die fahrdynamik des neuen porsche 911 turbo

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Fahrdynamik Die Fahrdynamik des neuen Porsche 911 Turbo Teil 2: Antrieb, Fahrwerk, Regelsysterne Der neue Porsche 911 Turbo wurde im Frühjahr 2000 eingeführt und inzwischen von allen wichtigen Fachzeitschriften und den Kunden sehr positiv beurteilt. Als eine der überragenden Eigenschaften wird dabei seine hohe fahrdynamische Leistungsfähigkeit bewertet. Dieser Artikel beschreibt, welchen Beitrag Auswahl und Auslegung von Allradantrieb- strang, Fahrwerk und Fahrwerkregelsystemen dazu leisten. Teil 1 des Beitrags ist in der ATZ 2/2001 erschienen. 3.2 Fahrwerk 3.2.1 Kinematik/Elastokinematik Vorderachse: Um die gelungene gute Abstimmung der Lenkeigenschaften zu erhalten, wurde ge- genüber dem Carrera mit lS"-Bereifung nur eine moderate Erhöhung der Spurweite um 4 mm und der Felgenbreite um 1/2 Zoll ak- zeptiert. Der verwirklichte stabile Gerade- auslaufbestätigt diese Entscheidung. Hinterachse: Zur Absicherung des Fahrwerkskonzeptes fanden zu einem sehr frühen Entwick- lungszeitpunkt gemeinsame Fahrversuche der Reifen- und Fahrdynamikentwickler mit einem eigens dafür aufgebauten Vor- prototypen statt. Ergebnis waren zwei wesentliche Änderun- gen: - Breitere Hinterachsbereifung - Optimierung der Hinterachs-Kinematik. Der Lenkhebel des Hinterachsradträgers wurde um 22 mm verlängert. Durch die entsprechende Vergrößerung des Seiten- kraft-Hebelarmes wurde damit die Vor- spurmomentensteifigkeit um etwa 35 % er- höht. Außerdem wurde durch die Verlage- rung der oberen Querlenker-Anlenkpunkte der Anti-Squat (Nickverhalten) um etwa 20 % vergrößert. Die niedrigeren Kräfte auf die Spurstange und die Spurstangenlager führen zu geringerem Verschleiß. Außer- dem haben Verschleiß und Elastizitäten 540 durch die günstigeren Übersetzungsver- hältnisse weniger Einfluss auf die RadsteI- lungen. In der Summe wurden eine deutlich spür- bar höhere Fahrstabilität nach Anlenken, bei Fahrspurwechseln und beim Ausregeln äußerer Störungen vor allem bei hohen Fahrgeschwindigkeiten sowie harmoni- schere Zug-/Schub-Übergänge in der Kurve erreicht. 3.2.2 Federn/Dämpfer/Stabilisatoren Tabelle 2 zeigt die Achskennwerte, Bild 9 die Dämpferkennlinien. Durch die straffe Federung werden die Auf- baubewegungen reduziert. Dies ist einer- seits erforderlich, um durch geringe Schwerpunktsverlagerung und RadsteI- lungsänderungen die Basis für einen hohen Grenzbereich zu schaffen. Außerdem ge- währleistet sie auch über längere Boden- wellen oder in Senken ein gleichmäßiges Federn ohne komfortminderndes Durch- schlagen auf die Anschlagspuffer. Allge- mein entsteht durch die direkte Anbindung an die Straße der gewünschte "Vertrauen erweckende" Fahreindruck. Die großzügig dimensionierten Stabili- satoren reduzieren die durch die straffe Federung schon geringen Wankwinkel nochmals. Die Auslegung zwischen Vorder- und Hinterachsstabilisatoren gewährleis- tet neutrales Eigenlenkverhalten bis zu ho- hen Querbeschleunigungen bei leichtem, aber trotzdem eindeutigem Untersteuern im Grenzbereich. Dadurch werden neben den hohen Kurvengrenzgeschwindigkeiten vor allem auch sehr harmonische und gut beherrschbare Übergänge von der sta- tionären Kreisfahrt zum "Power-Steer" er- reicht. Der sportliche Fahrer schätzt die da- mit verbundene Möglichkeit, Feinkorrektu- ren am Kurvenradius über das Gaspedal vorzunehmen. Auffallend beim Vergleich der Dämpfer- kennlinien ist die deutliche Degression der Dämpferkräfte über der Kolbengeschwin- digkeit. Erreicht wird dadurch sowohl ein guter Fahrbahnkontakt und die Unterstüt- zung von Federung und Dämpfung bei der Erzielung dynamisch geringer Aufbaube- wegungen im niederfrequenten Bereich, als auch ein guter Schlechtwegkomfort durch geringen Dämpferkraftanstieg bei höheren Dämpfergeschwindigkeiten. Dipl.-Ing. Gerd Seifert arbeitet in der F ahrwerks- entwicklung des Porsche Entwicklungszentrums und war verantwortlicher Projekt- leiter für die Fahrwerksent- wicklung des 977 Turbos. Dipl.-Ing. Gerd Bofinger arbeitet in der Getriebeent- wicklung des Porsche Ent- wicklungszentrums und war verantwortlicher Teamleiter für die Allradentwicklung des 977 Turbos. Dipl.-Ing. Martin Thierer arbeitet in der Fahrwerksentwicklung des Porsche Entwicklungszen- trums und war verant- wortlich für die Schlupfre- gelsystementwicklung des 977 Turbos. ATZ Automobiltechnische Zeitschrift 103 (2001) 6

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Page 1: Die Fahrdynamik des neuen Porsche 911 Turbo

Fahrdynamik

Die Fahrdynamik des neuen Porsche 911 Turbo Teil 2: Antrieb, Fahrwerk, Regelsysterne

Der neue Porsche 911 Turbo wurde im Frühjahr 2000 eingeführt und inzwischen von allen wichtigen Fachzeitschriften und den Kunden sehr positiv beurteilt. Als eine der überragenden Eigenschaften wird dabei seine hohe fahrdynamische Leistungsfähigkeit bewertet. Dieser Artikel beschreibt, welchen Beitrag Auswahl und Auslegung von Allradantrieb­strang, Fahrwerk und Fahrwerkregelsystemen dazu leisten. Teil 1 des Beitrags ist in der ATZ 2/2001 erschienen.

3.2 Fahrwerk

3.2.1 Kinematik/Elastokinematik

Vorderachse: Um die gelungene gute Abstimmung der Lenkeigenschaften zu erhalten, wurde ge­genüber dem Carrera mit lS"-Bereifung nur eine moderate Erhöhung der Spurweite um 4 mm und der Felgenbreite um 1/2 Zoll ak­zeptiert. Der verwirklichte stabile Gerade­auslaufbestätigt diese Entscheidung.

Hinterachse: Zur Absicherung des Fahrwerkskonzeptes fanden zu einem sehr frühen Entwick­lungszeitpunkt gemeinsame Fahrversuche der Reifen- und Fahrdynamikentwickler mit einem eigens dafür aufgebauten Vor­prototypen statt.

Ergebnis waren zwei wesentliche Änderun­gen: - Breitere Hinterachsbereifung - Optimierung der Hinterachs-Kinematik.

Der Lenkhebel des Hinterachsradträgers wurde um 22 mm verlängert. Durch die entsprechende Vergrößerung des Seiten­kraft-Hebelarmes wurde damit die Vor­spurmomentensteifigkeit um etwa 35 % er­höht. Außerdem wurde durch die Verlage­rung der oberen Querlenker-Anlenkpunkte der Anti-Squat (Nickverhalten) um etwa 20 % vergrößert. Die niedrigeren Kräfte auf die Spurstange und die Spurstangenlager führen zu geringerem Verschleiß. Außer­dem haben Verschleiß und Elastizitäten

540

durch die günstigeren Übersetzungsver­hältnisse weniger Einfluss auf die RadsteI­lungen.

In der Summe wurden eine deutlich spür­bar höhere Fahrstabilität nach Anlenken, bei Fahrspurwechseln und beim Ausregeln äußerer Störungen vor allem bei hohen Fahrgeschwindigkeiten sowie harmoni­schere Zug-/Schub-Übergänge in der Kurve erreicht.

3.2.2 Federn/Dämpfer/Stabilisatoren

Tabelle 2 zeigt die Achskennwerte, Bild 9 die Dämpferkennlinien.

Durch die straffe Federung werden die Auf­baubewegungen reduziert. Dies ist einer­seits erforderlich, um durch geringe Schwerpunktsverlagerung und RadsteI­lungsänderungen die Basis für einen hohen Grenzbereich zu schaffen. Außerdem ge­währleistet sie auch über längere Boden­wellen oder in Senken ein gleichmäßiges Federn ohne komfortminderndes Durch­schlagen auf die Anschlagspuffer. Allge­mein entsteht durch die direkte Anbindung an die Straße der gewünschte "Vertrauen erweckende" Fahreindruck.

Die großzügig dimensionierten Stabili­satoren reduzieren die durch die straffe Federung schon geringen Wankwinkel nochmals. Die Auslegung zwischen Vorder­und Hinterachsstabilisatoren gewährleis­tet neutrales Eigenlenkverhalten bis zu ho­hen Querbeschleunigungen bei leichtem, aber trotzdem eindeutigem Untersteuern

im Grenzbereich. Dadurch werden neben den hohen Kurvengrenzgeschwindigkeiten vor allem auch sehr harmonische und gut beherrschbare Übergänge von der sta­tionären Kreisfahrt zum "Power-Steer" er­reicht. Der sportliche Fahrer schätzt die da­mit verbundene Möglichkeit, Feinkorrektu­ren am Kurvenradius über das Gaspedal vorzunehmen.

Auffallend beim Vergleich der Dämpfer­kennlinien ist die deutliche Degression der Dämpferkräfte über der Kolbengeschwin­digkeit. Erreicht wird dadurch sowohl ein guter Fahrbahnkontakt und die Unterstüt­zung von Federung und Dämpfung bei der Erzielung dynamisch geringer Aufbaube­wegungen im niederfrequenten Bereich, als auch ein guter Schlechtwegkomfort durch geringen Dämpferkraftanstieg bei höheren Dämpfergeschwindigkeiten.

Dipl.-Ing. Gerd Seifert arbeitet in der F ahrwerks­

entwicklung des Porsche Entwicklungszentrums und war verantwortlicher Projekt­leiter für die Fahrwerksent­

wicklung des 977 Turbos.

Dipl.-Ing. Gerd Bofinger arbeitet in der Getriebeent­wicklung des Porsche Ent­

wicklungszentrums und war verantwortlicher Teamleiter

für die Allradentwicklung des

977 Turbos.

Dipl.-Ing. Martin Thierer arbeitet in der Fahrwerksentwicklung des Porsche Entwicklungszen­trums und war verant­

wortlich für die Schlupfre­gelsystementwicklung des

977 Turbos.

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Um die harten Anforderungen zu erfüllen,waren zusätzliche aerodynamische Opti-mierungen notwendig. Die wesentlicheVerbesserung wurde durch die Neukons-truktion des Vorderachsradträgers und desBremsenschutzblechs erzielt, Bild 11. DieFormgebung beider Teile entstand in engerZusammenarbeit zwischen Fahrwerkskon-struktion und Aerodynamikern, wobei dieoptimale Luftführung zur Scheibe einer-seits und Achskinematik, Festigkeit, Le-bensdauer und Herstellbarkeit andererseits„unter einen Hut“ zu bringen waren.

3.3 PSM

Die Entwicklung der elektronischen Sta-bilitätsprogramme für den Automobil-markt wurde erst durch die Verfügbarkeitpreiswerter Giergeschwindigkeitssensorenzur Messung der Fahrzeugbewegung mög-lich. Bei dem im 911 Turbo eingesetzten Sys-

EntwicklungFahrdynamik

tem PSM 5.7 von Bosch sind bis auf denLenkwinkelsensor und die Vorladepumpealle anderen verwendeten Technologienbereits von ABS und ASR (Antriebs-Schlupf-Regelung) bekannt, Bild 12:– Drehzahlfühler: Die Messung der Rad-

geschwindigkeiten erfolgt durch induk-tiv arbeitende Drehzahlfühler an den

3.2.3 Räder

In Anbetracht der Achslastverteilung undder hohen Antriebsleistung entschied mansich nach den oben angesprochenen frühenFahrversuchen zur Verbesserung der Fahr-stabilität im Falle der Hinterachse für295/30 ZR18 Reifen auf 11"-Rädern. An derVorderachse kommen 225/40 ZR 18 Reifenwie beim Carrera zum Einsatz, allerdingsauf 8"- statt 7 1/2 Zoll-Rädern, um in Verbin-dung mit der deutlich breiteren Hinterachs-bereifung die optimale Balance zwischenVorder- und Hinterachse zu erzielen.

Erstmals werden auch Winterräder in 18"-Dimensionen eingesetzt. Diese bieten ohneEinbußen an Wintertauglichkeit deutlichbessere Eigenschaften auf trockener Straßeund wurden zusätzlich für höhere Ge-schwindigkeiten entwickelt (zulässige 240km/h statt 210 km/h).

Die Räder- und Reifendimensionen sind inTabelle 3 zusammengefasst.

Die Vielfältigkeit der Anforderungen an dieReifenentwicklung sowie die Ergebnisse fürzwei verschiedene Reifenfabrikate zeigtBild 10. Durch die Form der Darstellungsieht man, dass beide alle Anforderungenerfüllen bzw. in einzelnen Punkten überer-füllen. Außerdem werden die unterschied-lich ausgeprägten Stärken deutlich.

3.2.4 Bremsen

Tabelle 4 zeigt die wesentlichen Bremsen-dimensionen. Die gegenüber dem Vorgän-ger im Durchmesser nochmals gewachse-nen Bremsscheiben konnten alleine die ge-forderte Rundstreckentauglichkeit derBremse nicht gewährleisten. Als objektivesKriterium hierfür gelten bei Porsche dieScheibentemperaturen, die bei 25 Abbrem-sungen in Folge aus 90 % der Höchstge-schwindigkeit auf 100 km/h auftreten. Kur-ze Abkühlpausen für die Bremse entstehenbei dieser Prozedur nur durch das Wiederbe-schleunigen mit maximaler Motorleistung.

Tabelle 2: Achskennwerte Porsche 911 Turbo

Table 2: Porsche 911 Turbo axle characteristics

Bild 9: Dämpferkennlinien

Figure 9: Damper characteristics

Tabelle 3: Räderdimensionen Porsche 911 Turbo

Table 3: Porsche 911 Turbo wheel dimensions

Bild 10: Reifenbeurteilung

Figure 10: Tire assessment

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vier Rädern. Hier hat sich gegenüber rei-nen ABS-Systemen nichts geändert.

– Hydroaggregat mit Drucksensor: Im Hy-droaggregat sind die zur Regelung derRaddrücke benötigten Ventile und dieRückförderpumpe untergebracht. DieRückförderpumpe erfüllt eine Doppel-funktion: Zum einen dient sie auf derSaugseite zum Druckabbau in den Rä-

dern, auf der anderen Seite erzeugt sieden Druck beim aktiven Druckaufbau inden Radbremsen. Diese Technik gibt esso bereits beim ASR oder dem im Vor-gängermodell eingesetzten ABD (Auto-

matisches Brems Differential). Im Hy-droaggregat ist außerdem der Druck-sensor untergebracht. Dieser Sensormisst den vom Fahrer über das Brems-pedal eingeleiteten Druck.

Entwicklung Fahrdynamik

Tabelle 4: Bremsendimensionen Porsche 911Turbo

Table 4: Porsche 911 Turbo brake dimensions

Bild 11: Aerodynamisch optimierter Radträger

Figure 11: Aerodynamically optimized wheel carrier

Bild 12: PSM: Sensoren undAggregate

Figure 12: PSM: sensors and units

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– Vorladepumpe: Die Vorladepumpe ver-bessert die Dynamik bei aktivem Druck-aufbau speziell bei tieferen Temperatu-ren.

– Integrierter Giergeschwindigkeits- undQuerbeschleunigungssensor [6]: Der im911 Turbo eingesetzte Sensor arbeitetmikromechanisch. Auf einem kleinenSiliziumplättchen sitzen sowohl der auseiner Schwingmasse bestehende Gier-geschwindigkeitssensor als auch ein se-parater Querbeschleunigungssensor.

– Lenkwinkelsensor: Der Lenkwinkelsen-sor sitzt im Lenkstrang und arbeitet miteiner Auflösung von 2,5°. Aus der Lenk-radstellung und der mit Hilfe der Dreh-zahlfühler bestimmten Geschwindig-keit kann über ein Fahrzeugmodell dietheoretisch daraus resultierende Dreh-rate berechnet werden. Diese wird zurBewertung des Fahrzustands dann mitder gemessenen Giergeschwindigkeitverglichen.

Das Porsche Stability Management kann lo-gisch in die folgenden Teilsysteme zerlegtwerden:– Fahrzeugregler (FZR)– TC (Traction Control; umfasst ASR und

ABD)– ABS– Motorschleppmomentregelung (MSR).

Als herausragende Eigenschaft der elektro-nischen Stabilitätsprogramme wird im All-gemeinen die Möglichkeit beschrieben, eininstabil gewordenes Fahrzeug durch geziel-ten, aktiven Bremsdruckaufbau wieder zustabilisieren. Dabei wird die für den Alltagrelevantere Möglichkeit übersehen, die Be-reiche ASR und ABS perfekt an die jeweiligeFahrsituation anzupassen, so dass ein in-stabiler Zustand erst gar nicht entsteht.Dies bedeutet auch, daß die Abstimmungdes Regelsystems als Gesamtaufgabe ver-standen werden muss, die nicht ohne Wei-teres auf die getrennte Auslegung der Teil-systeme reduziert werden kann.

Vom Fahrzeugregler werden zunächst ein-mal die Sensorsignale hinsichtlich des ak-tuellen Fahrzustands ausgewertet. Darauswerden dann Kenngrößen gebildet, die denGrad der Stabilität bzw. Instabilität und ge-gebenenfalls die Art der Instabilität (Unter-steuern oder Übersteuern) angeben. Aufdiese Kenngrößen haben alle anderen Reg-lerteile wie ABS und TC Zugriff.

Zusätzlich greift der Fahrzeugregler durchgezielten Druckaufbau an einzelnen Rä-dern ein. Die dadurch eingeleitete Brems-kraft führt zu einem stabilisierenden Mo-

ment auf das Fahrzeug. Im Wesentlichenfunktioniert diese Stabilisierung wie inBild 13 beschrieben:

Bei Übersteuern wird durch Druckaufbauam kurvenäußeren Vorderrad das Fahr-zeug praktisch wieder in die richtige Spur„gedrückt“. Zusätzlich wird durch dieBremskraft das Seitenführungspotenzialdes Rades reduziert, was in dieser Situationebenfalls positiv wirkt.

Umgekehrt wird beim Untersteuern amkurveninneren Hinterrad Druck aufgebaut.Dadurch wird das Fahrzeug zum einen indie Kurve „hineingezogen“, zum anderendas Seitenführungspotenzial der Hinter-achse reduziert. Generell sind auf hohenReibwerten die Möglichkeiten, durch einenaktiven Eingriff das Untersteuern zu verrin-gern, aber begrenzt: Da das Untersteuernhier bei hoher Querbeschleunigung auf-tritt, ist das kurveninnere Hinterrad dabei

EntwicklungFahrdynamik

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regler erkannt werden, ist es möglich, denSollschlupf entsprechend anzupassen unddamit immer die optimale Traktion bei sta-biler Fahrt zu gewährleisten. Bei reinen An-triebsschlupfregelsystemen ohne entspre-chende Zusatzsensorik muß hier ein akzep-tabler Kompromiss gefunden werden.

Bei passiv geschaltetem System wird dasMotormoment in keinem Fall reduziert.Um Traktionsverlusten durch einseitigdurchdrehende Räder – zum Beispiel beiunterschiedlichen Reibwerten oder starkenRadlastunterschieden – entgegenzuwirken,erfolgt durch das ABD gegebenenfallsDruckaufbau an der Antriebsachse, um eindurchdrehendes Rad wieder „einzufangen“.Da wir davon ausgehen, daß ein Fahrer imAllgemeinen das PSM nur dann bewusstpassiv schaltet, wenn er sehr dynamischfahren will, wird mit der Passivschaltungauch das ABD auf eine zugunsten der Trak-tion spontaner ansprechende Abstimmungumgeschaltet.

Von den vom Fahrzeugregler ermitteltenInformationen über den Fahrzustand profi-tiert auch die ABS-Funktion. Die auffällig-ste Verbesserung betrifft die Einführungder Individualregelung an der Hinterachsebeim Bremsen mit unterschiedlichen Reib-werten auf der linken und rechten Fahr-zeugseite („μ-split“).

Bei normalen ABS-Systemen wird in die-sem Fall im Interesse der Fahrzeugstabi-lität nach dem sogenannten „Select-low“-Prinzip geregelt. Dies bedeutet, dass sichdie Druckregelung in beiden Hinterrädernimmer an dem Hinterrad orientiert, dasauf dem niedrigeren Reibwert läuft. Dasführt dazu, dass bei stark unterschiedli-chen Reibwerten das Rad auf dem höherenReibwert unter Umständen weit unterdem Bremsdruck bleibt, der eigentlichmöglich wäre.

Bei der Individualregelung wird nun – zeit-lich verzögert, damit der Fahrer ausrei-chend Zeit hat, das durch die Druckdiffe-renz entstehende Giermoment mit demLenkrad auszugleichen – an allen Rädernmit dem maximal möglichen Bremsdruckgebremst. Damit erreicht man auf den ent-sprechenden Reibwertverhältnissen einendeutlich kürzeren Bremsweg. Diese Indivi-dualregelung ist prinzipiell auch bei Stan-dard ABS-Systemen möglich, die zusätzli-che Sensorik des PSM hilft aber, immer dasOptimum zwischen Verzögerung und Sta-bilität zu erzielen.

Speziell auf niedrigen Reibwerten wie

Entwicklung Fahrdynamik

Bild 14: Porsche 911 Turbo mit Spur-/Sturz-Messeinrichtung

Figure 14: Porsche 911 Turbo with track/camber measuring equipment

Bild 13: Funktionsprinzip PSM

Figure 13: PSM operating principle

stark entlastet, so dass keine große Kraftübertragen werden kann.

Allerdings hat Untersteuern meist die Ursa-che, dass der Fahrer zu viel Gas gibt. Des-halb ist es in dieser Situation erfolgverspre-chender, dem Fahrzeug durch angemesse-ne Reduzierung der Motorleistung dieChance zu geben, die Spur zu halten.

Dies ist möglich, weil, wie schon erwähnt,die vom Fahrzeugregler ermittelten Kenn-größen auch der Traction Control zur Verfü-gung stehen. Normalerweise reagiert die-ses System nur dann, wenn der Schlupf an

den Antriebsrädern einen festgelegtenWert überschreitet. Dieser Wert wird empi-risch in Fahrversuchen ermittelt. Dabeimuss grundsätzlich ein Kompromiß gefun-den werden, weil speziell Winterreifen auf-grund ihrer weicheren Gummimischungeinen höheren Schlupfbedarf haben alsSommerreifen.

Außerdem ist bei Geradeausfahrt aufgrunddes kleineren Seitenkraftbedarfs ein deut-lich größerer Schlupf ohne Stabilitätspro-bleme möglich als bei Kurvenfahrt naheder maximalen Querbeschleunigung. Dadiese Situationen bei PSM vom Fahrzeug-

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Schnee und Eis kommt es vor, dass an denAntriebsrädern allein durch das Schlepp-moment des Motors zu großer Brems-schlupf auftritt. Hier hilft es dann auchnicht, wenn das ABS diese Räder vollkom-men drucklos macht. In diesem Fall kommtdie MSR-Funktion ins Spiel. Sie gibt – in en-gen Grenzen – der Motronic die Anwei-sung, das Motormoment anzuheben.

Dies ist nur möglich, weil durch das Elektro-nische Gaspedal (E-Gas) die Motronic dieMöglichkeit hat, die Drosselklappe unab-hängig von der Gaspedalstellung anzusteu-ern. Bei diesem System gibt es zwischendem Gaspedal und der Drosselklappe desMotors keine feste Verbindung in Form desGaszugs mehr. Die Gaspedalbetätigungwird von der Motronic über ein Potentiome-

ter erfaßt. Die Ansteuerung der Drosselklap-pe erfolgt dann theoretisch unabhängig da-von. Neben der Komfort- und Funktionsver-besserung beim Traction Control macht dasE-Gas die MSR-Funktion erst möglich.

4 Ergebnisse

In diesem Kapitel werden die Ergebnisseaus objektiven Messungen sowie subjekti-ven Bewertungen beschrieben. Bild 14 zeigtdas für die fahrdynamischen Messungenausgerüstete Fahrzeug. Da neben den Fahr-zeugreaktionen auch die im Fahrbetriebauftretenden Radstellungsänderungen in-teressieren, ist das Fahrzeug an allen vierRädern mit Spur-/Sturz-Messeinrichtungenversehen.

4.1 Traktion

In Bild 15 ist ein Beschleunigungsvergleichauf ebener, schneebedeckter Eisfläche dar-gestellt. Alle Allradfahrzeuge liegen dicht

EntwicklungFahrdynamik

Bild 15: Traktionsver-gleich

Figure 15: Comparionof tractive power levels

Bild 16: Lenkwinkel bei stationärer Kreisfahrt

Figure 16: Steering angle during steady-state cornering

Bild 17: Lenkmoment bei stationärer Kreisfahrt

Figure 17: Steering torque during steady-state cornering

Bild 18: Schwimmwinkel bei stationärer Kreisfahrt

Figure 18: Sideslip angle during steady-state cornering

Bild 19: Hinterachs-Spur bei stationärer Kreisfahrt

Figure 19: Rear axle track during steady-state cornering

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zusammen. Am deutlichsten ist der Trakti-onsgewinn gegenüber dem Heckantriebs-fahrzeug zu erkennen. Die prinzipbeding-ten Einschränkungen des Visco Hang-on-Allradantriebs fallen im praktischen Fahr-betrieb gering aus.

Grenzfälle, die nur durch Geländefahrzeugemit entsprechender Bodenfreiheit abge-deckt werden, waren für die Sportwagen-entwicklung nicht relevant.

4.2 Stationäre Kreisfahrt

Die Ergebnisse der Messungen bei stationä-rer Kreisfahrt zeigen die Bilder 16 bis 19.

Die Lenkwinkel, Bild 16, sind durch die rela-tiv direkte Lenkübersetzung klein, das Fahr-zeug untersteuert bis in den Grenzbereichgeringfügig, aber eindeutig.

Die Lenkkräfte, Bild 17, sind für einen Sport-wagen generell gering, durch den ausge-prägten Anstieg aus der Mittellage werden

gute Lenkinformationen sichergestellt. Dieauftretenden Schwimmwinkel bleibenklein, Bild 18, die seitenkraftuntersteuern-de Hinterachse, Bild 19, wirkt sich vor allemdynamisch positiv auf die Fahrstabilitätaus.

4.3 Lastwechselreaktion

Die Giergeschwindigkeitsdifferenz 1 s nachLastwechsel, Bild 20, als übliches Beurtei-lungskriterium für die Lastwechselreak-tion, zeigt ein sehr gutmütiges Fahrzeug-verhalten. So ergibt sich für den sportlichenFahrer im Zusammenhang mit dem dezen-ten stationären Untersteuern die willkom-mene Möglichkeit, im Grenzbereich mitdem Gaspedal zu steuern.

4.4 Sinus-Wedeltest

Giergeschwindigkeitsüberhöhung sowiePhasenwinkel der Giergeschwindigkeitzum Lenkradwinkel zeigen Bild 21 und Bild22. Die geringfügige Überhöhung der Gier-

geschwindigkeit – zudem bei relativ hohenLenkfrequenzen – in Zusammenhang mitden geringen Phasenverzügen werden alsIndiz für die gute Beherrschbarkeit desFahrzeugs auch beim Ausregeln äußererStörungen gewertet.

4.5. Bremsen

Auf die Fading-Messungen wurde im Zu-sammenhang mit den Aufwendungen zurSicherstellung der Rundstreckentauglich-keit schon weiter oben eingegangen.

Bremswege werden bei vorausgesetzter or-dentlicher Bremsenauslegung nicht mehrvon der Bremsanlage, sondern von der ABS-Regelgüte, einer guten Fahrbahnkontakt si-cherstellenden Fahrwerksauslegung sowie– maßgeblich – von den Reifeneigenschaf-ten bestimmt.

Die Vergleichbarkeit von Bremswegmes-sungen untereinander ist trotz der einfa-chen Messprozedur durch bremsenunab-

Entwicklung Fahrdynamik

Bild 20: Lastwechsel aus stationärer Kreisfahrt

Figure 20: Powering-off during steady-state cornering

Bild 21: Sinus-Wedeltest: Amplitudengang

Figure 21: Sinusoidal steering input: amplitude response

Bild 22: Sinus-Wedeltest: Phasengang

Figure 22: Sinusoidal steering input: phase response

Bild 23: Bremsen in der Kurve

Figure 23: Braking in a turn

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hängige Parameter wie Reifen (Fabrikat, Luftdruck, Profil-tiefe, Temperatur, Vorgeschichte) und Fahrbahn (Belag,Temperatur, Gummiabrieb, Fette, letzter Niederschlag,etc.) stark eingeschränkt. Selbst bei gewissenhafter Ver-suchsdurchführung (identische Fahrbahn, gleicher Tag,gleicher Reifen) liegt die Wiederholgenauigkeit bei bis zu 1 m.

Die Auswirkung der Bremsenauslegung auf die Fahrstabi-lität des gebremsten Fahrzeugs in der Kurve zeigt Bild 23.Trotz der Ausgangsquerbeschleunigung von 6 m/s2 – stattder bei diesem Test üblichen 4 m/s2 – treten über den ge-samten Verzögerungsbereich nur moderate Gierge-schwindigkeitsdifferenzen auf.

4.6 Zusammenfassung der Ergebnisse

Die objektiven fahrdynamischen Messungen weisen diehohe Fahrsicherheit des neuen Porsche Turbo nach. Auchlassen sich anhand der Messungen einige subjektiv erfahr-bare Fahreigenschaften nachvollziehen.

Große Bereiche der fahrdynamischen Faszination entzie-hen sich jedoch nach wie vor einem objektiven Nachweis.Als wichtigste subjektiven Fahreigenschaften sind zu nen-nen:– Die Leichtigkeit, mit der das Fahrzeug bei allen Fahr-

bahn- und Umweltbedingungen beherrschbar ist.– Das Vertrauen, das es auch auf dynamisch gefahrenen

Rundstrecken oder Passstraßen und bei hohen Ge-schwindigkeiten vermittelt

– Die Eindeutigkeit, mit der das Fahrzeug in allen Situa-tionen auf Eingaben mit dem Lenkrad und dem Gaspe-dal reagiert.

Als umfassender Nachweis einer gelungenen Fahrdyna-mikabstimmung gilt bei Porsche traditionell die Fahrbar-keit und Beherrschbarkeit des Fahrzeugs auf der Nürbur-gring-Nordschleife mit ihrer unübertroffenen Vielfalt anLängs-, Quer- und Vertikaldynamikkomponenten sowiedie hier erzielbare Rundenzeit.

Dass der neue Porsche Turbo als erstes Serienfahrzeug derWelt von einer unabhängigen Testzeitschrift mit 7:56 minin weniger als 8 Minuten über die Nordschleife gefahrenwurde, während gleichzeitig seine Alltagstauglichkeit undsein Langstreckenkomfort gelobt werden, gilt uns deshalbals wesentliche Bestätigung unserer Arbeit. ■

Danksagung

Der neue 911 Turbo wurde im Team entwickelt. Die Autorendanken hiermit allen am Projekt beteiligten Kollegen für die gute Zusammenarbeit.

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