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VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE 1. Jahrgang 1953 2. Heft / April ANDREAS PREDÖHL DIE EPOCHENBEDEUTUNG DER WELTWIRTSCHAFTSKRISE VON 1929 BIS 1931 Die Fragestellung des Wirtschaftswissenschaftlers gegenüber wirtschaftlichen Vorgängen ist eine andere als die des Historikers. Ihn interessiert weniger das indi- viduelle Geschehen als solches, als das generelle Phänomen, das sich in ihm zum Ausdruck bringt, weniger die Geschichte als die Theorie. Unter Theorie verstehen wir dabei allerdings nicht nur den funktionalen Zusammenhang der wirtschaftlichen Größen, also das ökonomische Gesetz im engeren Sinne, sondern auch die histo- rische Abstraktion im Sinne des Idealtypus Max Weberscher Prägung, die wir im Gegensatz zum Gesetz im engeren Sinne als Gestalt begreifen können. Dem Hi- storiker leistet die Wirtschaftswissenschaft damit Vorarbeit, indem sie die Grenzen wirtschaftlichen Geschehens aufzeigt, die durch Bindung sowohl an wirtschafts- gesetzliche Zusammenhänge als auch an entwicklungsgesetzliche Abläufe gezogen sind. Eine solche Hilfsstellung ist für den Historiker der modernen Zeit um so wichtiger, als die Wirtschaft im historisch-politischen Geschehen so ungemein an Gewicht gewonnen hat. Die eigentliche Aufgabe des Historikers bleibt davon unbe- rührt, und der Nationalökonom wird seinerseits die Mannigfaltigkeit des lebendigen Geschehens nicht begreifen können, wenn er nicht die historische Forschung zu Rate zieht. Für kein Ereignis gilt die Notwendigkeit der wechselseitigen Ergänzung ge- schichtswissenschaftlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung mehr als für die große Weltwirtschaftskrise von 1929/31. Alle Probleme der Weltwirtschafts- politik der Gegenwart von Bretton Woods über Havanna bis zur Europäischen Zah- lungsunion und zu den vielfältigen Bemühungen um die wirtschaftliche Zusammen- arbeit in Europa sind aus dieser Krise erwachsen, wie immer der zweite Weltkrieg das politische Gesicht der Welt revolutioniert haben mag. Jedes Urteil in weltwirt- schaftlichen Fragen der Gegenwart ist bewußt oder unbewußt bestimmt durch ein Urteil über die Weltwirtschaftskrise. Hat sie nur einen Einschnitt in das wirtschaft- liche Geschehen gebracht oder einen Umbruch begründet? Ist sie — vom Standpunkt 1 Zeitgeschichte 7

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VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE 1. Jahrgang 1953 2. Heft / April

ANDREAS PREDÖHL

DIE EPOCHENBEDEUTUNG DER WELTWIRTSCHAFTSKRISE VON

1929 BIS 1931

Die Fragestellung des Wirtschaftswissenschaftlers gegenüber wirtschaftlichen Vorgängen ist eine andere als die des Historikers. Ihn interessiert weniger das indi­viduelle Geschehen als solches, als das generelle Phänomen, das sich in ihm zum Ausdruck bringt, weniger die Geschichte als die Theorie. Unter Theorie verstehen wir dabei allerdings nicht nur den funktionalen Zusammenhang der wirtschaftlichen Größen, also das ökonomische Gesetz im engeren Sinne, sondern auch die histo­rische Abstraktion im Sinne des Idealtypus Max Weberscher Prägung, die wir im Gegensatz zum Gesetz im engeren Sinne als Gesta l t begreifen können. Dem Hi­storiker leistet die Wirtschaftswissenschaft damit Vorarbeit, indem sie die Grenzen wirtschaftlichen Geschehens aufzeigt, die durch Bindung sowohl an wirtschafts­gesetzliche Zusammenhänge als auch an entwicklungsgesetzliche Abläufe gezogen sind. Eine solche Hilfsstellung ist für den Historiker der modernen Zeit um so wichtiger, als die Wirtschaft im historisch-politischen Geschehen so ungemein an Gewicht gewonnen hat. Die eigentliche Aufgabe des Historikers bleibt davon unbe­rührt, und der Nationalökonom wird seinerseits die Mannigfaltigkeit des lebendigen Geschehens nicht begreifen können, wenn er nicht die historische Forschung zu Rate zieht.

Für kein Ereignis gilt die Notwendigkeit der wechselseitigen Ergänzung ge­schichtswissenschaftlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung mehr als für die große Weltwirtschaftskrise von 1929/31. Alle Probleme der Weltwirtschafts­politik der Gegenwart von Bretton Woods über Havanna bis zur Europäischen Zah­lungsunion und zu den vielfältigen Bemühungen um die wirtschaftliche Zusammen­arbeit in Europa sind aus dieser Krise erwachsen, wie immer der zweite Weltkrieg das politische Gesicht der Welt revolutioniert haben mag. Jedes Urteil in weltwirt­schaftlichen Fragen der Gegenwart ist bewußt oder unbewußt bestimmt durch ein Urteil über die Weltwirtschaftskrise. Hat sie nur einen Einschnitt in das wirtschaft­liche Geschehen gebracht oder einen Umbruch begründet? Ist sie — vom Standpunkt

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des Nationalökonomen — ein historischer Zufall oder ein Glied im entwicklungs­

gesetzlichen Ablauf? Können wir an die Vorkrisenzeit anknüpfen oder sind wir ge­

zwungen, neue Lösungen auf neuen Wegen zu finden?

1. Der Ablauf der Weltwirtschaftskrise

Der äußere Hergang ist schnell in die Erinnerung zurückgerufen. Ausgangspunkt

war der Zusammenbruch der durch eine wilde Spekulation übersteigerten New-

Yorker Börsenhausse im Oktober 1929. Dieser Zusammenbruch breitete sich über

die Vereinigten Staaten aus, die mit einer weit übertriebenen Konsumfinanzierung

dem Gedanken der stetigen Prosperity verhaftet gewesen waren. Die Kette depres­

siver Erscheinungen vom Preisverfall über Produktionsstockungen bis zur Massen­

arbeitslosigkeit rollte ab in jener typischen Verstärkung, die der spätkapitalisti­

schen Entwicklung eigen ist. Krise und Depression sprangen auf die anderen

Länder über, auf England vor allem über den Außenhandel, auf Deutschland

über die Zerrüttung der Binnenmärkte. In den Strudel wurde der internatio­

nale Kapitalverkehr hineingerissen, zunächst und vor allem in Deutschland. Die

deutsche Reichsbank verlor nach den Septemberwahlen von 1930 in wenigen

Wochen mehr als eine Milliarde Reichsmark von ihren Gold- und Devisenbeständen.

Sie konnte zwar bis Mai 1931 mit Hilfe auswärtiger Anleihen bei steigender Aktivi­

tät der Handelsbilanz und sinkenden Reparationszahlungen die Zahlungsbilanz noch

im Gleichgewicht halten, im Mai 1931 aber setzte mit dem Zusammenbruch der

Österreichischen Credit-Anstalt die eigentliche Katastrophenphase der Krise ein, die

in lawinenhaftem Rückzug der Auslandsgelder zum Ausdruck kam. Dem Run der

Auslandsgläubiger folgte der Inlandsrun und der Zusammenbruch des deutschen

Kreditgebäudes, nachdem sich die Reichsbank vergeblich nach allen klassischen

Regeln der Kunst, zuletzt durch Erhöhung des Bankdiskonts auf 15 Prozent, dagegen

gestemmt hatte.

Die Zwangsmaßnahmen, die alsdann in Deutschland ergriffen wurden, nament­

lich die Devisenbewirtschaftung und was damit zusammenhängt, sind bei ihrer Ein­

führung genau so unvermeidlich gewesen wie für die meisten anderen Länder, die

zu späterem Zeitpunkt zu ihnen gegriffen haben. Als am 13. Juli 1931 die Darm­

städter und Nationalbank zusammenbrach, war die deutsche Wirtschaftspolitik mit

ihren liberalen Methoden am Ende. Durch Notverordnungen vom 15. und 18. Juli

und vom 1. August wurde der freie Devisenverkehr durch eine umfassende

Devisenzwangswirtschaft ersetzt. Viel wichtiger für die Weltwirtschaft als Ganzes

aber ist die Lage und Haltung Großbritanniens gewesen. England hatte keine Über­

steigerung des Aufschwungs erlebt wie die USA.; das hätte schon die Überbewertung

des Pfundes bei der Rückkehr zum Goldstandard im Jahre 1925 verhindert. Es

wurde zwar von der Depression, namentlich in seinen strukturell besonders gefähr­

deten Ausfuhrindustrien schwer getroffen, es konnte aber eine regelrechte Deflation

vermeiden und sich bis 1931 abwartend verhalten. Als aber die schwere Kreditkrise

einsetzte und der Abzug der kurzfristigen Kapitalien begann, die sich in England

niedergelassen hatten, wurde die britische Wirtschaftspolitik zur Entscheidung ge-

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zwungen. Devisenrestriktionen hätten Englands Stellung als Kreditvermittler der Welt erschüttert. Es blieb also nichts anderes übrig, als den Goldstandard zu ver­lassen und das Pfund abzuwerten.

Die Aufhebung der Goldeinlösung der Bank von England erfolgte am 20. Sep­tember 1931. Hier liegt der entscheidende Wendepunkt. Die l ibera le W ä h r u n g s ­poli t ik hatte sich an den Automatismus der Goldbewegungen gehalten und orien­tierte Kreditausweitung und Krediteinschränkung am Pegelstand der Goldvorräte; die nun einsetzende au tonome Währungspo l i t ik richtete sich nach den wirt­schaftspolitischen Zielen der einzelnen Staaten. An die Stelle stabiler Wechselkurse bei schwankenden Preisniveaus traten damit autonom bestimmte Preisniveaus mit schwankenden Wechselkursen. Die englische Devalvation ist der Ausgangspunkt für eine weltweite Welle von Abwertungen gewesen. Automatisch gingen die Län­der mit Pfunddevisenwährungen, Britisch-Indien, Ägypten, Palästina und Irland mit. Es folgten Australien und Neuseeland, später auch Südafrika. Dazu kamen die skandinavischen Länder mit unterschiedlichen Abwertungssätzen, also unterschied­lichen Abstufungen auch gegenüber dem Pfund, wie denn die Gesichtspunkte einer währungspolitischen Autonomie in der Wechselkurspolitik überall ihren deutlich­sten Ausdruck fanden. Auch Portugal, Finnland und Estland haben sich dem Pfunde angeschlossen. So ist jenes Gebilde entstanden, das bis zum zweiten Weltkrieg eine der charakteristischen Erscheinungen der autonomen Währungspolitik gewesen ist, der Sterlingblock.

Kanada schloß sich diesem Block nicht an. Es wertete zwar seinen Dollar mit dem Pfunde ab, lehnte sich aber nach Aufgabe des Goldstandards durch die Vereinigten Staaten an den amerikanischen Dollar an. Andere Länder sind dem Beispiel der Sterlingblockländer etwas später gefolgt, so Japan im Dezember 1933 und die Tschechoslowakei im Februar 1934. Noch krasser, weil willkürlicher als bei den Sterlingblockländern, trat die Wendung zur Autonomie in der Währungspolitik der Vereinigten Staaten zutage, die sich im März 1933 zur Abwertung entschlossen. Hier handelte es sich nicht um eine primär außenwirtschaftliche Maßnahme, sondern vielmehr um einen Akt der amerikanischen Binnenwirtschaftspolitik, der in engem Zusammenhang mit jenem System von Lenkungsmaßnahmen steht, die als New Deal die Wirtschaft der USA. bis kurz vor dem zweiten Weltkrieg bestimmt haben. Die Verminderung des Goldgehalts des Dollars diente dem Zweck der Preissteige­rung. In Anlage und Durchführung sorgfältig vom Brain Trust in Washington er­sonnen, stellt sich die Devalvation des Dollars als ein Akt währungspolitischer Auto­nomie dar, wie er unabhängiger aber auch rücksichtsloser gegenüber der Goldwäh­rung nicht denkbar ist.

In diesen Maßnahmen tritt schon klar zutage, daß die währungspolitische Auto­nomie keineswegs nur eine Reaktion gegen den Zusammenbruch des Goldwährungs­mechanismus gewesen ist. Sie war zugleich, in den USA. sogar ausschließlich, eine konjunkturpolitische Reaktion gegen die Depression. Schumpete r 1 hat zwar über-

1 S c h u m p e t e r , Joseph A., Business Cycles. A theoretical, historical and Statistical analysis of the capitalist process. Two Volumes. New York and London 1939, S. 906ff., S. 924ff.

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zeugend nachgewiesen, daß der Tiefpunkt der Depression in den wichtigsten kapi­talistischen Ländern bereits im Sommer 1932 erreicht war, ehe die staatlichen Ein­griffe wirksam werden konnten, so daß wahrscheinlich auch ohne sie die Wirtschaft wieder aus der Depression herausgekommen wäre. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Krise in allen Ländern Kräfte entfesselt hat, die mitbestimmend, ja entscheidend in die Depression eingegriffen haben. In England war es die Politik des billigen Geldes, in den USA. der New Deal, in Deutschland die dem New Deal sehr ähnlichen Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, die mit den Papenschen Steuergutscheinen im Herbst 1932 schon begannen.

Dazu kommt nun, daß die einzige Gruppe von Ländern, die an der Erholung der Jahre 1932, 1933, 1934 nicht teilgenommen hat, diejenige gewesen ist, die sich unter Aufrechterhaltung des Goldstandards mit deflationistischen Mitteln den welt­wirtschaftlichen Umstellungen anzupassen versucht hat. Das sind die Länder des sog. Goldblocks gewesen, Frankreich und in seinem Gefolge Belgien, die Niederlande und die Schweiz. Auch Polen ist ähnliche Wege gegangen. Dabei han­delt es sich nicht um die monetäre Deflation, wie sie zwangsläufig alle Länder in den ersten Phasen der Depression erlebt haben, sondern um eine Deflation ver­mittels direkter Eingriffe in das Preisgefüge, die die Anpassung an das weltwirt­schaftliche Gleichgewicht mit konjunkturpolitischen Anreizen verbinden sollte. Es war das die gleiche Deflationspolitik, wie sie mit gleichem Miß erfolge in Deutsch­land schon Brüning um die Wende 1931/32 betrieben und wie sie mit echter Konse­quenz nur ein Agrarland wie Polen hat durchführen können. Der Grund des Schei­terns lag darin, daß eine solche Deflationspolitik durch die Ungleichmäßigkeit der Prozedur nicht minder depressive Wirkungen auslöst wie eine monetäre Deflation, und daß andererseits die Anpassung an das weltwirtschaftliche Gleichgewicht durch die Abwertung anderer Länder immer wieder zunichte gemacht wurde. So haben auch Frankreich — und in seinem Gefolge die Niederlande und die Schweiz — 1936 unter gleichzeitiger Abwertung die Wendung zu autonomer Konjunktur­politik vollzogen. Belgien war schon 1935 aus der Front der Goldblockländer ausgebrochen.

Die Depression war spätestens 1936 in allen Ländern wieder einem regelrechten Aufschwung gewichen. Wie dieser Aufschwung dann durch die nationalsozialistische Kriegsrüstung und in ihrem Gefolge auch in den anderen Ländern inflationistisch überspannt worden ist und was das für die Weltwirtschaft bedeutet hat, ist nicht das, was uns hier interessiert. Hier geht es um die Tatsache, daß die autonome Kon­junkturpolitik, je konsequenter sie betrieben wurde, um so weiter vom Wett­bewerbsautomatismus fortgeführt hat. Indem sie diesem die Funktion der Lenkung abnimmt, übernimmt sie auch die Steuerung des strukturellen Wachstums in ihrem autonomen Machtbereich. Damit aber schafft sie neue wirtschaftliche Tatbestände, die mit der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung nicht verträglich sind und die in den alten Zusammenhang einzuordnen immer schwieriger wird.

Nun hat man allerdings, namentlich in England, die autonome Konjunkturpolitik zunächst nicht überspitzt. Die Rücksichtnahme auf die internationalen Wirtschafts-

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beziehungen und die geschmeidige Anpassung der Sterlingblockländer hat es mög­lich gemacht, die Wechselkurse trotz autonomer Konjunkturpolitik verhältnis­mäßig stabil zu halten. Das Dreierabkommen zwischen den USA., England und Frankreich im Jahre 1936, das die Währungsfonds der beteiligten Land zur In­tervention im Interesse der Stabilität der Wechselkurse verpflichtete, hat wesent­lich zu diesem Ergebnis beigetragen. Auch konnte gerade Großbritannien sich mit einer milden Konjunkturpolitik begnügen, nachdem es unter der Depression ver­hältnismäßig wenig gelitten und auch die Prozedur der Abwertung in denkbar bester Form überstanden hatte. Aber autonome Konjunkturpolitik bleibt autonome Konjunkturpolitik. Bei starken einseitigen Ungleichgewichten läuft auch der größte Währungsfonds leer. So hat Frankreich trotz Dreierabkommen infolge inflationi­stischer Währungspolitik mehrmalige Abwertungen nicht vermeiden können. Auch England ist seiner Autonomie verhaftet geblieben, selbst wenn man von dem kriegs-bedingten Übergang zur Devisenzwangswirtschaft zunächst ganz absieht. Alle Be­mühungen um echte Stabilisierung der Währungen sind in akademischen Erörte­rungen stecken geblieben.

Die deutsche Devisenbewirtschaftung hat die Autonomie auf die Spitze getrieben. Sie hat zwar an stabilen Wechselkursen festgehalten, die Quadratur des Zirkels, eine autonome Konjunkturpolitik bei stabilen Wechselkursen zu betreiben, aber selbst­verständlich auch nicht lösen können. Vielmehr hat sie die Anpassung an das weltwirtschaftliche Gleichgewicht aus der Währungssphäre in die Preissphäre ver­legt, indem sie bei formaler Aufrechterhaltung des Goldwertes der Reichsmark die Auslandspreise von Fall zu Fall entsprechend der Elastizität der ausländischen Nach­frage unter die Inlandspreise gesenkt hat. Diese Preisdifferenzierung erreichte das gleiche wie die Abwertung, nur in verfeinerter Form, und war mit großen Erfolgen verbunden. Sie führte aber noch konsequenter von den Normen der liberalen Welt­wirtschaft fort als die Politik der Abwertungsländer. Dazu kamen alle möglichen Arten von Nebenwährungen, die eine partielle Abwertung in bestimmten Waren-und Länderbereichen bedeuteten, wie Askimark, Reisemark u. dgl. Alle diese Maß­nahmen haben der alten multilateralen Weltwirtschaft vor allem dadurch immer mehr Abbruch getan, daß sie dem Bilateralismus im internationalen Austausch recht eigentlich den Boden bereitet haben.

Diese Entwicklung hat nun aber mit dem zweiten Weltkrieg kein Ende genom­men. Im Gegenteil, sie hat sich erst recht, namentlich auch durch die Inflationen, die er entfesselt hat, immer stärker verbreitet. Immer mehr Länder sind zur Devisenbewirtschaftung übergegangen. Vor allem hat Großbritannien, das kurz nach Beginn des zweiten Weltkrieges den lockeren Sterlingblock in verkleinertem Rahmen zu einer festgefügten Einheit („Area") mit zentraler Devisenbewirtschaf­tung in London umgebildet hatte, am System der Devisenbewirtschaftung bis zum heutigen Tage festgehalten. Es gibt zwar einen mehr oder minder freien Devisen­verkehr innerhalb des Sterlinggebietes, nach außen aber ist dieses Gebiet durch eine autonome Währungspolitik abgeriegelt, die nicht minder rigoros ist als die deutsche der dreißiger Jahre. In Kontinentaleuropa vollends hat sich die autonome

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Konjunkturpolitik nach dem Kriege zunächst immer stärker entwickelt und immer weiter von der alten Weltwirtschaft fortgeführt.

Die Weltwirtschaftskrise von 1929/31 hat also zwar in den meisten Ländern bis spätestens 1936 einem starken wirtschaftlichen Aufschwung Platz gemacht. Auch sind nach Überwindung der Kriegskonjunktur und ihrer Folgen keine schweren Rückschläge eingetreten. Vielmehr hat sich die Nachkriegsentwicklung unter deni Impuls und der Kontrolle autonomer Konjunkturpolitik, namentlich in den Ver­einigten Staaten, ziemlich stetig vollzogen. Aber die Kehrseite der autonomen Kon­junkturpolitik, die Desorganisation der weltwirtschaftlichen Ordnung, ist bis zum heutigen Tage nicht überwunden worden. Wir dürfen also mit Fug und Recht von einer chronischen Krise der weltwirtschaftlichen Struktur sprechen, die aus der Weltwirtschaftskrise im engeren Sinne erwachsen ist. Diese Strukturkrise zu über­winden, ist die weltwirtschaftspolitische Aufgabe der Gegenwart. Ihr die Wege zu ebnen durch eine umfassende Analyse der Krise, die Ansatzpunkte für ihre Über­windung erkennen läßt, ist eine der dringendsten Aufgaben der Wissenschaft.

2. Die Ursachen der Weltwirtschaftskrise

Die Ursachen der Weltwirtschaftskrise sind vielfach geschichtet. Nur ein Ent­blättern des komplexen Problems kann uns von der Oberfläche bis zum Kern hin­unterführen. Die Krise war zunächst ein rein konjunkturelles Phänomen mit allen typischen Merkmalen des krisenhaften Umschwungs im Konjunkturzyklus. Unter konjunkturellen Krisen verstehen wir Zusammenbrüche der Wirtschaft, die sich aus dem Rhythmus der Wirtschaft selbst entwickeln, im Gegensatz zu Krisen, die durch äußere Einwirkungen auf die Wirtschaft entstehen, wie sie von jeher durch natürliche und soziale Katastrophen, wie Erdbeben, Mißernten, Kriege, Revolu­tionen hervorgerufen worden sind. Seit Clement Juglar im Jahre 1860 den Kon­junkturzyklus entdeckt hat, wissen wir, daß sich die kapitalistische Wirtschaft in Wellenbewegungen entwickelt. Mit dem Aufschwung aus einer Art Gleichgewichts­lage bilden sich in zunehmendem Ausmaß Ungleichgewichte, die schließlich den Umschwung in eine rückläufige Bewegung erzwingen. Dem Rücklauf folgt die De­pression, in der sich die Wirtschaft fängt, um wieder in die Gleichgewichtslage ein­zupendeln, von wo sie sich unter neuen Impulsen zu einem neuen höheren Höhe­punkt entwickelt. Die Umkehr ist oft, nicht immer, mit krisenhaften Zusammen­brüchen verbunden, in jedem Fall aber in regelmäßigen Abständen von 8 bis 10 Jahren aufgetreten. Für England ist der Konjunkturzyklus vom Beginn der in­dustriellen Revolution ab, zum mindesten seit den achtziger Jahren des 18. Jahr­hunderts statistisch nachgewiesen, für den Kontinent zum mindesten seit etwa 1840.

Es ist hier nicht der Ort, die Probleme der Konjunkturtheorie aufzurollen. Nur so viel sei hervorgehoben, daß heute Einigkeit darüber herrscht, daß der Zyklus nicht aus einer einzigen Ursache erklärt werden kann, wie es die rein monetären Theorien oder die Überproduktionstheorien versucht haben, sondern daß er einer Erklärung aus mehreren Ursachen bedarf. Einigkeit herrscht auch darüber, daß es sich nicht um einen gesetzlichen Ablauf strenger Observanz, sondern um einen

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idealtypischen Ablauf handelt, der oft von politischen Ereignissen verzerrt und ver­schoben wird. Jeder einzelne Zyklus hat zudem seine historische Individualität und kann als solche nur mit Hilfe konjunkturtheoretischer und historischer Erklärung verstanden werden.

Schumpeter2 ist dieser komplexen Natur der Zyklen am besten gerecht geworden. Er hat auch die überzeugendste Gesamterklärung gegeben, indem er den Auf­schwung aus den „innovations" erklärt; das sind neue Kombinationen der Produk­tionsmittel mit Hilfe zusätzlicher Kreditschöpfung durch geniale Unternehmer unter dem Impuls einmaliger Gewinnchancen. Sie kommen in dem Zeitpunkt zum Zuge, in dem die Wirtschaft wieder in die „Nachbarschaft des Gleichgewichts" ge­kommen ist, so daß übersehbare Kalkulationen angestellt werden können. Sie äußern sich in neuen Produktionsmethoden, in der Produktion neuer Produkte, zumeist sogar in der Schaffung von neuen Industrien. Ihnen folgt der Schwarm der Mitläufer, bis der Impuls ausgelaufen ist. Je mehr sich der Welle des Produktions­aufschwungs eine zweite spekulative Welle überlagert, desto stärker wird die Ten­denz zu krisenhaften Erscheinungen im Umbruch.

Betrachten wir unter diesen Gesichtspunkten den Ablauf der Wirtschaft vor der Börsenkrise von 1929, dann zeigt sie alle Züge eines Aufschwungs im Stile der Juglar-Zyklen. Während in Europa, namentlich in Deutschland, noch viele äußere Faktoren durch- und gegeneinander wirken, erweist sich die amerikanische Wirt­schaft eindeutig als die Trägerin des weltwirtschaftlichen Konjunkturaufschwungs, und in ihr ist es vor allem die Automobilindustrie, die als Innovation den Auf­schwung in Gang gebracht hat. Die übermäßig starke spekulative Welle, die schon erwähnt wurde, hat zu jener Übersteigerung geführt, die recht eigentlich die Schwere des Zusammenbruchs erklärlich macht.

Nun hat man frühzeitig entdeckt, daß die Zyklen insofern in Serien auftreten, als einer Gruppe mit betonten Aufschwungsphasen eine andere mit betonten De­pressionsphasen folgt. Spiethoff hat diese Gruppen zuerst erkannt und nach Auf­schwungs- und Stockungsspannen unterschieden, ohne eine schlüssige Erklärung zu geben. Erst im Jahre 1926 hat der russische Statistiker Kondratieff entdeckt, daß unter den Mittelwellen Juglars — inzwischen hat man auch noch kürzere Wellen gefunden, die hier nicht interessieren — eine lange Welle schwingt. Die erste dieser langen Wellen datiert von 1787 bis 1842, die zweite von 1843 bis 1897, die dritte ab 1898. Sechs Juglar-Zyklen sind jeweils einem Kondratieff-Zyklus eingepaßt. Lagern sie auf einem Kondratieff-Aufschwung, dann werden ihre Aufschwungsimpulse ver­stärkt, ihre Abschwungsimpulse abgeschwächt; lagern sie auf einem Kondratieff-Abschwung, dann werden ihre Abschwungsimpulse verstärkt, ihre Aufschwungs-impulse abgeschwächt. Wenn also beide Zyklen in die gleiche Phase eintreten, ver­zeichnen wir die kumulativen zyklischen Effekte. Das ist bei drei Krisen der Fall gewesen: 1825, 1873 (in Deutschland die sogenannte Gründerkrise) und 1929.

2 Schon in seinem frühen Werk : Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. 1. Aufl. München 1912.

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Diesen drei Krisen folgen die drei schwersten und längsten Depressionen, nämlich von 1825 bis 1830, von 1873 bis 1878 und von 1929 bis 1934 bzw. 1936.

Mit Recht macht Schumpeter, dem wir mit dieser Erklärung folgen, darauf auf­merksam, daß man ihr den Vorwurf der Tautologie machen könne, wenn sie nicht mehr bieten würde als eine statistische Beschreibung. Es wird ja nur eine konkrete Bewegung durch statistische Operationen in zwei Bewegungen auseinandergerech­net. Dieser Einwand entfällt aber, wenn wir für die einzelnen Zyklen die wirklichen historischen Ursachen kennen, die in der Tat eindeutig gegeben sind. Der erste Kondratieff-Zyklus ist der Zyklus der industriellen Revolution, so wie die einzelnen ihm eingelagerten Juglar-Zyklen von den einzelnen innovations dieser Revolution getragen werden. Der zweite Kondratieff-Zyklus ist der Zyklus des Eisenbahnbaus, seine Juglar-Zyklen repräsentieren die einzelnen Schübe vor allem des amerika­nischen Eisenbahnbaus, die ja die eigentlichen Schrittmacher der kapitalistischen Expansion des vergangenen Jahrhunderts gewesen sind. Der dritte Kondratieff-Zyklus ist nach Schumpeter der Zyklus der Elektrizität, der Chemie und des Motors. Wir werden später noch sehen, daß und warum dieser Zyklus sich zunehmend kom­pliziert und verbildet. Wir können aber schlüssig folgern, daß die Krise von 1929 nicht nur eine normale, sondern eine verstärkte zyklische Krise, und daß sie nicht nur eine einfache, sondern eine doppelte zyklische Krise gewesen ist.

Das erklärt viel, aber es erklärt nicht genug. Warum ist in der Depression der Goldwährungsmechanismus zusammengebrochen? Wir wissen zwar, daß die Gold­währung schweren Erschütterungen nicht gewachsen und in Kriegszeiten regel­mäßig suspendiert worden ist. Konjunkturellen Krisen aber war sie bisher noch nie zum Opfer gefallen. Im Gegenteil, sie ist recht eigentlich das Instrument gewesen, das den Automatismus der Überwindung der Krise gesteuert hat. Wir können den Zusammenhang zwischen der Krise und dem Zusammenbruch der Goldwährung nur begreifen, wenn wir die Verknüpfungen der konjunkturellen Wellen mit den strukturellen Veränderungen verstanden haben. Der Zyklus ist, wie wir schon fest­gestellt haben, kein beliebiges Auf und Ab, sondern die Form des Wachstums der kapitalistischen Wirtschaft. Im Aufschwung setzt sich das Neue neben das Alte; auch die veraltete Technik, der ungünstige Standort, die überlebte Industrie kom­men noch zum Zuge. Erst der Rückschlag wirft sich auf das Alte und schaltet es aus.

In den zwanziger Jahren nun hatte man dem Goldwährungsmechanismus eine Aufgabe aufgebürdet, der er nicht gewachsen war: die Disposition über die Milliar­denbeträge der deutschen Reparationen und der interalliierten Schulden. Dadurch, daß man aus der kapitalschwachen deutschen Wirtschaft große Kapitalbeträge her­ausholte und sie der kapitalstarken amerikanischen Wirtschaft, die ja der letzte Empfänger war, zuführte, verstärkte man das Gefälle zwischen dem hohen deut­schen und dem niedrigen amerikanischen Zinsniveau. Dieses Zinsgefälle induzierte einen Strom amerikanischen Leihkapitals in das deutsche Kapitalvakuum, der fast in jedem Jahr nach Beendigung der deutschen Inflation größer war als die Summe der Reparationszahlungen. Dadurch wurden zwei Probleme gleichzeitig gelöst: das Problem der deutschen Kapitalbeschaffung und das Problem der Transferierung

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der Reparationssummen. Aber die amerikanischen Kapitalien wurden überwie­gend kurzfristig gegeben und langfristig angelegt. Daß eine so labile Kapital­bilanz überhaupt jahrelang bestehen konnte, ist nur dem starken Juglar-Aufschwung zu danken. Die Krise deckte den Strukturfehler auf. Als der Um­schwung eingesetzt und die Depression begonnen hatte, erfolgte der Rückzug dieser Kapitalien und löste einen doppelten Zusammenbruch aus: eine Liqui­ditätskrise in der deutschen Wirtschaft und eine Transferkrise auf den De­visenmärkten.

Das soll nun beileibe nicht die Behauptung stützen, die Reparationen seien die Ursache der Weltwirtschaftskrise gewesen. Zweifellos haben sie eine wichtige Rolle gespielt, zweifellos sind sie dafür verantwortlich, daß der Goldwährungsmechanis­mus gerade im Spätsommer 1931 zusammenbrach. Unerklärt bleibt aber dann immer noch, warum er nicht wiederhergestellt worden ist. Zwar lag zunächst noch der Druck der Schulden wie ein Riegel vor dem Wiederaufschwung und verlängerte die Depression. Aber man hat die Reparationen bis auf den unbedeutenden Hoover-schein bald darauf liquidiert. Auch hat man sehr wohl erkannt, daß die Vorstellung, man könne Kriegsschulden großen Umfangs der automatischen Liquidierung durch den liberalen Marktmechanismus überlassen, diesen Mechanismus überfordert. Man hat demgemäß über die Sterilisierung der Schulden verhandelt, um die weitere Bedrohung der Währungen durch so gewaltige Kapitalüberhänge auszuschalten, und ja auch nach dem zweiten Weltkrieg die Nutzbarmachung der Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise als selbstverständlich erachtet.

Warum konnte man also trotz ernster Bemühungen den Goldstandard nicht wie­derherstellen? Er ist ja auch im ersten Weltkrieg suspendiert und im September 1925 mit der Stabilisierung des Pfundes in seine alten Rechte wieder eingesetzt worden. Auch hat es bis an die Schwelle des zweiten Weltkrieges, wie wir schon an­gedeutet haben, nicht an Diskussionen und Verhandlungen zu diesem Zweck ge­fehlt. Fast möchte man sagen, daß die Auffassung, die Goldwährung sei die selbst­verständliche Norm, zu der man so oder so zurückkehren müsse, zum mindesten von der Wirtschaftspraxis niemals in Frage gestellt worden ist. Erst wenn wir be­griffen haben, warum diese Bemühungen keinen Erfolg gehabt haben, können wir die Frage beantworten, ob die Weltwirtschaftskrise einen nicht wieder umkehrbaren Prozeß eingeleitet hat oder nicht. Zu diesem Zweck müssen wir noch eine Schicht tiefer gehen.

Eigentlich bedarf bereits die Tatsache, daß man dem Goldwährungsmechnismus überhaupt die Aufgabe zugemutet hat, Kapitalbewegungen solchen Umfangs zu verarbeiten, einer zusätzlichen Erklärung. Wenige Jahrzehnte früher wäre ein solches Verfahren unmöglich gewesen. Die ausländischen Kapitalanlagen flossen vor dem ersten Weltkrieg aus vielen einzelnen privaten Quellen zu dem breiten Strom zusammen, der sich in die Neuländer ergoß. Heute ist dieser Strom ein Rinn­sal geworden. Dagegen werden Milliardenbeträge vom amerikanischen Staat ver­geben, die die gleichen Aufgaben erfüllen. Es hat sich ein Wandel der Haltung vollzogen, der grundlegend ist.

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Mannigfach sind die Ursachen dieser Wandlung. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Weltkriege daran einen wesentlichen Anteil gehabt haben. Die staatliche Kriegswirtschaft, die zwangsläufig entwickelt werden mußte, hat über beide Kriege hinausgewirkt. Die Zunahme der sozialen Verpflichtungen hat dem Staat gewaltige Aufgaben aufgebürdet. Die politische Unsicherheit hat die private Initiative ge­hemmt oder doch zum mindesten in bestimmte staatlich geschützte Richtungen ge­drängt. Aber auch abgesehen von all dem hat allein die technische Entwicklung die Aufgaben so sehr vergrößert, daß in vielen Fällen — man denke etwa an das Tennessee-Valley-Projekt — selbst die Kumulation privaten Kapitals in der Aktien­gesellschaft nicht mehr ausreicht, ganz abgesehen davon, daß die Rentabilitäts-begriffe sich verschoben haben in dem Sinne, daß die Daten durch staatliche Setzung verändert werden.

Die Vielseitigkeit dieser Wandlungen und ihrer Ursachen soll uns hier nicht interessieren. Selbstverständlich müßten sie in einer historischen Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten fünf Jahrzehnte in ihrer ganzen Fülle be­rücksichtigt werden. Worauf es uns ankommt, ist zu zeigen, daß die Wirtschaft aus sich heraus Kräfte entwickelt hat, die zu dieser Wandlung führten. Der atomistische Wettbewerb der liberalen Zeit ist in zunehmendem Umfang entartet. Er entwickelte einerseits aus sich heraus in immer stärkerem Umfange Monopole, namentlich im Bereich der Großindustrie und des Großverkehrs. Auf der anderen Seite entartete er zum ruinösen Wettbewerb, nicht nur in den Kämpfen einzelner Machtgruppen — diese lösen sich ohnehin meist in Monopole auf—, sondern gerade auch im Bereich der Kleinbetriebe. Der Grenzproduzent, jener Produzent mit den höchsten Kosten, der bei gegebenem Preise gerade noch zum Zuge kommt, weicht nicht mehr aus dem Markt, wenn die Preise sinken. Typisch dafür ist die chronische Verschuldung der Landwirtschaft, typisch die Übersetzung der Binnenschiffahrt und vieler anderer Wirtschaftszweige, in denen handwerkliche Existenzen im Kleinbetrieb sich haben halten können.

Auch innerhalb dieser wirtschaftlichen Entwicklung sind die Ursachen mannig­fach. Eine aber würde allein ausgereicht haben, um den Wandel der Marktbedin­gungen zu erzwingen. Sie bildet den zureichenden Grund für das Urteil, daß der Wandel unausweichlich war. Diese Ursache ist das Ende der Expansion. Die subtilen Funktionen des Mechanismus der freien Konkurrenz fanden unter der Herrschaft der Goldwährung überall in der Welt Ausweichsmöglichkeiten. Der ver­drängte Wettbewerber wurde nicht arbeitslos. Über andere Gewerbe und Zwischen­stationen fand der Druck in jedem Fall den direkten oder indirekten Ausweg in das Neuland. Die Expansion gab dem atomistischen Wettbewerb recht eigentlich die grundlegende Voraussetzung, sie war das Ventil der liberalen Entwicklung. Sobald jedoch Land zum Preise 0 nicht mehr zu haben war, setzten die Stockungen und Hemmungen ein, die den bisherigen Mechanismus zum Erliegen brachten. Nicht als ob freier Wettbewerb nicht auch heute noch in weiten Bereichen der Wirtschaft wirksam und erwünscht wäre! Wir können sogar mit den Neoliberalen der Gegen­wart sagen, daß der freie Wettbewerb gar nicht weit genug ausgedehnt werden

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kann. Aber er ist nicht mehr imstande, das leitende Prinzip der Wirtschaft zu bilden. Die Politik ist nicht willkürlich in einen intakten Marktmechanismus eingebrochen, sondern ihre Eingriffe sind die Reaktion auf seinen Zusammenbruch.

Frühzeitig hat sich das Ende der Expansion angekündigt. Der Wechsel in der Zu­sammensetzung der amerikanischen Einwanderung war bereits ein sehr charakte­ristisches Vorzeichen. Während in den achtziger Jahren noch mehr als vier Fünftel der sog. alten Einwanderung zugehörte, die aus nord-, west- und mitteleuro­päischen Siedlern bestand, hat sich das Verhältnis 25 Jahre später zugunsten der „neuen" Einwanderung umgekehrt, die aus Ost-, Südost- und Südeuropäern be­stand, die als Proletarier in den Städten blieben. Die USA. haben nach dem ersten Weltkrieg die Konsequenz gezogen, indem sie die Einwanderung bis auf relativ geringe Quoten abgedrosselt haben. Gewiß hat sich innerhalb der Vereinigten Staaten die Ausweichmöglichkeit in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts noch erhalten. Die weltwirtschaftliche Bedeutung des Ventils aber ist erschöpft. Nicht als ob die neuen Länder nicht noch gewaltige Möglichkeiten für zusätzliche Menschen hätten! Aber sie haben sie nicht mehr nach den Spielregeln der liberalen Expansion.

Damit ist zugleich auch schon zum Ausdruck gebracht, daß die These vom Ende der Expansion nicht mit der neomarxistischen These von der Erstarrung des Kapi­talismus auf Grund des Fortfalls akapitalistischer Räume verwechselt werden darf. Diese Lehre übersieht die ungeheuren Möglichkeiten intensiver Entwicklung der Wirtschaft auf gegebenem Raum, und zwar sowohl im Neuland als auch in den alten Ländern. Allein die gewaltige Entwicklung, die in den Vereinigten Staaten im zweiten Weltkrieg auf vielen Gebieten zu einer Verdoppelung der industriellen Produktion, ja geradezu einer zweiten industriellen Revolution geführt hat — sollte uns davor warnen, mit einer Erstarrung zu rechnen. Auch die augenfällige Regene­rationskraft der vom Kriege zurückgeworfenen Industrieländer Europas sollte zu denken geben. Diese Entwicklung zeigt, daß die kapitalistische Dynamik keineswegs gebrochen ist, ja daß sie in intensiver Entwicklung noch größere Stärke entfaltet als zur Zeit der liberalen Expansion. Daß dabei staatliche Kräfte wirtschaftend und wirt-schaftsfördernd mitwirken, ja daß die staatliche und die private Wirtschaftssphäre, kaum noch voneinander unterscheidbar, ineinander fließen, daß sich mithin der liberale Kapitalismus längst zu einem organisierten Kapitalismus, ja zum Staats­kapitalismus gewandelt hat, — alles das ändert nichts an der Tatsache, daß es sich um die Fortsetzung einer Entwicklung handelt, die mit der liberalen Expansion be­gonnen hat.

Das zwangsläufige Ende des bisherigen Mechanismus dagegen erkennen wir am deutlichsten an der Entartung des Konjunkturzyklus. Während die Juglar-Zyklen des liberalen Jahrhunderts sich verblüffend modellgerecht vollzogen, zeigen die jüngsten Zyklen alle Züge des Verfalls. Hatte die Depression früher die legitime Aufgabe, die Wirtschaft in rückwärtiger Lage zu ordnen und zu neuem Aufschwung vorzubereiten, so führt sie nunmehr zur Dauerkrise und Massenarbeitslosigkeit. Gewiß hat es Arbeitslosigkeit auch im liberalen Jahrhundert in jeder Depression gegeben. Dabei handelte es sich aber meist nur um die sog. konjunkturelle Ar-

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beitslosigkeit, die mit der Umschichtung der Produktion und der Überführung der Arbeitskräfte in neue Produktionen verbunden war. Bei großen Strukturwand­lungen mag sich zwar auch damals schon neben der konjunkturellen eine struktu­relle Arbeitslosigkeit gebildet haben. Dann hat sie aber, wenn auch nicht der lau­fende, so doch der nächste Zyklus aufgesaugt. Voraussetzung dafür waren beweg­liche Preise bei freier Konkurrenz. Jetzt verhindern die Stockungen und Hemmun­gen die Wirksamkeit der automatischen Anpassung und verlängern und vertiefen die Depression.

Schumpeter bringt den langfristigen Wandel der Zyklen dadurch zum Ausdruck, daß er den zweiten Langwellenzyklus mit seinen Mittelwellen den Bourgeois-Kondratieff, den dritten Langwellenzyklus dagegen den neomerkantilistischen Kondratieff nennt. So klar damit der Unterschied zwischen staatlicher Enthaltsam­keit und staatlicher Intervention betont wird, so scheint uns die Bezeichnung „neo-merkantilistisch" doch nicht deutlich genug zum Ausdruck zu bringen, daß es sich bei der staatlichen Einmischung nicht um einen Faktor handelt, der von außen her den Wandel der Zyklen herbeigeführt hat, sondern um Kräfte, die aus der Wirt­schaft heraus die Entartung des Mechanismus bewirkt und damit die staatlichen Eingriffe herausgefordert haben. Das zeigt sich besonders klar bei den Juglar-Zyklen des 20. Jahrhunderts, deren innovations geradezu in der Bildung und der Rationali­sierung der Konzerne und Monopole bestehen. Am deutlichsten wird das bei der Neuordnung der deutschen Schwerindustrie in den zwanziger Jahren. Damit schafft der zyklische Aufschwung aus sich heraus geradezu die Bedingungen, die seine modellgerechte Weiterentwicklung stören und schließlich aufheben.

Selbst wenn, wie Schumpeters Forschungen nahelegen, die These von Keynes nicht zu Recht besteht, daß sich unter spätkapitalistischen Voraussetzungen regel­rechte Gleichgewichte mit Unterbeschäftigung bilden, aus denen die Wirtschaft überhaupt nur mit staatlichen Mitteln herausgeholt werden kann, selbst dann bleibt die Tatsache bestehen, daß die Zerrüttungen in der Depression von 1931 ein Aus­maß angenommen haben, das die Wirtschaftspolitik sämtlicher großen Länder zum Handeln gezwungen hat. Wie immer diese Konjunkturpolitik beschaffen sein mag und wie prekär ihre Erfolge gewesen sein mögen, es gibt kein Land mehr, das sich dem Konjunkturzyklus gegenüber passiv verhält. Fast möchte man sagen, es gibt keine Konjunkturzyklen im alten Sinne mehr. Die Vereinigten Staaten haben zwar kurz vor dem zweiten Weltkrieg noch neue Rückschläge erlebt und eine regelrechte Vollbeschäftigung erst im Kriege erreicht, aber selbst Schumpeter sieht sich ge­zwungen, den letzten Mittelwellenzyklus vor dem zweiten Weltkrieg als „dis-appointing" Juglar zu bezeichnen und damit den Wandel, den die Krise ausgelöst hat, anzuerkennen. Grundsätzlich ist seit 1931 an die Stelle der Passivität gegenüber dem Konjunkturzyklus die Vollbeschäftigungspolitik getreten.

Nun hat man natürlich auch vor der Weltwirtschaftskrise schon mit allen mög­lichen Mitteln der Arbeitslosigkeit zu begegnen versucht. Das sagt aber nichts gegen unsere These. Im Gegenteil, wir haben ja gerade betont, daß die Wandlungen, die die Weltwirtschaftskrise ausgelöst hat, sich Jahrzehnte lang vorbereitet haben. Im

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Grunde war schon Englands Rückkehr zum Goldstandard im Jahre 1925 ein Atavis­mus. Es hat sich aber bei allen diesen Vorkrisenmaßnahmen nur um Aushilfen ge­handelt, die sich dem Wandel der Verhältnisse schrittweise anpaßten, ohne das Problem grundsätzlich neu zu stellen. Erst die Weltwirtschaftskrise hat das getan. Erst nach Ausbruch der Krise ist Keynes' „General Theory of Employment" er­schienen, die das Problem vor das Forum der Wissenschaft gestellt hat.

Auf der anderen Seite sind keineswegs alle Länder so weit gegangen, sich Voll­beschäftigung als letztes Ziel zu stellen. Wir werden sogleich noch darlegen, welche gefährlichen Konsequenzen die Vollbeschäftigungspolitik für die weltwirtschaftliche Ordnung und damit für die Vollbeschäftigungspolitik treibenden Länder selbst gehabt hat. Die Länder mit sog. liberaler Wirtschaftspolitik sind zumeist so­gar ausdrücklich davon abgerückt. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß auch diese Länder sich gezwungen sahen, eine autonome Konjunkturpolitik zu be­treiben, die sich von der Vollbeschäftigung nur graduell unterscheidet und der Vor­stellung von automatischer Vollbeschäftigung vollkommen entgegengesetzt ist. Jede weitere Diskussion und jede künftige Wirtschaftspolitik muß von der Zwangs­läufigkeit dieser Entwicklung Kenntnis nehmen.

3. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise

Die sichtbarste Folge der Weltwirtschaftskrise für den Aufbau und das Funk­tionieren der Weltwirtschaft ist die Tatsache, daß die S taa tsgrenzen eine grund­legende Bedeutung gewonnen haben. Solange das Wettbewerbsprinzip unter der Herrschaft der Goldwährung die Weltwirtschaft beherrschte, wurde sie überwie­gend von ökonomischen Kräften gesteuert. Zwar ist auch die Goldwährung zu keiner Zeit eine internationale Währung im völkerrechtlichen Sinne gewesen, aber sie wirkte auf Grund ihrer Spielregeln, als ob sie eine Weltwährung sei. Kosten und Preise waren über die Staatsgrenzen hinaus durch einen ungestört funktionierenden Marktmechanismus verbunden. Zwar haben die Zölle, die an den Staatsgrenzen er­hoben werden, auf den internationalen Austausch erheblichen Einfluß gehabt. Das Raumbild der Weltwirtschaft aber haben sie nur unwesentlich verzerrt. Kein ein­ziger Staatsraum hat im liberalen Jahrhundert wirtschaftsraumbildende Kräfte entfaltet.

Wollen wir die Bedeutung des Einbruchs der Staatsgrenzen in die Weltwirtschaft begreifen, dann müssen wir uns zunächst, wenn auch nur grob schematisch, die räumliche Ordnung der Weltwirtschaft vor Augen führen3. Am einfachsten läßt sich diese Ordnung darstellen, wenn wir sie uns in der Entwicklung vorstellen. Sie beginnt mit der industriellen Revolution. Während die Baumwollindustrie ihr Schrittmacher war, hat die Eisenindustrie mit ihren kurzen Absatzradien in einem raumgreifenden Integrationsprozeß die übrige Industrie und mit ihr die Landwirt­schaft konzentrisch auf sich ausgerichtet. Jetzt erst trat an die Stelle kleinräumiger

3 Vgl. besonders zur räumlichen Ordnung der Weltwirtschaft mein Buch „Außenwirtschaft (Weltwirtschaft, Handelspolitik und Währungspolitik)". Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1949.

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wirtschaftlicher Kreisläufe jener großräumige Kreislauf, der die Wirtschaften der Welt zur einheitlichen Weltwirtschaft verband.

Die industrielle Revolution griff im Laufe des 19. Jahrhunderts auf den euro­päischen Kontinent über, zunächst auf Belgien und Nordfrankreich, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Westdeutschland, wo von den siebziger Jahren an die Produktionskurven der Eisen- und Stahlindustrie steil anstiegen. Der englische Industriekern, ursprünglich das einzige Zentrum der Weltwirtschaft, wurde da­durch zum Teilkern eines größeren europäischen Industriekerngebietes, das nun seinerseits als industrielles Gravitationsfeld die Weltwirtschaft konzentrisch um sich gruppierte. Intensive Landwirtschaft entwickelte sich zwischen und nahe den In­dustriekernen. Sie nimmt ab in Richtung auf die Randgebiete und weiter bis hin zu den extensiven Steppen- und Waldregionen der weltwirtschaftlichen Peripherie. Die Nahrungsmittel- und Rohstoffproduktion verlagerte sich in beträchtlichem Um­fang nach Übersee.

Selbstverständlich wird dieser konzentrische Aufbau durch historische und geo­graphische Einflüsse mannigfach verzerrt. Auch entstehen zahlreiche größere und kleinere Randkerne in dem Maße, wie das Ganze wächst. Diese Randkerne bilden ihrerseits wieder kleinere konzentrische Systeme, aber sie ordnen sich dem zentralen Gravitationsfeld ein. Auch der Austausch ordnet sich konzentrisch: er ist am dich­testen innerhalb der Kerngebiete selbst, wird weniger dicht zwischen Kern und Rand sowie zwischen Kern und Peripherie. Er ist ziemlich schwach zwischen den Randgebieten und entfallt nahezu ganz zwischen den einzelnen Bereichen der Peripherie. Es ist eine un ikonzen t r i sche , eine auf ein industrielles Gravitations­feld ausgerichtete Weltwirtschaft, die sich im Zug der industriellen Revolution in der Integrationsphase der Weltwirtschaft herausbildet.

Aber die Wirtschaft wächst im 19. Jahrhundert gewaltig und breitet sich bei diesem Wachstum aus. Riesige Menschenmassen fließen aus Europa nach Übersee, 35 Millionen allein in das große, fast leere Reservoir der Vereinigten Staaten von Amerika. In dem Maße aber, wie sich die Siedlung im Neuland verdichtet, bilden sich unter dem Schutz der Transportkosten neue periphere Industriekerne, die sich zunehmend aus dem alten Gravitationsfeld lösen. So entstehen zunächst im Osten der Vereinigten Staaten neue schwerindustrielle Zentren. In dem Maße wie die Besiedlung in die reichen Gebiete des Mittelwestens vordringt, wächst am Südende des Michigansees wiederum ein neues schwerindustrielles Zentrum heran. Altkern und Neukern bilden schließlich wie in Europa eine neues großes industrielles Gravi­tationsfeld, das nun seinerseits die Wirtschaft konzentrisch um sich gruppiert mit zahlreichen kleineren Randkernen. Schon vor Ablauf des 19. Jahrhunderts beginnt das amerikanische Industriekerngebiet, das seither auch auf kanadischen Boden hinübergewachsen ist, in die Weltwirtschaft hineinzugreifen. Das europäische und das amerikanische Gravitationsfeld durchdringen sich wechselseitig und über­schneiden sich mannigfach an der Peripherie.

Was sich im Zuge der Expansionsphase bis zum ersten Weltkrieg herausgebildet hat, ist mithin eine b ikonzent r i sche Weltwirtschaft, denn in keiner anderen

Die Epochenbedeutung der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1931 111

Region der Welt hat sich eine ähnliche Konzentration entwickeln können. In den übrigen Bereichen der westlichen Kolonisation hat die Tiefe des Raumes nicht aus­gereicht, um eine so tragfähige Landwirtschaft zu entwickeln, daß ein zentrales Industriekerngebiet sich hätte bilden können. In den menschengefüllten Räumen des Ostens aber ist die Landwirtschaft vor allem dank feudalistischer Fesseln nicht entwicklungsfähig genug gewesen, um eine starke Industrie tragen zu können. Sie sind über Randkerne im Einflußbereich des großen Gravitationsfeldes nicht hinaus­gekommen. Nur Japan hat eine industrielle Revolution im englischen Stil erlebt, jedoch ohne daß sich ein annähernd gleichwertiges industrielles Gravitationsfeld hätte bilden können. Ohne das asiatische Hinterland kann sich hier auch kein Industriekern entwickeln, der über die Bedeutung eines großen Randkernes hin­ausreicht.

Erst nach dem ersten Weltkrieg ist unter dem Impuls der bolschewistischen Re­volution ein drittes großes und fast autarkisch abgeschlossenes Gravitationsfeld im sowjetischen Raum entstanden. Auch hier geht die Industrialisierung mit einer Rationalisierung der Landwirtschaft einher. Auch hier werden wie bei den übrigen Gravitationsfeldern schwerindustrielle Kerngebiete aufgebaut, die die übrige Wirt­schaft konzentrisch auf sich ausrichten. Schon nach zehn Jahren hat die russische Eisen- und Stahlindustrie mit 18 Mill. Tonnen Rohstahl ein dreimal so hohes Potential aufgebaut, wie es Japan in vier Jahrzehnten erreicht hatte. Für die t r i -konzent r i sche Weltwirtschaft, wie wir sie heute vor uns sehen, ist in der Tat die Rohstahlkapazität besonders charakteristisch: sie erreichte 1950 90 Mill. Tonnen im amerikanischen, 60 Mill. Tonnen im europäischen und 30 Mill. Tonnen im so­wjetischen Raum. Ihnen stehen in der ganzen übrigen Welt nur 10 Mill. Tonnen, also nicht viel mehr als 5 Prozent der Weltkapazität gegenüber, von denen etwa die Hälfte wiederum auf Japan entfällt.

Projizieren wir nun den Einbruch der Staatsgrenzen auf das Raumbild der tri-konzentrischen Weltwirtschaft, dann erkennen wir, daß sich im amerikanischen und im sowjetischen Raum wenig verändert hat. Zwischen Atlantik und Pazifik, zwischen Arktis und Golf vollzieht sich der Austausch in der alten Ordnung. Der riesige Staatsraum der Vereinigten Staaten umfaßt ja nicht nur das industrielle Kerngebiet, sondern auch noch weite Bereiche seiner weltwirtschaftlichen Peri­pherie. Das gilt erst recht, wenn man in Betracht zieht, daß die kanadisch-amerika­nische Staatsgrenze, die den nördlichen industriellen Rand und die nördliche und nordwestliche Peripherie abtrennt, nur eine ganz geringe ökonomische Bedeutung hat. Der außeramerikanische Außenhandel verursacht nur unerhebliche Störungen, da er nur einen kleinen Bruchteil der inneramerikanischen Austauschvorgänge aus­macht. Auch zwischen Pazifik und Ostsee, zwischen Arktis und indischer Grenze, also im sowjetischen Bereich, bleibt die alte Ordnung bestehen, hier sogar noch un­bedingter, weil der Außenhandel überhaupt nicht störend hinzutritt.

Blickt man dagegen auf Europa, dann sieht man, daß die Staatsgrenzen mit ihren einschneidenden ökonomischen Wirkungen sich mitten hindurchziehen durch die dichtesten Austauschgebiete der europäischen Integration. Wie stark dieser Einfluß

112 Andreas Predöhl

ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß weit über die Hälfte des Außenhandels der europäischen Länder Handel mit europäischen Ländern gewesen ist; beim deutschen Außenhandel sind es sogar zwei Drittel gewesen. Und dieser innereuropäische Außenhandel betraf zur vollen Hälfte den Austausch von Grund­stoffen, zu einem weiteren Drittel den Austausch von Fertigprodukten spezifisch nationaler und regionaler Begabung. Diese Arbeitsteilung war recht eigentlich die Grundlage, auf der die ökonomische Stellung Europas in der Welt beruhte. Nun hat sich zwar bis zum zweiten Weltkrieg der Anteil des innereuropäischen Aus­tausches am europäischen Außenhandel nicht stark vermindert. Aber er ist, be­herrscht vom Bilateralismus der deutschen Devisenbewirtschaftung, unökonomisch verzerrt worden, so daß die alte ökonomische Arbeitsteilung stark beeinträchtigt wurde.

Nach dem zweiten Weltkrieg vollends hat mit der Verstärkung der konjunktur­politischen Autonomie ein reines Staatsraumdenken immer stärker um sich ge­griffen. Jeder einzelne europäische Staat ging von einer engen Staatsraumplanung aus und ordnete seinen Außenhandel zusätzlich dieser Planung ein. Damit erst wurde die Abkehr von der ökonomischen Raumordnung der liberalen Zeit mit ihrer subtilen Arbeitsteilung und ihr Ersatz durch eine unökonomische Staatsraumplanung auf die Spitze getrieben. Man verfiel bei Kriegsende ja sogar dem Irrglauben, man könne das Zentrum des europäischen Gravitationsfeldes niederhalten und dennoch in den übrigen Räumen blühendes Leben entfalten. Als ob es überhaupt eine selb­ständige französische, holländische, deutsche Volkswirtschaft gäbe, nicht vielmehr nur Glieder eines integralen Ganzen, die auf Gedeih und Verderb genau so mitein­ander verbunden sind wie die Wirtschaft der amerikanischen Einzelstaaten! Das Ruhrgebiet ist von demselben Interesse für den Schweizer oder den holländischen Bauern wie für den deutschen; es ist sein eigenes europäisches Industriekerngebiet; es bedeutet für ihn das gleiche wie Pittsburgh oder Chicago für den amerikanischen Farmer in Ohio oder Wisconsin.

Vergleicht man die Desorganisation der europäischen wirtschaftlichen Raumord­nung mit der vollendeten Rationalität der amerikanischen, in der jeder einzelne wirtschaftliche Betrieb am optimalen Standort steht, dann nimmt es nicht wunder, daß es eine europäische Dollarlücke gibt. Damit soll nicht behauptet werden, daß sie ausschließlich eine Folge falscher Raumökonomie sei. Natürlich spielen auch andere Faktoren mit, nicht zum wenigsten die Kapitalverluste, die Europa durch den Krieg erlitten hat, wenn sie auch durch die amerikanische Wirtschaftshilfe schon weitgehend ersetzt worden sind. Natürlich trägt auch die politische Abtren­nung der östlichen Randgebiete zur Schwächung der ökonomischen Position Europas bei, wenn auch die Abhängigkeit der agrarischen Peripherie Europas vom indu­striellen Kern von jeher stärker gewesen ist als die Abhängigkeit des Kerns von der Peripherie. Auf jeden Fall aber ist die Desorganisation der Raumökonomie des Kerngebietes ein entscheidender Faktor der Dollarlücke.

Ebenso gilt aufs Ganze gesehen, daß ohne Wiederherstellung der Raumökonomie, zum mindesten im westeuropäischen Raum, das europäische Gravitationszentrum

Die Epochenbedeutung der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1931 113

seine alte Aufgabe in der tri-konzentrischen Weltwirtschaft nicht mehr erfüllen

kann, ja zur Randzone der beiden übrigen Gravitationsfelder herabzusinken droht,

mi t allen Folgen, die das für den europäischen Wohlstand haben würde. Für den

osteuropäischen Rand gilt das schon heute. Ein Absinken der europäischen Prosperi­

tät hat aber bei der engen Verflechtung der Weltwirtschaft auch Rückwirkungen

auf die außereuropäische Wirtschaft einschließlich des amerikanischen Gravita­

tionsfeldes. Selbstverständlich würde auch das sowjetische Industriekerngebiet

starken Auftrieb erfahren, wenn es den autarkischen Abschluß aufgeben und in

engeren Austausch mit den übrigen Industriezentren, namentlich im europäischen

Gravitationsfeld treten würde. Die wirtschaftliche Desintegration Europas ist mit­

hin der Kernfehler der Weltwirtschaft, die Wiederherstellung seiner Raumöko­

nomie die weltwirtschaftspolitische Aufgabe der Gegenwart.

4. Die Überwindung der Weltwirtschaftskrise

Die Entwicklungsgesetzlichkeit, die wir im zweiten, und die Raumgesetzlichkeit,

die wir im dritten Teil unserer Untersuchung behandelt haben, zeigen uns, daß die

Freiheitsgrade der Entscheidungen in den weltwirtschaftspolitischen Gegenwarts­

fragen begrenzter sind, als die landläufige Diskussion meint. Das Entwicklungs­

gesetz verbietet die neoliberale Lösung; ihre Marktformenlehre arbeitet im ge-

schichtsleeren Raum. Es geht dabei zunächst gar nicht u m politische oder gar welt­

anschauliche Fragen, sondern u m die Frage Ordnung oder Unordnung. Die liberale

Ordnung ist eine gut funktionierende Ordnung gewesen, solange ihre historischen

Voraussetzungen gegeben waren; heute führt sie zur Unordnung und diese wieder­

u m zu einer solchen Fülle von Eingriffen, daß gerade wer eine möglichst freie Wirt­

schaft wünscht, die Rückkehr zur liberalen Ordnung nicht wünschen darf. Das gilt

auch für den Fall, daß man den Wettbewerb ordnungspolitisch sichert, also verhin­

dert, daß sich der Wettbewerb in Monopol oder ruinöse Konkurrenz auflöst.

Nun verbietet aber auf der anderen Seite das Raumgesetz eine dogmatische Ver­

folgung der Vollbeschäftigungspolitik. Vollbeschäftigung ist wie alle autonome Kon­

junkturpolitik an den Staatsraum gebunden, den die Politik beherrscht. Wenn die

Wirtschaft dieses Staatsraumes Glied eines größeren wirtschaftlichen Gravitations­

feldes ist, dann kann die Wirtschaftspolitik nur Teilplanungen vollziehen, die

zwangsläufig unökonomisch sind. Die Vollbeschäftigung geht auf Kosten der Pro­

sperität, sie wird eine teure Vollbeschäftigung. Natürlich kann eine Vollbeschäfti­

gungspolitik im beschränkten Staatsraum inmitten einer chaotischen Weltwirtschaft

unvermeidlich sein, weil sie das geringere Übel ist. Sie muß sich dann aber ihres

Aushilfscharakters bewußt sein. Wenn eine solche Vollbeschäftigungspolitik nun

gar wie die der britischen Labour Party als Vorbild einer sozialistischen Wirtschafts­

politik auftritt, dann verfällt sie einem unökonomischen Dogmatismus, ganz abge­

sehen von dem Paradoxon, daß die Vollbeschäftigungspolitik in Konflikt gerät mit

der internationalen Tradition des Sozialismus.

In diesem Punkt haben die Neoliberalen den richtigeren Ausgangspunkt. Sie

übersehen nicht das integrale Ganze, in das ihre Wirtschaft eingeordnet ist. Sie

1 Zeitgeschichte 8

114 Andreas Predöhl

suchen auch mit Recht die internationale Arbeitsteilung durch Liberalisierung zu

fördern. Sie übersehen nur die Grenzen der Wirksamkeit des liberalen Prinzips, in­

dem sie die Liberalisierung in der gleichen Weise dogmatisieren wie die Sozialisten

das Vollbeschäftigungsprinzip. Für die europäischen Länder ergibt sich daraus die

Folgerung, daß sie die Folgen der Weltwirtschaftskrise weder überwinden können

durch Rückkehr zu den Regeln der alten Weltwirtschaft noch durch autonome Voll­

beschäftigungspolitik. Der erste Weg würde zurück in das Chaos führen, der zweite

führt zu unökonomischer Ordnung und Mangel an Prosperität. Die Weltwirt­

schaftskrise, im weiteren Sinne eine Krise der weltwirtschaftlichen Struktur, läßt

sich nur überwinden durch gemeinsame Autonomie der europäischen Wirtschaften

zusammen mit der weitestgehenden Liberalisierung, die mit den Zielen dieser

autonomen Ordnung verträglich ist.

Alle Versuche der Nachkriegszeit, die diese Grenzen übersehen haben, sind von

vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Dazu gehören alle Pläne, die eine

globale Lösung versucht haben. Sie wären entweder auf eine Rückkehr zu den

Spielregeln der Goldwährung hinausgelaufen, und das ist unmöglich. Oder sie

hätten eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik aller Länder der Welt bedeutet,

was ebenso utopisch ist. Das Währungsabkommen von B r e t t o n W o o d s aus dem

Jahre 1944 ist im übrigen nicht einmal zu dem entscheidenden Problem vorge­

drungen, wie der Währungsordnung mit den freien aber stabilen Wechselkursen,

die sie statuiert, eine Ordnung der Güterströme zugeordnet werden könnte, die die

Stabilität der Wechselkurse verbürgen würde. Die Auflagen für Länder mit passiver

Zahlungsbilanz bedeuten nichts anderes als eine Korrektur ex post, nicht eine Rege­

lung ex ante, und auch diese Korrekturen sind viel zu schwach, u m schwerwiegen­

den Ungleichgewichten begegnen zu können. Auch die in Bretton Woods geschaf­

fene Weltbank würde, wenn sie überhaupt für solche Aufgaben geplant worden

wäre, nicht stark genug sein, u m die Aufgabe einer weltweiten Koordination be­

wältigen zu können. Das besagt nichts gegen die Schaffung einer Weltwährungs­

instanz als solcher. Zweifellos wird der. in Bretton Woods geschaffene Internationale

Währungsfonds große Aufgaben zu erfüllen haben, wenn eine Lösung des Welt­

währungsproblems auf anderen Wegen gefunden ist. Er hat jetzt schon nützliche

Funktionen. Aber der in Bretton Woods bezogene Ausgangspunkt ist nicht geeignet,

zur Lösung des Weltwährungsproblems zu führen.

Nun könnte man der Währungsregelung von Bretton Woods zugutehalten, daß

sie von vornherein auf eine Ergänzung durch handelspolitische Abmachungen, wie

sie 1948 auf der Konferenz von H a v a n n a getroffen worden sind, abgestellt gewesen

sei. Aber die Charta von Havanna ist nicht minder unfruchtbar. Sie geht aus auf

eine Liberalisierung des Außenhandels, ohne den Widerspruch zu sehen, in den

sich diese Liberalisierung zu der autonomen Konjunkturpolitik setzt. Ja, sie verlangt

sogar das Unmögliche, indem sie nicht nur Liberalisierung des Außenhandels

sondern zugleich Vollbeschäftigung der beteiligten Länder fordert. I m übrigen ist

in Havanna — im Gegensatz zu Bretton Woods — das Prinzip von vornherein i n

Kompromissen erstickt worden, wie sie die wohlberechtigten Interessen der u m eine

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funktionierende Wirtschaft besorgten Länder erzwungen haben. Praktische Folgen hat die Charta von Havanna nicht gehabt. Dennoch war es auch in diesem Fall gegenüber früheren Weltwirtschaftskonferenzen ein Fortschritt, daß es zu einem Abkommen gekommen ist, das, wenn schon nicht die Lösung gebracht, so doch den Wunsch nach einer Lösung unter Beweis gestellt hat.

Praktisch viel bedeutsamer ist das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) von Genf geworden, das auf eine allseitige Senkung der Zollsätze abge­stellt war. Eine solche Zollsenkung bedeutet wie die Liberalisierung eine wirksame Unterstützung der Bemühungen um die Wiederherstellung einer internationalen Arbeitsteilung. Niemals aber löst sie das Problem, vor das uns die Weltwirtschafts­krise gestellt hat. Im Zeitalter der autonomen Konjunkturpolitik sind Zölle nur eines unter vielen Hemmnissen der internationalen Arbeitsteilung und nicht einmal das wichtigste. Deshalb können auch Zollunionen keine Lösung bringen. Sie ent­stammen dem geistigen Arsenal einer Zeit, in der die Zölle die einzigen Hemmnisse des freien Austausches waren. Weit eher wären Zölle heute geeignet, nach Abbau der übrigen Hemmungen die Reibungsverluste abzufangen, die sich bei allzu stür­mischer Rückkehr zu echter internationaler Arbeitsteilung ergeben würden. Bei aller Zweckmäßigkeit des Abbaus überhöhter Zölle wäre eine grundsätzliche Be­seitigung der Zölle der letzte, nicht der erste Schritt zu einer neuen internationalen Arbeitsteilung.

Der gegenwärtige Zustand der Weltwirtschaft verlangt ja nun aber, wie wir gesehen haben, gar keine globale Lösung. Er verlangt zunächst nur eine regionale Lösung, die das europäische Gravitationszentrum wieder zu einem vollwertigen Kraftfeld machen, also von unten her erst einmal die Voraussetzungen schaffen würde für eine neue weltwirtschaftliche Ordnung. Und es ist bemerkenswert, daß die Amerikaner, die eigentlichen Initiatoren von Bretton Woods und Havanna, in offenbarem Gegensatz zu ihren früheren Plänen die entscheidenden Förderer der europäischen Integration geworden sind. In der Tat beschreiten sie damit den ein­zigen Weg, der aus der Zerrüttung der Weltwirtschaft heraus zu einer neuen Welt­wirtschaft führen könnte, wie denn die einzige Chance des liberalen Standpunktes darin liegt, sich nicht zu orientieren an den Ideologien des 19. Jahrhunderts, son­dern an den Realitäten des zwanzigsten.

Was auf dem Wege der regionalen Ordnung geschehen ist, ist durchaus realistisch. Realistisch ist vor allem, daß man für die europäische Währungsordnung nicht auf den Whiteplan zurückgegriffen hat, der sich auf der Konferenz von Bretton Woods durchgesetzt hatte, sondern auf den Keynesplan, der in Bretton Woods dem White­plan hatte weichen müssen. Der Keynesplan stellt nicht wie der Whiteplan eine Währungsaufsichts- und -ausgleichsinstanz neben einen freien Devisenverkehr, sondern er konstituiert eine Clearing Union, durch die der ganze internationale Zahlungsverkehr hindurchgeschleust wird. Nun ist aber die Europäische Zahlungs-Union (EZU), die den Keynesplan im regionalen, europäischen Raum verwirklicht hat, auch nur ein Abrechnungs-, kein Lenkungsmechanismus. Indem sie die bi­lateralen europäischen Verrechnungssysteme in ein multilaterales Verrechnungs-

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system aufgelöst hat, hat sie zwar alle Hemmnisse beseitigt, die von der Währungs-seite einer Reintegration der europäischen Wirtschaft entgegenstanden; Lenkungs-funktionen aber erfüllt sie bisher nur in ganz bescheidenem Umfang, und zwar auch nur im Sinne einer Korrektur ex post, nicht einer Steuerung der Güterströme ex ante.

Allerdings muß zugegeben werden, daß die EZU die Gefahrensignale jeweils sehr zeitig gesehen und mit sehr eindringlichen Empfehlungen gearbeitet hat. Aber ein eigentliches Lenkungsinstrument ist sie bisher nicht geworden. Es sieht auch nicht so aus, als ob die europäischen Länder bereit seien, ihr weitergehende Befug­nisse zu übertragen, die, wenn sie wirksam werden sollten, auf nicht weniger hin­auslaufen würden als eine Vereinheitlichung der gesamten autonomen Konjunk­turpolitik. Eine solche Vereinheitlichung wäre natürlich die beste Lösung und die einzige Garantie für eine umfassende Liberalisierung des europäischen Handels ein­schließlich eines freien Devisenverkehrs. Der umgekehrte Weg, nämlich der völlige Verzicht auf aktive Konjunkturpolitik zugunsten einer umfassenden Herr­schaft des Wettbewerbsprinzips wäre im regionalen Rahmen ebenso und aus den gleichen Gründen unmöglich wie im globalen.

Wenn eine Vereinheitlichung der europäischen Konjunkturpolitik nun aber noch nicht realisierbar ist, dann bleibt nur die Möglichkeit einer Abstimmung der auto­nomen Konjunkturpolitik der einzelnen Länder aufeinander. Dabei ergibt sich eine Reihe von Möglichkeiten, deren Rangordnung aus der Weltwirtschaftskrise und ihren Folgen nicht mehr zwingend abgeleitet werden kann, die wir deshalb auch im einzelnen hier nicht untersuchen wollen. Ob die wirtschaftliche Integration ohne die politische weitergetrieben werden kann oder ob die politische Zusammenarbeit vorausgehen muß , ob von vornherein eine totale Lösung anzustreben ist oder eine partiale, sei es im regionalen Sinne, sei es im Sinne einer „funktionalen" Vereini­gung einzelner Sachbereiche, — das läßt sich mi t wissenschaftlichen oder doch zum mindesten mit wirtschaftswissenschaftlichen Mitteln nicht entscheiden. Wohl aber ist es möglich, noch einige Zusammenhänge herauszuarbeiten, die als Beiträge zu solchen Entscheidungen nicht übersehen werden dürfen.

Eine Abstimmung der autonomen Konjunkturpolitik der einzelnen Länder be­

deutet nicht nur die Parallelisierung der Kreditpolitik, sondern auch eine Koordina­

tion der Investitionspolitik. Denn es ist ja vor allem der Zuwachs, der von der auto­

nomen Konjunkturpolitik gesteuert wird. Und dieser Zuwachs ist es auch allein, der

es möglich macht, die unter autonomen Einflüssen auseinandergewachsenen Volks­

wirtschaften wieder in das integrale Ganze hineinwachsen zu lassen. Stationäre

Wirtschaften arbeitsteilig zu verbinden, wäre in jedem Fall ein hoffnungsloses

Unterfangen, denn es würde Aufbau auf der einen mit Abbau auf der anderen Seite

verbinden müssen, was, ganz abgesehen von der Unüberwindbarkeit politischer

Widerstände, zu Reibungsverlusten führen würde, die sich ökonomisch nicht recht­

fertigen ließen.

Gemeinsame Steuerung der Investitionen braucht nun aber keine zwangswirt­

schaftliche Investitionskontrolle in toto zu bedeuten, vielmehr nur Steuerung an den

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Schlüsselpunkten der räumlichen Ordnung einerseits, der zeitlichen Entwicklung anderseits. Einen dieser Schlüsselpunkte, und zwar den wichtigsten, bietet die Eisen- und Stahlindustrie, die, wie wir gesehen haben, nicht nur die Kernpunkte der räumlichen Gravitationsfelder, sondern auch die Träger der wirtschaftlichen Entwicklung bildet. Ihre räumliche Ordnung ordnet zwangsläufig einen großen Teil der übrigen Wirtschaft mit. Als Entwicklungsträger hat sie sich zwar in den Juglar-Zyklen des liberalen Jahrhunderts noch deutlicher gezeigt als in der Phase der aktiven Konjunkturpolitik. Man braucht aber nur einen Blick auf die gegenwär­tigen Engpässe zu werfen, u m zu erkennen, daß sie an zentraler Bedeutung für die Entwicklung nichts eingebüßt hat. Daraus folgt nun aber, daß die Montan-Union des Schumanplans, was immer man über ihre politische Struktur sagen mag, auf jeden Fall der richtige wirtschaftliche Ansatzpunkt ist. Sie ist auch neutral gegen­über der aktuellen Frage Klein- oder Großeuropa, denn sie faßt, wenn man von den italienischen Randkernen absieht, nu r diejenigen Industrien zusammen, die einen „gemeinsamen Markt" bilden. Die englische Schwerindustrie steht nicht mehr in derjenigen Art von Verbindung mit der kontinentalen, die sie bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges, zum mindesten bis zur Weltwirtschaftskrise, gehabt hat.

Was im übrigen Großbritanniens Verhältnis zur europäischen Integration be­trifft, so läßt die raumwirtschaftliche Analyse erkennen, daß die Sterling area mit ihrer rigorosen autonomen Devisenpolitik auf die Dauer kaum wird bestehen können. Die chronische Sterlingkrise ist nicht zum wenigsten eine Folge verfehlter Raumökonomie. Der britische Industriekern ist zu schwach, die Peripherie der Sterling area zu künstlich, als daß eine Lösung der Zahlungsbilanzprobleme dieses Gebildes gegenüber dem amerikanischen Staatsraum mit seiner rationalen Wirt­schaftsordnung möglich wäre, es sei denn auf Kosten des Wohlstandes. Auch hier können die Verklemmungen, in die uns die Weltwirtschaftskrise gebracht hat, nur überwunden werden durch Auflösung der partialen Autonomie in eine Autonomie höherer Ordnung, und das kann nur die europäische sein. Mit den politischen Ver­pflichtungen Großbritanniens, die dieser Auffassung zumeist entgegengesetzt wer­den, hat das nichts zu tun. Auch Kanada ist nicht Mitglied der Sterling area und dennoch Großbritannien politisch eng verbunden. Viel eher sind die höchst pre­kären ökonomischen Bindungen der Sterling area geeignet, die imperialen Bindun­gen zu stören, als sie zu festigen.

* * *

Fragen müssen wir uns nun aber doch wohl noch, ob denn die ökonomische Ver­nunft überhaupt Aussicht hat, sich durchzusetzen. Gewiß, wir können beweisen, daß die Alternative einer wirtschaftlichen Reintegration Europas Verzicht auf euro­päischen Wohlstand heißt, wenn nicht Schlimmeres. Sind aber nicht ganz andere, politische Kräfte am Werk, die ihre eigenen Ziele verfolgen ohne Rücksicht auf die Ökonomie? Wir wollen versuchen, das Problem, das sich hier auftut, auf eine knappe Formel zu bringen. Alle Wirtschaft ist eingespannt in die Polarität von politischer

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Macht und ökonomischem Gesetz. Das ökonomische Gesetz hat gegenüber der Macht nicht die absolute Geltung, die den Eingriff der Macht ausschließt. Auf der anderen Seite hat aber die Macht gegenüber dem ökonomischen Gesetz auch nicht die Mög­lichkeit völliger Willkür. Sie ist mächtig, aber nicht allmächtig! Vergreift sie sich zu stark an der Ökonomie, dann tut sie das auf Kosten ihrer eigenen Ziele, denn sie schädigt die materiellen Grundlagen, die die Politik zur Erreichung ihrer Ziele be­nötigt. Was die Vernunft sie nicht vorher lehrt, lehrt sie die Erfahrung durch Lei­den. Wir haben ja zu deutlich vor Augen, wie die Macht vor der Ökonomie zu Kreuze kriecht, etwa in der Reparationspolitik nach dem ersten Weltkrieg und auf dem kurzen Weg vom Morgenthauplan zum Marshallplan nach dem zweiten. In Deutschland selbst haben wir in der Zeit dazwischen erlebt, wohin es führt, wenn die. Politik die Grenzen nicht beachtet, die das ökonomische Gesetz der Macht setzt.

Selbstverständlich sind wir vor imperialistischen Ausbrüchen der Macht niemals geschützt, aber auch solche irrationalen Eruptionen sind mehr als in früheren Zeiten durch die materiellen Mittel gehemmt, deren sie zu ihrer Verwirklichung bedürfen. Selbst wenn wir diese Hemmungen überschätzen sollten, darf uns keine Resigna­tion davon abhalten, den Wegen der wirtschaftlichen Vernunft nachzuspüren. Nichts anderes haben wir getan, wenn wir uns bemüht haben, aus den Ursachen der Weltwirtschaftskrise die Grenzen abzuleiten, die dem ökonomischen Geschehen ge­steckt sind, und die Möglichkeiten abzutasten, die einer Überwindung der Antino­mie von räumlicher Integration und wirtschaftlicher Autonomie auf dem Wege des geringsten Widerstandes gegeben sind.