die ältesten risiken der welt

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Marktrisiko: Gefahr, dass bestehende Aktiva aufgrund einer negativen Marktentwicklung (Zinssätze, Aktien- und Wechselkurse, Gold- und Rohstoffpreise) an Wert verlieren und für den Risiko-Träger ein Verlust entsteht. Kreditrisiko: Das mit dem Verleihen von Geld verbundene Risiko des Gläubigers, dass die Gegenpartei (der Kreditnehmer) ausfällt, d. h. zur Rückzahlung des Kredites nicht mehr fähig ist. Liest man aktuelle Artikel über Operationelle Risiken, so hat man das Gefühl, einer neuen Risiko-Kategorie auf der Spur zu sein. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch: Die Unsicherheit darüber, was die Zukunft bringen wird, führte in allen Kulturen und Epochen zu (Risk-Management-)Praktiken, die den Schleier der Ungewissheit zerreißen sollten. Dieser Schleier war vor allem aus Operatio- nellen Risiken gewoben, den ältesten Risiken der Welt. Die ältesten Risiken der Welt 16 RISKNEWS 01/04 Operationelle Risiken sind untrennbar mit jeder Art des Wirtschaftens verbunden. Sie werden bereits vor der Gründung eines Unternehmens eingegangen. Jeder Existenzgründer kennt dies aus eigenen Erfahrungen, wenn ihm etwa bei der Erstellung des Business Plans der Rechner abstürzt. In Industrieunternehmen und Ver- sicherungen wurden Operationelle Risiken schon immer identifiziert, quantifiziert und ge- steuert. Für Versicherungsunternehmen stellt das Management Operationeller Risiken sogar die Haupteinnahmequelle dar – und das schon seit der Entwicklung der ersten Seeversiche- rung in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Demgegenüber wurde dieses Thema von den Banken erst relativ spät entdeckt. In Anbetracht der Diskussion über die neue Baseler Eigenka- pitalvereinbarung (auch kurz Basel II genannt), entsteht sogar der Eindruck, dass in den ver- gangenen Jahren – spätestens am 11. September 2001 – eine völlig neue Risiko-Kategorie geboren wurde. Denn bisher konzentrierte sich das Risikomanagement der Banken vor allem auf Markt- und Kreditrisiken. Der Dornröschenschlaf der Bankenwelt ist u. a. daran abzulesen, dass für Operationelle Risiken lange nicht einmal eine geeignete Begriffsbe- stimmung bzw. -abgrenzung existierte. Diese entstand erst im Diskussionsprozess um Basel II. Anfangs versuchte man es mit einer nega- tiven Abgrenzung: Alle Risiken, die nicht Markt- und Kreditrisiken sind, gehören zu den Operationellen Risiken. Diese Definition bietet zwar den Vorteil, dass sämtliche potenziellen Risiken erfasst werden, denen Unternehmen jemals ausgesetzt sein könnten. Allerdings hilft sie nicht bei der genauen Bestimmung, was Operationelle Risiken denn nun im Einzelnen sind. Und wie soll etwas identifiziert und ge- messen werden, wenn keiner weiß, wonach eigentlich gesucht wird? Was sind denn nun genau Operationelle Risiken? Im aktuellen dritten Konsultationspapier wer- den Operationelle Risiken wie folgt definiert: „Operationelles Risiko ist die Gefahr von Ver- lusten, die in Folge der Unangemessenheit oder des Versagens von internen Verfahren, Men- schen und Systemen oder in Folge externer Ereignisse eintreten.“ Diese Definition schließt auch Rechtsrisiken ein, beinhaltet aber nicht Reputations- oder strategische Risiken. Opera- tionelle Risiken umfassen also den typischen Serverausfall, den Brand im Rechenzentrum, die Überschwemmung in der Tiefgarage, die Ver- wüstungen durch den Hurrikan Andrew, die Schäden durch das Northridge Erdbeben in Kalifornien, die Betrügereien eines Nick Leeson (vgl. hierzu den Beitrag „Sandbank“ auf S. 46-50) oder eben die terroristischen Angriffe vom 11. September 2001. Was ist neu an diesen Risiken? Tatsache ist, dass Operationelle Risiken schon immer existierten. Schon der etymologische Ursprung des Risiko-Begriffs, der sich aus dem frühitalienischen „risco“ – die Klippe, die es zu umschiffen gilt – ableitet, deutet darauf hin, dass sich die Menschen der Existenz Opera- tioneller Risiken schon lange bewusst sind (vgl. hierzu den Beitrag „Auf sein Auventura und Risigo handeln“ auf S. 60-65). Seit jeher begleiten Autor Frank Romeike ist Herausgeber der RISKNEWS und Gründer und Initiator von RiskNet, dem führenden deutschsprachigen Internetportal rund um das Thema Risikomanagement.

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Marktrisiko: Gefahr, dass bestehende

Aktiva aufgrund einer negativen

Marktentwicklung(Zinssätze, Aktien- und

Wechselkurse, Gold- undRohstoffpreise)

an Wert verlieren und fürden Risiko-Träger ein

Verlust entsteht.

Kreditrisiko: Das mit dem Verleihen von

Geld verbundene Risiko des Gläubigers, dass die

Gegenpartei (der Kreditnehmer) ausfällt,

d. h. zur Rückzahlung des Kredites

nicht mehr fähig ist.

Liest man aktuelle Artikel über Operationelle Risiken, so hat man das Gefühl,einer neuen Risiko-Kategorie auf der Spur zu sein. Ein Blick in die Geschichtezeigt jedoch: Die Unsicherheit darüber, was die Zukunft bringen wird, führte inallen Kulturen und Epochen zu (Risk-Management-)Praktiken, die den Schleierder Ungewissheit zerreißen sollten. Dieser Schleier war vor allem aus Operatio-nellen Risiken gewoben, den ältesten Risiken der Welt.

Die ältesten Risiken der Welt

16 RISKNEWS 01/04

Operationelle Risiken sind untrennbar mit jederArt des Wirtschaftens verbunden. Sie werdenbereits vor der Gründung eines Unternehmenseingegangen. Jeder Existenzgründer kennt diesaus eigenen Erfahrungen, wenn ihm etwa beider Erstellung des Business Plans der Rechnerabstürzt. In Industrieunternehmen und Ver-sicherungen wurden Operationelle Risikenschon immer identifiziert, quantifiziert und ge-steuert. Für Versicherungsunternehmen stelltdas Management Operationeller Risiken sogardie Haupteinnahmequelle dar – und das schonseit der Entwicklung der ersten Seeversiche-rung in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.Demgegenüber wurde dieses Thema von denBanken erst relativ spät entdeckt. In Anbetrachtder Diskussion über die neue Baseler Eigenka-pitalvereinbarung (auch kurz Basel II genannt),entsteht sogar der Eindruck, dass in den ver-gangenen Jahren – spätestens am 11. September2001 – eine völlig neue Risiko-Kategorie geborenwurde. Denn bisher konzentrierte sich dasRisikomanagement der Banken vor allem aufMarkt- und Kreditrisiken.

Der Dornröschenschlaf der Bankenwelt ist u. a.daran abzulesen, dass für Operationelle Risikenlange nicht einmal eine geeignete Begriffsbe-stimmung bzw. -abgrenzung existierte. Diese entstand erst im Diskussionsprozess um BaselII. Anfangs versuchte man es mit einer nega-tiven Abgrenzung: Alle Risiken, die nichtMarkt- und Kreditrisiken sind, gehören zu denOperationellen Risiken. Diese Definition bietetzwar den Vorteil, dass sämtliche potenziellenRisiken erfasst werden, denen Unternehmenjemals ausgesetzt sein könnten. Allerdings hilftsie nicht bei der genauen Bestimmung, was

Operationelle Risiken denn nun im Einzelnensind. Und wie soll etwas identifiziert und ge-messen werden, wenn keiner weiß, wonacheigentlich gesucht wird?

Was sind denn nun genauOperationelle Risiken?

Im aktuellen dritten Konsultationspapier wer-den Operationelle Risiken wie folgt definiert: „Operationelles Risiko ist die Gefahr von Ver-lusten, die in Folge der Unangemessenheit oderdes Versagens von internen Verfahren, Men-schen und Systemen oder in Folge externerEreignisse eintreten.“ Diese Definition schließtauch Rechtsrisiken ein, beinhaltet aber nichtReputations- oder strategische Risiken. Opera-tionelle Risiken umfassen also den typischenServerausfall, den Brand im Rechenzentrum, dieÜberschwemmung in der Tiefgarage, die Ver-wüstungen durch den Hurrikan Andrew, dieSchäden durch das Northridge Erdbeben inKalifornien, die Betrügereien eines Nick Leeson(vgl. hierzu den Beitrag „Sandbank“ auf S. 46-50)oder eben die terroristischen Angriffe vom 11. September 2001.

Was ist neu an diesen Risiken?

Tatsache ist, dass Operationelle Risiken schonimmer existierten. Schon der etymologische Ursprung des Risiko-Begriffs, der sich aus demfrühitalienischen „risco“ – die Klippe, die es zuumschiffen gilt – ableitet, deutet darauf hin,dass sich die Menschen der Existenz Opera-tioneller Risiken schon lange bewusst sind (vgl.hierzu den Beitrag „Auf sein Auventura undRisigo handeln“ auf S. 60-65). Seit jeher begleiten

Autor

Frank Romeike

ist Herausgeber der RISKNEWS und

Gründer und Initiator von RiskNet, dem

führenden deutschsprachigen

Internetportal rund um das Thema

Risikomanagement.

RN-Heft01_Inhalt-S2-43_RZ 29.01.2004 17:32 Uhr Seite 16

menschliches Versagen, fehlgeleitete Prozesseund Naturkatastrophen die Entwicklung derMenschheit – Jahrtausende, wenn nicht Jahr-millionen, bevor die ersten Märkte entstandenoder die ersten Kredite gewährt wurden.

Bereits Noah musste sich bei seiner Überwin-dung der Sintflut mit Existenz bedrohendenOperationellen Risiken beschäftigen. Die Flutnahte – Noahs Familie und die Tiere versuchten,sich auf der Arche in Sicherheit zu bringen. DieAnzahl der mitzunehmenden Wirbeltierartenbetrug etwa 21.100 (Vögel und insbesondereFische konnten der Katastrophe ja relativ gelas-sen entgegensehen). Ein Mammutprojekt, dasan sich schon voller Operationeller Risiken war.Der Bau einer Arche wäre ohne gutes Projekt-Risikomanagement unmöglich gewesen. Dennklein war der Kahn ja nicht gerade: 300 Ellenlang, 50 Ellen breit und 30 Ellen hoch. Je nachUmrechnungsfaktor (eine hebräische Elle ent-spricht etwa 45 cm, eine ägyptische etwa 52cm) zimmerte Noah also einen Ozeanriesen mitAusmaßen von etwa 145 x 24 x 15 Metern. Umalle Tiere unterbringen zu können, wurden dreiDecks eingezogen. Die Arche hatte damit eineLadefläche von etwa 9.000 m2 und ein Lade-volumen von 40.000 m3. Noah war zwar 600Jahre alt, als die Flut kam und hatte daher ziemlich viel Erfahrung im Risikomanagement,trotzdem musste er sich mit vielfältigen Opera-tionellen Risiken auseinandersetzen: Würde erden Zeitplan einhalten können, bevor die Sint-flut einsetzt? Würde sein Budget ausreichen?Würden alle Tiere Platz haben? Würde seineKonstruktion halten? Würde sein Auftraggeberzufrieden sein? Die empirisch-intuitive Kunstdes Archebauers und die Gnade Gottes ent-schieden über die Rettung der Menschheit undTierwelt. Und Gott-sei-Dank es hat geklappt.

Die Sintflut ist übrigens bei Weitem nicht daseinzige biblische Beispiel für OperationelleRisiken. Menschliches Versagen, fehlerhafteProzesse oder Naturgewalten finden sich zuhaufim Buch der Bücher: Adam und Eva handeltenunautorisiert und verstießen gegen eindeutigePolicies. Ägypten wurde von sieben Plagen heim-gesucht. Die Streitmacht des Pharao wurde vomRoten Meer verschlungen. Der Turm von Babelblieb für immer unvollendet. Und auf Sodom undGomorra regnete es Schwefel und Feuer.

Ähnlich zahlreiche und ebenso plastischeBeispiele finden sich auch in den Mythen allerEpochen und Kulturen: Von den Abenteuerndes Odysseus über die nordischen Sagen vonThor und Odin und den Märchen der Gebrüder

Grimm bis hin zu modernen Epen wie „Matrix“,„Krieg der Sterne“ und „Herr der Ringe“.

Auf der Suche nach derKristallkugel

Seit Noah versuchen die Menschen, ein wenigLicht in die dunklen Seitengänge der Zukunftzu bringen. In der Antike war dieses Terrainnoch den Göttern vorbehalten. Griechen undRömer vertrauten Apollon, dem Hauptgott derprophetischen Weissagung, der über das Orakelin Delphi wachte. In praktisch allen Frühkul-turen genossen selbsternannte Zukunftsexper-ten, Propheten und Auguren hohes Ansehen.Und seitdem hat die Suche nach der Kristall-kugel nicht aufgehört. Unmittelbar nach denTerrorangriffen vom 11. September waren„Terrorismus“ und „Nostradamus“ die meist ein-getippten Begriffe in den Suchmaschinen desInternets. Offensichtlich faszinieren die dunk-len Prophezeiungen des französischen Mathe-matikers und Astrologen Michel de Notredame(Nostradamus, 1503 - 1566) auch heute nochviele Menschen.

In unserer Zeit bedient man sich zur Identifi-kation und Messung Operationeller Risiken aus-gefeilter und (scheinbar) exakter statistischerund stochastischer Methoden und Modelle. Es gilt die Logik: „science is measurement“.Und damit sind wir wieder bei Basel II ange-kommen. Mit Hilfe von Key Risk Indicators, derExtreme Value Theory, dem Advanced Measure-ment Approach etc. werden zurzeit Kristall-kugeln zur Identifikation und Steuerung Opera-tioneller Risiken entwickelt.

So wie Krösus der Orakelpriesterin Pythia gegen-übersaß, sitzt der moderne Risiko-Manager vorseinem Computer und befragt sein Risiko-Modell.Im Hinblick auf den geplanten Feldzug gegendie Perser erhielt Krösus den Rat: „Wenn du denGrenzfluss Halys überschreitest, wirst du eingroßes Reich zerstören.“ Das Dumme war nur,dass er nicht Persien vernichtete, sondern seineigenes Reich. Der Aussagegehalt vieler moder-ner Modelle zum Operational Risk Managementdürfte ähnlich zweideutig und irreführend sein.

Beide Ansätze bewirken aber zumindest, dassder Entscheider (Krösus oder der Risiko-Manager)gezwungen wird, sich zu entscheiden („Ichziehe in den Krieg“ oder „Ich kaufe die Firewall“)und damit Risiken aktiv steuern und hoffentlichauch vermeiden kann. Die Seitengänge der Zu-kunft bleiben jedoch weiterhin dunkel.

TITEL

„Mit fliegendem Feuer, der listige Anschlag, wird kommen den großenbelagernden Führer zu verwirren; Innerhalb wirdsolche Aufruhr sein, dass die Verfolger inVerzweiflung sein werden.“

Angebliche Nostradamus Prophezeiungzum 11. September 2001.

Operationelle Risiken –mehr darüber: Roland Franz Erben/Frank Romeike: Allein auf stürmischer See –Risiko-Management für Einsteiger, 218 Seiten, Wiley-VCH,Weinheim 2003.

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