dazu, sich Alles mit anzusehen. Er wollteweglaufen, seine Familie mit sich reißen und einfach wegren-nen, doch er konnte es nicht. Noch nicht. Er musste wissen,was hier passierte. Plötzlich trat jemand an seine Seite undpackte ihn an der Schulter.

S

Ausschnitt aus: 2. Episode – Dämmerung

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Bereits erschienen

1. Episode - Dunkle Gassen (Wilderland)

2. Episode – Dämmerung (Leuenburg)

3. Episode - Ferner Donner (Wilderland)

4. Episode - Grüfte und Katakomben (Leuenburg)