die körperlose und der molg

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Nr. 433

Die Körperlose und derMolg

Leenias Mission im Univesum derKörperlichen

von Horst Hoffmann

Nachdem Atlantis-Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, in der Peripherie der Schwarzen Galaxis zum Stillstand gekommen ist, hat Atlan die Flucht nach vorn ergriffen.

Nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zu­kommen werden, fliegt er zusammen mit Thalia, der Odinstochter, die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an und erreicht das sogenannte Marantroner-Revier, das von Chirmor Flog, einem Neffen des Dunklen Oheims, beherrscht wird.

Dort, von Planet zu Planet eilend und die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis ausspähend, haben Atlan und seine Gefährtin schon so manche tödliche Gefahr ge­meinsam bestanden – bis der Planet Dykoor zu Thalias Grab wurde.

Während auch nach Thalias Tod für den Arkoniden die kosmische Odyssee weiter­geht, wobei Atlans Situation immer verzweifelter wird, wenden wir uns jenem seltsa­men Wesen zu, das im Auftrag der Höheren Welten seine Mission im Kosmos der Körperlichen zu erfüllen sucht.

Wir meinen Leenia, die auf der Suche nach Atlans verschwundenem Extrasinn ist. Dabei kommt es zu der Episode: DIE KÖRPERLOSE UND DER MOLG …

3 Die Körperlose und der Molg

Die Hautpersonen des Romans:Leenia - Abgesandte der Höheren Welten.Der Molg - Ein Wesen, das ein Bewußtsein erhält.Kirso Bal Taur - Ein besessener Gralle.Minko Bal Poohl - Würdenträger der Grallen.Zenbronker - Kommandant von Olmerstolm.

Prolog

Cändero-Spell stand in seiner ganzen, furchtbaren Pracht auf den Schirmen der Schiffszentrale. Die NAUSIEN hatte sich dem Planetenriesen inzwischen bis zur Bahn des inneren Mondes genähert. Ununterbro­chen verließen Funksprüche die Antennen des Organschiffs.

Irgendwo dort unten, dachte Cesterton-Ky­rl, der Kommandant der zwanzig Noots, die schweigend an ihren Plätzen saßen und zu­sammen mit der Galionsfigur die Landung vorbereiteten. Irgendwo unter den leuchten-den Wolkenbändern mußten sie liegen, dort, wo das Leuchten etwas schwächer war und der einzige Kontinent des Riesen lag – eine Insel im endlosen Ozean aus flüssigem Am­moniak und Wasserstoff. Sie antworteten nicht. Cesterton-Kyrl hatte auch keine Ant­wort erwartet. Zuviel Zeit war vergangen, seitdem die drei Schiffe den Notruf gesendet hatten. Cesterton-Kyrl maßte sich nicht an, Kritik an Chirmor Flog zu üben. Wenn der Neffe so lange gezögert hatte, ein Schiff hierher, zur Grenze des Marantroner-Reviers zu schicken, mußte er stichhaltige Gründe dafür gehabt haben. Auch über den Auftrag, der die drei Schiffe hierhergeführt hatte, machte er sich keine Gedanken. Sein Auf­trag bestand darin, herauszufinden, was mit ihnen geschehen war, und zu bergen, was er noch von ihnen finden konnte.

»Die Turbulenzen in der Atmosphäre sind zu stark«, meldete die Galionsfigur. »Wir werden bei dem Versuch, auf dem Kontinent zu landen, zermahlen werden.«

Cesterton-Kyrl riß sich vom Anblick des Planeten los. Ein Blick auf die Monitore, auf denen die Ergebnisse der Ortungen zu lesen

waren, rundete das Bild ab. Im Innern des Giganten liefen unvorstellbare Fusionspro­zesse ab. Eines Tages würde Cändero-Spell die zweite Sonne dieses Systems sein.

»Wir haben den Befehl erhalten, zu lan­den und nach den Überresten der verscholle­nen Organschiffe zu suchen«, sagte der Kommandant hart. »Wir werden diesen Be­fehl ausführen.« Und falls es nötig sein soll­te, unser Leben geben, fügte er in Gedanken hinzu. Auch Cesterton-Kyrl hatte Angst, doch er bekämpfte sie mit dem Gedanken, daß er sein Leben für Chirmor Flog gab.

Er selbst übernahm die Steuerung der NAUSIEN. Die Galionsfigur lieferte die be­nötigten Daten, suchte die sich schnell öff­nenden und nur für begrenzte Zeit stabil bleibenden Schneisen in den tobenden Luft­massen und gab unaufhörlich Korrekturim­pulse.

Die NAUSIEN tauchte in das Meer aus roten, braunen und grauen Schleiern hinab. Sie hatte keine Chance.

Cesterton-Kyrl überließ die Steuerung der Galionsfigur allein, als er einsehen mußte, daß er mit seinen Reaktionen viel zu lang­sam war. Die Monitore zeigten an, wie der Außendruck schnell stieg. Die NAUSIEN war für solche Verhältnisse gerüstet. Sie würde nicht zerquetscht werden, wie die Ga­lionsfigur befürchtete, aber einen Aufprall auf dem Kontinent konnte auch sie nicht überstehen.

Die Noots machten sich für den Notfall bereit. Sie alle trugen Druckanzüge, die ih­nen für begrenzte Zeit das Leben auf Cände­ro-Spell ermöglichen würden. Schon jetzt, als das Schiff wie ein Blatt im Wind hin und her geworfen wurde, stand fest, daß es kein Entkommen aus der Gravitationshölle des Planetenriesen mehr gab. Doch Cesterton-Ky­

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rl dachte wie eine Maschine. Alles drehte sich nun nur noch darum, die Landung zu überleben und herauszufinden, was aus den Verschollenen geworden war.

Chirmor Flog mußte es wissen. Cesterton-Ky­rl würde keinen Notruf senden, bevor er nicht die vom Neffen geforderten Informa­tionen geben konnte.

*

Seit dem Absturz waren gut vier Wochen vergangen. Cesterton-Kyrl stand vor dem, was von der NAUSIEN übriggeblieben war – das metallene Skelett. Nun hatte sich auch der letzte Rest der organischen Hülle aufge­löst. Er war von der giftigen Atmosphäre zersetzt worden und in den Boden einge­drungen.

Cesterton-Kyrl war der einzige Überle­bende der NAUSIEN. Er allein hatte sich vor dem katastrophalen Absturz aus einer Schleuse werfen und im Schutz seines flug­fähigen Druckanzugs sicher landen können.

Cesterton-Kyrl packte das Funkgerät, das er um die Schulter trug, und betrachtete es lange. Sollte er jetzt den Notruf senden?

Das Gerät war stark genug, um das in ei­ner Umlaufbahn um Cändero-Spell zurück­gelassene Relais zu erreichen, von wo aus der Spruch weitergeleitet werden würde.

Er schüttelte stumm den Kopf. Es war noch zu früh. Er wollte die Suche fortsetzen.

Er wollte suchen, wo es für ihn nichts mehr zu finden gab. Die drei verschollenen Schiffe. Er hatte vor dem gestanden, was von ihnen geblieben war – das metallene Skelett. Zwischen schwammähnlichen Ge­bilden, die nur an diesen Stellen wuchsen, lagen verstreut die Leichen von Raumfah­rern. Ihre Druckanzüge hatten sie vor der Auflösung bewahrt. Cesterton-Kyrl hatte einen von ihnen geöffnet, mit dem Ergebnis, daß sich der Leichnam seines Trägers wie die organische Materie der Schiffe innerhalb weniger Tage aufgelöst hatte.

Cesterton-Kyrl spürte, daß es hier ein Ge­heimnis gab. Es war zum Greifen nahe, und

Horst Hoffmann

Chirmor Flog mußte es erfahren. Es zu er­gründen, solange er noch die Kraft dazu hat­te, war zu Cesterton-Kyrls Lebenssinn ge­worden.

Sein Atemluftvorrat und die Nahrungs­konzentrate reichten noch für knapp drei Monate. Eine lange Zeit, und doch nicht lan­ge genug, falls in diesen drei Monaten nicht das geschah, womit der Noot insgeheim rechnete. Immer wieder, wenn er vor den Schwämmen stand, zwang er sich dazu, sei­ne wilden Spekulationen zurückzudrängen.

Doch sie trieben ihn rastlos über das dunkle, ewig von gelblichen Nebeln verhan­gene Land. Seine Wanderungen dauerten oft Tage, doch nirgendwo fand er das, was ihm die erlösende Gewißheit gebracht hätte, daß er sich irrte.

Nur dort, wo die Organschiffe abgestürzt waren, wuchsen die Schwämme. Nur an die­sen Stellen konnten sie existieren, denn nir­gendwoanders bot der Boden die Vorausset­zungen dafür. Nur hier war er mit organi­schen Substanzen angereichert.

Längst hatte Cesterton-Kyrl festgestellt, daß sie das gleiche Grundmuster wie die or­ganische Hülle der Schiffe besaßen. Eigent­lich war kein Zweifel möglich, doch das, was im Bewußtsein des Noots noch fähig war, zu fühlen, Angst und Schrecken zu empfinden, sträubte sich gegen die grauen­hafte Erkenntnis. Cesterton-Kyrl verbrachte die letzten Tage seines Lebens an der Ab­sturzstelle der NAUSIEN. Er hockte stupide vor sich hin starrend auf dem Metallgerüst und wartete darauf, daß die ersten Schwäm­me aus dem Boden kamen. Dann kam der Augenblick, auf den der Noot gewartet hat­te. Schon wurde die Atemluft knapp. Der Tod griff nach ihm. Die ersten der schwam­mähnlichen Gebilde begannen zu seinen Fü­ßen aus dem Boden zu wachsen. Dies war der Beweis, den Cesterton-Kyrl noch ge­braucht hatte.

Als er den Druckanzug öffnete und starb, lag er mitten unter dem Gerüst der NAUSI­EN, zwischen Dutzenden von kopfgroßen Gebilden. Cesterton-Kyrl starb mit der Hoff­

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nung, daß irgend etwas von ihm weiterleben würde – wenn auch auf völlig andere Weise als bisher. Chirmor Flog und der Funk­spruch waren vergessen – vergessen wie al­les, das vergänglich war.

Nach wenigen Tagen deutete nichts mehr darauf hin, daß in dem offenen Druckanzug unter dem Metallgerüst einmal ein Körper gesteckt hatte. Die Gifte in der Planetenat­mosphäre hatten ihn ebenso zersetzt wie die NAUSIEN und die anderen drei Schiffe.

Nichts? Jahrhunderte vergingen. Der Planet brach­

te eigenes Leben hervor. Sporen, Mikroor­ganismen, die die Raumfahrer in den abge­stürzten Schiffen mitgebracht hatten, mutier­ten unter dem Einfluß des Giganten. Das Le­ben nahm monströse Formen an.

Die stählernen Gerippe der Organschiffe waren längst verschwunden, als Cändero-Spell zum zweitenmal Besuch aus dem Weltraum erhielt. Die Schwämme existier­ten nach wie vor. Sie wuchsen aus der glei­chen Substanz, die überall dort den Plane­tenboden wie ein Pilzgeflecht durchzog, wo ein Organschiff abgestürzt war.

Und manchmal war es, als flüsterte der Wind, der über sie hinwegstrich, einen Na­men.

1.

Leenia materialisierte mitten in der Hölle von Cändero-Spell. Sie stand zwischen eini­gen steil in die farbigen Nebel aufragenden Felsspitzen. Dicke gelbe Regentropfen klatschten auf ihr Haar und die Schultern. In den oberen Schichten der Atmosphäre tob­ten furchtbare Orkane. Rein äußerlich unter­schied sie sich nicht von der jungen Frau, die einst die Wälder Pthors durchstreift und darauf gewartet hatte, daß der Ruf der Höhe­ren Welten an sie erging. Die nassen Haare hingen bis weit über die Schultern herab und schimmerten tief kupferfarben. Leenia trug den roten Anzug, der sie mit der Ebene der Körperlosen verband. Sie wirkte zerbrech­lich, doch ihr Körper war den Schwerkraft­

verhältnissen des Riesenplaneten optimal angepaßt. Sie atmete die Atmosphäre, die für jeden Menschen absolut tödlich gewesen wäre. Sie war in der Lage, für unbegrenzte Zeit auf Cändero-Spell zu überleben, was die mörderischen Umweltverhältnisse an­ging.

Anders verhielt es sich, was das Leben anbetraf, das sich hier entwickelt hatte und über das selbst die Gemeinschaft der Kör­perlosen nicht mehr wußte, als daß es sich aus der organischen Substanz entwickelt hatte, die mit den abgestürzten Organschif­fen nach Cändero-Spell gelangt war. Die Molgs bereiteten ihr dabei keine allzu großen Sorgen. Sie war hier, um einen Molg zu finden. So lautete ihr Auftrag. Vom Er­folg ihrer Suche hing es ab, ob sie eine zwei­te Chance bekommen würde, den aufgefan­genen Extrasinn seinem rechtmäßigen Trä­ger zurückzugeben.

Aber sie würde gegen die Geschöpfe der Hölle zu kämpfen haben, um einen Molg zu bekommen – den neutralen Bewußtseinsträ­ger für Atlans Extrasinn. Langsam setzte Leenia sich in Bewegung. Von dem wenigen abgesehen, was ihr die Gemeinschaft an In­formationen mit auf den Weg gegeben hatte, wußte sie nichts über den Riesenplaneten. Sie war blind materialisiert. Irgendwo vor ihr lagen die MolgBeete, vielleicht hundert Meter, vielleicht hundert Kilometer entfernt.

Wommser? Ein Impuls innerhalb des Kör­pers. Der Mentalpartner strahlte Ruhe aus.

Mach dir keine Sorgen, Leenia. Konzen­triere dich nur auf den Weg. Wir sind zu fest zusammengefügt, als daß die Gemeinschaft uns trennen könnte.

Leenia antwortete nicht. Sie war davon überzeugt, daß die Körperlosen ein zweites Ziel verfolgten. Wommser war ihnen ein Dorn im Auge geworden. Ihn machten sie dafür verantwortlich, daß sie immer häufiger die Entscheidungen der Gemeinschaft kriti­sierte und immer mehr dazu neigte, auf eige­ne Faust zu handeln. Um ihn von Leenia zu trennen, waren sie sogar bereit gewesen, sie der Gefahr auszusetzen, daß sie diesen Auf­

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trag nicht überlebte. Genau dies war Leenias Überzeugung.

Von plötzlichem Zorn gepackt, bündelte Leenia die in ihr aufgestauten Energien und gab sie auf einen Schlag ab. Violette Strah­len fuhren aus ihren Augen und fraßen sich in den Nebel. Die Nebelschleier rissen auf, und Leenia gewann einen ersten Eindruck dessen, was auf Cändero-Spell auf sie lauer­te.

Drei smaragdgrün schimmernde Kugeln schossen auf sie zu, jede von ihnen größer als sie selbst. Sie reagierte instinktiv und zerstrahlte zwei der Angreifer. Als sie sich auf den dritten konzentrieren wollte, waren ihre Energien erschöpft. Sie riß die Arme hoch und legte sie schützend über ihr Ge­sicht, als sie sah, wie die Kugel sich schnell auf sie herabsenkte und dabei mehrere fin­gerdicke Tentakel bildete. Sie schossen auf Leenia zu und schlangen sich um ihren Kör­per.

Panik überkam die Körperlose. Sie ver­suchte, die Tentakel zu packen und von sich zu reißen, doch es wurden immer mehr. Eine weitere Kugel schwebte heran. Leenia verlor den Boden unter den Füßen. Die Kugeln ris­sen sie mit vehementer Gewalt in die Höhe.

Du mußt ruhig sein! kam es vom Mental­partner. Wehre dich nicht, sondern versuche, neue Energien aufzubauen!

Leenia nahm Wommsers Impulse kaum wahr. Sie wurde immer höher gerissen.

Wir müssen … entmaterialisieren! Wenn wir unsere Energien vereinen …

Wir sind zu schwach. Du hast dich ver­ausgabt. Warte ab!

In die Panik mischte sich unbändiger Zorn. Leenia erschrak über sich selbst. Schlagartig kam ihr zum Bewußtsein, wie schnell und wie sehr sie sich hatte gehenlas­sen.

Wommsers Impulse wurden stärker. Lee­nia begriff und überließ dem Partner die Kontrolle über sich. Sie kapselte sich völlig ab.

Wie hoch mochte sie sein? Waren die Ku­geln in der Lage, die höheren Schichten der

Horst Hoffmann

Atmosphäre zu erreichen? Wo lebten sie? Wohin brachten sie sie?

Dann endlich – Leenia hatte jeden Sinn für oben und unten verloren – sah sie das Nest.

Es war eine riesige, frei in der Atmosphä­re schwebende Schale, die ganz aus weißem Schaum zu bestehen schien. Die Kugeln lockerten ihren Griff um Leenia, als sie mit ihr genau darüber schwebten. Sie ließen sie einfach fallen. Sie versank zur Hälfte ihres Körpers in der weichen Substanz, die sich sofort über ihr zu schließen begann.

Wieder griff die Panik nach ihr. Leenia wollte den Schaum, der jetzt fest an ihrem Körper klebte, mit den Händen auseinander­reißen, aber sie konnte sich nicht bewegen, während die Substanz sich immer enger um sie legte. Ein einziger stummer Hilfeschrei erfüllte ihr Bewußtsein. Sie schrie nach Wommser, wußte, daß er für die Lähmung verantwortlich war. Sie versuchte, Energien aufzubauen und zu bündeln, doch auch jetzt blieb der Erfolg aus. Und obwohl sie den Tod durch Ersticken vor Augen hatte, sträubte sich alles in ihr dagegen, die Ge­meinschaft um Hilfe zu bitten.

Wommser mußte alle Willenskraft auf­bringen, um den Schrei zu ignorieren. Er mußte durchhalten, durfte nicht daran den­ken, daß das, was er nun tun mußte, fehl­schlagen konnte.

Als Leenias Körperfunktionen fast erlo­schen waren, löschte Wommser sich aus.

Das Wesen, das aus zwei vereinten Be­wußtseinen bestand und dessen Körper nur eine Projektion war – wenn auch eine so vollkommene Projektion, daß er von At­mung und Nahrungsaufnahme abhängig war – verlor das Bewußtsein.

Das Schaumnest implodierte, als die Beu­te der Kugeln sich in nichts auflöste.

2.

Auf dem Planeten der Grallen war Ruhe eingekehrt, nachdem der unheimliche Geg­ner besiegt worden war, der die Kanäle und

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Zisternen verwüstet hatte. Es war den Gral­len ein Rätsel, wohin das Wesen mit den strahlenden Augen verschwunden war. Doch es war nicht zurückgekehrt, und so dachte niemand mehr daran. Die friedlichen Herren des Planeten Bordinfeel, Wasserbewohner mit ovalen Körpern, an denen sechs Ärm­chen und zwei mit Schwimmflossen verse­hene Beine hingen, konzentrierten sich wie­der auf den Bau der Bannisteros, wie sie ihre Kanäle nannten. Der Würdenträger Minko Bal Poohl hockte in seiner siebten Zisterne und beobachtete mit Wohlwollen und Stolz, wie die jüngeren Grallen ihrer Arbeit nach­gingen.

Mit einer Ausnahme. Ausgerechnet Kirso Bal Taur, den Poohl

zu seinem Nachfolger auserkoren hatte, be­reitete ihm von Tag zu Tag größere Sorgen.

Taur war eine Ausnahmeerscheinung un­ter den Baumeistern. Die Geradlinigkeit, mit der er unter strengster Beachtung aller Re­geln seinen Bannistero bis zur zweiten Zi­sterne vorangetrieben hatte, war beispiellos. Von weither waren Grallen gekommen, um Taurs Werk zu begutachten.

Doch jetzt, auf dem Weg zur dritten Zi­sterne, schien Kirso Bal Taur von allen gu­ten Geistern verlassen worden zu sein. Plötzlich beschrieb sein Bannistero Kurven und verlief in Schlangenlinien mitten durch das Land. Er war an vielen Stellen viel zu schmal. Taur kümmerte sich offenbar über­haupt nicht mehr um die uralten Regeln, und der Tag war abzusehen, an dem er seinen Bannistero so nahe an die benachbarten Kanäle führte, daß deren Wände einstürzen und ihre Wasser in den seinen überfließen mußten.

Alles Zureden half nichts. Selbst Proteste tat Taur mit den Worten ab, daß er dabei sei, eine völlig neue Architektur zu entwickeln, die die »veralteten« Regeln endlich ablösen sollte.

Als Kirso Bal Taur dann tatsächlich Balo Bal Nooks Kanal erreichte und seinen eige­nen Bannistero quer durch den des Nachbarn führen wollte, erschienen Dutzende von auf­

gebrachten Grallen bei Minko Bal Poohl und rissen den Würdenträger aus dem Schlaf. Poohl reagierte ungehalten. Es war ein unge­schriebenes Gesetz, daß sich ein Gralle nur in außerordentlich wichtigen Angelegenhei­ten der siebten Zisterne nähern durfte. Und eine nächtliche Störung galt als Frevel.

»Der Geist sei mit dir, o Meister der Ge­radlinigkeit!« grüßten alle Grallen auf ein­mal.

Minko Bal Poohl zeigte sein Befremden dadurch, daß er eine tiefblaue Färbung an­nahm, und wartete ab, was die nächtlichen Besucher zu sagen hatten.

Als er hörte, was geschehen war, wußte er, daß er seine schützende Hand nicht län­ger über Taur halten konnte.

»Er ist vollkommen verrückt geworden«, ereiferte sich Nokko Bal Meng, nach Taur der talentierteste unter den Jungen. »Es war uns unmöglich, ihn zu dir zu bringen. Er …« Meng zögerte, das Ungeheuerliche auszu­sprechen. »Er kämpft mit Balo Bal Nook!«

Minko Bal Poohl verlor vor Schreck alle Farbe.

»Als Nook aus seiner Zisterne kam, um seinen Bannistero zu verteidigen, stürzte Taur sich auf ihn. Er behauptete, daß nur ein runder Bannistero vollkommen sein könne, und daß er deshalb seinen Bannistero durch alle angrenzenden treiben müsse, in einem Kreis! Seine achte Zisterne soll identisch mit der ersten sein.«

Das war ungeheuerlich! »Acht Zisternen?« Minko Bal Poohls

Sprechorgan zwischen dem oberen Armpaar war wie gelähmt. Nur schwer waren die Worte zu verstehen. »Du sagst, daß er acht Zisternen besitzen will?«

»So ist es, Meister der Geradlinigkeit.« Minko Bal Poohl kletterte mühsam an

Land. Acht Zisternen! Eine mehr, als Poohl selbst besaß, und es

gab, soweit die Kunde reichte, nur zwei an­dere Würdenträger, die es auf sieben Zister­nen gebracht hatten.

Für Minko Bal Poohl war jetzt klar, daß

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Taur den Verstand verloren hatte. Er mußte größenwahnsinnig geworden sein.

Poohl sah die Augen der Grallen auf sich gerichtet. Sie verlangten eine Entscheidung von ihm.

»Geht vor«, sagte der Würdenträger ernst. »Ich werde vor euch bei Taurs Bannistero sein. Sein Frevel muß bestraft werden, doch zuvor soll er gehört werden – in meiner Ge­genwart.«

»Du glaubst«, brachte Nokko Bal Meng hervor, »daß er es wagen wird … daß er die Frage stellen wird?«

»Wir werden sehen.« Der Würdenträger ließ sich ins Wasser

seines Kanals gleiten und schwamm davon. Laut durcheinanderredend machten die jün­geren Grallen sich wieder auf den Weg.

War es tatsächlich denkbar, daß der Wür­denträger die Frage akzeptieren würde, falls Taur sie stellte? Dieser furchtbare Gedanke beschäftigte sie, bis sie die Stätte der Ver­wüstung erreichten.

Jeder Gralle hatte das Recht dazu, die Al-ten Regeln in Frage zu stellen. Sobald er die Frage nach dem Sinn der Linie und damit nach der Höheren Vollkommenheit gestellt hatte, stand er unter dem Zwang, beweisen zu müssen, daß er die Höhere Vollkommen­heit gefunden hatte. Gelang ihm das nicht, wurde er schmählich verstoßen.

Doch er mußte die Gelegenheit erhalten, seine Behauptung zu beweisen. So verlang­ten es die Gesetze.

*

Minko Bal Poohl gab sich keinerlei Mü­he, seine Enttäuschung zu verbergen. Im Ge­genteil. Indem er Taur offen zeigte, wie sehr er sich in ihm getäuscht sah, hoffte er, etwas anderes verbergen zu können: seine ge­kränkte Eitelkeit.

Es hatte den Würdenträger tief getroffen, daß ein junger Gralle öffentlich davon ge­sprochen hatte, daß er eine Zisterne mehr bauen wollte als er.

Minko Bal Poohls Entscheidung war da-

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her längst gefallen. Er wartete nur noch dar­auf, daß Taur die Frage stellte. Nur indem er dem Verrückten die Gelegenheit gab, seine ketzerische Behauptung zu beweisen, konnte er ihn bloßstellen. Andernfalls würden sich die Grallen immer daran erinnern, daß je­mand eine achte Zisterne bauen wollte.

Minko Bal Poohl glaubte ebenso wenig daran wie die jungen Grallen. Erstens war es unmöglich, einen Bannistero mit mehr als vier Zisternen zu bauen, der nicht schnurge­rade war, und zweitens hätte er, der Wür­denträger, längst die achte Zisterne gebaut, falls dies einem Lebenden gegeben wäre.

»Er muß für das büßen, was er mir zuge­fügt hat!« ereiferte sich Balo Bal Nook im­mer wieder. »Ich verlange, daß er meinen Bannistero repariert.«

»So!« zirpte Taur wütend. »Es geht dir al­so um deinen lächerlichen Bannistero! Du kannst einfach nicht einsehen, daß du wie al­le anderen dem falschen Prinzip gefolgt bist. Außerdem bist du noch gar nicht reif für ein Weib!«

Nook wollte sich wieder auf ihn stürzen, doch der Würdenträger hielt ihn zurück. Tat­sächlich hatte der junge Gralle kurz vor der Vollendung der dritten Zisterne gestanden, was nach den Regeln besagte, daß er sich ei­ne Gralle zum Weib nehmen durfte.

»Kirso Bal Taur«, sagte der Würdenträger nun ernst. »Du behauptest, daß alle Grallen dem falschen Prinzip gefolgt seien, also auch ich? Daß all die Tausende, die unsere Welt mit geraden Kanälen durchzogen ha­ben, blind waren?«

»Es tut mir leid, Meister der Geradlinig­keit, aber so ist es. Nur der Kreis ist voll­kommen. In ihm sind Anfang und Ende ver­eint. Er ist die Höhere Vollkommenheit. Sieh dir Nooks Bannistero an.«

»Er ist verwüstet«, stellte der Würdenträ­ger fest.

»Und warum? Weil der Kreis der Linie überlegen ist! Ist etwa mein Bannistero zer­stört?«

Welche Logik! dachte Minko Bal Poohl zutiefst erschrocken. Nein, Kirso Bal Taur

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war längst nicht mehr Herr seiner Sinne. Schon sah Poohl eine total zerpflügte Land­schaft vor seinem geistigen Auge. Zunächst ein Kreis, dann zwei, Dutzende, Hunderte.

Das durfte niemals geschehen. Und nur durch Taurs Scheitern wurde gewährleistet, daß keine anderen jungen Grallen auf die Idee kamen, es doch zu versuchen.

»Du stellst also die Frage nach der Höhe­ren Vollkommenheit?«

»Ich stelle sie und werde sie beantwor­ten«, sagte Taur selbstbewußt.

Die Grallen am Rand des Bannisteros, die bisher wirr durcheinandergeredet hatten, schwiegen.

Kirso Bal Taur, der Wahnsinnige, hatte tatsächlich gewagt, die Geradlinigkeit in Frage zu stellen. Aller Aufmerksamkeit rich­tete sich nun auf den Würdenträger.

Minko Bal Poohl registrierte es mit ge­mischten Gefühlen. So sehr er sich nach die­sem Moment gesehnt hatte, so sehr er­schreckte ihn die Vorstellung einer zerstör­ten Landschaft, falls er Taur gewähren ließ, um ihn nach seinem Scheitern zu verstoßen. Es war der Sinn der Geradlinigkeit, den Pla­neten nicht zu zerstören. Kein Bannistero durfte einen anderen berühren oder schnei­den. Dies aber würde der Fall sein, wenn Taur in seinem Treiben fortfuhr.

Doch es mußte sein, ein warnendes Bei­spiel für die nächsten Generationen.

»Ich akzeptiere«, verkündete Minko Bal Poohl mit lauter Stimme. »Du wirst den Be­weis für deine Behauptung antreten müssen. Die Frist ist dir bekannt. Ist es dir nach ih­rem Ablauf nicht gelungen, eine Höhere Vollkommenheit zu schaffen, so seiest du verstoßen bis an dein Lebensende.«

Bestürztes Protestgemurmel kam von al­len Seiten. Der Würdenträger hatte alle Mü­he, sich der Grallen zu erwehren, die ihn nun, wo es um ihre Kanäle ging, hart be­drängten. Sie beschworen ihn, seine Ent­scheidung zurückzunehmen.

Ohne Erfolg. »Derjenige, der die Frage nach der Höhe­

ren Vollkommenheit stellt, steht solange un­

ter dem Schutz der Gemeinschaft, die durch den jeweiligen Würdenträger verkörpert wird«, sagte Minko Bal Poohl, »wie sein Fehlen nicht bewiesen ist. Besinnt euch und geht an eure Arbeit. Es ist Tag.«

»Wozu sollen wir arbeiten, wenn Taur un­sere Bannisteros doch wieder zerstört?« fragte Juuna Bal Tunk, dessen Kanal Taurs nächstes Opfer sein würde.

Minko Bal Poohl hob eine Hand in die Höhe und sagte feierlich:

»Ihr werdet für die Geradlinigkeit arbei­ten! Ihr sollt beweisen, daß die gerade Linie dem Kreis immer überlegen war und für alle Zeiten die höchste Vollendung darstellen wird. Der Geist sei mit euch!«

»Der Geist sei mit dir, Meister der Gerad­linigkeit!« kam es aus Dutzenden von Sprechblasen. Der flammende Appell des Würdenträgers hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Er hatte den Stolz der Grallen ange­sprochen. Sie zogen von dannen und straften den Ketzer mit Verachtung. Nur Minko Bal Poohl selbst blieb zurück, um Taur bei sei­nem Tun zuzuschauen.

Dieser machte sich auch sogleich an die Arbeit, als hätte er nicht die ganze Nacht über an seinem Bannistero gebaut. Poohl fragte sich, woher er die Kraft nahm. Taur strahlte eine Selbstsicherheit aus, die ihn er­schreckte, und er ahnte die Gefahr, die von Taur ausging. Die jungen Grallen waren an­fällig für ketzerische Ideen. Nur die Angst vor der Verbannung hatte viele bisher davon abgehalten, die Frage zu stellen.

Deshalb mußte Taur scheitern – und wenn man nötigenfalls etwas nachhalf …

Doch Taur ließ sich nicht beirren. Er durchschwamm Nooks Bannistero und schaufelte mit seinen sechs Ärmchen den Lehm, aus dem die gegenüberliegende Ka­nalwand bestand, ins Wasser.

Nach zwei Tagen hatte er Tunks Kanal er­reicht, und einen weiteren Tag später zog sich eine gekrümmte Linie durch die beiden Geraden der zerstörten Kanäle, deren Was­ser sich in den Schnittpunkten sammelte.

Manchmal, wenn er eine Pause einlegte,

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waren Taurs Augen weit in die Ferne gerich­tet. Dann war es ihm, als hörte er eine leise Stimme in sich, die ihm sagte, was er zu tun hatte, und die ihn immer weiter antrieb. Taur war der Überzeugung, daß ein guter Natur­geist sich in seinem Bewußtsein eingenistet hatte und ihm zur Belohnung dafür, daß er die Jäger zum Sieg über das Wesen mit den strahlenden Augen geführt hatte, die Weis­heit und Kraft gab, um die Höhere Vollkom­menheit zu schaffen.

Taur brachte die Stimme nicht in Zusam­menhang mit dem Verschwinden des un­heimlichen Wesens. Wie sollte er auch wis­sen, daß das, was das Wesen zu den Verwü­stungen getrieben hatte, nicht mit ihm von Bordinfeel gegangen war. Er hatte nie den Namen Atlan gehört, und ein Extrasinn war etwas, das jenseits seiner Vorstellungskraft lag. Es war während einer dieser Arbeits­pausen – Minko Bal Poohl schwamm wieder in einem benachbarten Bannistero, um ihm bei der Arbeit zuzusehen –, als Taur die neue Eingebung hatte. Er kletterte an Land und sah, daß sein gewundener Bannistero in­zwischen schon drei gerade Kanäle ge­schnitten hatte. Lange betrachtete er die Schnittpunkte. Dann begann er, einen nach dem anderen zu Zisternen auszubauen.

Minko Bal Poohl schwamm an seine Sei­te. Fassungslos fragte er:

»Wozu tust du das, Taur?« »Es ist ein weiterer Beweis für die Höhere

Vollkommenheit des Kreises«, erwiderte der junge Gralle voller Stolz. »Jeder Schnitt­punkt ist eine natürliche Zisterne. Wenn mein Werk vollendet ist, werde ich weit mehr als acht Zisternen besitzen.«

Minko Bal Poohl sagte nichts darauf. Ihn konnte inzwischen nichts mehr erschüttern. Aber die Vorstellung, auf einfachste Weise zu Zisternen zu kommen, hatte etwas Faszi­nierendes an sich. Der Würdenträger ertapp­te sich dabei, bereits selbst wie ein Frevler zu denken.

Nein, sagte er sich. Taur mußte scheitern. Die Naturgeister würden ihn strafen.

Und so ließ der Würdenträger den Beses-

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senen gewähren. Wahrscheinlich hätte er schon jetzt versucht, Taurs Scheitern nach­zuhelfen, wenn er nicht zu sehr darin vertieft gewesen wäre, ihm zuzuschauen. So aber vernachlässigte er die anderen Grallen, und er bekam nicht mit, wie die Jungen mit jeder neuen Zisterne, die Taur errichtete, etwas von ihrem Zweifel verloren und Taur insge­heim zu bewundern begannen. Als die ersten Streitereien zwischen ihnen und den älteren Grauen ausbrachen, war es schon viel zu spät, um das Desaster noch zu verhindern. Plötzlich wurde offen darüber spekuliert, ob nicht die Spiralform das Höchstmaß an ge­stalterischer Vollkommenheit darstellte.

Doch Taur war ihnen immer ein Stück voraus. Als der erste Bannistero in Spiral­form gebaut wurde, erfand er das Wasserrad.

Kirso Bal Taur baute eines für jedes Teil­stück seines Kanals. Zur Zierde, erklärte er, denn es gab in den Bannisteros keine Strö­mung, die es drehen konnte.

Immer häufiger wurden die Pausen, in de­nen er in sich hineinlauschte. Als die innere Stimme ihm die nächste Eingebung gab und er begann, seinen ersten Springbrunnen zu bauen, erlitt Minko Bal Poohl einen Nerven­zusammenbruch. Viele Tage war er krank und wagte sich nicht aus seiner siebten Zi­sterne, was die geschädigten Verfechter der geraden Linie dazu nutzten, Taurs Banniste­ro einzureißen. So kam es, wie es kommen mußte. Die Jungen kämpften gegen die »Traditionalisten«.

Als der Würdenträger seine Zisterne wie­der verließ, glich die Landschaft einer Seen­platte.

Was immer auch Atlans Extrasinn zu sei­nem fatalen Wirken trieb – durch Taur war ihm das gelungen, was den Grallen durch Leenia erspart geblieben war.

Und es sollte noch schlimmer kommen. Taur verkündete das Zeitalter des Wieder­aufbaus. Minko Bal Poohl versuchte, die Grallen zur Besinnung zu bringen, doch sie waren wie im Rausch. Taur wurde von den »Erneuerern« als Führer und einziger Wür­denträger anerkannt, und Poohl blieb

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schließlich nichts anderes übrig, als in die Ferne zu ziehen und dort Hilfe zu holen.

Es gab jetzt kein Pardon mehr für Taur. Der schreckliche Naturgeist, der sich in sei­nem Bewußtsein eingenistet hatte, mußte ausgetrieben werden.

3.

Ein Blitz zerriß die Schwärze. Das Be­wußtsein erwachte.

Weitere Blitze, dann strahlende Hellig­keit, ein Punkt zunächst, dann Licht zu allen Seiten.

Das Bewußtsein sah. Ein Wirbel aus Farben und Formen, die

Gestalt annahmen – die Gestalt einer jungen schlanken Frau. Das Bewußtsein fühlte, wie es davon angezogen wurde, darauf zuglitt, darin verschwand.

Ein Name: Leenia. Das Bewußtsein fand seine Identität.

Dies war der Funke. Das Licht verschwand. Leenia fiel. Sie spürte, wie sie mit dem Kör­per verschmolz und das Leben in ihm zu kei­men begann. Ein neues Licht am Boden des Schachts. Es wurde größer. Leenia glitt durch eine Röhre, deren Wände nun rötlich zu wabern begannen. Das Ende kam näher. Es war nicht wirklich unten, nicht oben, kei­ner Richtung zugehörig. Es war die Pforte zum Sein. Leenia schloß die Augen, als die Helligkeit sie blendete, doch sie drang durch die Lider. Leenia schrie. Die Helligkeit war die Erinnerung und die Erkenntnis.

Leenia schrie immer noch, als sie etwas Hartes spürte. Sie schlug die Augen auf.

*

Sie befand sich auf Cändero-Spell, ir­gendwo auf der Festlandmasse des Riesen­planeten. Instinktiv warf sie sich zu Boden, doch es gab keine Kugeln, die sich auf sie stürzen wollten.

Wommser! rief Leenia immer wieder und immer flehender.

Doch Wommser meldete sich nicht. Er

konnte keine Antwort geben. Wommser hat­te sich geopfert, seine eigenständige Exi­stenz aufgegeben, um in ihr weiterzuleben.

Leenia wußte, daß sie ihr Leben ihm zu verdanken hatte, und jetzt war ihr klar, wa­rum er nicht auf ihre Hilferufe reagiert hatte. Die letzten Energiereserven des Partners wa­ren der Funke gewesen, der das bereits erlo­schene Bewußtsein aus der Schwärze des Nichtseins gerissen hatte. In ihm waren alle Informationen gespeichert gewesen, die zur Wiederauferstehung nötig gewesen waren. Die Schablone, nach der Leenia neu entstan­den war – und die Erinnerung.

Leenia würde seine Stimme nie mehr hö­ren. Sie war Wommser.

Sie sah an sich herab. Sie trug nach wie vor den roten Anzug. Alles war wie vor der Auflösung – alles, was äußerlich war.

Und ihre Fähigkeiten? Der Kontakt zu den Höheren Welten?

Leenia unterdrückte den Drang, sich jetzt und hier zu testen. Noch einmal durfte sie nicht den Fehler machen, ihre Energien zu verschwenden. Die Kugeln konnten jeden Augenblick zurückkehren – sie und andere Ausgeburten dieser Hölle.

Leenia brauchte ein Versteck, einen Ort, wo sie in Sicherheit war und von wo aus sie sich gezielt auf die Suche nach den Molg Beeten machen konnte. Sie wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war – kostbare Zeit, denn die Beschaffung eines Molgs war nur ein Teil ihrer Aufgabe. Der neutrale Be­wußtseinsträger mußte nach Bordinfeel ge­bracht werden, um Atlans Extrasinn aufzu­nehmen, der dort in einem Grallen namens Kirso Bal Taur festsaß. Grallen aber waren sterblich, und die Chance, den Extrasinn im Fall von Taurs Tod noch einmal aufzuspü­ren, denkbar gering.

Dennoch dauerte es einige Zeit, bis Lee­nia sich soweit unter Kontrolle hatte, daß sie sich auf den Weg machen konnte. So weit die Sicht reichte, gab es nichts als braun­grauen, von feinen Schleiern überzogenen Boden. Wo waren die Felsen?

Leenia marschierte viele Stunden lang, bis

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sie ansteigendes Gelände erreichte. Kein Wesen dieser Welt war ihr begegnet.

Es gab auf Bordinfeel keinen Tag und Nacht Rhythmus. Das Licht der Sonne pflanzte sich in den Wolkenbändern fort, auch wenn die betreffende Seite des Plane­ten der Sonne abgewandt war. So hatte Lee­nia keinen Anhaltspunkt und wußte nicht, wie lange sie noch marschiert war, als sie die Felswand vor ihr in die Höhe ragen sah.

Und die Höhlen. Es waren drei, jede von ihnen von mehr

als drei Meter Durchmesser am Eingang. Sie befanden sich etwa fünf Meter über dem Sockel der Wand. Unter ihnen waren Fels­brocken aufgetürmt, über die sie relativ gut zu erreichen waren. Diese »Treppen« ließen keinen Zweifel daran, daß die Höhlen be­wohnt waren.

Doch Leenia hatte schon zuviel Zeit ver­loren, um daran vorbeizugehen. Wer immer dort oben hauste, würde sein Heim kaum freiwillig räumen.

Leenia atmete tief ein und konzentrierte sich auf die mittlere Höhle. Dann fuhren die violetten Strahlen aus ihren Augen und schmolzen das Gestein über dem Eingang. Dampfwolken fuhren zischend in die Höhe, um sofort von der ungeheuren Schwerkraft Cändero-Spells eingefangen und auf den Boden gedrückt zu werden. Zwei glühende Augen erschienen im Höhleneingang. Als Leenia noch darauf wartete, daß der Körper folgte und auch die beiden anderen Höhlen im Auge behielt, schoß etwas auf sie zu. Sie reagierte instinktiv und warf sich zur Seite. Nur knapp einen Meter neben ihr klatschte ein klebriger Klumpen auf das Felsgestein. Die gallertartige Masse, so groß wie ein Kopf, verdampfte schnell und fraß dabei einen kleinen Krater in den Boden. Ein zweites Geschoß verfehlte Leenia noch knapper.

Dann schob sich ein gedrungener riesiger Leib aus der Höhle. Das Wesen glich einer an vielen Stellen eingebeulten Tonne auf sechs Beinen. Der Kopf hätte der Phantasie eines Wahnsinnigen entsprungen sein kön-

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nen. Leenia sah nur die beiden Augen und darunter die wulstigen Lippen, zwischen de­nen sich eine grünlich schimmernde Kugel herausschob. Leenia zögerte. Es gab einen dumpfen Laut, als die Gallertkugel auf sie abgeschossen wurde. Diesmal war sie vorbe­reitet. Sie duckte sich und stürmte vor, auf die Felsen zu, die ihr Deckung gaben. Der Gallertklumpen schoß über sie hinweg. Sie hörte, wie er hinter ihr auf den Boden klatschte, und richtete sich auf. Die Augen strahlten violett. Leenia hatte die aufeinan­der getürmten Felsbrocken erreicht und war bereit, den Gegner zu zerstrahlen.

Der Höhleneingang war leer. Leenia spähte vorsichtig über den Felsen.

Nichts. Es war, als hätte der Nebel das Mon­strum verschlungen. War es in die Höhle zu­rückgekehrt oder lauerte es jetzt irgendwo hinter den Felsen auf sie?

Gab es weitere Höhlenbewohner? Leenia konnte nicht stundenlang hier

hockenbleiben und darauf warten, daß der Gegner sich zeigte. Sie sprang auf und be­gann zu klettern. Wenn das Wesen auf der Lauer lag, würde es jetzt angreifen.

Sie hatte gerade den vierten großen Fels­brocken erklommen, als sie das dumpfe Ge­räusch wieder hörte. Sie ließ sich fallen. Der Gallertklumpen klatschte einige Meter ne­ben ihr gegen die Felswand.

Leenia war vorbereitet. Ihre Augen blitz­ten, als sie herumfuhr. Sie sah das Mon­strum und gab die Energien frei. Der Kopf des Wesens verging in den violetten Strah­len.

Langsam näherte Leenia sich dem, was von ihm übriggeblieben war.

Der monströse Körper war völlig haarlos und schleimig. Die Beine wirkten unfertig, so als ob sie wie der ganze Körper aus wu­cherndem Plasma bestanden. Jetzt hingen sie schlaff herunter.

Dieses Leben hatte sich unter den gegebe­nen Umweltbedingungen entwickelt. Leenia dachte wieder an die Kugeln. Auch sie hat­ten irgendwie unfertig gewirkt. Sie über­wand ihren Widerwillen und trat gegen eines

13 Die Körperlose und der Molg

der Beine. Es gab keinen Widerstand, keine Knochen, keinen Knorpel. Auch der Haupt­körper fiel jetzt zusehends in sich zusam­men. Da waren keine Rippen, die ihn stütz­ten. Wo Leenias Stiefel ihn traf, bildete sich ein Riß, aus dem dampfende Flüssigkeit sickerte. Wo sie auf die Felsen tropfte, löste das Gestein sich auf.

Schaudernd wandte Leenia sich ab. Wie­der sah sie sich um. So weit der Blick reich­te, war nichts von weiteren Bewohnern des Riesenplaneten zu sehen.

Leenia kletterte bis zum Höhleneingang. Es war dunkel darin. Ein Blitz aus ihren Au­gen erhellte die Höhle für Sekundenbruch­teile. Sie war leer.

Leenia hatte ihr Versteck gefunden. Von hier aus konnte sie das umgebende Gelände überblicken und sich verteidigen, falls unge­betener Besuch kam. Die Bewohner der bei­den anderen Höhlen schienen sich entweder nicht für das zu interessieren, was in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft vorging, oder sie waren unterwegs.

Leenia setzte sich auf einen Felsbrocken im Höhleneingang und starrte vor sich hin. Die Molg-Beete. Wo sollte sie mit der Suche beginnen. Die Körperlosen hatten sie mehr oder weniger blind auf Cändero-Spell abge­setzt. Wußten sie nicht, wo sich die Molgs befanden, oder wollten sie Leenia auf die Probe stellen?

Leenia wurde sich bewußt, daß sie sich der Gemeinschaft immer mehr entfremdete. Gehörte sie überhaupt zu den Körperlosen? War nicht die Unrast, die sie im Bereich der Höheren Welten empfand, ein Zeichen da­für, daß sie sich danach sehnte, als Körperli­che leben zu können? Hatten die Jahre auf Pthor sie geprägt? Doch die Frage, die sie mehr beschäftigte als alle anderen, war die, ob sie überhaupt ein Mitglied der Gemein­schaft war, das mit besonderen Fähigkeiten ausgerüstet worden war, oder ob man sie ge­schaffen hatte. War sie ein Kunstwesen – nicht mehr und nicht weniger als ein Werk­zeug? Sie lauschte in sich hinein. Wenn Wommser in sie übergegangen war, mußte

sie dann nicht auch über diesen Teil seines Wissens verfügen wie über all seine anderen Erinnerungen? Sie lagen noch weitgehend verborgen in ihrem Bewußtsein – Womm­sers Erlebnisse mit Kolphyr, einem Mann namens Razamon und mit Atlan.

Atlan … Der Gedanke an ihn riß sie aus ihren Ge­

danken. Sie mußte aufbrechen. Leenia stand auf und sah noch einmal ins

Dunkel der Höhle. Sie prägte sich die Um­gebung des Eingangs in allen Einzelheiten ein, um jederzeit wieder hierher zurück tele­portieren zu können.

Dann machte sie sich auf den Weg.

*

Als Leenia zum wiederholten Male Rast machen mußte, sah sie ein, daß sie so wie bisher nicht weiterkam. Die Strapazen des Marsches machten sich bemerkbar.

Immer noch befand sie sich auf steinigem Gelände. Doch die Molg-Beete brauchten feuchten, weichen Boden.

Und auf Steinen wuchsen keine Pflanzen, von denen sie sich ernähren konnte. Über das Problem, sich auf Cändero-Spell Nah­rung zu beschaffen, hatte Leenia bisher nicht nachgedacht. Jetzt argwöhnte sie bereits wieder, daß der Hunger eine weitere Lektion der Körperlosen sein sollte, denen ihr Wunsch, unter Körperlichen zu leben, nicht entgangen war. Ihr jetziger Körper war so beschaffen, daß er das aufnehmen konnte, was der Planet hervorgebracht hatte – falls es auf Cändero-Spell eine Flora gab.

Die Molgs waren weder rein pflanzlich noch rein tierisch. Sie waren Zwitterwesen. Wovon ernährten sich die Wesen, denen Leenia bisher begegnet war?

Sie beschloß, ihr Glück durch kurze Sprünge zu versuchen. Auch die erste Tele­portation war ein Test. Sie glückte, und Lee­nia stellte zu ihrem Erstaunen fest, daß sie dazu weitaus weniger Energie aufbringen mußte als vor ihrer »Wiedergeburt«. Da­durch, daß Wommser in ihr aufgegangen

14

war, schienen sich ihre Kräfte potenziert zu haben.

Leenia geriet in einen Rausch und führte weitere Sprünge aus, bis sie mitten im Ozean materialisierte. Sie konnte nicht be­stimmen, ob sie sich in einem flüssigen oder »nur« einem dicht komprimiertem gasförmi­gen Medium befand. Schnell entmateriali­sierte sie wieder, und diesmal sah sie nach der Verstofflichung einen Wald vor sich.

Auf den ersten Blick handelte es sich um riesige Pilze, die aus tiefem, weichen Boden herauswuchsen. Als Leenia einen von ihnen mit der Stiefelspitze antrat, platzte er auf, und die gleiche grünliche Flüssigkeit trat zum Vorschein, die aus dem toten Höhlen­bewohner gesickert war.

Leenia hatte nun die Gewißheit. Das Leben auf Cändero-Spell wirkte nicht

nur unfertig. Es war jung und auf dem glei­chen Grundmuster aufgebaut. Alle Geschöp­fe dieser Welt waren nichts anderes als ins Riesenhafte angewachsene primitivste Le­bensformen – Amöben, Polypen, niedere Organismen, die sich in einer rasenden Evo­lution den Umweltbedingungen angepaßt und spezialisiert hatten, um überleben zu können.

Sie kratzte mit dem Stiefel den dunklen Boden auf und war nicht überrascht, nach wenigen Zentimetern auf Felsgestein zu sto­ßen.

Mit einem Schlag wurde ihr alles klar. Cändero-Spell selbst hatte niemals Leben hervorgebracht. Es war von außen gekom­men, aus dem Weltraum.

Es war die organische Substanz der abge­stürzten Organschiffe gewesen, die den Grundstoff geliefert und den Anstoß gege­ben hatte. Von der Atmosphäre zersetzt, war sie in die winzigen Ritzen der Felsen einge­drungen und hatte die unterste Schicht gebil­det, aus der zunächst die Molgs gewachsen waren. Als diese abstarben und verwitterten, bildeten sie neuen Nährboden, auf dem wei­tere Molgs und schließlich andere zunächst pflanzliche Formen wuchsen, die sich im Lauf von nur Jahrhunderten vom Boden lös-

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ten. Der Gedanke daran war faszinierend, doch Leenia interessierten nur die Molgs. Sie wußte jetzt, wo sie nach ihnen zu suchen hatte. Sie wuchsen hier, zwischen den Pilz­gewächsen, irgendwo in der Nähe. Leenia würde nicht mehr lange zu suchen haben. Und tatsächlich fand sie nach wenigen Mi­nuten das erste Beet. Doch es sah so aus, als wäre sie zu spät gekommen. Die Riesen, die die schwammähnlichen Gebilde abweideten, sahen auf, als sie sich näherte. Leenia warf sich zu Boden, als die ersten Gallertgeschos­se heranflogen.

*

Wo die Plasmaklumpen gegen die Stäm­me der Riesenpilze klatschten, spritzte die grünliche Flüssigkeit in dicken Strahlen her­aus. Gleichzeitig zogen sich die Hüte zu­sammen, und dichte Wolken von Sporen er­gossen sich auf den Boden und schienen sich mit den treibenden Nebeln zu vereinen. Leenia wartete ab, bis die erste Salve vor­über war. Dann sprang sie auf und rannte hinter den nächsten Pilzen in Deckung. Sie war immer noch nahe genug am MolgBeet, um zwar außer Reichweite der Geschosse zu sein, andererseits aber die Riesen gerade noch sehen zu können, bevor sie in den Ne­beln verschwanden.

Ihre Augen blitzten auf, und bevor die Monstren sich auf sie stürzen konnten, star­ben drei von ihnen in den violetten Strahlen. Leenia konnte noch zwei andere erkennen, die jetzt jedoch herumfuhren und im Nebel verschwanden, bevor Leenia die neuen Ziele erfassen konnte.

Vorsichtig verließ sie ihre Deckung. Da­bei sah sie, daß an den Stellen, an denen die grüne Flüssigkeit aus den Pilzgewächsen ge­sickert und in den Boden eingedrungen war, bereits etwas Neues zu wachsen begann. Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Leenia sehnte den Moment herbei, in dem sie Cändero-Spell verlassen konnte.

Der Molg! Sie näherte sich langsam dem Beet und

15 Die Körperlose und der Molg

fand das bestätigt, was sie befürchtet hatte. Kein einziger Molg war für ihre Zwecke ge­eignet. Alle waren etwa zur Hälfte abgefres­sen – porige schwammige Massen, völlig zertrampelt. Von einigen waren nur noch die winzigen wurzelähnlichen Extremitäten vor­handen. Zwar wuchsen schnell neue nach, doch Leenia hatte nicht die Zeit, darauf zu warten. Es mußte weitere Beete in der Nähe geben.

Nach kurzer Suche fand sie das zweite Beet. Diesmal hatte sie mehr Glück.

Auch hier waren einige der sechsbeinigen Riesen dabei, die Schwämme abzuweiden, doch es sah so aus, als hätten sie mit ihrer Mahlzeit erst begonnen. Mehr als die Hälfte der Molgs war noch unversehrt. Die Riesen sahen auf. Leenia warf sich in Deckung, doch der erwartete Beschuß blieb aus. Eines der Wesen stieß einen langgezogenen, schrillen Pfiff aus. Augenblicklich ver­schwanden die Tiere in den Nebeln. Offen­bar gehörte das, das die Warnung gegeben hatte, zu denen, die mit Leenia schon beim ersten Beet Bekanntschaft gemacht hatten.

Sie betrat das Beet und suchte sich den größten Molg aus, den sie finden konnte. Das schwammige Gebilde war völlig rund und hatte einen Durchmesser von knapp dreißig Zentimetern. Vorsichtig, sich immer wieder nach möglichen Angreifern umse­hend, löste Leenia den Molg aus dem wei­chen Boden. Die feinen wurzelähnlichen Ex­tremitäten zogen sich sofort in den Molg-Körper zurück, wenn sie keinen Halt mehr hatten. Leenia war überrascht von der Schwere des Molgs. Sein Gewicht deutete auf einen harten Kern hin. Damit aber unter­schied er sich von den Lebensformen, denen sie bisher begegnet war.

Leenia hielt den Molg in beiden Händen und betrachtete das gelbgrüne Gebilde lan­ge. Sie atmete auf. Nun hielt sie nichts mehr auf Cändero-Spell. Sie blickte sich noch ein­mal um. Außer den ewig treibenden Nebeln war nichts zu sehen.

Leenia schloß die Augen, den Molg fest in den Händen.

Ihr Auftrag lautete, einen Molg zu be­schaffen und damit zu den Höheren Welten zurückzukehren. Von dort aus erst sollte sie sich nach Bordinfeel begeben.

Wozu der Umweg? fragte sie sich. Sie brauchte sich bloß auf den Planeten der Grallen zu konzentrieren, um ohne Zeitver­lust dort zu materialisieren. Wieder erwachte der Trotz in ihr. Dies war die Gelegenheit, den Mitgliedern der Gemeinschaft zu bewei­sen, daß sie mündig war und selbst handeln konnte, ohne bei jedem Schritt kontrolliert zu werden. Und sie sah nicht ein, daß sie wieder ihre Zeit damit verschwenden sollte, auf Bordinfeel darauf zu warten, daß Atlan ihre Impulse empfing und zu ihr kam. Dies­mal würde sie ihn suchen. Leenia konzen­trierte sich auf Bordinfeel, bündelte ihre Energien, ließ das Bild der von Hunderten schnurgeraden Kanäle durchzogenen Plane­tenlandschaft in sich entstehen – und gab den Impuls.

Im nächsten Augenblick schrie sie auf. Ein furchtbarer Schmerz durchzog ihren Körper und schien sie auseinanderreißen zu wollen.

Leenia riß die Augen auf und erkannte die Höhle am Felshang – ihr Versteck, das nicht mehr leer war …

4.

Keiner der Grallen, die sich im See ver­sammelt hatten, um den herum Kanäle in al­len möglichen Formen in die Landschaft ge­trieben wurden, dachte mehr daran, daß Kir-so Bal Taur eigentlich längst hätte vertrieben werden müssen, weil er alles andere getan hatte, als den Beweis für die Höhere Voll­kommenheit des Kreises zu liefern. Der Kreis war längst vergessen, ebenso wie die Alten Gesetze, die jahrhundertelang das Wirken der tüchtigsten Baumeister bestimmt hatten.

Für Taurs Anhänger war Minko Bal Poohls »Flucht« gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, daß die Lehre von der gera­den Linie eine Irrlehre gewesen war. Mochte

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er anderswo einen neuen, geraden Banniste­ro bauen, falls er noch die Kraft dazu hatte. Hier galt das Gesetz der Permanenten Er­neuerung.

Und der Anführer der »Erneuerer« hockte in einem kleinen von einem Lehmwall um­gebenen Tümpel in der Mitte des Sees, in dem sich das Wasser aus siebenundzwanzig Bannisteros vereinigt hatte. Kirso Bal Taur hatte verfügt, daß alle geraden Kanäle zer­stört werden sollten. Jeder hatte so gebaut, wie es ihm gerade in den Sinn kam.

Kirso Bal Taur hatte seine Anhänger zu sich gerufen, um ein Resümee über das bis­her Geleistete zu ziehen. Auch fast alle »Traditionalisten« hatten sich bekehren las­sen, als sie sahen, wie ihre Arbeit zerstört wurde und daher offensichtlich doch min­derwertig war. Nur wenige Grallen schwam­men in der Nähe des Seeufers und machten sich bereit, Taurs Rede durch Zwischenrufe zu unterbrechen.

»Der Geist sei mit euch, die ihr gekom­men seid, meine Stimme zu hören!« rief Taur.

»Der Geist sei mit dir, Meister der Er­neuerung!« schallte es über den See.

»Der Geist soll dich verdammen!« war es vom Ufer her zu hören. »Es lebe die Gerade Linie!«

Kirso Bal Taur würdigte die Störer keines Blickes.

»Der Tag ist gekommen«, verkündete er so laut, daß seine Sprechblase zu platzen drohte, »an dem wir die Vergangenheit be­siegeln und die Weichen für die Zukunft stellen wollen. Seht, was von der Geraden Linie geblieben ist!«

»Nichts!« kam es aus Dutzenden von Sprechblasen.

»Nichts«, bestätigte Taur. »Die Gesetze unserer Väter waren falsche Gesetze. Wenn nur die Gerade Linie das Wohlgefallen der Naturgeister findet, wieso haben die Geister uns dann nicht bestraft? Ich will es euch sa­gen: Sie denken nicht daran, zu strafen, wo ihre Augen nur Vollendung erblicken!«

»Das nennst du Vollendung?« kam es von

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den Ufern. »Wo noch vor kurzem herrliche Linien die blühende Landschaft durchzogen, ist jetzt nur Schlamm und Unordnung. Ein See und aufgetürmte Erde um ihn herum. Das ist Frevel!«

»Es ist der See der Vollendung!« rief Taur mit pathetischer Geste. »Aus ihm wer­den wir die Wasser schöpfen, die unsere neuen Bannisteros füllen werden, die von hier aus sternförmig und in ihrer Gesamtheit die riesige Spirale der Vollendung bildend den ganzen Planeten umspannen werden. Unsere Zisternen werden den Naturgeistern zum Wohlgefallen sein. Die Naturgeister selbst waren es, die uns leiteten und den See durch uns schufen!«

Taur glaubte an das, was er sagte. Die in­nere Stimme legte ihm die Worte regelrecht in den Mund. Der Gralle war der festen Überzeugung, daß es sich um den höchsten aller guten Naturgeister selbst handelte.

»Warte nur!« rief ein alter Gralle vom Ufer her. »Der Würdenträger ist längst wie­der hierher unterwegs, und zwar mit Hun­derten von Grallen, die nicht verblendet sind. Sie werden dir die bösen Geister aus­treiben, Taur!«

»Minko Bal Poohl wird nicht an den Ort seiner Niederlage zurückkehren. Ihr Unein­sichtigen tätet gut daran, ihm zu folgen, um unser Werk nicht zu stören.«

Die Grallen im See klatschten begeistert mit den Ärmchen auf das Wasser. Sie waren nicht wiederzuerkennen. Aus den besonne­nen Denkern waren Abenteurer geworden. Noch nie hatte es etwas Ähnliches auf ganz Bordinfeel gegeben. Doch auch noch nie hatte jemand mit solcher Ausstrahlungskraft unter ihnen geweilt wie Kirso Bal Taur. Ei­nige junge Grallen nannten ihn bereits einen Propheten.

»Und sollte Poohl hierher zurückkehren, so haben wir nicht die geistige Auseinander­setzung mit ihm zu fürchten!« fuhr Taur fort. »Mit der Kraft der Erneuerung werden wir ihm gegenübertreten und ihm sagen, daß …«

»Was wirst du ihm sagen, Kirso Bal

17 Die Körperlose und der Molg

Taur?« Der Ruf war von einem der wenigen Ban­

nisteros gekommen, die zwischen den Erd­hügeln in den See mündeten. Die Köpfe der Grallen im See fuhren herum. Taur zuckte zusammen und verlor alle Farbe.

Jeder kannte diese Stimme. »Der Würdenträger!« rief einer der älte­

ren am Ufer. »Er ist zurückgekommen!« Jetzt erschien Minko Bal Poohl. Er klet­

terte aus dem Wasser und bestieg einen der Hügel. Hinter ihm waren andere, fremde Grallen zu erkennen.

»Du magst die geistige Auseinanderset­zung mit mir nicht fürchten, Kirso Bal Taur!« rief Poohl. »Sie wird fürchterlich werden. Sage deinen Anhängern, daß sie sich besinnen sollen. Für sie ist es noch nicht zu spät, zu erkennen, was sie angerich­tet haben. Du aber wirst für deinen Frevel büßen, bis die bösen Geister in dir dich ver­lassen haben. Wir werden sie austreiben. Je­der soll sehen, wie die Dämonen um den Be­sitz deiner Seele kämpfen werden. Es wird eine Warnung an alle sein, die leichten Glaubens sind!«

»Niemals!« rief Taur. »Hört nicht auf ihn. Er ist mit fremden Grallen gekommen, die voller Neid auf unser Werk sind, weil in ih­nen nicht der Geist der Vollendung wohnt!«

»Niemals!« kam es aus den Sprechblasen der Jungen.

Minko Bal Poohl gab keine Antwort mehr. Er hob zwei Ärmchen und winkte den hinter ihm wartenden Grallen zu. Sofort er­gossen sich Scharen von ihnen in den See. Die am Ufer wartenden Verfechter der Gera­den Linie schlossen sich ihnen begeistert an. Immer mehr Grallen erschienen. Sie kamen jetzt von allen Seiten. Kirso Bal Taur be­gann zu zittern, als ihm klar wurde, daß Poohl und seine Helfer schon seit dem Be­ginn seiner Rede auf der Lauer gelegen ha­ben mußten. Der See war eingekreist. Taur wollte seinen Anhängern etwas zurufen, doch er brachte keinen Laut hervor. Er be­kam Angst. Aus der Angst wurde Panik, und sie kam direkt aus seinem Bewußtsein her­

aus, von dort, wo die Stimme saß. Er hatte nur noch einen Gedanken. Er

mußte fliehen, bevor man ihn fangen konnte. Die Stimme meldete sich nicht, doch Taur konnte spüren, wie sie ihn zu verlassen ver­suchte. Enttäuschung durchströmte ihn, Be­stürzung darüber, daß alles, was sie gesagt hatte, möglicherweise doch falsch gewesen war. Plötzlich glaubte Taur, ein fremdes Wesen sitze in ihm, das lange geschlummert hatte und sich erst jetzt seiner Existenz be­wußt wurde. Der Druck in seinem Kopf wurde unerträglich. Er sah schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen und begann zu tau­meln. Er wollte tauchen, über den Lehmwall in den See springen und fortschwimmen, doch seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr.

Zwischen seinen Anhängern und Poohls Grallen war eine wüste Prügelei ausgebro­chen. Der Würdenträger selbst war im See und kam mit einem halben Dutzend Grallen auf Taur zugeschwommen. Mehrere Arme packten ihn. Taurs Körper war schlaff. Er leistete keinen Widerstand. Und immer schlimmer wurde der Schmerz in seinem Kopf. Es war, als ob kochendes Wasser durch seine Gehirnwindungen und die Adern gepumpt würde. Und nun hörte er, wie die Stimme in ihm schrie. Sie wollte aus ihm heraus, aber sie hing fest. Der Geist, der in Kirso Bal Taur gefahren war, kam nicht mehr von ihm los. Der Kampf im See dauer­te nicht lange. Die von Minko Bal Poohl mitgebrachten fremden Grallen überwältig­ten diejenigen von Taurs Anhängern, die nicht von selbst aufgaben und ihrem Anfüh­rer abschworen. Es war ein Kampf, wie es ihn noch nie gegeben hatte, solange die Grallen sich zurückerinnern konnten – sie, die sich schon überwinden mußten, wenn es galt, die wilden Tiere der Wälder zu jagen und zu töten, wenn diese ihre Bannisteros zerstörten.

Dann war es völlig still. Dort, wo vor kurzem noch Kirso Bal Taur

gethront hatte, stand nun der alte Würdenträ­ger auf dem Lehmwall. Neben ihm hielten

18

zwei Grallen den Frevler fest. »Noch heute nacht«, verkündete Minko

Bal Poohl, »werden wir Taur die Dämonen austreiben, die von seinem Geist Besitz er­griffen haben. Ihr alle werdet Zeugen sein. Allein die guten Geister der Natur haben es in der Hand, ob Taur leben oder sterben wird.«

Plötzlich war aller Streit vergessen. Es ging nicht mehr um die Höhere Vollkom­menheit, es ging um das Leben eines Gral­len, so sehr er auch gefrevelt hatte. Trotz der Verwüstungen, für die Taur verantwortlich war, hatte Minko Bal Poohl wieder Mitleid mit ihm. Doch er machte sich keine Hoff­nungen.

Ein Dämon, der einen so besonnenen jun­gen Grallen wie Taur zum größten Frevler seit Grallengedenken gemacht hatte, würde nicht weichen, solange sein Opfer lebte.

»Bereust du, Kirso Bal Taur?« fragte der Würdenträger.

Er erhielt keine Antwort. Taurs Augen waren leer.

5.

Leenia war viel zu verwirrt, um rechtzei­tig reagieren zu können. Sie sah die beiden glühenden Augen und hörte das dumpfe Ge­räusch, als der Gallertklumpen aus dem Mund des Monstrums abgeschossen wurde. Er flog genau auf sie zu, traf ihre Brust – und klatschte gegen die Wand in ihrem Rücken. Ungläubig sah Leenia an sich her­ab. Das Geschoß war durch ihren Körper hindurchgefahren. Leenia vergaß das We­sen, das sich jetzt langsam auf sie zuschob, und führte ihre Hand an ihre Brust. Sie ver­schwand darin. Leenia war nur halbstofflich! Der Schock brachte sie zur Besinnung. Ir­gend etwas hatte verhindert, daß sie so wie­der verstofflichte, wie sie entmaterialisiert war – das gleiche, das dafür verantwortlich war, daß sie nicht auf Bordinfeel war, son­dern immer noch auf Cändero-Spell.

Die glühenden Augen! Das Wesen befand sich zwischen Leenia und dem Ausgang der

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Höhle. Sie konnte nicht an ihm vorbei, und es war viel zu gefährlich, in der Höhle von ihrer einzigen Waffe Gebrauch zu machen. Der Energie und Hitzestau würde sie selbst umbringen. Leenia wich langsam zurück. Und erst jetzt sah sie den Molg am Boden liegen. Sie hatte ihn völlig vergessen. Sie bückte sich schnell, um ihn aufzuheben, doch ihre Hände fuhren durch ihn hindurch. Er war im gleichen Augenblick zu Boden gefallen, in dem sie halb stofflich materiali­siert war und ihre Hände ihn nicht halten konnten. Das Wesen schob sich näher. Lee­nia wich weiter zurück, Schritt für Schritt, bis sie das Ende der Höhle erreichte. Doch das Tier blieb vor dem Molg stehen. Leenia wollte aufschreien, als sie sah, wie es den Gallertklumpen, der sich zwischen seinen Lippen gebildet hatte, auf sie abschoß und die Lippen über den Molg schob. Das Ge­schoß fuhr durch sie hindurch wie das erste und zerplatzte an der Wand. Von ungestü­mem Zorn gepackt, stürzte Leenia sich auf das Monstrum. Sie trat mit aller Kraft nach dem riesigen Schädel. Ihr Fuß fuhr hindurch, und der eigene Schwung wirbelte sie haltlos durch die Höhle.

Durch das Wesen, durch die zähe Haut und die Körperflüssigkeit!

Leenia erkannte ihren Irrtum. Sie konnte aus der Höhle heraus. Sie konnte durch das Monstrum gehen, selbst durch die Felswän­de. Und sie hätte den Molg nie wieder auf­nehmen können, selbst wenn das Tier ihn sich nicht schon halb einverleibt hätte.

Enttäuschung und Zorn dominierten. Wie­der ließ Leenia sich hinreißen. Sie konzen­trierte sich und schloß die Augen.

Sie gab den Impuls und nichts geschah. Kein Blitz, keine Strahlen. Leenia war waf­fenlos.

Von Angst gepackt, überwand sie den Ekel und rannte durch das Tier zum Höhlen­eingang. Draußen war es ruhig. Sie stellte fest, daß sie schwebte. Ihre Füße sanken in die vor dem Eingang aufgetürmten Felsen ein, um dann wieder in der Luft zu zappeln. Leenia glaubte, den Verstand zu verlieren.

19 Die Körperlose und der Molg

Wie hatte sie sich dann überhaupt bewegen können, wenn ihr Körper nicht mehr als eine Projektion war, ohne jede Möglichkeit, kine­tische Energie zu produzieren.

Wenn der Körper dies nicht vermochte … Leenia konzentrierte sich auf den

Wunsch, über die Felstreppe nach unten zu gelangen. Und ihre Füße trugen sie.

Was war geschehen? fragte sie sich, als sie sah, daß sie nicht verfolgt wurde. Ihr war klar, daß sie sich einen neuen Molg beschaf­fen mußte, aber wie sollte sie ihn greifen und festhalten?

Die körperliche Stabilität. Leenia ver­suchte sich zu erinnern. Was konnte die Ur­sache für die fehlgeschlagene Teleportation sein? Wo befand sich die andere »Hälfte« ihres Körpers? In einem übergeordneten Kontinuum, vielleicht gar im Bereich der Höheren Welten?

Oder auf Bordinfeel? Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.

Dies war die einzige einleuchtende Erklä­rung.

Im Augenblick des Entmaterialisierens mußte sich ein Teil ihres Bewußtseins auf die Höhle gerichtet haben. Sie hatte sich ge­teilt. Ihre andere Hälfte befand sich auf Bordinfeel.

Leenia sah nur eine Möglichkeit, ihre vol­le Stofflichkeit wiederzuerlangen. Sie wuß­te, welches hohe Risiko sie einging, aber sie hatte keine andere Wahl, als den Versuch zu wagen.

So versuchte sie, Ruhe in ihre Gedanken zu bringen. Sie schloß die Augen und kon­zentrierte sich ein zweitesmal auf Bordin­feel. Diesmal wartete sie solange mit dem Entstofflichungsimpuls, bis sie den Planeten der Grallen und die Stelle, die sie schon beim ersten Versuch vor Augen gehabt hat­te, so plastisch sah, daß sie glaubte, schon dort zu sein.

Ihr Körper löste sich auf. Leenia spürte ein Ziehen in den Lungen,

als sie keine Luft mehr bekam. Sie riß die Augen auf und sah sich von Grallen um­ringt. Sie spürte Schmerzen!

Unter anderen Umständen hätte sie trium­phiert. Sie war wieder körperlich. Ihre Ver­mutung war richtig gewesen. Aber der Kör­per, den sie jetzt besaß, war für die Verhält­nisse auf Cändero-Spell geschaffen. Sie würde ersticken, falls sie länger als Sekun­den auf Bordinfeel blieb. Außerdem hatte sie keinen Molg.

Leenia sah, wie einige der Grallen sich auf sie stürzen wollten. Nur unbewußt nahm sie wahr, daß eines der Wesen an einen Pfahl gebunden war. Sie konzentrierte sich auf Cändero-Spell und entmaterialisierte.

Wieder die Felswand und die drei Höhlen. Leenia fühlte, wie ihre Beine nachgaben. Sie sank zu Boden. Die beiden schnell aufeinan­derfolgenden Sprünge über viele Lichtjahre hinweg hatten zuviel Kraft gekostet.

Sie hatte recht gehabt. Durch die zweite Teleportation hatte sie ihre »zweite Hälfte«, in welchem Kontinuum oder wo auf Bordin­feel sich diese auch immer befunden hatte, wieder an sich gerissen. Doch der Molg war verloren. Sie mußte noch einmal von vorne beginnen.

Die Grallen … Das, was sie nur am Rand wahrgenom­

men hatte, wurde an die Oberfläche ihres Bewußtseins gespült. Der Gralle am Pfahl. Es gab keinen Zweifel, das war Kirso Bal Taur, der augenblickliche Träger von Atlans Extrasinn. Die Impulse, die dieser ausstrahl­te, waren eindeutig gewesen. Und über die Absicht der anderen Grallen konnten kaum Zweifel bestehen.

Und jetzt hatte sie wirklich keine Sekunde Zeit mehr zu verlieren. Leenia hatte kaum die Kraft, sich aufzurichten, aber sie konzen­trierte sich auf das Molg-Beet, das sie zu­letzt besucht hatte. Sie entmaterialisierte mit offenen Augen. Einen kurzen Moment lang war es schwarz um sie herum. Dann sah sie die schwammähnlichen Gebilde. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Doch dieser dritte Sprung in kurzer Folge hatte endgültig ihre letzten Energiereserven aufgezehrt. Leenia brach kraftlos zusammen.

20

* Zwischenspiel

In jenen Überräumen, in denen die kör­perlosen Intelligenzwesen existierten, die Leenia ausgeschickt hatten, um in der Da­seinsebene der Körperlichen einen neutralen Bewußtseinsträger für Atlans Extrasinn zu beschaffen, herrschten Verwirrung und tief­ste Verärgerung.

Längst hätte Leenia zurückkehren müs­sen.

Die Stimmen mehrten sich, die davon sprachen, daß man mit ihr ein viel zu großes Risiko eingegangen war. Der Zeitpunkt, an dem Leenia sich nicht mehr an die Beschlüs­se der Gemeinschaft halten würde, sei abzu­sehen gewesen, warfen sie Leenias Verteidi­gern vor. Leenia schade der Sache der Kör­perlosen nur. Wenn sie sich unkontrolliert in der Daseinsebene der Körperlichen herum­trieb, war der Tag nicht mehr fern, an dem sie die Aufmerksamkeit der Dunklen Mäch­te auf sich zog und damit auf die vergesse­nen Geistwesen lenkte, die einst die Ge­schicke der Schwarzen Galaxis mitbestimmt hatten.

Leenias Fürsprecher sahen ein, daß sie die Schuld für die Veränderung, die mit ihr vor­ging, nicht länger allein bei Wommser, je­nem Wesen, das sich unvorhergesehener­weise mit ihr vereinigt hatte, suchen durften. Sie gerieten zusehends in die Minderheit und mußten sich schließlich dem Beschluß der Gemeinschaft beugen, daß Leenia unver­züglich zurückgeholt werden sollte.

Dies war möglich über den roten Anzug, den sie trug. Er diente nicht nur als Instru­ment zur Energieübertragung auf Leenia, falls diese in Not geriet oder sich verausgabt hatte, sondern in erster Linie als Instrument direkter Einflußnahme auf sie durch die Ge­meinschaft.

Doch alle Versuche, Leenia durch ihn zu­rückzuholen, scheiterten.

Es gab keine Verbindung mehr zu ihr. Der Schock verbreitete sich durch die Hö-

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heren Welten. Zorn, Bestürzung, Trauer und grenzenlose Enttäuschung trafen aufeinan­der. Wie lange hatte man warten müssen, bis es endlich gelungen war, ein Mitglied der Gemeinschaft der Vergeistigten im Bereich der Schwarzen Galaxis stofflich werden zu lassen, ohne daß es durch die furchtbare Au­ra des Bösen binnen kürzester Zeit getötet wurde. Wie viele Hoffnungen hatte man an Leenia geknüpft!

Nun schien es, als seien alle diese Hoff­nungen, alle Bemühungen umsonst gewesen, wieder Einfluß auf das Geschehen in der Schwarzen Galaxis nehmen zu können, um irgendwann einmal die Macht des Dunklen Oheims zu brechen.

Schweigen breitete sich in den Höheren Welten aus. Man wartete. Die Körperlosen kapselten sich voneinander ab.

Nur die wenigen, die noch an Leenia glaubten, machten sich Vorwürfe. Vielleicht hatte sie sich so entwickeln müssen, wie sie es getan hatte, weil ihre Fragen unbeantwor­tet geblieben waren.

Die Körperlosen konnten für Sekunden innerhalb der Aura existieren, indem sie ein Feld projizierten, das einen bestimmten Aus­schnitt des Weltraums in ein übergeordneten Kontinuum versetzte.

Eine kleine Gruppe von ihnen erhielt nach langem Ringen die Erlaubnis der Gemein­schaft, ein solches Feld für die Dauer von wenigen Sekunden zu errichten.

Sie projizierten es über Cändero-Spell.

*

Leenia wußte, daß es viel zu lange dauern würde, bis sich in ihrem Körper genügend neue Energie aufgebaut hatte, um mit einem Molg den Planeten der Grallen zu erreichen – zu lange, um zu verhindern, daß Kirso Bal Taur umgebracht wurde. Warum die Grallen ihn töten wollten, ahnte sie. Sie selbst hatte erfahren, was Atlans Extrasinn aus seinem Träger zu machen vermochte. Sie hatte er in einen wahren Zerstörungswahn getrieben, weil er sich in ihrem Bewußtsein wie in ei­

21 Die Körperlose und der Molg

nem Gefängnis gefühlt hatte und ausbrechen wollte. Ähnlich mußte er in seinem jetzigen Träger wirken. Vielleicht war er sogar dar­auf aus, daß Taur getötet wurde, damit er entweichen konnte. Es war alles umsonst ge­wesen. Leenia geriet in einen Zustand tiefer Apathie. Sie konnte nichts tun. Was sie ge­tan hatte, hatte sie falsch gemacht. Das Wis­sen um die eigene Fehlbarkeit verstärkte die Depression. Leenia mußte einsehen, daß die Gemeinschaft recht gehabt hatte. Sie war noch nicht ausgereift genug, um ohne Kon­trolle handeln zu können.

Und doch fühlte sie wieder den Trotz. Wie konnte man von ihr verlangen, effizient zu handeln, wenn man ihr mißtraute und sie nicht zur Entfaltung kommen ließ? Nicht sie allein war schuld!

So lag sie zwischen den Molgs, kraft und willenlos, als sie die Veränderung ihrer Um­gebung wahrnahm. Zunächst sah sie nur ein leichtes Flimmern. Dann aber spürte sie, wie artverwandtes Leben sie umgab und neue Energien in sie überflossen.

Die Depression verschwand schlagartig. Leenias erster Gedanke war: Sie sind gekom­men, um mich zu holen! Sie ziehen mich zu sich herauf. Sie werden mich bestrafen!

Doch die Nebel blieben, und sie lag im­mer noch zwischen den Molgs.

Leenia begriff, was geschah, und sie wuß­te, daß jene, die sich im Schutz des Neutrali­sationsfelds in die Aura der Schwarzen Ga­laxis begeben hatten, nur für kurze Zeit bei ihr sein konnten.

Leenia, vernahm sie. Es waren nur wenige aus der Gemeinschaft, die sich im Schutz des Feldes befanden. Bevor sie Fragen stel­len konnten, übermittelte sie ihnen in einem einzigen Impuls alles, was sie erlebt hatte.

Dann mußt du unverzüglich nach Bordin­feel! vernahm sie. Gleichzeitig verstärkte sich der Energiefluß. Leenia konnte aufste­hen und fühlte sich nach wenigen Augen­blicken wieder völlig frisch.

Ihr seid also nicht gekommen, um mich zurückzuholen? fragte sie erstaunt.

Es ist keine Zeit für Erklärungen. Wir

versuchten, dich zu uns zu holen. Doch es war nicht möglich. Du allein kannst zu uns zurückkehren – aus eigener Kraft. Nimm einen Molg und begib dich nach Bordinfeel, bevor der Extrasinn frei werden kann.

Leenia gab sich keine Mühe, ihre Überra­schung zu verbergen.

Ist dies der Wille der Gemeinschaft? Nein, Leenia. Wir werden uns vor ihr

verantworten müssen, ebenso wie du. Doch die Umstände lassen keine Wahl. Die Ge­meinschaft wird über dich zu Gericht zu sit­zen haben, denn du hast gefehlt. Sieh zu, daß der Molg den Extrasinn aufnimmt, und ver­suche, mit Atlan Kontakt aufzunehmen. Dann kehre zu uns zurück.

Leenia schwieg. Sie spürte, wie das Feld schwächer wurde. Die Zeit war abgelaufen.

Ich verspreche es! sendete sie schnell. Leenia löste den größten Molg des Beetes

aus dem Boden und nahm ihn. Wieder kon­zentrierte sie sich auf den Planeten der Gral­len, auf jene Stelle, an der die Grallen um Kirso Bal Taur versammelt waren. Diesmal gab es keine Panne.

6.

Kirso Bal Taur hatte die Erscheinung ebenso gesehen wie die anderen, nur wußte er im Gegensatz zu ihnen, daß es sich nicht um den Dämon gehandelt hatte, der in ihm stecken sollte. Die Stimme war nach wie vor in ihm und peinigte ihn.

Doch ohne es zu wissen, hatte Leenia ihm einen wertvollen Aufschub verschafft. Die Grallen hatten von Taur abgelassen, als sie sie in ihrer Mitte erscheinen sahen. Zwar hatten sie sie wieder nicht fangen können, weil sie viel zu schnell wieder entmateriali­siert war, aber für sie stand so gut wie fest, daß ihre Geisteraustreibung Erfolg gehabt hatte. Minko Bal Poohl verkündete laut, daß das fremde Wesen mit den strahlenden Au­gen nach seiner Überwältigung nicht einfach verschwunden sei, sondern von Taurs Geist Besitz ergriffen und ihn in seinen Wahn ge­trieben hätte. Die Grallen triumphierten und

22

führten Freudentänze im See auf. Minko Bal Poohl schwamm auf Taur zu und redete be­ruhigend auf ihn ein. Er trug die Farbe der Freude und redete von der Gnade der guten Naturgeister, die Taur verziehen und ihm das Leben geschenkt hätten. Bis Kirso Bal Taur zirpte:

»Und ihr habt doch unrecht! Es lebe die Höhere Vollkommenheit!«

Taur sah, wie der Würdenträger zurück­wich und die Farbe verlor. Er wollte schnell etwas hinzufügen, sagen, daß nicht er der Ketzer war, daß die Stimme in ihm ihn dazu gezwungen hatte, seine Worte zu sprechen, doch seine Sprechblase war wie gelähmt. Taur glaubte nicht mehr an das, was die Stimme ihm eingab. Zu sehr quälte sie ihn jetzt. Und er wußte, daß sie seinen Tod woll­te, gleichzeitig aber furchtbare Angst davor hatte. Taur hätte sich selbst der Besessenheit bezichtigt, wenn er die Worte hätte hervor­bringen können. Die eben noch feiernden Grallen näherten sich wieder drohend und warteten darauf, daß Minko Bal Poohl er­neut das Zeichen zur Geisteraustreibung gab. Das Wesen mit den strahlenden Augen war wieder vergessen. Der Dämon steckte noch oder wieder in Taur. Entweder gab es mehrere böse Naturgeister in ihm, oder das Wesen mit den strahlenden Augen war in ihn zurückgekehrt, als es sich auflöste.

Schweren Herzens gab der Würdenträger den Befehl, mit der Prozedur fortzufahren.

Die Dämonenaustreibung verlief nach ei­nem denkbar einfachen Prinzip.

Taur war an einen Holzpflock gefesselt, der im Grund des Sees festgespießt war. Das Wasser reichte ihm jetzt bis zum zweiten Armpaar. Die Fesseln saßen so locker, daß Taurs Körper ohne große Mühe von den Grallen an dem Pflock entlang nach oben und unten geschoben werden konnte.

»Unten« bedeutete, daß er sich mit dem Kopf unter Wasser befand. Um die ge­wünschte Wirkung zu erzielen, waren ihm die Kiemenöffnungen verschlossen worden, so daß er nur durch die kleinen Nasenöff­nungen atmen konnte – über der Wassero-

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berfläche. Jetzt wurde er wieder untergetaucht. Der

Würdenträger drückte Taurs Kopf mit einer Hand so lange unter Wasser, bis er kurz vor dem Ersticken war. Minko Bal Poohl zwang sich dazu, Taurs Kopf festzuhalten, bis er das Zeichen gab, daß der Ketzer nach oben geholt wurde.

Taur spuckte Wasser aus und rang nach Luft, wie schon ein halbes Dutzend Male zu­vor.

»Bist du reinen Geistes?« stellte der Wür­denträger die immer gleiche Frage, als Taur wieder aufnahmefähig war.

»Nein!« zirpte Taur, und es war der Dä­mon, der aus ihm sprach.

Minko Bal Poohl erschauerte und gab wieder das Zeichen. Bei jedem Untertauchen mußte der Frevler einige Atemzüge länger unter Wasser bleiben. Auf diese Weise wür­de er früher oder später doch sterben, wenn der Dämon ihn nicht vorher verließ – und diesmal für immer. Der Dämon mußte Taurs Todesangst noch stärker empfinden als beim ersten Entweichen.

So ging es weiter. Kirso Bal Taur wurde untergetaucht, aus dem Wasser gezogen, be­fragt, ob er reinen Geistes sei. Er antwortete »Nein« und kam wieder unter Wasser.

Und endlich, als der Ketzer halbtot nach oben gezogen wurde, schien der Dämon auf­zugeben, obwohl Taur immer noch vernein­te, reinen Geistes zu sein.

Die Erscheinung stand am Ufer. Wieder hatte der vermeintliche böse Naturgeist die Gestalt des hochgewachsenen Wesens mit den strahlenden Augen angenommen. So dachten die Grallen.

Kirso Bal Taur war für den Augenblick vergessen. Die Grallen wollten sich auf den vermeintlichen Dämon stürzen. Doch bevor sie zu nahe heran waren, hob Leenia eine Hand. Die Grallen blieben im Wasser des Sees und sahen den Würdenträger fragend an.

Plötzlich hörten sie die Stimme des We­sens:

»Halt! Der Geist sei mit euch!«

23 Die Körperlose und der Molg

Die Grallen verloren die Farbe. Sie alle vernahmen die Botschaft. Die Stimme des Wesens schien von überallher zu kommen, ja, mitten in ihren Köpfen zu sein. Es besaß keine Sprechblase.

Die Grallen scharten sich um den Wür­denträger, der nun alle Verantwortung auf sich geladen sah. Da stand der Dämon und sprach zu den Grallen. Minko Bal Poohl war völlig verwirrt. Für einen bösen Geist gehör­te es sich, daß er nach der Austreibung ent­wich, sich auflöste, wie es beim erstenmal geschehen war. Alles andere paßte nicht zum Bild eines Dämons. Minko Bal Poohl sah sich plötzlich mit der Frage konfrontiert, wie man einem Dämon, der nicht gleich die Flucht ergriff, begegnete. Durfte man über­haupt mit ihm reden? Leenia indes wartete. Taur lebte noch, und nur das zählte. Aus den Gedanken der Grallen hatte sie sich alles Wissen geholt, das sie brauchte. Sie mußte sie dazu bringen, daß sie ihr Taur überlie­ßen. Leenia wollte einen Kampf mit allen Mitteln verhindern. Diese armen Geschöpfe hatten genug mitgemacht.

Leenia trug den Molg in beiden Händen. Taur mußte in eine psychische Streßsituati­on gebracht werden, in der sich der Extra­sinn von ihm löste und in den Molg überg­litt. Leenia selbst blockierte ihr Bewußtsein, um nicht noch einmal Träger des Extrasinns werden zu können.

Sie machte sich keine Illusionen über die Schwierigkeiten, die ihr bevorstanden, wenn der Extrasinn sich selbst in höchster Todes­angst seines Trägers nicht von diesem löste. Doch sie hatte Zeit. Diesmal hatte sie ihren Körper während des Sprunges transformiert. Er war den Lebensbedingungen auf Bordin­feel optimal angepaßt.

Endlich rührte sich der Gralle, den seine Artgenossen »Würdenträger« nannten.

»Weiche!« zirpte Minko Bal Poohl. »Verlasse unsere Welt, Dämon! Kehre zu­rück in die tiefsten Abgründe der Verdamm­nis, aus denen du entstiegen bist!«

»Du irrst dich, oh Meister der Geradlinig­keit«, sendete Leenia. »Der Dämon steckt

nach wie vor in Kirso Bal Taur. Nur ich kann ihn vertreiben. Deshalb bin ich hier.«

»Du täuschst uns nicht!« entgegnete Poohl. »Du warst es, die unsere Bannisteros zerstörte.«

»Ich tat dies im Kampf mit dem Dämon, der in Kirso Bal Taur steckt. Dafür bitte ich euch um Vergebung. Um meinen guten Wil­len zu beweisen, werde ich euch dabei hel­fen, neue gerade Bannisteros zu errichten. Wie viele von euch wurden durch den Be­sessenen geschädigt?«

Bevor Minko Bal Poohl antworten konn­te, meldeten sich mehr als ein Dutzend Gral­len. Leenia war überrascht davon, wie schnell sie ihr Mißtrauen aufgaben, als es um ihre verwüsteten Kanäle ging.

»Ich mache euch einen Vorschlag. Ihr gebt mir Taur, damit ich den Dämon von ihm nehmen kann, und ich grabe euch neue Bannisteros.«

»Du willst Taur nur haben, um ihn …« »Ich werde ihn unversehrt und reinen Gei­

stes zu euch zurückschicken«, schnitt Leenia Poohl das Wort ab.

»Wir haben keine Garantie dafür, daß du die Wahrheit sprichst und dein Wort halten wirst.«

Leenia zuckte die Schultern, eine Geste, mit der die Grallen nicht viel anfangen konnten.

»Zeigt mir, wo ihr eure neuen Bannisteros errichten wollt.«

Sofort schwammen einige Grallen auf sie zu und kletterten neben ihr an Land. Sie blieben in respektvoller Entfernung, forder­ten sie aber auf, ihr zu folgen.

Die kleine Gruppe kam nur langsam vor­wärts, weil die Grallen sich auf dem festem Land nur schwerfällig bewegen konnten. Leenia sah über die Schulter nach Taur, der schwer atmete und ihrem Blick begegnete.

Die Grallen führten sie zwischen aufge­türmter Erde und einigen Tümpeln hindurch, bis sie flaches, unzerstörtes Gelände erreich­ten, das nur durch wenige schnurgerade Kanäle zerschnitten war, zwischen denen noch Platz für ein gutes Dutzend weiterer

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Bannisteros war. »Hier wollen wir unsere neuen Banniste­

ros bauen«, erklärte einer von ihnen. Der Würdenträger war weit zurückgeblieben und blickte mißtrauisch.

»Wo genau?« fragte Leenia nun den ihr am nächsten stehenden Grallen.

Das Wesen mit den Schwimmfüßen und den sechs Ärmchen zeigte ihr den gedachten Verlauf seines Kanals.

»Tretet zurück«, sagte Leenia. Dann blitz­ten ihre Augen auf. Violette Strahlen schos­sen daraus hervor und brannten innerhalb weniger Minuten eine dreißig Meter lange, schnurgerade Furche von anderthalb Meter Breite in das Erdreich. Die Grallen, die in Panik geflüchtet waren, kamen staunend zu­rück. Als sie begriffen, daß sie nur noch eine Verbindung zum See schaffen mußten, um dessen Wasser in die neuen Kanäle fließen zu lassen, nachdem sie sie ausgebaut und ih­re Wände stabil gemacht hatten, zeigte einer nach dem anderen Leenia, wo sie nun für ihn »graben« sollte. Leenia erfüllte alle Wünsche. »Ihr seht, daß ich meine Verspre­chen halten kann«, sagte sie dann. Es gelang ihr nach einigem weiteren Hin und Her, auch Minko Bal Poohl zu überzeugen. Der Würdenträger ließ Kirso Bal Taur losbinden und an Land bringen. Taur wehrte sich mit Ärmchen und Schwimmfüßen. Er zirpte ver­zweifelt, daß man ihn nicht ausliefern dürfe. Die Fremde würde ihn töten. Leenia wußte, daß es Atlans Extrasinn war, der durch ihn sprach und offensichtlich Angst hatte, wie­der im Gefängnis von Leenias Bewußtsein zu landen. Bevor die Grallen es sich anders überlegen konnten, packte sie den zappeln-den Taur mit einer Hand und entmateriali­sierte mit ihm.

*

Taur lag flach auf dem Rücken im hohen Gras in der Nähe eines verlassenen Banni­steros, der Molg neben ihm. Leenia stand über ihn gebeugt und hatte die Augen ge­schlossen.

Horst Hoffmann

Niemand war in der Nähe, der sie bei dem stören konnte, was sie zu tun hatte. Sie war nicht so sicher, wie sie sich gegeben hatte, daß der junge Gralle die Austreibung des Extrasinns überleben würde. Dazu wußte sie zu wenig über diese Wesen. Es hing letztlich vom Extrasinn ab. Leenia hatte den ur­sprünglichen Gedanken, Taur in eine Streß­situation zu bringen, aufgegeben. Es hätte nur unnötige Qualen für den Grallen bedeu­tet, und im See hatte sich ja gezeigt, wie we­nig dies genutzt hatte.

Taur war nur Statist. Leenia griff den Ex­trasinn direkt an. Sie konnte sich nicht mit ihm »unterhalten«. Jeder Kontaktversuch auf telepathischer Basis war fehlgeschlagen, als er in ihr weilte. Sie konnte ihn nur spüren – und in die Enge treiben.

Paranormale Impulse flossen in jenen Teil von Taurs Bewußtsein über, in dem der Ex­trasinn festsaß. Leenia spürte, wie er in Pa­nik geriet, und verstärkte den Druck. Taurs Körper zuckte heftig, was sie immer wieder zu Pausen zwang.

Leenia drang immer tiefer in Taurs Be­wußtsein ein. Manchmal war sie nahe daran, Taur zu sein. Sie spürte den Extrasinn jedes­mal wieder von neuem auf, drängte ihn zu­rück in die Tiefen von Taurs Unterbewußt­sein, folgte ihm in die Abgründe jenseits des Bewußten, jagte ihn weiter, bis es keinen Halt mehr für ihn gab.

Die plötzliche Leere wirkte wie ein Schock auf Leenia. Sofort zog sie sich aus Taur zurück. Ihr erster Blick galt dem Gral­len. Taur lebte, wenn er auch kaum noch at­mete.

Der Molg. Das schwammige Gebilde strahlte nur für einen ganz kurzen Augen­blick, schwach, aber stark genug, um Leenia Gewißheit zu geben. Er hatte den Extrasinn im gleichen Augenblick wie ein Magnet in sich aufgesogen, in dem dieser Taur verließ.

Leenia wußte, daß er nicht aus ihm ent­fliehen konnte, und kümmerte sich zunächst um den Grallen. Sie hob ihn auf und brachte ihn zum Kanal, wo sie ihn vorsichtig ins Wasser gleiten ließ. In seinem gewohnten

25 Die Körperlose und der Molg

Element erholte er sich schnell. »Die … Stimme«, sagte er. »Sie … sie ist

weg. Ich bin … frei.« »Ja, Taur. Du wirst zu den Deinen zu­

rückkehren und einen neuen Bannistero bau­en. Sie wissen, daß du unter fremdem Zwang handeltest.«

»Dann ist alles vorbei? Der … Geist wird nicht zurückkehren? Es war schrecklich. Die Stimme wollte mich umbringen, aber dann wieder hatte sie Angst. Und ich habe so sehr gefrevelt!«

»Du wirst sie nie mehr hören, und nie­mand wird dich verurteilen.«

Leenia nahm den Molg und reichte Taur die freie Hand. Er ergriff sie.

Sekunden später waren sie wieder am See. Als die Grallen sich davon überzeugt hatten, daß Taur gesund und »reinen Gei­stes« war, veranstalteten sie ein wahres Konzert mit ihren Sprechblasen. Leenia wußte, daß sie gefeiert wurde. Minko Bal Poohl kam zu ihr und entschuldigte sich für das Unrecht, das er ihr angetan hatte und lud sie ein, Gast der Grallen zu sein.

»Es geht nicht«, wehrte sie dankend ab. »Ich muß euch verlassen.«

»Ich verstehe. Du willst weitere Dämonen jagen.«

»So ist es.« Leenia lächelte. »Der Geist sei mit euch.«

»Der Geist sei mit dir!« Leenia sah, wie einige Grallen bereits dabei waren, das Was­ser aus dem See in die neuen Kanäle zu lei­ten. Sie waren mehr als fleißig, und bald schon würde von der Verwüstung nichts mehr zu sehen sein.

Leenia packte den Molg fest und entmate­rialisierte mit ihm. Weit genug von den Grallen entfernt wurde sie wieder stofflich.

Sie hatte den Extrasinn. Sie hatte den Auftrag, Atlan herbeizu­

locken, um ihm den Extrasinn zurückzuge­ben.

Und sie hatte versprochen, zu den Höhe­ren Welten zurückzukehren.

Schon einmal hatte sie auf Bordinfeel ge­hockt und versucht, Atlan durch Konzentra­

tionsübungen herbeizulocken. Der Versuch war gescheitert.

Alles in ihr drängte danach, sich nun selbst auf die Suche nach ihm zu machen.

Sie kämpfte mit sich. Sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, ihre Entscheidung diesmal frei von Emotionen zu treffen. Noch mehr als ohnehin schon durfte sie die Gemeinschaft, der sie angehör­te, nicht verärgern.

Sie konnte nicht ahnen, daß der Molg an­dere Pläne hatte.

7.

Der Planet Olmerstolm war eine relativ unbedeutende Basiswelt für Organschiffe. Hier gab es Reparaturwerften, hier wurden neue Schiffe, bisher nur mit einer Galionsfi­gur versehen, mit Mannschaften ausgerüstet und andere, deren Beschädigungen nicht mehr repariert werden konnten, verschrottet beziehungsweise neu aufbereitet, was die or­ganischen Teile betraf.

An Olmerstolm lief das große Geschehen innerhalb des Marantroner-Reviers vorbei. Zwar wußte man, was sich draußen im Welt­raum tat, aber das war auch schon fast alles. Wenn die Scuddamoren-Flotte neue Schiffe brauchte, rief man sie von Olmerstolm ab. Die Besatzungen kehrten in der Regel nie zurück, und jene, die mit beschädigten Or­ganschiffen kamen, gingen bald an Bord neuer Einheiten und verschwanden wieder zwischen den dunklen Sternen.

So herrschte zwar ein ständiges Kommen und Gehen, aber noch nie hatte Olmerstolm im Brennpunkt wichtiger Geschehnisse ge­standen. Die Scuddamoren, die hier lebten und ihren Dienst taten, waren meist strafver­setzt worden oder hatten sich als raumun­tüchtig erwiesen. Sie waren mit ihrem Los zufrieden. Nur jene, die nach Olmerstolm abkommandiert worden waren, um die Ar­beiten zu überwachen, litten unter der Lan­geweile und sehnten sich danach, eines Ta­ges abgelöst und wieder in den Raum ge­schickt zu werden.

26

So auch Zenbronker, der Kommandant des Stützpunkts. Als er nach Olmerstolm kam, war er voller Tatendrang gewesen. Die Monotonie des Lebens auf der Basiswelt hatte ihn bald geprägt. Die Illusion, daß ei­nes Tages doch etwas Ungewöhnliches auf Olmerstolm geschehen könnte, hatte er längst verloren. Er dachte an den Tag seiner Ablösung und machte seine Arbeit.

So schenkte er der Nachricht, daß an Bord der FRAULPIEN eine Fremde gesehen wor­den war, zunächst keine Beachtung. Erst vor kurzem war ein Verband überholungsbe­dürftiger Schiffe gelandet, und es war oft ge­nug vorgekommen, daß die Besatzung des Stützpunkts angebliche Eindringlinge gese­hen hatte, die in Wirklichkeit nur Angehöri­ge der vielen Hilfsvölker im Marantroner-Re­vier waren, die mit den Schiffen gekommen waren und sich die Zeit bis zum erneuten Start damit vertrieben, sich auf Olmerstolm umzusehen. Zenbronker ließ sie gewähren, wenn er es auch nicht besonders gerne sah, daß sie sich an Bord der Schiffe herumtrie­ben und für Unordnung sorgten.

Wahrscheinlich gehörte die »Fremde« zu den mit dem Verband gelandeten Raumfah­rern, sagte er sich. Und außerdem – wie soll­te jemand, der auf Olmerstolm nichts zu su­chen hatte, von der Raumüberwachung und den Kontrollen bei der Landung eines jeden Schiffes unbemerkt hierher gelangt sein? Um die Scuddamoren an Bord der FRAUL­PIEN zu beruhigen, befahl er jedoch, daß zwei von ihnen die »Fremde« beobachten und ihn auf dem laufenden halten sollten. Wenn er glaubte, jetzt seine Ruhe zu haben, sah er sich getäuscht. Nur wenige Minuten vergingen, bis er erneut einen Anruf aus der FRAULPIEN erhielt.

Gereizt schaltete er eine Bildverbindung zur Zentrale des Organschiffs, das in weni­gen Stunden mit elf anderen zusammen in den Weltraum starten sollte. Der Komman­dant, ein Scuddamore namens Bilnerstung, war selbst an Bord, um die letzten Arbeiten der Monteure zu überwachen. Er befand sich nur zu einem Zwischenaufenthalt auf Ol-

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merstolm. »Ich habe lange genug in der Flotte

Dienst getan«, sagte Bilnerstung, »um zu wissen, wer zu den Hilfsvölkern des Neffen gehört und wer nicht. Diese Fremde gehört nicht dazu, Zenbronker! Sie bewegt sich durch die Korridore des Schiffes wie in Trance und scheint etwas zu suchen, von dem sie selbst nicht weiß, was es ist. Ich verlange, daß sie von Bord geschafft wird. Wenn ihr sie auf Olmerstolm frei herumlau­fen lassen wollt, ist das eure Sache. Ich will sie nicht auf meinem Schiff haben.«

Die Dreistigkeit, mit der der Raumfahrer redete, verschlug Zenbronker für einen Au­genblick die Sprache. Als er zu einer hefti­gen Entgegnung ansetzen wollte, war Bil­nerstungs Gesicht vom Bildschirm ver­schwunden. Statt dessen sah der Komman­dant der Basiswelt eine hochgewachsene Gestalt ganz in Rot und hinter ihr zwei Scuddamoren, die ihr in wenigen Metern Abstand folgten.

Schlagartig verschwand das Desinteresse. Zenbronker beugte sich vor und sah, wie

die Fremde sich jetzt bückte und anschei­nend in einer Nische etwas suchte. Als sie sich wieder aufrichtete, taumelte sie leicht.

Sie drehte sich um und blickte für einen Augenblick direkt in die versteckte Kamera. Zenbronker zuckte zusammen, als er ihr Ge­sicht sah.

Diese Augen! Sie waren leer, ausdruckslos, und doch

schlug ihm ein Feuer aus ihnen entgegen, das ein tiefes Gefühl des Unbehagens in ihm hervorrief.

Jetzt verstand Zenbronker die Aufregung der Scuddamoren an Bord der FRAULPIEN. Und er ahnte, daß die Zeit der Ruhe vorbei war.

Er wartete ab, beobachtete die Fremde noch eine Zeitlang und wurde immer siche­rer, daß sie tatsächlich nach etwas suchte. Die beiden Scuddamoren hinter ihr schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Die Raum­fahrer hielten ihre Strahler auf sie gerichtet. Sie hatten Angst.

27 Die Körperlose und der Molg

Das Bild verblaßte, und Bilnerstung blick­te Zenbronker wieder entgegen.

»Genügt das?« fragte er nur. »Ich lasse sie abholen«, antwortete Zen­

bronker knapp. »Nehmt sie fest.«

*

Zenbronker wartete mit gemischten Ge­fühlen im Hauptkontrollturm des Raumha­fens, auf dem die FRAULPIEN stand. Wie lange hatte er darauf gewartet, daß endlich einmal etwas geschah, das die Monotonie des Alltags auf Olmerstolm zerriß? Nun wußte er kaum, wie er sich zu verhalten hat­te.

Er glaubte längst nicht mehr daran, es bei der Fremden mit einer Angehörigen eines Hilfsvolks zu tun zu haben. Aber wie hatte sie dann unbemerkt hierher gelangen kön­nen? Wie lange war sie schon auf Olmer­stolm?

Und wonach suchte sie? Wer hatte sie ge­schickt?

Hatte sie etwas mit jenem Mann zu tun, der seit einiger Zeit das Marantroner-Revier unsicher machte? War sie am Ende eine Agentin des Neffen Duuhl Larx?

Diese und ähnliche Gedanken beschäftig­ten den Scuddamoren, als er beobachtete, wie die Fremde über das Hafengelände zum Kontrollturm gebracht wurde. Sie leistete keinen Widerstand.

Zenbronker hatte einige seiner wichtig­sten Mitarbeiter um sich versammelt. Er gab es ihnen gegenüber nicht zu, aber er hatte sie in erster Linie kommen lassen, um der Fremden nicht allein gegenübertreten zu müssen. Alle Scuddamoren im Raum waren bewaffnet. Dann wurde sie hereingeführt. Zenbronker blickte in die violetten Augen und hatte das Gefühl, in der Leere, die aus ihnen sprach, versinken zu müssen. Er muß­te sich zusammenreißen. Wie eine Idiotin ließ die Fremde sich zu einem Stuhl führen und hineinfallen. Sie blickte starr vor sich hin und sah erst auf, als Zenbronker sich di­rekt vor ihr aufbaute.

»Wer bist du?« fragte er direkt. »Du ge­hörst nicht zu jenen, die mit dem letzten Verband hier gelandet sind.«

Sie gab keine Antwort und blickte sich jetzt verwirrt um. Sie sah die Anwesenden der Reihe nach an, dann wieder den Kom­mandanten.

Der wiederholte seine Frage. »Ihr … ihr habt ihn gefunden?« fragte die

Fremde dann. Die Worte klangen so, als be­nutzte sie die Einheitssprache der raumfah­renden Völker der Schwarzen Galaxis zum erstenmal.

Zenbronker unterdrückte einen Fluch und sah sich hilfesuchend um.

»Wen sollen wir gefunden haben?« fragte er unwirsch und erhielt wieder eine Gegen­frage zur Antwort:

»Wo bin ich hier?« Die Augen der Fremden waren wieder in

die Ferne gerichtet, als lauschte sie in sich hinein.

»Du befindest dich auf Olmerstolm, und das weißt du sehr gut«, herrschte der Scud­damore sie an. »Du hast indirekt zugegeben, daß du etwas an Bord der FRAULPIEN ge­sucht hast. Also weißt du, warum du hier bist und was du suchst. In wessen Auftrag handelst du? Wir haben die Möglichkeit, es herauszufinden, auch wenn du dich weiter­hin dumm stellst. Wie kommst du hierher? Wer bist du?«

Zenbronker gab sich alle Mühe, ein­schüchternd und entschlossen zu wirken. Er war es nicht.

»Ich bin Leenia«, antwortete die Fremde diesmal, doch ihre Worte schienen nicht an die Scuddamoren gerichtet zu sein. »Ich weiß nicht, wie ich hierherkam. Aber der Molg … Ich muß den Molg finden.«

Die Scuddamoren sahen sich verwirrt an. Mit dem Namen »Leenia« konnten sie

nichts anfangen, und von einem Molg hatten sie noch nie gehört. Was war es?

»Sie macht uns etwas vor«, sagte Kerren­gorm, Zenbronkers Stellvertreter. »Eine Ge­hirnwäsche wird sie schnell gefügig ma­chen.«

28

Zenbronker winkte unwirsch ab. Irgend etwas an der Fremden faszinierte ihn. Sie bedeutete Gefahr, das spürte er, aber da war noch etwas anderes.

Etwas, das sie sehr wertvoll machen konnte.

Er versuchte, sie zum Sprechen zu brin­gen, indem er zum Schein erst einmal auf ih­re wirren Worte einging.

»Du bist also Leenia. Und du suchst … den Molg. Was ist der Molg, Leenia?«

»Ich habe ihn gefunden«, flüsterte sie. »Ich war mit ihm auf Bordinfeel. Ich … ich muß ihn wiederfinden, meinen Auftrag aus­führen.«

Auftrag! Zenbronker zwang sich dazu, ruhig zu

bleiben. Er ignorierte die alarmierten Blicke der anderen und gab den Befehl, daß ein Verband von Organschiffen sofort in eine Umlaufbahn gehen sollte. Vielleicht war die Fremde auf Olmerstolm, um einen Angriff aus dem All vorzubereiten. Er mußte mit al­lem rechnen.

»Der Molg, Leenia!« drang er dann weiter in sie. »Du hast ihn hierhergebracht?«

Sie hatte ausgesagt, mit diesem »Molg«, worum immer es sich dabei auch handelte, auf Bordinfeel gewesen zu sein. Zenbronker hatte von dieser Welt gehört. Sie war völlig unbedeutend.

Aber sie befand sich am Rand des Maran­troner-Reviers!

Und von dort war sie gekommen. »Ich weiß es nicht«, sagte Leenia leise.

Dann nickte sie. Für einen Moment leuchte­te es in den leeren Augen auf. »Ja, ich war mit ihm bei den Organschiffen …«

»Du hast ihn verloren?« »Ich habe ihn … versteckt. Ich mußte es

tun, weil …« Sie zuckte die Schultern. Es sah so aus,

als versuchte sie krampfhaft, sich an etwas zu erinnern. Je länger Zenbronker sie beob­achtete, desto weniger glaubte er daran, daß sie schauspielerte.

»Was ist es?« fragte Kerrengorm scharf. Er trat vor, griff in Leenias lange Haare

Horst Hoffmann

und riß ihr den Kopf in den Nacken. »Sie hat zugegeben, etwas hierherge­

bracht und versteckt zu haben, wahrschein­lich an Bord der FRAULPIEN, denn dort suchte sie danach. Sie sagte, daß sie in je­mandes Auftrag handelt. Komm zu dir, Zen­bronker! Sie gehört nicht zu uns und hat sich hier eingeschlichen. Niemand hat uns über ihr Kommen informiert. Sie will Zeit gewin­nen und uns mit dummem Gefasel in die Irre führen. Ich sage dir, dieser Molg ist nichts anderes als eine Bombe!«

Zenbronker stand wie versteinert vor sei­nem Stellvertreter. Er sah Leenia an, doch diese zeigte nicht die geringste Reaktion. Zenbronker erkannte, daß er sich zu sehr von der Begeisterung hatte leiten lassen, endlich etwas tun zu können, und dabei die Realitäten vernachlässigt hatte. Kerrengorm hatte recht. Der Kommandant der Basiswelt gab Alarm. Er befahl die Durchsuchung der FRAULPIEN mit allen zur Verfügung ste­henden Mitteln. Die in der Nähe der FRAULPIEN stehenden Schiffe starteten, soweit sie dazu schon in der Lage waren, und landeten wieder auf anderen Teilen des riesigen Hafengeländes. Dann gab er den Wachen, die die Fremde gebracht hatten, den Befehl, sie abzuführen und in eine durch energetische Schirme ausbruchsicher ge­machte Zelle zu bringen, bis er sich weiter um sie kümmern konnte. Als die Wachen sie packen wollten, sprang sie auf.

»Nein!« schrie sie. »Laßt mich! Ich muß ihn finden! Ich muß ihn haben!«

Sie stieß die Wachen zur Seite. Ihre Au­gen begannen zu strahlen.

*

Leenia sah den Scuddamoren vor sich. Sein Name – ja, ein anderer hatte ihn Zen­bronker genannt. Vermutlich war Zenbron­ker der Kommandant dieser … Station? Welt? Zentrale …?

Leenia wußte es nicht. Der kurze Augen­blick, in dem sie einen Teil der Erinnerung zurückerlangt hatte, war schon wieder vor­

29 Die Körperlose und der Molg

bei. Neben ihr richteten sich zwei Scudda­moren auf und packten ihre Arme, nachdem Zenbronker ihnen einen Befehl gegeben hat­te.

Zenbronker war kurz vorher erschreckt zurückgesprungen. Warum?

Leenia erinnerte sich an nichts mehr. Sie spürte nur den Drang in sich, etwas wieder­finden zu müssen, das ihr verlorengegangen war.

Molg … Sie leistete jetzt keinen Widerstand, als

die beiden Scuddamoren sie abführten. Sie ließ sich in die Zelle bringen, viele Stock­werke unter dem Raum, in dem sie Zenbron­ker gegenübergestanden hatte, und sah zu, wie die Wachen sich zurückzogen und die Luft zwischen ihr und ihnen zu flimmern be­gann.

Ein Gefängnis, registrierte sie. Aber sie mußte beweglich bleiben, den

Molg finden. Sie rief den Wachen etwas nach, doch

diese reagierten nicht und verschwanden durch eine Tür. Leenia ging auf die sie um­gebenden strahlenden Wände zu und blieb nur wenige Zentimeter davor stehen. Sie wußte nicht, warum, aber sie hatte Angst da­vor, sie zu berühren.

Lange stand sie so da – bewegungslos, mit hängenden Schultern und geschlossenen Augen. Bilder tanzten in ihrem Bewußtsein, Bilder von Menschen, von Wesen mit sechs Armen und kleinen stämmigen Schwimmfü­ßen und von Raumschiffen auf einem riesi­gen Landefeld. Sie ergaben keinen Sinn.

Dann wieder der Molg – eine schwamm­ähnliche Kugel, die sich aufzublähen und in ihrem Gehirn zu explodieren schien.

Staub. Eine dichte Wolke von blauem Staub. Er trieb auf sie zu. Leenia schrie und riß die Augen auf.

Nur die flimmernden Wände. Kein Staub, kein Molg, kein Schiff …

Wo waren die Grallen? Eine Erinnerung brach durch: Bordinfeel,

die Welt der Kanalbauer. Sie allein mit dem Molg, mit … Atlans Extrasinn!

Leenia zuckte zusammen. Sie taumelte zurück und ließ sich in den einzigen Stuhl fallen, der in der Zelle stand. Sie sah sich al­lein auf Bordinfeel, den Molg fest in den Händen, ihre Gedanken auf Atlan gerichtet, den sie finden mußte.

Dann der Staub. Er kam aus dem Molg. Und plötzlich die Korridore eines Organ­

schiffs. Die FRAULPIEN. Leenia stand mit leeren Händen da und wußte, daß sie den Molg verloren hatte.

Nein, nicht verloren – er hatte sie ge­zwungen, ihn zu verstecken, irgendwo an Bord.

Leenia atmete tief durch und versuchte verzweifelt, das, was ihr wie ein Traum vor­kam, festzuhalten. Doch je mehr sie sich konzentrierte, desto schneller verschwanden die Bilder wieder.

Nur das Wissen blieb, daß sie an Bord der FRAULPIEN gelangen mußte, um den Molg zu finden, bevor er …

Bevor er was tun konnte? Er hatte eine ganz bestimmte Absicht.

Leenia wußte nur, daß ihm das, was er vor­hatte, auf keinen Fall gelingen durfte.

Der Wunsch, aus ihrem Gefängnis auszu­brechen, wurde übermächtig. Es bereitete Leenia fast körperliche Qualen, zu wissen, daß sie hilflos war. Auch dies war etwas, das sie nur spürte: sie konnte die Energiebarrie­ren nicht überwinden.

Sie mußte warten. Irgendwann würde man sie wieder holen. Vielleicht hatte sie bis da­hin die volle Erinnerung wiedererlangt. Eben waren die Bilder deutlicher gewesen als beim Verhör durch Zenbronker. Auch der Druck im Kopf war nicht mehr ganz so stark.

Leenia zwang sich dazu, logisch zu den­ken, was in ihrer augenblicklichen Verfas­sung fast ein Ding der Unmöglichkeit war. Sie mußte wieder zu klarem Verstand kom­men, gegen das kämpfen, was von ihr Besitz ergriffen hatte und ihre Sinne lähmte.

Es war schwer, so furchtbar schwer … Nach einer Weile kamen die Bilder wie­

der, diesmal wieder etwas deutlicher, doch

30

immer noch ohne das Maß an Zusammen­hang, das sie erkennen lassen konnte, warum sie jetzt hier saß. All ihre Gedanken kreisten um die eine Frage:

Was war auf Bordinfeel geschehen, als sie mit dem Molg allein war?

Wieder verblaßte die Erinnerung. Der Ge­danke daran, daß in diesen Augenblicken draußen bei den Raumschiffen etwas vor­ging, das sie unbedingt verhindern mußte, von dem sie aber nicht wußte, was es war, trieb ihr die Tränen in die Augen.

Sie mußte handeln und konnte es nicht. Sie hatte versagt.

8.

Wie sollte eine Suche Erfolg haben, wenn niemand wußte, wie das Gesuchte überhaupt aussah?

Zenbronker befand sich an Bord der FRAULPIEN. Von der Zentrale aus beob­achtete er über eine Vielzahl von Monitoren, wie Scuddamoren, Roboter und Angehörige von Hilfsvölkern jeden Korridor, jede Ni­sche, jeden Raum und jeden Schacht ab­suchten. Sie gingen mit den modernsten Spürgeräten vor. Selbst der Teil des Schif­fes, in dem der Antrieb untergebracht war, und die transparente Bugkuppel mit der Ga­lionsfigur wurden nicht ausgelassen.

Nichts. Nach etwa einer Stunde wollte Zenbron­

ker die Suche abbrechen lassen. »Und wenn diese Fremde uns nur vorge­

spielt hat, etwas an Bord geschmuggelt zu haben?« fragte Bilnerstung.

»Ich habe ihr Gesicht beobachtet«, sagte Zenbronker. »Ich kann es mir nicht vorstel­len. Aber was meinst du?«

»Sie könnte von etwas anderem ablenken wollen.«

»Was sollen wir noch tun? Ich habe einen Verband in den Weltraum geschickt. Kein Gegner kann sich uns nähern, ohne sofort er­kannt zu werden. Die Schiffe auf den Lande­feldern stehen alle unter Bewachung. Soll ich auch sie durchsuchen lassen? Es steht

Horst Hoffmann

fest, daß diese Leenia nur an Bord der FRAULPIEN war.«

»Hier wurde sie entdeckt«, antwortete Bilnerstung. Er war entschlossen, keinen Augenblick länger als unbedingt nötig auf Olmerstolm zu bleiben. Für ihn schien fest­zustehen, daß es keinen Fremdkörper an Bord gab.

»Du meinst«, fragte Zenbronker ungehal­ten über die Wortkargheit seines Gegen­übers, »daß sie vorher schon auf anderen Schiffen gewesen sein könnte und nur nicht entdeckt wurde? Daß sie diesen Molg viel­leicht dort versteckte?«

»Falls es ihn wirklich gibt. Ich habe mir die Mühe gemacht, vom Zentralcomputer al­le Daten über Bordinfeel abzurufen. Es gibt dort weder eine Lebensform noch sonst et­was, das man ›Molg‹ nennt.«

»Unterstellen wir, daß es ihn gibt.« »Wenn ein fremdes Wesen unbemerkt

von euren Außenstationen und den Ortern auf Olmerstolm hierhergelangen konnte, könnten auch weitere Fremde eingesickert sein. Fremde, die jetzt, wo sich alles auf die­se Leenia und das, was sie angeblich ver­steckte, konzentriert, ungestört arbeiten kön­nen.«

Zenbronker schwieg lange. Falls es weite­re Fremde gab, wo sollten sie sich befinden? Was konnte ihr Ziel sein?

»Nur sie kann dir die Antwort geben«, sagte Bilnerstung. »Es ist dein Problem, Zenbronker. Du mußt die Entscheidung tref­fen. Du trägst die Verantwortung.« Ja, dach­te der Kommandant der Basiswelt. Und er wußte, daß andere, allen voran Kerrengorm, nur darauf warteten, seinen Platz einnehmen zu können. Sie waren dazu verdammt, für ungewisse Zeit auf Olmerstolm zu leben, und wenn sie schon keinen Sinn in ihrem Leben sehen konnten, dann wollten sie zu­mindest soviel Macht wie möglich.

Zenbronker sah ein, daß er nicht daran vorbeikam, Leenia einer Gehirnwäsche aus­zusetzen.

Er war bereits entschlossen, den Befehl zu geben und in die Kommandozentrale im

31 Die Körperlose und der Molg

Kontrollturm zurückzukehren, als sein Blick auf einen der Schirme fiel, die die immer in Gruppen zu zweit gehenden Scuddamoren zeigten, die nach dem suchten, was es nicht zu geben schien.

Zeigen sollten… Zenbronker stieß einen Schrei aus und

deutete auf den Schirm. Ein Scuddamore lag reglos am Boden in der Mitte eines Korri­dors, genau dort, wo einige zentimeterdicke Kabelstränge in der Wand verschwanden. Die Abdeckplatte war heruntergerissen wor­den. Eine Nische von etwa einem halben Meter Tiefe war zu sehen.

Keine Spur von dem Begleiter des Be­wußtlosen oder Toten.

Bilnerstung stieß eine Reihe von Verwün­schungen aus.

»Bist du immer noch der Meinung«, preß­te Zenbronker hervor, »daß sie uns angelo­gen hat?«

*

Jaksbärler hieß der Scuddamore, der mit dem verschwundenen Brexanark zusammen den unteren Teil der FRAULPIEN durch­sucht hatte.

Nun saß Jaksbärler mit stumpfem Blick vor Zenbronker, unfähig, einen zusammen­hängenden Satz zu sprechen. Er konnte nur lallen, und wenn es ihm einmal gelang, ein Wort deutlich auszusprechen, ergab es kei­nen Sinn.

Er sprach von einem blauen Staub und nannte immer wieder gleich darauf den Na­men Brexanark. Mehr war ihm nicht zu ent­locken.

Blauer Staub und Brexanark, der unauf­findbar war. Ein zweites Mal hatte Bilner­stung es sich gefallen lassen müssen, daß sein Schiff auf den Kopf gestellt und damit der Start weiter verzögert wurde. Er hatte sich grollend in eine Ecke der Zentrale zu­rückgezogen und gab nur dann und wann bissige Kommentare. Der Start der FRAUL­PIEN war nicht nur verzögert, sondern bis auf weiteres untersagt worden.

Etwas befand sich also tatsächlich an Bord, dachte Zenbronker. Und nach dem, was er bisher wußte, mußte er annehmen, daß es sich bei dem mysteriösen Molg um nichts anderes handelte als um den Staub, von dem Jaksbärler redete.

Was war dann aus Brexanark geworden? Hatte der Staub ihn getötet und möglicher­weise sogar in sich aufgenommen? Die Idee war nicht so abwegig, wie sie dem nun ebenfalls an Bord gekommenen Kerrengorm erschien, der sie als Hirngespinst abtat. Zen­bronker selbst hatte auf einem Planeten, der wichtige Rohstoffe für die raumfahrenden Völker des Marantroner-Reviers lieferte, von jenen, die auf ihm arbeiten mußten, eine solche monströse Lebensform beschrieben bekommen. Intelligente Staubwolken, aus Milliarden kleinster Kristalle bestehend, die sich von Organischem ernährten und mehr als einen Scuddamoren das Leben gekostet hatten.

War dies die Waffe, die die Fremde nach Olmerstolm gebracht hatte? Waren Gegner des Neffen am Werk, die Stützpunkte Chirmor Flogs vernichten wollten? Die Staubwolken, an die Zenbronker denken mußte, vermehrten sich so schnell, daß nichts sie aufhalten konnte, wenn sie nur ge­nügend Nahrung fanden. Und es gab eine Menge Nahrung für sie auf Olmerstolm. Vielleicht irrte Zenbronker sich. Aber allein die Möglichkeit, es beim Molg mit einer sol­chen Lebensform zu tun zu haben, brachte ihn an den Rand der Panik. Jetzt konnte es kein Zögern mehr geben. Zenbronker ließ Schirmfeldprojektoren heran fahren und eine Energieglocke über die FRAULPIEN legen, nachdem sie völlig evakuiert worden war. Der Kommandant der Basiswelt hatte die Suche nach Brexanark schnell abbrechen lassen, bevor weitere Scuddamoren oder An­gehörige der Hilfsvölker »verschwinden« konnten.

Während Bilnerstung sich mit seiner Mannschaft laut fluchend in die Wartehallen begab, machten er und Kerrengorm sich auf den Weg zu jenen Kammern, in denen schon

32

mehr als einer, der nicht reden wollte, ge­sprochen hatte.

Jaksbärler befand sich bereits dort, und fünf schwerbewaffnete Scuddamoren holten die Fremde.

*

Als Leenia die Scuddamoren kommen sah, war der Druck in ihrem Kopf fast völlig verschwunden. Sie wußte wieder, wer sie war, worin ihr Auftrag bestand, daß sie auf Cändero-Spell einen Molg gefunden und diesen auf Bordinfeel mit Atlans Extrasinn versehen hatte.

Dann hatte sie sich in den Korridoren der FRAULPIEN befunden und nach dem Molg gesucht, der sie gezwungen hatte, sie an Bord zu verstecken. Warum, das wußte sie ebensowenig wie den Ort, an dem sie ihn abgelegt hatte, oder wie sie ausgerechnet hierhergekommen war, wo sie keinesfalls Atlan finden konnte.

Als sie die Scuddamoren nun sah, wußte sie, was ihr bevorstand. Einer hatte beim Verhör von Gehirnwäsche gesprochen. Sie aber mußte zur FRAULPIEN, den Molg su­chen, herausfinden, was zwischen Bordin­feel und dieser Welt, von der sie nur den Na­men wußte, geschehen war.

Die Energiebarrieren um sie herum fielen. Leenia wartete nicht ab, bis die Scuddamo­ren bei ihr waren. Sie schloß die Augen, konzentrierte sich auf die FRAULPIEN und versuchte zu entmaterialisieren.

Nichts geschah. Nur die Stimme eines Scuddamoren war zu hören, der sie auffor­derte, keinen Widerstand zu leisten und mit­zukommen.

Leenia hatte es befürchtet. Sie konnte die notwendige Konzentration für einen Sprung noch nicht aufbringen, und sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis sich der letzte Rest dessen, was ihr Bewußtsein vernebelt hatte, aufgelöst hatte.

Sie machte einen Sprung zurück, öffnete die Augen und sah die schweren Energie­waffen auf sich gerichtet. Trotz und Ver-

Horst Hoffmann

zweiflung übermannten sie, und sie versuch­te, ihre Energien aus den Augen abzugeben, obwohl sie wissen mußte, daß es noch zu früh war.

Der Versuch schlug fehl. Die Scuddamo­ren waren heran und packten sie an den Ar­men. Hilflos mußte sie sich fügen – zumin­dest für den Augenblick. Sie mußte Zeit ge­winnen.

Sie erkannte Teile des Weges jetzt wie­der, als sie durch Gänge und über freies Ge­lände geführt wurde, bis sie schließlich in einen Lift im Sockel eines schlanken Tur­mes gestoßen wurde. Es ging abwärts. Alle fünf Wachen blieben bei ihr und nahmen die Waffen nicht herunter, bis der Lift zum Still­stand kam und sich eine der Wände vor ih­ren Augen zur Seite schob.

Helligkeit schlug ihr entgegen. Leenias Augen gewöhnten sich schnell daran. Sie ließ sich bis in die Mitte des länglichen, niedrigen Raumes führen, wo der Scudda­more sie erwartete, der sie verhört hatte. In­zwischen hatte sie gelernt, diese Wesen an ihren Ausstrahlungen zu unterscheiden.

Doch nicht ihn sah sie an. Ein anderer Scuddamore saß in einem

Alptraum von Sessel. Stählerne Klammern lagen um seine Fuß und Handgelenke. Meh­rere dünne Drähte schienen an verschiede­nen Stellen seines Kopfes in dem dunklen Wallen, das ihn umgab, zu verschwinden. Angehörige eines Leenia nicht bekannten Volkes standen neben den massiven Lehnen, in denen sich verschiedene Anzeigeinstru­mente befanden, und nahmen Einstellungen vor. Es sah fast so aus, als wollten die Scud­damoren selbst nichts mit dem zu tun haben, was mit ihrem Artgenossen vorging. Über dessen Kopf schwebte ein Projektor, aus dem in bestimmten Abständen schwache Blitze auf den Unglücklichen herniederfuh­ren. Der Scuddamore lallte, schrie, versuchte sich aufzubäumen und loszureißen. Das also war das, was man hier unter einer Gehirnwä­sche verstand, dachte Leenia erschüttert. Von dem armen Teufel im Foltersessel wür­de niemand etwas erfahren. Er war ein

33 Die Körperlose und der Molg

Wrack. Doch das schien die Scuddamoren wenig zu stören. Zwei von ihnen, die bei Zenbronker gestanden hatten, bauten sich vor ihm auf und stellten Fragen. Die Ant­worten waren wieder nur Schreie. Leenia glaubte, das Wort »Staub« zu verstehen. Sie ließ sich ihren Schrecken nicht anmerken. Sie mußte sich so gelassen wie möglich ge­ben. Mit ziemlicher Sicherheit ließ man sie Zeuge des »Verhörs« sein, damit sie schon jetzt weich wurde.

Auf ein Zeichen der Scuddamoren nah­men die Fremden an den Lehnen neue Schaltungen vor. Die Intensität der Blitze aus dem Projektor wurde stärker. Der Kör­per des Scuddamoren bebte immer heftiger.

Leenia zwang sich dazu, hinzusehen. Vielleicht konnte der Haß auf die Bestien, die einen der Ihren zu Tode quälten, ihr die Kraft geben, das aus ihrem Bewußtsein zu spülen, was sie immer noch hemmte. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Vielleicht konnte sie die Scuddamoren mit Worten einige Mi­nuten lang hinhalten – dann aber würde sie dort sitzen, wo der Unglückliche in diesem Augenblick starb.

Zum erstenmal, seitdem Leenia den Raum betreten hatte, sprach Zenbronker. Er rief die Fragesteller zurück und ordnete an, daß der Tote aus dem Sessel geschafft wurde.

»Du wirst uns die Antworten geben, die wir von ihm nicht bekommen konnten«, wandte er sich dann an Leenia.

»Wer war er?« fragte sie und gab sich Mühe, so unbeteiligt wie möglich zu klin­gen.

»Du scheinst dich gut erholt zu haben«, stellte der Kommandant fest. »Jaksbärler war dabei, als sein Begleiter vom Molg ge­tötet wurde.«

Leenia zuckte zusammen. Sie hatte ver­mutet, daß der Scuddamore zumindest mit dem vom Molg abgesonderten Staub in Be­rührung gekommen war, genau wie sie, und dadurch zum Idioten geworden war. Er hätte sich mit der Zeit ebenso wie sie erholt. Für einen Augenblick schweiften Leenias Ge­danken ab. Sie schickte einen stummen Vor­

wurf an die Adresse der Körperlosen, die sie von der Eigenschaft der Molgs, diesen wil­lenlos machenden Staub abzusondern, war­nen müssen.

Aber der Molg konnte nicht töten! Zwar lebte er nach der Loslösung aus dem Boden des Beetes noch Jahre weiter, aber er war unfähig, sich von alleine fortzubewegen, ge­schweige denn mit seinen schwachen Extre­mitäten jemanden umzubringen. Schon gar nicht verfügte er über paranormale Kräfte.

Offensichtlich unterlagen die Scuddamo­ren einem Irrtum. Sie hatten also nach dem Molg suchen lassen, und Jaksbärler war, zu­sammen mit seinem Begleiter, auf ihn gesto­ßen. Anders waren seine Worte vom Staub nicht zu deuten. Bedeutete dies, daß die Scuddamoren den Molg besaßen und – noch – vor ihr versteckten, um zu erfahren, was da in ihre Hände gefallen war?

Atlans Extrasinn! Der Gedanke an ihn ließ Leenia plötzlich zweifeln. Ein Molg konnte nicht töten, sich nicht von selbst fort­bewegen. Aber was war, wenn der Extrasinn sich in ihm auf die gleiche fatale Weise be­merkbar machte wie schon in ihr und in Kir-so Bal Taur?

War es möglich, daß er dem Molg eine Art Intelligenz verliehen hatte? Daß beide sich auf phantastische Art und Weise vereint hatten?

Der Tote wurde aus dem Raum getragen. Der Sessel war nun leer. Die Fremden war­teten auf Leenia.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie, als Zen­bronker sie abwartend ansah.

»Du glaubst gar nicht, was du alles verste­hen wirst, wenn du erst dort sitzt.« Der Scuddamore deutete auf den Sessel.

»Ihr habt den Molg also gefunden?« frag­te Leenia schnell. Irgend etwas mußte ihr einfallen. Sie war noch zu schwach.

»Gefunden!« Zenbronker lachte rauh. »Du wirst uns sagen, wo und wie wir ihn finden können. Hast du deine Meinung ge­ändert? Willst du uns freiwillig sagen, was du weißt?«

»Ich erinnere mich jetzt an vieles«, sagte

34

sie schnell. Fast hatte sie das Gefühl, daß Zenbronker ihr eine Brücke baute, damit sie nicht auf den stählernen Sessel mußte, wo die Folterknechte bereits ungeduldig zu wer­den begannen. »Er zwang mich, ihn an Bord eines der Schiffe zu verstecken. Er ist unbe­deutend und ungefährlich für euch.« Sie mußte sich jedes Wort gut überlegen, wenn sie nicht zuviel verraten wollte. »Er … er ist mein Partner.«

»Dein Partner!« Zenbronker schrie es her­aus, und das Gefühl, von ihm könne sie Gnade erwarten, war sofort wie weggebla­sen. »Ein fressender Nebel, der mindestens einen meiner Leute auf dem Gewissen hat! Das ist dein Partner?«

Leenia begriff, daß die Scuddamoren den Staub tatsächlich für den Molg hielten, was aber hieß, daß der Molg selbst noch nicht gefunden worden war. Doch – gefunden schon, und die Scuddamoren, die ihn ent­deckt hatten, hatten einen hohen Preis dafür bezahlt.

Leenia war noch dabei, die Konsequenz daraus zu »verdauen«, als Zenbronker den Scuddamoren, die sie gebracht hatten, ein Zeichen gab, worauf diese sie wieder pack­ten und zum Sessel führten.

Sie hatte abermals richtig vermutet. Der Molg hatte ein Eigenbewußtsein entwickelt. Atlans Extrasinn setzte sein fatales Wirken nun in ihm fort. Schon daraus, daß der Molg sie gezwungen hatte, ihn hierherzubringen und zu verstecken, hätte sie es erkennen müssen.

Welches Ziel verfolgte er – verfolgte der Extrasinn?

»Aufhören!« schrie Leenia in Panik, als sie in den Sessel gedrückt wurde und sich die stählernen Klammern um ihre Gelenke schlossen. Sie paßten sich völlig an und lie­ßen keinen Millimeter Raum. Behandschuh­te Hände näherten sich ihrem Kopf. Zwi­schen den Fingern der Fremden befanden sich Haftscheiben mit Drähten daran.

»Nein!« schrie sie. »Ihr macht einen Feh­ler! Ich will euch helfen, den Molg zu fin­den! Er ist nicht das, was ihr glaubt. Allein

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bekommt ihr ihn nie. Ich allein …« »Schweig!« herrschte Zenbronker sie an.

»Du hast uns genug vorgelogen. Ja, du wirst uns helfen, ihn zu finden und unschädlich zu machen. Jetzt gleich!« Er gab den Gestalten an den Lehnen ein Zeichen. »Fangt an.«

Nein! dachte Leenia. Wenn sie erst ein­mal an die Drähte angeschlossen war und die Blitze aus dem Projektor auf sie über­flossen, war es zu spät für sie. Sie mußte jetzt zu entfliehen versuchen, auf die Gefahr hin, daß ihre Konzentrationsfähigkeit noch immer nicht hundertprozentig wiederherge­stellt war. War das nicht der Fall, dann war sie ohnehin verloren.

Sie konnte nur noch den Kopf bewegen, drehte ihn so, daß sie diejenigen sehen konn­te, die gerade die Haftscheiben an ihrer Stirn befestigen wollten, und bündelte die Energi­en ihres Körpers. Ihre Augen blitzten auf. Die violetten Strahlen töteten die Fremden auf der Stelle.

Tumult brach los. Die Scuddamoren stan­den wie versteinert um sie herum. Sie durfte nicht warten, bis sie sich von ihrer Überra­schung erholten.

Leenia schloß die Augen, dachte so inten­siv wie nur möglich an den Korridor in der FRAULPIEN, in dem sie zuletzt nach dem Molg gesucht hatte – und entmaterialisierte.

Die Energieglocke über dem Organschiff bedeutete für sie kein Hindernis. Sie war un­tergeordneter Natur und hielt sie nicht auf.

So fand sie sich an Bord der FRAULPI­EN wieder. Es dauerte Augenblicke, bis sie begriff, daß sie es tatsächlich geschafft hatte und wieder im vollen Besitz ihrer Kräfte war.

Doch die Zeit drängte. Die Scuddamoren würden eine Weile fassungslos sein, dann aber nach ihr zu suchen beginnen. Und sie wußten, wo sie sie finden würden.

Plötzlich war es, als risse Leenias Be­wußtsein auf. Vielleicht war es die Folge der Teleportation, vielleicht wäre die volle Erin­nerung auch so durchgebrochen.

Leenia sah sich wieder mit dem Molg auf Bordinfeel stehen, wie sie die Augen schloß,

35 Die Körperlose und der Molg

um sich ganz auf Atlan zu konzentrieren – und wie sie die Stimme des Molgs hörte …

*

In dem Augenblick, in dem der Extrasinn in den Molg überglitt, wußte er, daß diesmal alles ganz anders sein würde. Dieses seltsa­me Wesen war aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit ein idealer Träger für ein heimatloses Bewußtsein, war kein Gefängnis aus fremden Gedanken, Wünschen und Trie­ben, in dem der Extrasinn immer nur »Gast« sein durfte.

Diesen Molg besaß der Extrasinn. Er war das Wesen. Die Hülle diente ihm nur als Herberge, als Körper, den er benutzen konn­te. Kein fremder Geist schränkte ihn ein.

Doch um sich völlig anzupassen und eins mit seinem Träger zu werden, mußte der Ex­trasinn dennoch Konzessionen an den Molg machen, dessen Natur als »Nachkomme« ei­nes Organschiffs er schnell erkannte.

Obwohl der Molg über kein Bewußtsein im herkömmlichen Sinn verfügte, steckten in ihm Erinnerungen an die Zeit vor der Meta­morphose. Der Extrasinn erkannte, daß es ihm nur von Nutzen sein konnte, wenn er diese Erinnerungen bewußt machte und so­mit dem Molg ein Stück Intelligenz verlieh. Stark vereinfacht ausgedrückt, verlieh er dem Molg ein Bewußtsein, indem er einen Teil seines Bewußtseins an ihn abgab.

Der Molg erwachte. Er wurde zu einem eigenständigen Wesen mit eigenen Sehn­süchten, Zielen und Plänen. Durch den Ex­trasinn wurde er in die Lage versetzt, zu füh­len und zu denken. Und sein ganzes Denken und Streben war durch die Erinnerungen an jene Zeiten bestimmt, in denen er als Organ­schiff durch das Weltall flog – und als Ce-sterton-Kyrl.

Ein winziger Teil des auf phantastische Art und Weise nie erloschenen Bewußtseins des Noots hatte sich in allen Molgs des Bee­tes manifestiert, das dort entstanden war, wo die NAUSIEN abgestürzt war.

Der Molg begriff sich als Wesen. Seine

bisherige Existenz erschien ihm als im höch­sten Grade unbefriedigend. Der Extrasinn unterstützte diesen Bewußtwerdungsprozeß, denn er konnte nur davon profitieren. Noch dachte er dies.

Er wußte, daß Leenia versuchen wollte, Atlan zu finden, doch ihre Bemühungen er­schienen ihm als zum Scheitern verurteilt. Sie hatte nicht die nötige Bewegungsfreiheit und war zu labil.

Mit Hilfe des Molgs konnte er selbst auf die Suche gehen. Er mußte die Raumfahrtbe­sessenheit des Molgs, die Sehnsucht, wie in der früheren, weit zurückliegenden Existenz wieder zwischen den dunklen Sternen der Schwarzen Galaxis zu sein, ausnutzen und in die richtigen Bahnen lenken.

Die Unbeweglichkeit des Molgs stellte zwar ein Problem dar, aber auch dies ließ sich lösen. Der willenslähmend wirkende Staub war das Mittel, um sich Träger zu be­schaffen.

So war es bei Leenia geschehen. Als sie sich konzentrierte, um eventuelle

psionische Impulse Atlans aufzufangen, hat­te der Molg zum erstenmal zugeschlagen. Leenia war so in ihre Konzentration vertieft gewesen, daß sie nicht einmal merkte, was mit ihr geschah. Als ihr Wille erloschen war, trat der Extrasinn selbst in Aktion. Er wirkte telepathisch derart auf sie ein, daß sie zur nächsten Welt sprang, die über einen Raum­hafen und Organschiffe verfügte.

Von dort aus, an Bord eines Schiffes, sollte die Suche beginnen – für das aus Erin­nerungen und bisher brachliegenden Sehn­süchten geborene Bewußtsein des Molgs die Erfüllung dieser Sehnsüchte, für den Extra­sinn der lange Weg zurück zu Atlan.

Er war nicht an ein Schiff gebunden. Überall, wo es landete und sich lebende We­sen in der Nähe befanden, konnte er sie durch den Staub dazu bringen, ihn in ein an­deres Schiff mit neuem Ziel zu bringen …

*

Die Erkenntnis lähmte Leenia für Sekun­

36

den. Unbewußt mußte sie die Absichten des

Molgs – sie sah in erster Linie ihn und nicht den Extrasinn, der ihn mehr oder weniger steuerte – während des Sprunges von Bordinfeel nach Olmerstolm in sich aufge­nommen haben, als sie und der Molg eine energetische Einheit bildeten.

Jetzt wurde ihr ein Weiteres klar. Mittels des Staubes, einer natürlichen

Waffe der Molgs gegen Feinde, konnte der Molg nicht nur Raumfahrer dazu bewegen, ihn unbemerkt von Schiff zu Schiff zu brin­gen, wenn dem Extrasinn die Route desjeni­gen, auf dem er sich gerade befand, als nicht vielversprechend erschien – er konnte auf die gleiche Weise von einem Schiff ver­schwinden, auf dem er gesucht wurde.

Leenia dachte daran, daß ein Scuddamore, der mit dem Staub in Berührung gekommen war, tot sein sollte. Sie begriff, daß er ledig­lich verschwunden war und die Scuddamo­ren seinen Tod nur vermuteten.

Befand sich der Molg noch in der FRAULPIEN?

Wie viele startbereite Organschiffe moch­te es gegenwärtig auf Olmerstolm geben? Hundert? Tausend? Wie viele Verstecke, in die der Molg sich von Brexanark bringen lassen konnte, um abzuwarten, bis sich die Wogen geglättet hatten?

Leenia erkannte die ganze Ausweglosig­keit ihrer Situation, falls ihre Befürchtung sich als zutreffend erwies. Sie mußte suchen, hier an Bord der FRAULPIEN solange die Scuddamoren noch nicht auf der Bildfläche erschienen. Nur so konnte sie Gewißheit be­kommen.

Leenia zwang sich dazu, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Endlos erscheinende Korridore, Schächte, Nischen. Sie lauschte in sich hinein, versuchte den Extrasinn para­normal aufzuspüren – vergeblich.

Endlich fand sie die Stelle, an der der blaue Staub millimeterdick in der Mitte ei­nes Korridors auf dem Boden lag. Fußab­drücke waren hineingetreten. Leenia bückte sich und sah, wie eine feine Spur von der

Horst Hoffmann

Stelle, an der der Molg die Scuddamoren überrascht hatte, wegführte. Sie verlor sich nach wenigen Metern. Brexanark mußte et­was von dem Staub an den Stiefelsohlen ge­habt haben.

Aber wie sollte er unbemerkt aus der FRAULPIEN gelangt sein? Hatte er die Si­cherheitsvorkehrungen umgehen können, bevor der Energieschirm aufgebaut wurde?

Weiter! Leenia gab die Hoffnung nicht auf, den

Molg an Bord der FRAULPIEN zu finden. Sie zwang sich dazu, an die Möglichkeit zu glauben.

Sie erreichte die Zentrale des Organ­schiffs und sah auf einem Monitor, wie drei Gruppen von Scuddamoren aus verschiede­nen Richtungen auf die FRAULPIEN zuka­men. Sie hatten ihre Überraschung also überwunden. In wenigen Minuten würden sie an Bord sein.

Leenia aktivierte weitere Schirme. Sie sah die Organschiffe jenseits der geräumten Flä­che auf dem Landefeld stehen. In jedem konnte der Molg stecken.

Leenia versuchte, sich in ihn hineinzuver­setzen. Was hätte sie an seiner Stelle getan, wäre ihr die Flucht aus der FRAULPIEN ge­lungen?

Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Ständig starteten und landeten weiterhin

Organschiffe auf Olmerstolm. Für jene, die sich auf diesem Teil des Raumhafens befan­den, herrschte ganz offensichtlich Startver­bot. Aber das galt nicht für die anderen Lan­defelder, die ein Scuddamore mit einem ge­eigneten Fahrzeug in wenigen Minuten er­reichen konnte.

Dies mußte das Ziel des Molgs gewesen sein. An Bord der FRAULPIEN konnte Lee­nia die Suche jetzt, wo die Scuddamoren ka­men, nicht mehr fortsetzen. Außerdem glaubte sie jetzt immer weniger daran, daß der Molg sich noch hier befand.

Sie mußte wissen, welche Schiffe von Ol­merstolm gestartet waren, nachdem er ent­deckt worden und Brexanark mit ihm ver­schwunden war.

37 Die Körperlose und der Molg

Sie selbst konnte es nicht in Erfahrung bringen. Dazu fehlte ihr das zur Bedienung der scuddamorischen Technik notwendige Wissen. Ein Scuddamore mußte für sie die Computer befragen.

Leenia dachte an die Höheren Welten. Lange durfte sie die Rückkehr dorthin nun nicht mehr hinauszögern. Sie wußte, daß sie dabei war, sich noch einmal in Gefahr zu be­geben, doch es mußte sein, wenn sie eine Chance haben wollte, den Molg mit dem Ex­trasinn wieder in ihre Hände zu bekommen.

Sie wagte sich die Reaktion der Körperlo­sen auf einen neuerlichen Fehlschlag nicht vorzustellen.

Leenia suchte ein Versteck und fand es in einem offenstehenden leeren Wandschrank. Sie stieg hinein und zog die Tür zu.

Der Energieschirm um die FRAULPIEN fiel, die ersten Scuddamoren kamen durch die Schleusen.

9.

Sie versammelten sich in der Zentrale, schwärmten auf die Korridore aus, suchten überall – nur nicht in der Zentrale selbst.

Leenia konnte hören, wie sie sich unter­hielten. Sie erkannte Zenbronkers Stimme. So erfuhr sie, daß Brexanark noch nicht ge­funden worden war. Die Scuddamoren spra­chen weiterhin von ihm wie von einem To-ten. Leenia bedachten sie mit allen mögli­chen Bezeichnungen, aus denen hervorging, daß sie mit ihr auch nicht das geringste an­fangen konnten.

Sie gelangten schließlich zu der Überzeu­gung, daß sie, gerade weil sie damit rechnen mußte, dort am ehesten gesucht zu werden, nicht an Bord der FRAULPIEN war. Die Suche wurde abgeblasen. Falls sie sich über­haupt noch auf Olmerstolm befand, so argu­mentierte Zenbronker, würde sie versuchen, die wichtigsten Nervenzentren der Basiswelt zu sabotieren, während »ihr« Nebel bald ir­gendwo erscheinen und für ein Chaos sorgen würde.

Zenbronker erntete heftigen Widerspruch,

doch seine Befehle galten. Leenia konnte die Angst vor dem »fressenden Staub« spüren. Zenbronker gab die Anweisung, daß alle Scuddamoren sich in die wichtigsten Anla­gen zurückzogen, um nach Leenia zu su­chen. Natürlich waren sie dort auch am be­sten gegen den Staub geschützt. Immerhin bewies Zenbronker Verantwortungsbewußt­sein, als er sich dagegen wehrte, Unterstüt­zung von anderen Welten der Scuddamoren herbeizurufen. Jedes landende Schiff konnte zum Träger des Nebels werden und ihn zu anderen Planeten schleppen.

Das Startverbot wurde mit sofortiger Wir­kung auf alle auf Olmerstolm befindlichen Schiffe ausgeweitet.

Leenia wurde klar, daß sie, wenn sie von hier verschwand, für einen spektakulären Abgang sorgen mußte. Die Scuddamoren mußten zu der Überzeugung gebracht wer­den, daß sie den Nebel mit sich nahm, wenn sich die Verhältnisse auf Olmerstolm bald wieder normalisieren und der Planet keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte. Fragen und Untersuchungen bargen die Gefahr in sich, daß man höheren Ortes die Vorkommnisse auf der Basiswelt mit den »vergessenen« Körperlosen in Verbin­dung brachte und nach Mitteln suchte, diese potentielle Gefahr unschädlich zu machen. Zwar konnte Leenia sich nicht vorstellen, wie Körperliche in den Bereich der Höheren Welten vordringen wollten, aber sie hütete sich davor, die Möglichkeiten des Dunklen Oheims zu unterschätzen.

Bei dem Gedanken an eine Bedrohung ih­rer Artverwandten erkannte Leenia, wie sehr sie bei allem Sträuben doch zu ihnen gehör­te.

Die Scuddamoren verließen die FRAUL­PIEN. Leenia erschrak. Ohne sie war sie hilflos.

Sie atmete auf, als sie wieder Stimmen hörte. Der Kommandant des Organschiffs hatte durchgesetzt, daß er mit einem Beglei­ter in der Zentrale bleiben konnte.

Leenia hörte, wie sie sich setzten, und warteten, bis sie sich über den Rückzug der

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anderen Scuddamoren unterhielten, der nur auf den Monitoren zu sehen war. Sie mußten ihr jetzt den Rücken zukehren.

Vorsichtig öffnete sie die Schranktür einen Spalt breit, bis sie die beiden sehen konnte. Bilnerstung, der Kommandant der FRAULPIEN, zog böse über Zenbronker her. Er wollte starten, koste es, was es wolle. Der andere stimmte ihm zu. In ihrer Rage bemerkten beide Scuddamoren nicht, wie Leenia ihr Versteck verließ.

Mit gezielten Handkantenschlägen beför­derte sie Bilnerstung und den anderen zu Boden, wobei sie Bilnerstung die Waffe ent­riß.

»Keine Dummheiten«, sagte sie und rich­tete den Strahler auf sie. Sie trat ein paar Schritte zurück.

»Die Fremde«, keuchte Bilnerstungs Be­gleiter.

»Ich brauche nur einen von euch«, sagte Leenia ruhig. Sie zeigte mit der freien Hand auf den Strahler. »Kann er paralysieren?«

»Sie weiß nicht, wie man damit umgeht, und will uns drohen!« dröhnte Bilnerstungs Stimme durch die Zentrale. »Los, wir packen sie!«

Leenias Augen blitzten auf. Der tödliche Strahl fuhr dicht vor den Füßen des Scudda­moren in den Boden.

»Ich könnte euch beide auf der Stelle tö­ten. Ihr habt die Wahl. Einer von euch muß mir helfen, von diesem Planeten zu entkom­men. Auch er wird paralysiert werden, wenn ich ihn nicht mehr brauche – oder sterben, wenn er sich weigert.«

»Entkommen?« fragte Bilnerstung, blieb aber in respektvoller Entfernung. »Du willst … aufgeben?«

Leenia hatte sich jedes Wort gründlich überlegt. Wenn ihr Plan gelang, würden die­se beiden die letzten Scuddamoren sein, die sie zu Gesicht bekämen. Von ihrer späteren Aussage hing es ab, ob es zu einer unter Umständen folgenschweren Untersuchung kommen oder ob die Ereignisse auf Olmer­stolm bald nur noch Raumfahrergarn sein würde, das kaum jemand ernst nahm.

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»Von Aufgeben kann nicht die Rede sein. Ich suchte den Nebel und habe ihn gefun­den. Allerdings brauche ich eure Hilfe, um ihn von hier fortzubringen.« Leenia ging auf die Annahme, beim Molg handle es sich um »fressenden Staub«, ein. »Wie ich schon einmal sagte, ist der Molg mein Partner. Wir wurden durch Zufall hierher verschlagen. Wir wollen nichts von euch.«

»Beweise es! Einer von uns wurde durch ihn getötet.«

»Ihr irrt euch. Aber ihr werdet den Beweis haben, wenn kein Scuddamore mehr durch den Molg zu Schaden kommt. Ihr werdet al­le sehen können, wie ich ihn mit mir nehme. Genug der Worte. Ihr habt noch nicht geant­wortet.«

Wieder ließ Leenia es in ihren Augen auf­blitzen.

Der Scuddamore neben dem Raumschiffs­kommandanten rief schnell:

»Der Schalter links über dem Abzug! Stell ihn auf Weiß!«

»Verräter!« schrie Bilnerstung auf und wollte sich auf ihn stürzen.

Leenia schaltete und schoß fast gleichzei­tig. Bilnerstung brach paralysiert zusammen.

»Nun zu dir«, sagte die Körperlose.

*

Knapp eine halbe Stunde später wußte Leenia, was sie hatte wissen wollen.

Es schien fast aussichtslos, den Molg noch einzuholen, falls er an Bord eines der sieben Schiffe gewesen war, die nach der Entdeckung von Brexanarks Verschwinden von Olmerstolm gestartet waren. Brexanark hätte Zeit genug gehabt, jedes von ihnen zu erreichen.

Sie waren im Weltraum. Leenia kannte ihre Routen, doch vier von ihnen flogen na­hegelegene Welten an, wo der Molg, einmal gelandet, nicht lange brauchen würde, um ein neues Versteck zu finden. Dennoch mußte sie es versuchen.

Leenia paralysierte auch den zweiten Scuddamoren und sprang an Bord der JA­

39 Die Körperlose und der Molg

GUSIENG, die zu diesem Zeitpunkt schon mehr als dreißig Lichtjahre von Olmerstolm entfernt war. Leenia wußte, daß sie maximal noch vier Sprünge ausführen konnte. Dann würden ihre Energien erschöpft sein. Sollte sie hier nichts finden, blieben ihr noch zwei weitere der gestarteten Schiffe. Der dritte Sprung mußte sie nach Olmerstolm zurück führen, damit sie dort ihre Abschiedsvorstel­lung geben konnte – der vierte in die Höhe­ren Welten.

Sie hatte Glück. Der Korridor, in dem sie materialisierte, war verlassen. Die erbeutete Waffe schußbereit im Anschlag, ging sie den Korridor entlang, blieb immer wieder stehen und lauschte, ob sich nicht von ir­gendwoher Schritte näherten, und durch­suchte jede Nische, jede Ablage und die kleinen Schächte des Lebenserhaltungssy­stems. Wenn es irgendwie ging, mußte sie vermeiden, daß man sie sah. Leenia konnte nur hoffen, daß nicht gerade jetzt ein Scud­damore in der Zentrale zufällig auf den Mo­nitor blickte, der den Teil des Schiffes zeig­te, in dem sie sich aufhielt. Immerhin schien es keine automatischen Alarmanlagen zu ge­ben, sonst hätten die Sirenen längst losge­heult.

Leenia durchsuchte Deck für Deck. Zwei­mal mußte sie sich verstecken und Scudda­moren vorbeilassen. Sie fand nichts.

Dann und wann blieb sie stehen und ver­suchte, die Impulse des Extrasinns aufzufan­gen. Vergeblich.

Als sie sicher war, in der JAGUSIENG nichts zu finden, konzentrierte sie sich auf die Koordinaten, die sie von dem zweiten Schiff, der BARIEL, bekommen hatte. In Sekundenschnelle stellte sie Berechnungen an und fand die augenblickliche Position des Organschiffs. Sie sprang. Wieder hatte sie Glück, noch größeres als beim erstenmal. Sie materialisierte in der Zentrale – direkt hinter den einzigen beiden Raumfahrern, die sich darin aufhielten. Es waren keine Scud­damoren, sondern Angehörige eines Hilfs­volks, etwa anderthalb Meter große unter­setzte Wesen mit hellblauer Schuppenhaut.

Leenia begegnete Wesen dieser Art zum er­stenmal, aber sie wußte, daß es sich bei ih­nen um Noots handelte. Sie paralysierte sie, bevor sie sie sehen konnten. Diesmal stand ihr die ganze Ausrüstung der Zentrale zur Verfügung. Mittlerweile wußte sie, wie die Monitore bedient wurden, und konnte somit von einer Stelle aus das gesamte Schiff ab­suchen. Die optischen Informationen nützten ihr wenig. Der Molg würde sich nicht mitten auf einem Korridor befinden. Aber jetzt standen ihr die Möglichkeiten der Infrarotor­tung zur Verfügung. Wo immer der Molg sich auch versteckt hielte – sie hätte ihn da­mit aufgespürt, denn er lebte und gab Wär­me ab.

Nichts. Noch ein Sprung. Ein Schiff von zweien,

die sich bereits ganz nahe bei ihren Zielen befanden. Es gab keinen Anhaltspunkt mehr, der ihr die Wahl erleichtert hätte.

Die NYNGENT. Leenia sah auf einem der Schirme, wie

gleich fünf Noots, die anscheinend von ei­nem Inspektionsgang zurückkamen, den Mittellift der BARIEL, auf dem Zentraldeck verließen und näher kamen. Sie mußte ver­schwunden sein, wenn sie sie betraten.

Leenia konzentrierte sich erneut. Schon jetzt merkte sie, daß es ihr schwerer fiel als beim letzten Sprung. Der Kurs der NYN­GENT, ihre Geschwindigkeit, die Koordina­ten …

Leenia entmaterialisierte wenige Sekun­den, bevor die fünf Noots ihre beiden reglos am Boden liegenden Artgenossen in der Zentrale fanden.

Und diesmal wurde sie erwartet. Das erste, was sie nach der Wiederver­

stofflichung an Bord der NYNGENT sah, waren die Mündungen der auf sie gerichte­ten Waffen.

Wieder befand sie sich in der Zentrale des Schiffes. Vier Scuddamoren standen ihr ge­genüber. Einer von ihnen machte einen Schritt auf sie zu.

»Zenbronker hatte also recht«, sagte er. »Sein Befehl lautete, dich lebend zu fan­

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gen.« Kaum hatte der Scuddamore ausgespro­

chen, als er abdrückte. Leenia wurde paraly­siert. Zwar hatte der Strahl bei ihr nicht die gleiche Wirkung wie auf einen Körperli­chen, doch sie spürte, wie ihre Glieder schwer wie Blei wurden. Sie sank in die Knie, versuchte sich wieder aufzurichten und kippte zu Boden.

Zenbronker! Sie war zu leichtsinnig gewesen. Sie hätte

die beiden Scuddamoren in der Zentrale der FRAULPIEN töten sollen, durchfuhr es sie.

Sie waren zu früh erwacht.

10.

Zenbronker triumphierte. Bilnerstung stand neben ihm vor dem

Bildschirm, auf dem die Zentrale der NYN­GENT zu sehen war.

Für beide stand fest, daß Leenia an Bord eines der Schiffe, über die sie sich Auskunft erzwungen hatte, fliehen wollte. Ihre Macht hatte also Grenzen.

Der Kommandant der NYNGENT hatte Befehl, nach Olmerstolm zurückzukehren. Nach seiner Schilderung war die Fremde nicht mehr in der Lage, von ihren geheim­nisvollen Fähigkeiten Gebrauch zu machen. Zenbronker ordnete an, daß sie in regelmä­ßigen Abständen mit Paralysestrahlen be­schossen werden sollte.

Sie mußte hierher zurückgebracht werden, um den Nebel unschädlich zu machen oder wenigstens damit herauszurücken, wo er sich befand.

Die Scuddamoren lebten nach wie vor in der Angst, daß dieser fressende Staub sich irgendwo auf Olmerstolm verbarg, um im geeigneten Moment aufzutauchen.

»Sie wird sich eher töten lassen, als uns etwas über den Nebel zu verraten«, warnte Bilnerstung.

Zenbronker winkte ab. »Diesmal wird sie nicht einfach ver­

schwinden können, wenn sie auf dem Stuhl sitzt. Sie wird uns alles verraten, was sie

Horst Hoffmann

weiß – auch ihre Auftraggeber.« »Sollten wir nicht doch jetzt eine Nach­

richt an die Nachbarbasen senden? Es wäre …«

»Es ist längst zu spät«, kam ausgerechnet Kerrengorm Zenbronkers Ablehnung zuvor. »Es hätte viel früher geschehen müssen. Man würde fragen, weshalb wir so lange zö­gerten und zuließen, daß sich eine allgemei­ne Gefahr entwickeln konnte.«

Kerrengorm vermied es, Zenbronker di­rekt zu beschuldigen.

»Wir alle würden uns zu verantworten ha­ben, selbst wenn es uns gelingt, die Gefahr aus eigener Kraft zu bannen.«

»So ist es«, stimmte Zenbronker dem Ri­valen um die Macht zu. »Und wir werden sie bannen.«

Er las die Zeit ab, die seit der Nachricht von der NYNGENT vergangen war. Nur noch Stunden bis zur Landung des Organ­schiffs.

»Falls es uns gelingt, etwas über die Auf­traggeber dieses Wesens zu erfahren, müs­sen wir Meldung machen«, stellte Bilner­stung nüchtern fest.

11.

Leenia konnte klar und logisch denken. Sie lag auf einer Art Liege in der Zentrale. Zwei Waffen waren ständig auf sie gerich­tet. Sie konnte sehen und hören, sich sogar bewegen, doch nur unter Schmerzen und wie in Zeitlupe. Sie verzichtete darauf, nach­dem der Versuch, sich zu erheben, ihr eine weitere Berieselung mit Paralysestrahlen eingebracht hatte.

Sie konnte weder teleportieren noch ihre Energien voll gegen die Scuddamoren ein­setzen.

Durch die Unterhaltung des Kommandan­ten mit Zenbronker war sie über die Rück­kehr der NYNGENT nach Olmerstolm in­formiert. Es durfte nicht soweit kommen. Sie mußte einen Weg finden, die Scuddamo­ren in der Zentrale zu überraschen. Dies aber hatte erst einen Sinn, wenn die Paralyse

41 Die Körperlose und der Molg

nachließ. Leenia wartete und verhielt sich absolut

ruhig. Sie beobachtete nur und gab sich ih­ren quälenden Gedanken hin.

Sie würde den Molg nicht finden. An Bord der NYNGENT befand er sich nicht, sonst hätte sie die Ausstrahlung des Extra­sinns wahrnehmen müssen. Außerdem hatte der Kommandant sein Schiff nach ihrem Auftauchen durchsuchen lassen – ohne Er­folg.

Olmerstolm. Sie mußte ihre Abschieds­vorstellung geben, aber dazu würde sie nicht auf den Planeten selbst springen. Sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt, einen gefähr­lichen Plan, doch unter den gegebenen Um­ständen das einzige, was sie tun konnte.

Doch vorerst ging es darum, sich zu be­freien.

Leenia kannte inzwischen jeden Winkel der Zentrale. Die Scuddamoren hatten Angst vor dem »fressenden Staub«. Obwohl die Durchsuchung des Schiffes nichts ergeben hatte, befürchteten doch zumindest einige von ihnen insgeheim, daß er sich irgendwo versteckt an Bord befinden könnte.

Diese Angst mußte sie ausnutzen. Die Zentrale war nur schwach erleuchtet.

Das meiste Licht kam von den Kontrollen in der ihr gegenüberliegenden Wand und den Bildschirmen. Beides befand sich etwa in Brusthöhe der Scuddamoren.

Darunter war nur glatte Wand, vor der ei­nige Behälter aufgestapelt waren, einige aus Metall, andere aus Holz. Wie diese primiti­ven Kisten hierherkamen und was sich in ih­nen befand, konnte ihr jetzt egal sein. Wich­tig war allein, daß sich momentan niemand um sie kümmerte. Sie lagen im Halbdunkel.

Langsam richteten sich Leenias Pupillen auf die Kisten.

Alles hing nun davon ab, daß die beiden Wachen den leichten violetten Schimmer in ihren Augen nicht bemerkten und daß sie genügend Energie abgeben konnte, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

Als sie fühlte, daß die Paralyse allmählich nachließ, wagte sie es. Ein leichter Glanz

trat in ihre Augen, und unsichtbare energeti­sche Ströme flossen hinüber zu den Behäl­tern.

Die Scuddamoren zeigten keine Reaktion. In Gedanken mochten sie schon auf Olmer­stolm sein – und in Sicherheit.

Es dauerte Minuten, bis der erste Rauch von den Kisten hochstieg. Sie durften nicht zu brennen beginnen. Leenia benötigte ihre ganze Konzentration, um die Energieabgabe genau zu dosieren. Der Rauch wurde dich­ter, stieg hoch, erreichte die Zone des Lichts. Einer der Scuddamoren vor den Kontrollen schrie auf, als er die feinen, im Licht der In­strumente silbern schimmernden Wölkchen sah. Er zog die Waffe und schoß in Panik. Der Strahl fuhr in eine Konsole. Heißer Dampf schoß aus der aus organischer Mate­rie bestehenden Wand dahinter. Als Leenias Wachen herumfuhren, sahen sie strahlenden Nebel.

Das genügte. Augenblicklich brach Panik aus. Die Scuddamoren schrien durcheinan­der. Weitere Schüsse fuhren durch den »fressenden Staub« in die Instrumentenbän­ke und Wände. Niemand kam auf den Ge­danken, es mit einer Täuschung zu tun zu haben. Die Angst lähmte jedes logische Denken.

Augenblicklich verwandelte die Zentrale sich in ein Tollhaus. Niemand nahm mehr von Leenia Notiz. Die Scuddamoren rannten schreiend auf die tiefer ins Schiff führenden Korridore hinaus.

Leenia war allein. Sie versuchte, sich auf­zurichten. Es gelang nur unter Schmerzen. Bestürzt mußte sie erkennen, daß sie noch nicht in der Lage war, zu springen.

Flammen schlugen aus den Instrumenten­bänken. Es wurde unerträglich heiß. Bild­schirme implodierten. Giftige Dämpfe wur­den frei. Leenia mußte hier weg!

Sie sah einen fallengelassenen Strahler, hob ihn auf und taumelte aus der Zentrale. Die NYNGENT jagte steuerlos durch das All. Das Feuer fraß sich weiter in ihren Leib hinein. Drähte schmorten durch. Es kam zu Kurzschlüssen. Es war nur eine Frage von

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Minuten, bis die NYNGENT explodierte. Ein Korridor. Leenia lehnte sich an die

Wand und atmete tief. Immer noch spürte sie bei jeder Bewegung Schmerzen, aber das Laufen schien ihr zu helfen, die Paralyse schneller abzuschütteln.

Eine Explosion. Der Boden erzitterte un­ter ihren Füßen.

Sie lief weiter, tiefer in den Gang hinein. Jeden Augenblick konnte sie Scuddamoren begegnen.

Leenia blieb stehen, als sie eine Nische fand, und zwängte sich hinein. Sie schloß die Augen, mußte das Risiko eingehen, daß man sie hilflos fand und erschoß.

Konzentration … Olmerstolm! Leenia verdrängte alle ande­

ren Gedanken. Das Risiko, daß sie einzuge­hen hatte, sollte ihr Plan gelingen, war um ein Vielfaches größer als das, dem sie sich bislang ausgesetzt hatte. Sie mußte etwas tun, für dessen Gelingen es keine Garantie gab. Es war ein Sprung ins Ungewisse. Ir­gendwo über dem Raumhafen von Olmer­stolm. Sie mußte ihren Körper ohne Unter­stützung aus den Höheren Welten umfor­men. In an unterschiedliche Umweltverhält­nisse wie etwa die auf Cändero-Spell oder Bordinfeel anzupassen, war nicht schwierig. Aber was sie nun zu tun hatte …

Sie hörte den Schrei eines Scuddamoren. Mit geschlossenen Augen schoß sie in die Richtung, aus der er gekommen war. Nicht sicher, ob sie den Gegner ausgeschaltet hat­te, gab sie den Entstofflichungsimpuls. Da­bei hatte sie nicht nur Olmerstolm vor Au­gen, sondern auch die Form, in der sie am Himmel über dem Planeten erscheinen muß­te.

*

Als der Bildschirm, auf dem eben noch die Zentrale der NYNGENT zu sehen gewe­sen war, mit einem Schlag dunkel wurde, hatte Bilnerstung genug gesehen.

Er zog seine Waffe und richtete sie auf Zenbronker.

Horst Hoffmann

»Ich würde dir raten, dich ruhig zu verhal­ten«, warnte er Kerrengorm, der außer ihm und dem Kommandanten der Basiswelt als einziger im Raum war. »Ich werde jetzt mei­ne Mannschaft zusammenrufen und mit ihr an Bord der FRAULPIEN gehen. Wir haben zu lange auf dein Geschwätz gehört, Zen­bronker. Mit dem, was uns diese Fremde ge­bracht hat, werden wir nicht fertig. Ich wer­de starten und die nächste Basis verständi­gen. Chirmor Flog muß erfahren, was hier vorgeht.«

»Nein!« schrie Zenbronker. »Du machst einen Fehler! Die Fremde ist machtlos! Sie wird überwältigt werden!«

»Du denkst nicht an sie, sondern an dich und an die Strafe für dein Versagen!« schrie Bilnerstung zurück. »Du bist ein Schwäch­ling, Zenbronker.« Er sah Kerrengorm an. »Es wird Zeit, daß jemand anders das Kom­mando über Olmerstolm übernimmt.«

Langsam zog der Raumfahrer sich zum Ausgang des Kontrollraums zurück.

»Er hat recht«, sagte Kerrengorm. Auch er zog den Strahler und richtete ihn

auf seinen Vorgesetzten. Bilnerstung hinder­te ihn nicht.

»Aber ihr … ihr seid verrückt geworden!« Zenbronker machte zwei Schritte zurück, bis er mit dem Rücken gegen eine Konsole stieß.

»Ihr vergeßt den Staub! Ihr könnt nicht einfach …«

»Wir können«, sagte Kerrengorm. »Wir haben viel zu lange gewartet.«

»Aber …« Zenbronker blieben die weite­ren Worte im Halse stecken, als er sah, wie sich hinter Bilnerstung die Tür öffnete.

Der Kommandant der FRAULPIEN dreh­te sich um, überzeugt davon, daß Kerren­gorm Zenbronker in Schach halten würde.

Doch Kerrengorm hatte eigene Pläne. Er erschoß Bilnerstung.

Der Scuddamore, der in den Kontrollraum stürzte, blieb wie angewurzelt stehen. Zen­bronker beachtete ihn nicht. Völlig über­rascht sah er Kerrengorm an, als dieser die Waffe wieder auf ihn richtete.

43 Die Körperlose und der Molg

»Was soll das?« fragte er leise. »Du hast mir geholfen. Steck die Waffe weg.«

»Ich habe nur mir geholfen, und ich wer­de mir noch einmal helfen, Zenbronker. Du bist mir im Weg, ebenso wie Bilnerstung es war. Ich werde den Neffen benachrichtigen. Und er wird keinen Mann bestrafen, der von seinem Kommandanten daran gehindert wurde, seine Pflicht zu tun.«

»Worauf wartest du?« schrie Zenbronker den Eingetretenen an. »Töte ihn!«

»Eine falsche Bewegung von ihm, und ihr seid beide tot«, sagte Kerrengorm. »Du wirst nicht sterben, Zenbronker, sondern dich für dein Handeln zu verantworten haben. Nie­mand wird dir deine Phantasien von einem Staub abnehmen, der den Planeten bedroht. Ich habe keinen Augenblick lang daran ge­glaubt.«

Der Scuddamore im Eingang rührte sich nicht.

»Aber es gibt ihn! Brexanark wurde von ihm getötet. Jaksbärler war Zeuge! Und Lee­nia gab zu, daß sie den Molg hierherbrach­te!«

»Den Molg, Zenbronker. Ja, irgend etwas hat sie gebracht und gesucht. Wir werden es finden.«

»Aber Brexanark!« »Er wurde vor einer halben Stunde gefun­

den. Natürlich weißt du nichts davon. Du hast nicht mehr viele Freunde auf Olmer­stolm, Zenbronker. Brexanark lebt. Es gibt keinen Nebel.«

»Es gibt ihn«, sagte der eingetretene Scuddamore leise.

Kerrengorm trat zurück, so daß er ihn und den Kommandanten gleichzeitig sehen konnte.

»Du willst Zenbronker retten? Rede kei­nen Unsinn. Ihr werdet beide …«

»Aber er ist da!« schrie der Scuddamore jetzt. »Am Himmel! Die Fremde ist zurück­gekehrt!«

Kerrengorm wurde nur für einen Augen­blick aus der Fassung gebracht. Dieser Mo­ment genügte Zenbronker. Er zog blitz­schnell die eigene Waffe und paralysierte

den Rivalen. »Was sagst du da?« fragte er tonlos. Der Scuddamore schien nicht fassen zu

können, was sich vor seinen Augen tat. Er sah den toten Bilnerstung an, dann Kerren­gorm, endlich wieder seinen Kommandan­ten.

»Dort«, sagte er nur und zeigte auf eines der Fenster des Kontrollturms. »Dort ist sie … und der Nebel …«

Zenbronker trat an das Fenster heran und sah die Erscheinung.

*

Leenia schwebte als flammende Sphäre am Nachthimmel über Olmerstolm. Ihre Ge­danken waren wirr. Noch immer konnte sie kaum fassen, daß sie von Bord der NYN­GENT entkommen war.

Mehr noch. Was sie gehofft, aber insgeheim nicht für

möglich gehalten hatte, durch Wommsers Eingehen in sie noch phantastischere Fähig­keiten erlangt zu haben – es war vollbracht. Leenia schwebte als Sphäre aus reiner Ener­gie im Raum. Es war, als ob sie aus den hö­heren Daseinsebenen direkt und ohne Vor­bereitungen in die Ebene der Körperlichen herabgetropft wäre. Das Bewußtsein hielt sie zusammen und gab ihr die ungefähre Form der Leenia, als die sie körperlich in diesem Kontinuum existieren konnte. Ihre energeti­sche Ausstrahlung war so gewaltig, daß die Staubpartikel in der Atmosphäre Olmer­stolms um sie herum in weitem Umkreis glühten. Von der Planetenoberfläche aus ge­sehen, mußte es so wirken, als schwebte Leenia inmitten eines Nebels aus Staub. Dies war ihr Abschied von Olmerstolm, von Zenbronker und allen, die sie jetzt sehen konnten. Wenn sie verschwand, nahm sie für diese den »Molg« mit.

Den wirklichen Molg ließ sie zurück, ent­weder auf Olmerstolm oder in einem der Schiffe, die sie nicht mehr hatte betreten können.

Noch einmal konzentrierte sie sich. Ihr

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strahlender »Körper«, eine Sphäre von fast hundert Metern Größe, zog sich zusammen. Energien, die nicht von dieser Welt waren, ballten sich und schufen einen Riß im Raum-Zeit-Gefüge. Es hätte dieses Spekta­kels nicht bedurft, um in den Bereich der Höheren Welten zurückzukehren, doch Lee­nia wollte den Bewohnern dieses Univer­sums noch einmal etwas bieten, das sie nie vergessen würden.

Sie verschwand von einem Augenblick zum anderen in einem blutroten Wabern, das den ganzen Nachthimmel überzog.

Das Wabern erlosch. Es war dunkel am Himmel. Nur einmal

noch blitzte es zwischen den schwach leuch­tenden Sternen für einen kurzen Moment auf.

Es war das Licht der explodierten NYN­GENT, das Olmerstolm erreichte.

12.

Die Ablehnung, die ihr entgegenschlug, die stummen, noch unartikulierten Vorwür­fe, das Gefühl, wie eine Fremde angesehen zu werden, die Kälte, die von allen Seiten auf sie einströmte – all das traf Leenia wie ein körperlicher Schlag.

Sie war zurück, dort, wohin sie gehörte, doch nicht als das Wesen, als das sie die Hö­heren Welten verlassen hatte.

Das Mißtrauen, das sie fast vergessen hat­te, kehrte schlagartig zurück. Egal, als was Leenia einmal auf die Reise geschickt wor­den war – nun war sie ein Wesen, das ohne jeden Zweifel mit den anderen Körperlosen auf gleicher Stufe stand. Wommser hatte sich geopfert, um sie dazu zu machen. Und in ihr lebte er weiter.

Wie würde die Reaktion der Artverwand­ten darauf aussehen?

Doch jetzt erfüllte nur eine Frage den Raum jenseits der Dimensionen:

Wo ist Atlans Extrasinn? Leenia spürte, wie alle anderen Impulse

verschwanden. Die Mitglieder der Gemein­schaft zogen sich um sie herum zusammen.

Horst Hoffmann

Sie bildeten die Frage und verlangten eine Antwort.

Wo ist der Molg? Leenia wußte, daß es keinen Sinn hatte,

irgend etwas zu beschönigen. Sie wußte, daß sie schlimme Fehler gemacht hatte und dafür geradestehen mußte.

Ich weiß es nicht, begann sie. Ich habe ihn verloren. Ich gebe zu, daß ich die Absicht hatte, selbst auf die Suche nach Atlan zu ge­hen, statt auf Bordinfeel auf ihn zu warten. Trotz trat in ihre Gedanken. Es wäre sinnlos gewesen! Selbst wenn er meine Signale emp­fangen hätte – wissen wir, wo er sich befin­det? In welcher Situation? Möglicherweise kann er gar nicht kommen, und der Extra­sinn muß zu ihm gebracht werden.

Das steht nicht zur Debatte! kam es von überall.

Nein, gab Leenia zu. Doch selbst, wenn ich bereit gewesen wäre, auf Bordinfeel aus­zuharren, wäre ich in die Gewalt des Molgs geraten. Ich wußte nichts von seiner Fähig­keit, den willenslähmenden Staub abzuson­dern.

Dies war ein Vorwurf an die Gemein­schaft. Leenia gab ein Bild dessen, was ge­schehen war, nachdem Atlans Extrasinn in den Molg übergeglitten war. Sie ließ nichts aus. Die Körperlosen erlebten mit, wie sie sich auf Olmerstolm wiedergefunden hatte, wie sie gejagt wurde und den Molg suchte, bis sie zu ihnen zurückkehrte.

Obwohl sie gewußt hatte, daß die Verbin­dung zwischen ihr und den Höheren Welten durch die Veränderung, die durch Womm­sers Opfer mit ihr vorgegangen war, geris­sen war, überraschte es sie, daß die Mitglie­der der Gemeinschaft gar nichts über ihre Erlebnisse in der Daseinsebene der Körperli­chen wußten. Leenia hatte das Gefühl, etwas sehr Wertvolles – ihre Bewegungsfreiheit – gefunden und etwas ebenso Kostbares dafür eingebüßt zu haben. Sie fühlte die Kluft zwi­schen ihr und den anderen und litt darunter.

Du hättest damit rechnen müssen, daß der Extrasinn die Initiative an sich zu reißen versuchen würde, genauso, wie er es in dir

45 Die Körperlose und der Molg

und dem Grallen tat! Ja, antwortete Leenia, die sich diesen Ge­

danken bereits selbst gemacht hatte. Wieder der Trotz: Doch wie hätte ich mich wehren sollen?

Indem du unverzüglich hierher zurück­kehrtest – mit dem Molg!

Leenia schwieg. Die anderen kapselten sich ihr gegenüber

ab. Sie berieten. Was zu ihrer Verteidigung vorzubringen war, hatte sie gesagt. Sie hatte unter Einsatz ihres Lebens versucht, die Ge­fahr von den Höheren Welten abzuwenden, die sie durch ihre spektakulären Auftritte zu­vor und durch die im Zustand der geistigen Verwirrung gegebenen Auskünfte an die Scuddamoren heraufbeschworen hatte. Dies war in ihren Augen auch Rechtfertigung für das Risiko, das sie durch ihren letzten Auf­tritt über Olmerstolm auf sich genommen hatte.

Vom Urteil der Gemeinschaft hing es ab, ob und wann sie die Höheren Welten wieder verlassen durfte. Doch schon jetzt ertappte Leenia sich dabei, wie sie überlegte, wie sie der Gemeinschaft ein Schnippchen schlagen konnte, um zurück zu den Körperlichen ge­hen zu können.

Endlich wandten sich die Artverwandten ihr wieder zu.

Durch dein Verhalten hast du unserer Sa­che alles andere als gedient, vernahm sie. Wir werden dich nicht einsetzen, um den Ex­trasinn noch einmal aufzuspüren. Ob und unter welchen Umständen Atlan ihn zurück­erlangen kann, müssen wir den Körperli­chen überlassen. Wir werden dich beobach­ten und zu einem späteren Zeitpunkt ent­scheiden, ob du eine neue Chance zur Be­währung erhalten darfst.

Stille. Leenia blieb allein mit sich, als die Artverwandten sich von ihr zurückzogen.

Der Spruch war endgültig und kam für Leenia, die sich ihm bedingungslos zu fügen hatte, dem Todesurteil für Atlan gleich.

Ohne seinen Extrasinn würde er über kurz oder lang scheitern müssen. Ohne ihn war er nur ein halber Mensch.

Leenia hatte das Urteil erwartet, doch erst jetzt begriff sie seine Bedeutung in ihrem ganzen Ausmaß. Wie sollte Atlan ohne sie jemals wieder zu seinem Extrasinn gelan­gen?

Überschätzte sie sich nicht, wenn sie nicht glauben konnte, daß dies ohne ihr Eingreifen möglich war?

Bereiteten die Körperlosen bereits andere Maßnahmen vor, um doch noch in die Ent­wicklung einzugreifen? Übergingen sie sie?

Wo waren jene, die auf Cändero-Spell er­schienen waren, um sie zu retten? Konnte sie mit Fürsprechern rechnen, wenn sie sich nochmals an die Gemeinschaft wandte?

Nein, erkannte sie bitter. Ihre Gegner wa­ren in der Überzahl. Und die Mehrheit ent­schied. Das Wissen, daß dies so sein mußte, verstärkte ihre Verzweiflung noch.

Doch sie war nicht bereit, untätig abzu­warten.

Irgendwann würde sie eine Möglichkeit finden, in die Daseinsebene der Körperli­chen zurückzukehren – mit oder ohne Zu­stimmung der Gemeinschaft.

Ihre Ziele waren die gleichen. Bei aller Aufsässigkeit war Leenia in keinem Augen­blick gegen die Gemeinschaft und das, was sie vertrat.

Doch sie war nicht dazu geschaffen, untä­tig zu verharren …

Sie kapselte sich ab, versuchte, wenig­stens für gewisse Zeit zur Ruhe zu kommen und neue Kräfte zu schöpfen. Doch die quä­lenden Fragen blieben.

Wo befanden sich der Molg und der Ex­trasinn?

Existierten sie überhaupt noch?

Epilog

Fast eine Stunde war vergangen, seitdem die Erscheinung am Himmel verblaßt war, doch immer noch stand Zenbronker schwei­gend am Fenster des Kontrollturms und starrte in die Nacht hinaus. Er war für nie­manden zu sprechen. Ein Vertrauter – einer von jenen Mitarbeitern, von denen er hun­

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dertprozentig sicher sein konnte, daß sie nicht mit Kerrengorm sympathisierten – hat­te den Scuddamoren und den Angehörigen der verschiedenen Hilfsvölker einige beruhi­gende Erklärungen gegeben. Das mußte rei­chen, bis Zenbronker selbst zu ihnen spre­chen würde.

Was sollte er sagen? Hatte Kerrengorm recht gehabt mit seinen

Vorwürfen? War er wirklich nur zu feige ge­wesen, um dafür zu sorgen, daß der Neffe über das, was auf Olmerstolm vorgefallen war, informiert wurde?

Er schüttelte den Kopf und sah auf den noch paralysiert am Boden liegenden Riva­len hinab. Kerrengorm hatte ausgespielt.

Der Nebel war kein Produkt seiner Phan­tasie gewesen, sagte sich Zenbronker. Alle hatten ihn am Himmel gesehen und miter­lebt, wie die Fremde ihn mitgenommen hat­te.

Zenbronker war entschlossen, über ihr Er­scheinen zu schweigen. Die Raumfahrer, die sich zur Zeit auf Olmerstolm aufhielten, würden bald die verrücktesten Geschichten erzählen. Niemand würde ihnen glauben.

Doch er selbst mußte wissen, was wirk­lich geschehen war.

Er löste sich vom Fenster und befahl, daß man Brexanark zu ihm brachte.

Wenige Minuten später betrat der Totge­glaubte den Kontrollraum. Zwei Scuddamo­ren mußten ihn stützen. Er war noch schwach.

Zenbronker gab den Scuddamoren ein Zeichen, ihn mit Brexanark allein zu lassen und Kerrengorm und Bilnerstungs Leiche mitzunehmen. Dann sorgte er dafür, daß nie­mand das mithören konnte, was zwischen ihm und Brexanark gesprochen wurde.

»Der Staub«, sagte der Kommandant der Basiswelt. »Ich will alles über ihn wissen, vor allem, wie es kommt, daß du noch le­bst.«

»Wir fanden ihn«, berichtete Brexanark. Er redete langsam. Jedes Wort bereitete ihm Schwierigkeiten. »Ich … sah ihn zuerst. Ich wollte ihn aus der Wandvertiefung ziehen

Horst Hoffmann

…« »Ziehen?« fragte Zenbronker überrascht.

»Einen Nebel?« Brexanark blickte seinen Kommandanten

verständnislos an. »Kein Nebel. Der Staub kam erst später.

Es war etwas anderes …« Zenbronker holte tief Luft und fluchte. »Hör zu, Brexanark. Ich will keine Mär­

chen hören und weiß sehr wohl, daß du Herr deiner Sinne bist. Du willst behaupten, daß ihr etwas in der Wandvertiefung fandet, das …«

»Wir fanden den Molg. Das heißt – nur ich sah ihn. Jaksbärler konnte nur den Staub sehen.«

»Aber der Staub ist der Molg!« »Nein, Zenbronker. Der Staub kam aus

dem Molg und zwang mich …« Brexanark machte eine Geste der Hilflosigkeit. »Ich mußte irgend etwas tun. Was es war … ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich et­was fand und dann der Staub da war.«

»Was?« Zenbronker packte sein Gegen­über an den Schultern. »Was ist der Molg, wenn nicht der Staub?«

»Ich weiß es nicht! Ich sah ihn, aber die Erinnerung … ist verschwunden.«

Zenbronker sah ein, daß er so nicht wei­terkam.

»Man fand dich am Rand des Hafengelän­des. Weißt du wenigstens, wie du dorthin kamst?«

Brexanark schüttelte den Kopf. Nach einigen weiteren Fragen, die nichts

einbrachten, entließ Zenbronker ihn. Er war nicht schlauer als zuvor – im Gegenteil.

Was auch immer die Fremde nach Olmer­stolm gebracht hatte, redete er sich schließ­lich ein, sie hatte es wieder mit sich genom­men.

Und es blieb ruhig auf Olmerstolm. Nichts deutete darauf hin, daß Leenia etwas zurückgelassen hatte.

Doch irgendwo, an Bord eines der vielen Organschiffe auf den Landefeldern der Ba­siswelt, steckte der Molg mit Atlans Extra­sinn, der sehnsüchtig darauf wartete, daß das

47 Die Körperlose und der Molg

Schiff starten konnte und ihn in den Welt- sein des Molgs nehmen konnte – falls er die­raum hinaustrug. sen nicht schon längst verloren hatte.

Beide, der Extrasinn und der Molg, fie- Irgendwo zwischen den dunklen Sternen berten den Sternen entgegen, wenn auch aus der Schwarzen Galaxis wartete Atlan – ein unterschiedlichen Motiven. Der Molg be- halber Mensch am Rand der Hoffnungslo­fand sich in einem Rauschzustand und riß sigkeit. den Extrasinn mit. Sein Weg hatte gerade erst begonnen.

Es war fraglich, wie lange der Extrasinn noch Einfluß auf das neuerwachte Bewußt-

E N D E

Weiter geht es in Atlan Band 434 von König von Atlantis mit:Impulse des Verderbensvon H. G. Ewers