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83 Der Schritt und die Stimme – Tango zwischen Transkription und Materialisierung Rolf Kailuweit / Stefan Pfänder 1 Einleitung Die Proliferation kulturtheoretischer Kehren 1 löst bei den Verfassern dieses Bei- trages ambivalente Gefühle aus. Einerseits entsteht nicht von ungefähr die Be- fürchtung, das inflationäre Ausrufen neuer Forschungsparadigmen und Schlagwörter folge vor allem modischen Zwängen oder diene in einer Zeit der Reizüberflutung wissenschaftshegemonialen Machtansprüchen. Andererseits lässt sich die ge- bündelte Vielfalt der Versuche, über die im linguistic turn 2 konstatierte Sprach- gebundenheit jedweder Erkenntnis hinauszukommen, als fruchtbare Dynamisierung kulturwissenschaftlicher Arbeit begreifen. Hierfür erscheint es uns jedoch un- verzichtbar, Theoreme nicht allein auf der Ebene des Spekulativen zu entwickeln, sondern sie gleichsam als Mehrwert aus konkreten materialorientierten Frage- stellungen abzuschöpfen. Der Sprach- und Kulturraum, der sich in den letzten ca. anderthalb Jahrhunderten um die Rio-de-la-Plata-Metropolen Buenos Aires und Montevideo ausdifferenziert hat, bietet ein vielschichtiges Material, anhand dessen sich kulturwissenschaftliche Konzepte entwickeln und erproben lassen. Der Tango ist dabei das Kulturphänomen par excellence, das diesen Raum repräsentiert. Im Folgenden möchten wir aus diesem Phänomen eine migrations- und transkriptionstheoretische Perspektive ent- wickeln. Der Begriff der Transkription ist in diesem Band bereits thematisiert worden. Ludwig Jägers Ausführungen zur intra- wie intermedialen Transkription, die kulturelle Phänomene im Modus der Nachträglichkeit konstituiert, synthetisiert unseres Erachtens die (post)strukturalistischen Überlegungen, dass Bedeutung allein in dynamisierten, d.h. verzeitlichten und verräumlichten Differenzen entsteht. Auf einer konkreteren Ebene bestimmt Walter Bruno Berg anhand des Romans País de Jauja (1993) des peruanischen Autors Edgardo Rivera Martínez mit musik- 1 Einen Überblick gibt Bachmann-Medick 2006. Zu aktuellen Perspektiven des spatial turn siehe Döring/Thielmann 2008. 2 Vgl. Rorty 1967.

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Der Schritt und die Stimme – Tango zwischen Transkription und Materialisierung

Rolf Kailuweit / Stefan Pfänder

1 Einleitung Die Proliferation kulturtheoretischer Kehren1 löst bei den Verfassern dieses Bei-trages ambivalente Gefühle aus. Einerseits entsteht nicht von ungefähr die Be-fürchtung, das inflationäre Ausrufen neuer Forschungsparadigmen und Schlagwörter folge vor allem modischen Zwängen oder diene in einer Zeit der Reizüberflutung wissenschaftshegemonialen Machtansprüchen. Andererseits lässt sich die ge-bündelte Vielfalt der Versuche, über die im linguistic turn2 konstatierte Sprach-gebundenheit jedweder Erkenntnis hinauszukommen, als fruchtbare Dynamisierung kulturwissenschaftlicher Arbeit begreifen. Hierfür erscheint es uns jedoch un-verzichtbar, Theoreme nicht allein auf der Ebene des Spekulativen zu entwickeln, sondern sie gleichsam als Mehrwert aus konkreten materialorientierten Frage-stellungen abzuschöpfen.

Der Sprach- und Kulturraum, der sich in den letzten ca. anderthalb Jahrhunderten um die Rio-de-la-Plata-Metropolen Buenos Aires und Montevideo ausdifferenziert hat, bietet ein vielschichtiges Material, anhand dessen sich kulturwissenschaftliche Konzepte entwickeln und erproben lassen. Der Tango ist dabei das Kulturphänomen par excellence, das diesen Raum repräsentiert. Im Folgenden möchten wir aus diesem Phänomen eine migrations- und transkriptionstheoretische Perspektive ent-wickeln.

Der Begriff der Transkription ist in diesem Band bereits thematisiert worden. Ludwig Jägers Ausführungen zur intra- wie intermedialen Transkription, die kulturelle Phänomene im Modus der Nachträglichkeit konstituiert, synthetisiert unseres Erachtens die (post)strukturalistischen Überlegungen, dass Bedeutung allein in dynamisierten, d.h. verzeitlichten und verräumlichten Differenzen entsteht. Auf einer konkreteren Ebene bestimmt Walter Bruno Berg anhand des Romans País de Jauja (1993) des peruanischen Autors Edgardo Rivera Martínez mit musik-

1 Einen Überblick gibt Bachmann-Medick 2006. Zu aktuellen Perspektiven des spatial

turn siehe Döring/Thielmann 2008. 2 Vgl. Rorty 1967.

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wissenschaftlichen Anklängen3 Transkription als einen Aufführungsprozess, in dem Präskript und Transkript gleichwertig nebeneinander gestellt werden. Transkription, als Figur prozessualer Alterätserfahrung verkoppelt indigene und eurozentrierte kulturelle Praktiken und überwindet die bekannten eurozentrischen Muster der Akkulturation Lateinamerikas wie auch die entgegengesetzte Suche nach einer indigenen lateinamerikanischen Identität. Beide Pole verlieren den Charakter dichotomischer Alternativen und ermöglichen ein Oszillieren zwischen vielfältiger kultureller Praxis.4

Betont Transkription eine zeichen- und medientheoretische Spannung, so verortet Migration diese gewissermaßen in einer raumzeitlichen prozessualen Erfahrung. Migration kann dabei nicht mehr hegemonial als einmaliger mit dem Zwang der Akkulturation, Integration und Assimilation verbundener Ortwechsel verstanden werden, sondern schafft komplexe kulturelle und soziale Verbindungen zwischen Herkunfts- und Zielorten.5 Für den Rio-de-la-Plata-Raum ist sie insofern konstitutiv, als dieser Raum als Kulturraum erst durch inneramerikanisch wie europäische Immigration Ende des 19. Jahrhunderts entsteht. Das Apriori der Transnationalität, sowohl der Herkunfts- als auch der Zielorte untergräbt dabei jede nationalistische Reduzierung, wie sie insonderheit in der Idee einer „Argentinität“ (nicht zuletzt des Tangos) aufscheint.6

Es soll im Folgenden untersucht werden, inwiefern der Tango als repräsentative Kulturform in seinen getanzten wie gesungenen Manifestationen ein Produkt transkriptiver Zeichen- und Medienpraxis ist, die in einer gleichsam migratorischen Bewegung von Schritten und Stimmen im Raum eine doppelte materielle Basis findet. Tango soll dabei nicht nur Untersuchungsgegenstand sein, sondern gleich-zeitig ins Methodische umschlagen: ein improvisierendes aufmerksam vorsichtiges Vor- und Zurück auf der Tanzfläche kulturwissenschaftlicher Theoreme.

3 Siehe zum Transkriptionsbegriff der Musikwissenschaft Stockmann 1979. 4 Zur Transkriptionstheorie und ihren poststrukturalistischen Gründen siehe auch

Kailuweit 2009. 5 Vgl. Glick Schiller et al. 1992, 10; Spiegel 2005, 5-9. Eine spezielle

»Migrationslinguistik«, die Sprecherverbünde an Herkunts- und Zielorten in Form von »Glossotopen« untersucht, ist von Krefeld 2004 skizziert worden. Vgl. Kailuweit 2008.

6 So spricht Carlos Vega (1898-1966) in einem in den 30er Jahren entstanden Werk von den „origenes del tango argentino“ (Vgl. Vega 2007). Dagegen betont Vicente Rossi 1926 die Ursprünge des Tangos in der milonga montevideana, die in den so genannten academias in den Vorständten der Metropole Uruguays Ende des 19. Jahrhunderts getanzt wurde. Während Argentinier gewissenmaßen einen Alleinvertretungsanspruch erheben, betonen Uruguayer wie Vidart 1967, 13: „el tango es rioplatense“.

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2 Schritte The collective mythology that conjures up tango and Argentine-ness can be directly traced to specific geographical contributors and the response to, and expression of that space. That space is derived from physical locations and the crossing between them: in particular the empty space of the interior and the crowded urban space of the City of Buenos Aires […] The popular cultural phenomenon of tango can be seen as an expression of specific social situations of people in particular locations. That is tango can be regarded as having logically evolved from transient populations’ responses to an historic, spatially-derived sense of loss, failure and dislocation, which they encountered in the rural and urban landscapes of Argentina. Therefore, tango and Argentina can both be seen as existing at the level of social imaginary as well as concretely. (Bendrups 2004, 100)

An einer vielzitierten Stelle seines Aufsatzes Événement, signature, contexte dehnt Derrida die Kontextlöslichkeit des Zeichens als Verkörperung seiner Schriftlichkeit auf jede Erfahrung aus:

Cette possibilité structurelle d’être sevrée du référent ou du signifié (donc de la communication et de son contexte) me paraît faire de toute marque, fût-elle orale, un graphème en général, c’est-à-dire, comme nous l’avons vu, la restance non-présente d’une marque différentielle coupée de sa prétendue « production » ou origine. Et j’étendrai même cette loi à toute « expérience » en général, s’il est acquis qu’il n’y a pas d’expérience de pure présence mais seulement des chaînes des marques différentielles. (Derrida 1972, 378) [Hervorhebung im Original]

Sevrer – ‚ein Kind entwöhnen’, ‚einen Ableger ablösen’: Menschen machen ihre Erfahrungen im Raum, sie sind nicht wie Bäume festgewachsen, obschon das Wort Entwurzelung das Gegenteil suggeriert. Wenn intermediale Transkription nach Jäger (2004; in diesem Band) konstitutiv für die Erstellung und Perpetuierung des kulturellen Gedächtnisses ist, so ist die Transkription der Raumerfahrung hierfür ein zentrales Moment; ein Gedanke, dem in der Sozialgeographie (Soja 1989, Werlen 2004) bereits seit einiger Zeit nachgegangen worden ist.

2.1 Weite und Enge Was den Tango angeht, so zeigt sich das eingangs bereits mit den Worten von Bendrups umrissene Szenario – selbst wenn wir die reduktionistische Ausgrenzung Uruguays nicht beachten – außerordentlich komplex. Wir befinden uns am Ende des 19. Jahrhunderts7 in einer Zeit sozioökonomischer Umbrüche mit erheblichen Aus-wirkungen nicht nur im demoskopischen, sondern auch im geopolitischen Bereich. Die Indianerkriege sind vorbei, die Industrialisierung erschließt die Weiten der 7 Einen detailierten Überblick über die Geschichte Argentiniens gibt Rock 1986. Zur

(Sozial-)Geschichte von Buenos Aires siehe Vázquez (Hg.) 1996.

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Pampa, führt sie neuen landwirtschaftlichen Produktionsformen zu. Die alt-eingesessene gauchos-Kultur (Viehtreiber) wird nicht mehr benötigt. Ihr Lebens-raum ist zerstört. Gauchos finden sich in den wachsenden Vorstädten (arrabales, suburbios) von Buenos Aires und Montevideo wieder, mit ihren Schlachthäusern, Kühlhallen und Pferde gezogenen Straßenbahnen. Die von Gaslicht erleuchteten Straßen sind der Nährboden für politische Agitation und organisierte Kriminalität. Hier treffen gauchos auf in der Mehrzahl italienisch stämmige Immigranten. Man lebt auf engstem Raum zusammengepfercht: Die neue Stadtlandschaft besteht aus Mietskasernen (conventillos), zum einen umgebaute alterwürdige Paläste im südlich des Zentrums gelegenen Stadtteil San Telmo, die die Oberschicht nach der Geld-fieber-Epidemie 1871 verlassen hat, zum anderen neu entstehende Wellblech-konstruktionen am noch weiter südlich gelegenen Hafen La Boca oder weiter am Riachuelo landeinwärts um die Schlachthöfe herum in den Vierteln Barracas und Nueva Pompeya.

Die bürgerlich liberale Politik hatte nach dem Motto Alberdis »Regieren ist Be-siedeln« nach 1869 massiv in Europa Einwanderer geworben. Statt der erhofften Fachkräfte aus Mittel- und Nordeuropa kamen allerdings vor allem Analphabeten aus dem Süden, d.h. aus den ärmsten Regionen Italiens wie Kalabrien und Sizilien, aber auch aus den ländlichen Gebieten Spaniens, aus Galizien und dem Baskenland. Statt in den Weiten der Pampa den Einwanderern Parzellen zur Verfügung zu stellen, verpachteten die neureichen einheimischen Großgrundbesitzer das Land in der Regel nur zu schlechtesten Konditionen (Rock 1986: 139s). So siedelte die Mehrzahl der Immigranten nicht auf dem Lande, sondern im Großraum Buenos Aires. In den Vorstädten findet von daher eine doppelte Dislokation einen prekären Haltepunkt: die einen, die criollos, erinnern das weite Land als einen verlorenen Raum, für die anderen, die gringos, ist es das imaginäre Ziel einer Reise in eine bessere Welt, die abrupt in Enge und Elend zu enden scheint.

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Abb. 1 Dis- und Relokation im Rio-de-la-Plata-Raum

Gleichwohl gilt es für den Ursprung des Tangos an ein drittes Element zu erinnern: die Schwarzen, von denen es in Argentinien durchaus nicht weniger gab, als in anderen lateinamerikanischen Ländern, bis sie in der Guerra de la Triple Alianza gegen Paraguay 1865-1869 aufgerieben wurden. Ihre Candombe-Musik,8 und die aus Kuba importierte Habanera gehen wie die Gaucho-Payada und die canzonetta napoletana in die Magma des Tangos ein. Mit den Worten von Martínez Estrada: “El tango […] trae en su ritmo reminiscencias del pasado abyecto y las voces sofisticadas de la vida rehusada. Nació después de la jornada del negro arrancado de su tierra […] Encierra en sus cadencias la esclavitud” (Martínez Estrada [1933] 1996, 162).

8 Eine kultische Tanzpantomime aus der Bantureligion, die nach 1870 vor allem in der

Karnevalszeit aufgeführt wurde (Reichardt 1984, 33). Der in Paris lebende Neo-Tango-Sänger Juan Carlos Cáceres geht dem vergessenen schwarzen Element des Tango nach. Sein Candombe Tocá Tangó (2001) schildert die Wege der farbigen Argentinier und lässt den Rhythmus langsam in ein Tango-Arrangement übergleiten: En Retiro los marcaban / pa’llevarlos al Potosí / y allí mismo iban qudando / con su mancha carmesí / Por Córdoba y Tucumán / iban todos a sufrir / hacia el norte los llevaban a las minas a morir. / ¡Tocá tangó. Tocá tangó! / Dicen los negros con el tambor. / ¡Tocá tangó. Tocá tangó! / ¡Mandinga viene, viva Xangó! / En Buenos Aires se quedaban / pa’el servicio o a pedir / o en oficios denigrantes / iban muchos sin dormir. / Cuando fue la Revolución / a la guerra los mandaron / muchos de ellos regresaron / sin un brazo o sin razón.

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Obgleich der Beitrag der Farbigen in der Entstehung des Tangos umstritten ist (vgl. Castro 1991, 94-98), spricht vieles dafür, dass die 1926 von Vicente Rossi in seinem Buch Cosas de negros vorgebrachte These zutrifft und die Afro-Argentinier den Tango ebenso prägten wie die weißen criollos und die europäischen Immigranten. Castro fasst die zentralen Thesen Rossis wie folgt zusammen:

Blacks in Argentina were totally dislocated from their cultural African home with a loss of language, religion and tribal affiliation. From a cultural point of view, Rossi suggests Blacks became more creole than did the other components of Argentine society. In the rural areas they became gauchos, were the backbone of the montonera [irregular military forces], symbols of patriotism and local autonomy. In the folk tradition of the gaucho, the payador [gaucho troubadour], the itinerant folk singer who was the preserver of oral traditions, also included the Afro-Argentine […] The black payador tradition, when it became associated with the orillera-suburbio or urban areas, created a new environment out of which Rossi demonstrated the development of the first “milonga”, and later, the tango… (Castro 1991, 95)

Lassen wir an dieser Stelle die musikgeschichtlichen Fragen, die Castro aufwirft, einmal offen. Unabhängig davon inwiefern sich eine weiße von einer schwarzen Payada unterscheidet,9 welchen Stellenwert dem Candombe und der Habanera zu-kommen und ob die Milonga, als städtische payada, auf ein afrikanisches Etymon zurückgeht: Im afro-argentinischen Element verbindet sich gleichermaßen die Er-fahrung der Dislokation der externen wie der internen Migration, der Verlust des Ursprungs in einem Kontinent, den im Lebensraum der Pampa zu kompensieren nicht gelingt.

In einer Vielzahl von Tangos klingt die Pampa als Ausgangspunkt einer Dislokation und zugleich imaginäres Ziel kompensatorischer Relokation an. Dies wird etwa im Tango Adiós pampa mía10 deutlich. Der Text stammt von Ivo Pelay, bürgerlich Guillermo Juan Robustiano Pichot (La Plata 1893 – Buenos Aires 1959), der vor allem als Theaterautor bekannt ist.

¡Adiós pampa mía!... Me voy... Me voy a tierras extrañas adiós, caminos que he recorrido, ríos, montes y cañadas,

9 Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant daran zu erinnern, dass einer der

größten Payadores, Gabino Ezeiza, ein Farbiger war, der 1858 in Buenos Aires im Stadtteil San Telmo geboren wurde.

10 Die Musik stammt von Francisco Canaro (San José de Mayo/Uruguay 1888 - Buenos Aires 1964), einem der bekanntesten tangueros der alten Garde, und Mariano Mores (*1918).

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tapera donde he nacido. Si no volvemos a vernos, tierra querida, quiero que sepas que al irme dejo la vida. […] ¡Adiós pampa mía!... Me voy camino de la esperanza. Adiós, llanuras que he galopado, sendas, lomas y quebradas, lugares donde he soñado. Yo he de volver a tu suelo, cuando presienta que mi alma escapa como paloma hasta el cielo...11

Dass dieser Tango erst 1945 entstand, ist kulturarchäologisch betrachtet kein Anachronismus. Ein kulturelles Gedächtnis konstituiert sich im Modus der longue durée. Es entsteht in einer Vielzahl von Transkriptionsschritten, in denen die Sprache bereits ein weit fortgeschrittenes Stadium repräsentiert. Die Spuren nach-zuziehen, die eine Versprachlichung der Erfahrung erst ermöglichen, ist, indem sie die an medialen Grenzen orientierten Disziplinen überschreitet, die Aufgabe einer Transkriptionswissenschaft als Kulturarchäologie.

Kehren wir also vor die Sprache zurück: Wenn der Tango in seinen Ursprüngen nicht Wort, sondern Ton und Bewegung ist, so stellt sich die Frage, ob sich die Er-fahrung des Raumes, sei sie real oder imaginär, in Schritte umsetzen lässt. Lässt sich der Raum tanzen? Martínez Estrada deutet dies in seinem 1933 erschienenen Essay Radiografía de la pampa an, in dem er den Tango als eine gleichwohl umgedrehte Katharsis des freien Raumes stilisiert. Die monotone Bewegung erinnert an einen Ochsenkarren, in dem das Durchschreiten des weiten Landes gleichsam im Spiegel der Enge der conventillos in ein Joch gespannt ist:

Baile del pesimismo, de la pena de todos los miembros; baile de las grandes llanuras siempre iguales y de una raza agobiada, subyugada, que las anda sin un fin, sin un destino, en la eternidad de su presente que se repite. La melancolía proviene de esa repetición, del contraste que resulta de ver dos cuerpos organizados para los movimientos libres sometidos a la fatídica marcha mecánica del animal mayor. (Martínez Estrada [1933] 1996, 162)

Als Rekompensation für die verlorene Bewegungsfreiheit stilisiere der Tango, so Martínez Estrada, in der Monotonie seiner Schrittfolge den imaginären Weg in ein erlösendes Nichts: „Es un baile sin alma, para autómatas, para personas que han 11 Romano 2000, 355f.

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renunciado a las complicaciones de la vida mental y se acogen al nirvana“ (Martínez Estrada [1933] 1996, 162).

2.2 Del barrio de las latas pa’ Corrientes12 Der Tango ist in der Tat ein Schreiten, ein Gehen, in den Worten eines der be-deutendsten Tänzer, Jorge Martín Orcaizaguirre (1926-1990), Virulazo: „letzten Endes nichts anderes […] als drei Minuten lang zu gehen; zum Rhythmus eines Orchesters, eine Frau umarmend, die weiß, wie sie auf jede Intention des Mannes antwortet. Alles andere ist Gymnastik“ (Salas 2002, 362)13.

Gleichwohl ist dieses Schreiten mitnichten der resignierte Trott eines ins Joch ge-spannten Ochsen. Es ist der Auftritt des compadrito, der, ein Kind der arrabales, dem guapo oder compadre als Mutation des marginalisierten Gauchos in Bewahrung und Transformation des Männlichkeitskultes von Mut und Messer, den Rang streitig macht. Nach Leopoldo Lugones (bei Sábato 2005, 69) „un híbrido triple de gaucho, de gringo y de negro“, sprengt diese Figur die ethnischen Grenzen. Dass sie ethnisch changierend besetzt werden kann, ist früh dokumentiert. Bereits bei Piaggio (1887), in einem der ersten Artikel über den Lunfardo,14 wird ein compadrito als güífaro, d.h. italienischstämmig bezeichnet (Gobello 1980, 48f.). In Pachecos Los disfrazados, einem sainete crollo von 1906, ist einer der drei Tango-Tänzer als Farbiger stilisiert: „Soy el mulato Papilla bailarín de bute y soda. Soy el taquero más pierna para un tango quebrador”15 (Pacheco 1919, s.p.).

So multiethnisch die Herkunft der compadritos sein mag, die Figur selbst ist in ihrem Habitus klar definiert. Ihr prahlerisches Gehabe kompensiert das Elend ihres Umfeldes als ein Körperkult, der von der Stimme, dem Lunfardo, über die modischen Details ihres Erscheinungsbilds, bis hin zu einem Auftreten reicht, zu dem es gleichermaßen gehört, das Messer und das Tanzbein zu schwingen: „El orgullo de saber bailar era característico del orillero que se preciaba de tal. Mostrarse »patadura« podía resultar tan negativo para el prestigio viril como ser chambón con el cuchillo” (Salas [1986] 2004, 31). Salas zufolge, bestimmt der Wettstreit der Compadritos die Entwicklung des Tanzes weit mehr als das erotisierende Verhältnis zwischen den Tanzpartnern:

12 Tango von Elimio Fresedo (Buenos Aires 1894-1973). 13 Das Zitat fehlt in der spanischen Neuausgabe Salas 2004. 14 Dem in den Vorstädten von Buenos Aires entstehenden slang (vgl. Teruggi 1978). 15 Lunfardoausdrücke: de bute y soda (‚exzellent und locker’); taquero más pierna (‚der

beste Tänzer’).

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Nada de lujuria en el abrazo […] Se bailaba por la honda fruición de bailar, pero se bailaba peleando. La rivalidad entre los danzantes, la pugna entre los barrios, consumían atención y requerían cuidado. No podía el hombre bailar retrocediendo, como exigía la cortesía hasta entonces, porque la espalda no debe acercarse al enemigo potencial. (Salas [1986] 2004, 30)

In diesem Bewegungsritual ist eine Raumerfahrung transkribiert, die in den makrotopologischen Kategorien von Weite und Enge nicht gefasst werden kann. Hier erscheint eine mikrotopologische Analyse erforderlich, eine Analyse die Bendrups (2004) in ihrem eingangs zitierten Aufsatz The tango space of Argentina verfehlt. Nach Bendrups ist das aufstrebende Buenos Aires der Jahrhundertwende, das sich letztlich erfolglos, so ihre These (ebd.: 105f.), mit den Metropolen Paris, Berlin oder New York vergleicht, eine imaginäre Heimat, die in Tangos wie Buenos Aires16 vergeblich beschworen wird. Die urbanistischen Fehlleistungen im selbst-ernannten »Paris des Süden«17 würden, so Bendrups, schließlich zu einer nostal-gischen Rückbesinnung auf die untergegangene Kleinräumlichkeit der Vorstädte führen, etwa in dem 1926 entstandenen Tango Puente Alsina von Benjamín Tagle Lara (Buenos Aires 1892-1932):

¿Dónde está mi barrio, mi cuna querida? ¿Dónde la guarida, refugio de ayer? Borró el asfaltado, de una manotada, la vieja barriada que me vio nacer... En la sospechosa quietud del suburbio, la noche de un triste drama pasional y, huérfano entonces, yo, el hijo de todos, rodé por el lodo de aquel arrabal. Puente Alsina, que ayer fuera mi regazo, de un zarpazo la avenida te alcanzó... Viejo puente, solitario y confidente, sos la marca que, en la frente, el progreso le ha dejado al suburbio rebelado que a su paso sucumbió.

16 1923 von Manuel Jovés komponiert. Der Text stammt von Manuel Romero (Buenos

Aires 1891-1954). 17 Buenos Aires wurde von seinem Bürgermeister Torcuato de Alvear zwischen 1883 und

1887 nach dem Vorbild des Haussmannschen Paris und mit derselben sozialen Rücksichtslosigkeit umgestaltet (vgl. Zalko 2004, 33f.).

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Yo no he conocido caricias de madre... Tuve un solo padre que fuera el rigor y llevo en mis venas, de sangre matrera, gritando una gleba su crudo rencor. Porque me lo llevan, mi barrio, mi todo, yo, el hijo del lodo lo vengo a llorar... Mi barrio es mi madre que ya no responde... ¡Que digan adónde lo han ido a enterrar!18

Es ist nicht ohne Ironie, dass der Autor dieses Tangos aus San Telmo stammt, dem Viertel, das in gleicher Weise reklamiert, Ursprungsort des Tangos zu sein, wie der am Riachuelo landeinwärts gelegene Vorort Nueva Pompeya, den die Brücke Puente Alsina mit der Pampa verbindet. San Telmo, das Viertel südlich des Zentrums, ist anders als Nueva Pompeya keine Vorstadt im topographischen, wohl aber im sozio-logischen und kulturpsychologischen Sinne. Die arrabales von Buenos Aires ent-stehen nämlich nicht nur durch die gesellschaftlichen Umwälzungen, durch Industrialisierung und Immigration, sondern, wie bereits erwähnt, auch durch eine urbanistische Kuriosität. Nach der Gelbfieberepidemie 1871 verlässt die Oberschicht ihre angestammten Wohngebiete im Süden der Stadt:

Tras el éxito de la oligarquía, entraron en el sur los trabajadores de los mataderos, de los saladeros, de los frigoríficos, las prostitutas y los perseguidos, el lumpen, y, a partir de 1880, masivamente, los inmigrantes [...] Para la vuelta del siglo, San Telmo era un arrabal, en el sentido que los poetas del tango dan a esa palabra: no un sitio topográficamente de extramuros, sino un barrio culturalmente extremo… (Vázquez Rial 1996, 256)

Die ob ihrer angeblich ungesunden Lage für den besseren Teil der Bevölkerung unbewohnbaren Bürgerhäuser werden in lukrative conventillos verwandelt, in denen man in- und ausländische Migranten zusammendrängt: Das Elend des arrabal atmet die großbürgerliche Chuzpe. Der Fatalismus, einem letalen Viertel zu entstammen, das vor nicht langer Zeit noch das Viertel der anderen, der besseren war, spiegelt sich in der arroganten Haltung des compadritos: „The dress of »el cívico« and other compadritos was at first an attempt te emulate the »jailaife« (upper class »society swells«). And later the »jailaife« emulated the compadrito“(Castro 1991, 116f.).

Die Topographie des Tangos besteht in einem Spannungsverhältnis zwischen den Vierteln von Buenos Aires. Er ist nicht schlichtweg die Musik aus den arrabales einer selbstgenügsamen sozialen Unterschicht, sondern eines komplexen Verhältnisses von Auf- und Abstieg, das sich in der Topographie von Buenos Aires spiegelt. Wenn der Tango in den Bordellen der Hafengegend und Schlachthofviertel

18 Romano 2000, 100f.

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im Süden der Metropole entstand und über die compadritos Einzug in die conventillos hielt, so ist die Geschichte seines Aufstieges die einer Halbkreisbewegung in den Norden; eine Bewegung, die über die gehobenen Etablissements Lo de Laura und Lo de la Vasca,19 die auch von den Sprösslingen der Oberschicht frequentiert wurden, bis hinauf zum vornehmen Tanzlokal Hanssen in Palermo führt (vgl. Salas [1986] 2004, 84-92).

Abb. 2: Süd-Nord-Bewegungen des Tangos

Nichtsdestoweniger ist diese Bewegung keine unidirektionale. Auf- und Abstiege halten sich die Waage, wie an den Lebensläufen zweier zentraler Figuren der alten Garde verdeutlicht werden kann. Der Pianist Rosendo Mendizábal (1868-1919), ein Mulatte, wuchs im reichen Viertel Recoleta auf, Erbschaften ermöglichten ihm in seiner Jugend einen nicht unerheblichen Wohlstand, den er nach Kräften zu ver-schwenden wusste. Seinen Unterhalt musste er bald nicht nur mit Klavierstunden für höhere Töchter verdienen, sondern als Pianist des Oberschicht-Bordells Lo de Laura. Sein unaufhaltsamer Abstieg brachte es mit sich, dass er erblindet, gelähmt 19 Der aus dem französischen Baskenland stammenden María la Vasca (vgl. Zalko 2004,

55).

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und völlig verarmt seine Tage in einem conventillo der untersten Klasse beendete (vgl. Silbido 1964; Salas 2004, 99f.).

Gegenläufig stellt sich der Lebenslauf des criollo Ángel Villoldo dar. Sein Geburts-datum wird zwischen 1861 und 1869 angegeben (De Lara 1968, 33; Reichardt 1984, 70-77; Salas 2004, 93-98; Varela 2005, 61f.). In den 80er Jahren arbeitete er auf den Schlachthöfen und als cuarteador, d.h. als Hilfskutscher, der mit einem zusätzlichen Pferdegespann die Straßenbahnen über die Steigungen brachte. Später verdingte er sich als Setzer, Journalist und Zirkusclown. Berühmt ist er jedoch als Tango-komponist geworden. Vor allem El choclo (1905 uraufgeführt) gehört zu den meist-gespielten Tangos aller Zeiten. Villoldo nahm als einer der ersten Schallplatten und Filme auf. 1919 starb er an Krebs als einer der populärsten Musiker seiner Zeit.

2.3 Paris – Buenos Aires Hatte Mendizábal, der nie französischen Boden betrat, Anfang des Jahrhunderts mit Le petit Parisien bereits einen Tango geschrieben, der der Stadt an der Seine ge-widmet war (vgl. Zalko 2004, 38), so gehörte Villoldos choclo zu den ersten Tangos, die 1906 Frankreich erreichten, sei es nun durch argentinische Matrosen oder durch französische Geschäftsreisende, die in Buenos Aires die Nachtclubs frequentiert und sich mit Partituren versorgt hatten. Bereits 1907 reiste Villoldo zusammen mit dem Ehepaar Alfredo Gobbi und Flora Rodríguez de Gobbi seinen eigenen Tangos hinterher. Das Trio gehörte zu den ersten, die über Plattenaufnahmen mit re-nommierten Orchestern den Tango in Paris gesellschaftsfähig machten (vgl. ibd., 53-55). Während Villoldo nach Buenos Aires zurückkehrte, blieben die Eheleute Gobbi dort sieben Jahre, verdingten sich als Tanzlehrer und trugen dazu bei, dass der Tango in Paris zum Modetanz der Oberschicht avancierte: zum Schrecken der argentinischen Eliten übrigens, wie der vielzitierte20 Ausspruch des argentinischen Botschafters in Paris, des Literaten Enrique Larreta, belegt. Auf die Frage, warum er bei Botschaftsfesten keine Tangos spielen lasse, antwortete Larreta:

El tango es en Buenos Aires una danza privativa de las casas de mala fama y de los bodegones de la peor especie. No se baila nunca en los salones de buen tono ni entre personas distinguidas. Para los oídos argentinos la música del tango despierta ideas realmente desagradables. No veo diferencia alguna entre el tango que se baila en las academias elegantes de París y el que se baila en los bajos centros nocturnos de Buenos Aires. Es la misma danza, con los mismos ademanes y las mismas contorsiones. (bei Sábato 2005, 112)

Gerade die letzte Passage bezeugt ein profundes Missverständnis kultureller Transkriptionen. Der gleiche Tango, wird er in einem Pariser Salon oder in einem

20 Vgl. Zalko 2004, 76.

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Bordell in Buenos Aires getanzt, ist ein je anderer. Der jeweilige Ort, als geo-graphischer wie sozialer, verleiht ihm seine Bedeutung. Während der Tango in Buenos Aires mikrotopologisch den suburbios zugewiesen wird, steht er makro-topologisch in Paris für die argentinische Hauptstadt und damit für das ganze Land.

Um in Paris spielen zu können, hatten sich die Tango-Orchester zu verkleiden und Gaucho-Kostüme zu tragen:

Les musiciens […] se présentèrent vêtus en gauchos, comme l’exigeait le Syndicat des musiciens français, car pour pouvoir jouer, les orchestres étrangers devaient apparaître avec les costumes traditionnels de leur pays. Cette habitude, ou cette obligation, accompagna les orchestres de tango pratiquement jusqu'à la Seconde Guerre mondiale […] « Je n’ai jamais vu autant de gaucho qu’à Paris » disait Discépolo […] Le gaucho – homme de la campagne, de cheveux et de vaches – n’avait pas grand-chose á voir avec le tango, musique de la ville par excellence. Mais pour les Français, les deux se mêlaient… (Zalko 2004, 114f.)

Dass diese Verkleidung von den Musikern als lächerlich empfunden wurde, auch und gerade, wenn sie Stücke wie El choclo intonierten, zeigt die Fiktivität, die der Pampa-Evokation vieler Tangos anhaftet. Villoldos ursprünglicher Text, lassen wir einmal die obszönen Doppeldeutigkeiten unanalysiert, beschreibt ein ländliches Szenario:

De un grano nace la planta que más tarde nos da el choclo por eso de la garganta dijo que estaba humilloso. Y yo como no soy otro más que un tanguero de fama murmuro con alborozo está muy de la banana. Hay choclos que tienen las espigas de oro que son las que adoro con tierna pasión, cuando trabajando llenito de abrojos estoy con rastrojos como humilde peón. De lavada enrubia en largas quedejas contemplo parejas si es como crecer, con esos bigotes que la tierra virgen

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al noble paisano le suele ofrecer.21

Enrique Santos Discépolo schreibt 1947 einen neuen Text, der heute im Allge-meinen zu diesem Tango gesungen wird und der gleichsam eine fragmentarische Synthese der Topographie des Tangos liefert:

Con este tango que es burlón y compadrito se ató dos alas la ambición de mi suburbio; con este tango nació el tango, y como un grito salió del sórdido barrial buscando el cielo; conjuro extraño de un amor hecho cadencia que abrió caminos sin más ley que la esperanza, mezcla de rabia, de dolor, de fe, de ausencia llorando en la inocencia de un ritmo juguetón. […] Carancanfunfa se hizo al mar con tu bandera y en un pernó mezcló a París con Puente Alsina. Triste compadre del gavión y de la mina y hasta comadre del bacán y la pebeta. Por vos shusheta, cana, reo y mishiadura se hicieron voces al nacer con tu destino... ¡Misa de faldas, querosén, tajo y cuchillo, que ardió en los conventillos y ardió en mi corazón.22

Discépolo beschreibt die fatalistische Großspurigkeit, mit der sich der Tango aus der Enge der suburbios befreit und sich durch die Stadt eine Schneise bahnt. Eine Schneise, die nicht in den Himmel, sondern über das Meer führt und dabei den Nicht-Ort seines Ursprungs mit der Stadt des Lichts in einem Drink verrührt, eine räumliche Spannung inkorporiert, deren groteske Gegensätze unüberbietbar scheinen: die Weltstadt im Zentrum Europas und der schäbige Vorort am Südende von America, die Spelunken am Riachuelo, die Salons an der Seine. Es handelt sich dennoch um eine fragmentarische Synthese, die eines Palimpsests gleich auf dem fröhlich-obszönen Landlied aufruht, das weite Hinterland vergessen lässt und eine wenn auch melancholiegetränkte Unidirektionalität beschwört.

Was Discépolos Choclo offen lässt, ist die Rückkehr des Tangos und seiner Protago-nisten. Hinsichtlich der tangueros criollos beschreibt Carlos Lenzi 1930 in seinem Tango Araca París sarkastisch, dass auf die Goldgräberstimmung des Aufbruchs in der Stadt der Illusionen bisweilen nur allzu schnell eine enttäuschte Heimkehr folgte:

21 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=595 (13.08.2010) 22 Romano 2000, 372.

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Pianté de Puente Alsina para Montmartre, que todos me batían, pa m'engrupir: "Tenés la pinta criolla p'acomodarte con la franchuta vieja que va al dancing... ¿Qué hacés en Buenos Aires? ¡No seas otario! Amurá esas milongas del Tabarís... Con tres cortes de tango sos millonario... ¡Morocho y argentino! ¡Rey de París!" ¡Araca París! ¡Salute París! Rajá de Montmartre, piantate, infeliz. Si vas a París no vas a morfar: no hay minas otarias y hay que laburar. Volvete p'al barrio y tendrás milongas; milongas diqueras que saben amar. ¡Araca París! ¡Salute París! Rajá de Montmartre; piantate, infeliz. Agarré tren de lujo, loco'e contento: —bon soir, petite je t'aime, tu es mon cocó— con una gorda tuerta con mucho vento que no me dio ni medio y me amuró... Tiré la bronca y, guapo, por darme corte, un tortazo en la ñata se le incrustó: comisaría, jueces y un pasaporte... y terminó mi historia de gigoló.23

Wenn der Tango nach seinem Pariser Abenteurer nach Buenos Aires zurückkommt und nunmehr in den höchsten Kreisen verkehrt, so ist dies nicht allein einer franko-philen Oberschicht zu verdanken, die begierig sich einverleibt, was in Paris reüssiert. Selbstredend waren die besseren Kreise gut vorbereitet. Das Französische war in den Familien der Oberschicht Umgangssprache, doch wurde, man verzeihe diese Zote, die lengua francesa in allen gesellschaftlichen Schichten geschätzt. Französische Prostituierte erzielten in Buenos Aires die höchsten Einnahmen, das

23 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=1315 (13.08.2010)

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fünffache des Tageslohns eines einfachen Arbeiters. Französinnen zu imitieren, war somit ein klassenüberschreitendes Unterfangen (vgl. Guy 2001, 17-54).

Echte und falsche Französinnen bevölkerten die Cafés Concert der Vorstädte wie die feinen Etablissements des Zentrums. Als Musen des Tangos unsicherer Herkunft initiieren sie imaginäre Schrittfolgen, die gleichermaßen zwischen Paris und den La-Plata-Metropolen und zwischen armer Vorstadt und reichem Zentrum, sozialem Aufstieg und Absturz oszillieren. So heißt es in Recuerdo (1924) von Eduardo Moreno (Musik: Osvaldo Pugliese):

Embriagada Mimí que llegó de París, siguiendo tus pasos la gloria se fue de aquellos muchachos del viejo café Quedó su nombre grabado por la mano del pasado en la vieja mesa del café del barrio sud, donde anoche mismo una sombra de ayer, por el recuerdo de su frágil juventud y por la culpa de un olvido de mujer durmióse sin querer en el Café Concert.24

Ob jene Mimí „del café del barrio del sud“ tatsächlich je französischen Boden be-treten hat und wohin die Schritte ihrer Verehrer führten, außer ins Verderben, bleibt in Morenos Tango der Imagination anheim gestellt. Desillusionierender beschreibt Celedonio Flores die auf das Französische fixierte Bewegung in Margot (1919):

Se te embroca desde lejos, pelandruna abacanada, que has nacido en la miseria de un convento de arrabal... Porque hay algo que te vende, yo no sé si es la mirada, la manera de sentarte, de mirar, de estar parada o ese cuerpo acostumbrado a las pilchas de percal. Ese cuerpo que hoy te marca los compases tentadores del canyengue de algún tango en los brazos de algún gil, mientras triunfa tu silueta y tu traje de colores, entre el humo de los puros y el champán de Armenonville. Son macanas, no fue un guapo haragán ni prepotente ni un cafisho de averías el que al vicio te largó...

24 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=362 (13.08.2010)

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Vos rodaste por tu culpa y no fue inocentemente... ¡berretines de bacana que tenías en la mente desde el día que un magnate cajetilla te afiló! Yo recuerdo, no tenías casi nada que ponerte, hoy usas ajuar de seda con rositas rococó, ¡me reviente tu presencia... pagaría por no verte... si hasta el nombre te han cambiado como has cambiado de suerte: ya no sos mi Margarita, ahora te llaman Margot! Ahora vas con los otarios a pasarla de bacana a un lujoso reservado del Petit o del Julien, y tu vieja, ¡pobre vieja! lava toda la semana pa' poder parar la olla, con pobreza franciscana, en el triste conventillo alumbrado a kerosén25

Die Musik stammt von José Razzano und Carlos Gardel. Gardel, vermutlich als Charles Gardès in Toulouse geboren und in Buenos Aires aufgewachsen, verlegte später seinen Geburtsort nach Uruguay, wohl um mit dem entsprechenden Pass der Strafverfolgung zu entgehen, da er trotz Wehrpflicht für Auslandsfranzosen nicht gedacht hatte, für Frankreich in den Weltkrieg zu ziehen (vgl. Salas [1986] 2004, 168-177; Barsky/Barsky 2004, 279-300). Ob nun in Frankreich oder Uruguay ge-boren, der francesito wurde zu einer Identifikationsfigur der argentinischen Gesell-schaft, mit der bestenfalls noch Evita Perón und Diego Maradona konkurrieren.

Der francesito Gardel und María La Vasca, die Puffmutter aus dem französischen Baskenland: Der Tango trug seine französische Entwurzelung in sich, als er sich auf den Weg nach Paris machte. Wo immer man ihn festhalten will, sei es in den suburbios von Buenos Aires oder Montevideo, sei es im Zentrum der Metropolen: er ist immer bereits einen Schritt darüber hinaus. In der Zeitschrift P.B.T. heißt es am 22.09.1913 über den Tango in Paris:

… aun cuando los bailarines anuncian a sus espectadores que van a bailar un tango »tal como se baila en los salones aristocráticos«, resulta que ellos le han añadido y le han quitado todo su sabor, hasta el extremo de que avergonzaría bailarlo de este modo a cualquiera de nuestros más acreditados orilleros. Ante este tango novísimo, ese tango de nuestros peringundines, con el corte y quebrada de las tangueras más castizas, viene a ser poco menos que una antigualla al lado de los pasitos graciosos, de las filigranas, de los revoloteos de las tangueras parisenses, que lo bailan al chantilly, en sustitución de la ginebra de los bailongos criollos. (Bei Salas 2004: 117)

25 Romano 2000, 34f.

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Mit grazilen Sahne-Schritten emanzipiert sich der Tango vom altbewährten alkohol-schwangeren Trott der orilleros. Eine Transkription die in der nostalgischen Re-konstruktion ihres Präskripts einer Geschmacksverirrung gleichkommt. In einem Artikel des Figaro liest man 1914:

De très nombreux Portègnes se sont rendus dernièrement à Paris, aussi désireux d’enseigner le véritable tango que de tirer de leur noble profession célébrité et profit. Effort inutile. Les parisiens n’admettent comme « tango argentin » que celui qu’ils sont inventé. Si on les pousse à bout, ils diront que la danse préférée de nos compatriotes errants n’est qu’une pâle imitation de « leur tango » (Bei Zalko 2004, 75f.)

Das Transkript überschreitet das Präskript, das gleichwohl erst im Transkript wahr-genommen wird, ihm wie ein fader Nachgeschmack anhaftet und wie eine ver-bleichende Spur eingeschrieben ist. Der Tango wird »tango argentin«, indem er sich in Paris verändert: er bewegt sich in einem Dazwischen, in einer Kette von Transkriptionen, die seinen Ursprung in einem Dreieck zwischen Buenos Aires, Montevideo und Paris gleichermaßen beschwören und in der Unmöglichkeit eines jeden Anfangs notwendig verfehlen.

3 Von der Stimme des Tangos zur Stimme im Tango Die Bewegung des Tango, materialisiert in Form von Schritten, ist eine von mannig-faltigen Transkriptionen gekennzeichnete, soviel sollte schon deutlich geworden sein. Den Tango aber nur in seinen (Tanz-)Schritten, zu sehen, wird dem Transkribendum nicht gerecht. Tango ist immer auch und insbesondere in Buenos Aires und Uruguay und nicht zuletzt in Paris, Gesang! Der Tango ist Lied, er hat Stimme. Wenn gemeinhin in der Literatur zum Tango von der Stimme gehandelt wird, steht der Tangosänger im Fokus der Aufmerksamkeit und oftmals ist es jener eine Tangosänger, auf den wir schon rekurriert haben: Carlos Gardel – die Stimme des Tangos. Weit weniger Aufmerksamkeit hat bisher ein Phänomen auf sich ge-zogen, das in der Perspektive der Migrationen des Tangos und seinen vielgestaltigen Transkriptionen ungleich feiner und faszinierender ist – die Stimme IN der Stimme. Im Tangolied finden sich nicht selten Berichte, in denen das, was jemand einst sagte, nicht in indirekter, sondern in direkter Rede wiedergegeben wird. Im Moment der Aufführung des Tangoliedes animieren die Sänger die ‚fremden Worte’ als ‚fremde Stimmen’, so dass gleichsam durch die Stimme des Sängers weitere Stimmen hörbar werden.

3.1 Polyphonie und Animierung: Stimmwiedergabe im Tangolied

Viele Tangolieder – insbesondere solche der frühen Jahrzehnte – enthalten Passagen der direkten Rede. Nicht selten werden Dialoge zwischen Mann und Frau angeführt,

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in deren Wiedergabe allein sich die Szene konstituiert. Eine solche prototypische Szene ist etwa im Tango El último café (Text Cátulo Castillo; Musik: Héctor Stamponi) beschrieben: es geht um jenen letzten Kaffee, den die ehemals Liebenden trinken, während ihre Beziehung mit einem einzigen Satz endet. In der Erinnerung des Mannes, dem der jeweilige Tangosänger seine Stimme leiht, ist gleichsam die Stimme der Frau noch einmal zu hören, als sie ihm dereinst eröffnete: „Lo nuestro terminó.“

El último café Llega tu recuerdo en torbellino, vuelve en el otoño a atardecer miro la garúa, y mientras miro, gira la cuchara de café. Del último café que tus labios con frío, pidieron esa vez con la voz de un suspiro. Recuerdo tu desdén, te evoco sin razón, te escucho sin que estés. "Lo nuestro terminó", dijiste en un adiós de azúcar y de hiel... ¡Lo mismo que el café, que el amor, que el olvido! Que el vértigo final de un rencor sin porqué... Y allí, con tu impiedad, me vi morir de pie, medí tu vanidad y entonces comprendí mi soledad sin para qué... Llovía y te ofrecí, ¡el último café!26

26 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=87 (13.08.2010)

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Es geht uns nun darum zu betonen, dass nicht nur der Inhalt der einschneidenden Aussage wiedergegeben, sondern der Sprechakt selbst reanimiert wird: wir hören die Frau selbst sprechen, hören ihre Stimme.

Diese re-inszenierten Momente können auch die Stimmen beider Protagonisten enthalten, wie in dem Tango Madame Julié: Der Ich-Erzähler, dem der Sänger seine Stimme leiht, stilisiert sich als älterer, standhafter Herr, der durch die offensichtliche französische Herkunft der hilfebedürftigen „Madame“ erweicht wird. Der Tango evoziert einen auf Paris ausgerichteten rioplatensischen Kulturraums, insofern als die Frauenfigur der Unterstützung für eine Reise nach Uruguay, an das gegenüber-liegende Ufer des Río de la Plata, benötigt:

MADAME JULIE Fui presentado esta mañana a una dama en Leandro Alem, de unos cuarenta, oxigenada, y se llamaba Madame Julié. Me habló de Grecia y de California y que era oriunda del gran París, llevaba encima tapao de armiño y se hospedaba en el City Brill. En tren de confidencia, la francesita me habló de mucha guita para entregar a un pariente que la fulana dijo tenía en La Paternal. Y como se ausentaba urgentemente a la vecina orilla del Uruguay no tenía tiempo ya disponible para llegarse hasta aquel lugar.27

Der Mann ist nun keineswegs das unschuldige Opfer. Er selbst entstammt der Halbwelt, die sich das Betrügen zum Beruf gemacht hat, nur wird seinerseits – und hier verbinden sich der männliche und der weibliche Soziotyp – von einer französisch ihm anmutenden Frau, die an seine Beschützerrolle appelliert, betrogen. 28 Die Animierung der sprechenden Figuren geschieht in einer französisierenden und souverän-männlichen Stimmfärbung, die sein „Mach Dir keine Sorgen“ mit der Apostrophe „Madame“ verbindet:

27 http://www2.informatik.uni-muenchen.de/tangos/msg02476.html (23.02.2009) 28 Das Motiv des betrogenen Betrügers ist bereits aus dem Sainete Criollo bekannt (vgl.

Casadevall 1957: 103ff.).

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No se preocupe, madám, por eso, yo le suplico; confié en mí. Ella me dijo: sin garantía? Yo le daría un cinco mil. Corriendo a casa fui a buscarlos y muy contento yo se los di29

Die re-animierten Stimmen können allerdings nicht jedes Mal einer (El último café) oder zwei (Madame Julie) zu benennenden Person/en zugeordnet werden. Vielmehr ist es bisweilen ein Stimmgemurmel, das erneut beschworen und inszeniert wird, so etwa im Se dice der Milonga Se dice de mi (Text: Ivo Pelay; Musik Francisco Canaro), auf die gleich noch ausführlicher einzugehen sein wird:

Se dice que soy fiera, Que camino a lo malevo, Que soy chueca y que me muevo30

Wenn die Stimme in der sprachwissenschaftlichen Untersuchung noch als eines der selten bearbeiteten Themen gelten kann, dann aus dem Grunde, dass sie zentraler Gegenstand der in Deutschland nur an wenigen deutschen Universitäten be-heimateten Sprechwissenschaft ist. Sprachwissenschaftlicher common sense ist es, davon auszugehen, dass die Stimme an die origo des Sprechens im Sinne Bühlers ([1934] 1978) gebunden ist, die den Ausgangspunkt eines dreidimensionalen Koordinatensystems mit den Achsen Person, Raum und Zeit bildet. Stimme – so scheint es – ist prototpyischerweise am präsentischen Nullpunkt des Sprechens zu verorten. Doch u.E. ist die wiedergegebene Stimme im Tangolied auf allen drei Achsen des Koordinatensystems, d.h. im Bezug auf das ego, hic und nunc des Sprechens, als origo-distant zu verstehen. Diese Annahme soll in drei Teil-hypothesen zur personalen, räumlichen und temporalen Deixis im Folgenden näher in den Blick genommen werden.

3.2 Wer spricht? Nicht ich! Von Stimmen ohne Körper So spricht etwa in Ivo Pelays Se dice de mí (1943) die Sängerin von sich als Frauen-typus. Gesungen wurde diese Milonga kurioserweise zuerst von Carlos Roldán in einer männlichen Fassung. Berühmt geworden ist jedoch die Version von 1955, die Tita Merello (1904-2002) gleichsam als Ikone des Tangoliedes ziert wie der Tango Volver Carlos Gardel, bei aller geschlechtsspezifischen Differenz nicht zuletzt hinsichtlich des internationalen Renomées.

29 http://www2.informatik.uni-muenchen.de/tangos/msg02476.html (23.02.2009) 30 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=1294 (13.08.2010)

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Se dice de mí, Se dice de mí. Se dice que soy fiera, Que camino a lo malevo, Que soy chueca y que me muevo Con un aire compadrón…31

Besungen wird hier der Typus der nicht wirklich weiblichen Frau, die aber trotz ihrer männlichen Attribute (a lo malevo, con un aire compadrón) durch ihren Charme den Männern den Kopf verdreht. Spricht die Dame – öffentlich – mit einem der Verehrer, typisiert als Luis, Pedro oder Juan, sprechen alle anderen Männer über sie:

Si charlo con Luis, con Pedro o con Juan, Hablando de mí los hombres están Critican si ya la linea perdí Se fija si voy, si vengo, o si fui.32

Tita Merello singt hier zwar in der ersten Person, die Stimmen aber der Männer klingen nach in einer Bakhtinschen Polyphonie. 33 In den wiedergegebenen Äußerungen der beobachtenden Männer sind Spuren fremder Stimmen zu hören! Das Gemurmel an der Theke, am Rande einer Tanzfläche, auf den Straßen, dies ist es, was hier inszeniert wird: das, wie die Leute sagen. Festzuhalten ist, dass die Stimme gerade nicht an ein leibhaftiges Ego rückgebunden wird, um etwa eine Form der Authentifizierung zu erreichen. Soll der Befund am Exemplum Se dice ver-allgemeinert werden, so kann die These wie folgt lauten:

THESE A: Die animierte Stimme im Tangolied soll nicht authentifizieren, indem sie auf eine leibkörperliche Individualität eines EGO zurückweist, die historisch einmalig auffindbar wäre. Im Gegenteil: durch Stilisierung wird einer Typisierung Vorschub geleistet, die sich in den Wiederaufführungen in Buenos Aires, Montevideo oder Paris je eigen aufladen und weiterentwickeln kann.

Aus der Überlagerung in der Wiederaufführung entsteht ein Stilisierungseffekt im Sinne von Sandig/Selting (1997), der zur Fremd- und Selbstpositionierung (Lucius-Hoene/Deppermann 2005, Renner/Laux 2003) genutzt werden kann, so dass der Rekonstruktion der verschleierten Personenreferenz eine wichtige Rolle zukommt.34

31 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=1294 (13.08.2010) 32 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=1294 (13.08.2010) 33 Zur sprechwissenschatlichen Relevanz des Polyphonie-Gedankens (Bakhtin 1981;

Bakhtin 1990) siehe Günthner 1997. 34 Siehe hierzu in jüngerer Zeit die Arbeiten von Levinson 2007, Siewierska 2004 und

Stivers/Enfield/Levenson 2007.

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Ein methodischer Zugriff auf Stimmstilisierungen besteht im Rahmen der Inter-aktionalen Stilistik,35 die auf die Bestimmung kommunikativer Stile in dialogischen Situationen ausgerichtet ist. Mit Sandig/Selting (1997, 6) kann Stil gefasst werden als „aktiv hergestelltes, flexibles, dynamisches, auf den Zuhörer/Rezipienten in der Situation zugeschnittenes sprachliches Gestaltungsmittel“.

Die Singstimme des Tangos stilisiert Figuren, sie animiert dabei ein Ich, ein Du oder eine dritte Person bzw. mehrere dritte Personen. Entscheidend im Rahmen einer Transkriptionstheorie ist nun, dass die Stilisierung nicht unbedingt ein Original benötigt. Zitiert wird vielmehr samt eigener und fremder Stimmqualität in Über-lagerung etwas, das (möglicherweise) nie (so) gesagt wurde.36 Allein Spuren einer Leiblichkeit sind noch aufzufinden. Diese Spuren verweisen zurück auf die Körperlichkeit,37 können eine leichte Veränderung in Stimmspannung, Stimmhöhe oder Stimmdruck sein, Techniken, die im Sinne von Genderstilisierungen genutzt werden.

Es können aber auch Ethnostilisierungen vorkommen, wie in dem bereits zitierten Tango Margot: in der Singzeile „ahora te llaman Margot“ wird ephemer die Apostrophe „Margot“ in einer ironisierend-französierenden Weise ausgesprochen. Entscheidend ist nicht, ob das genau in dieser Form damals von der Bezeichneten oder ihrem Umfeld getan wurde, sondern vielmehr, dass die Hörer diese stimm-lichen Kennzeichnungen als Überzeichnungen, d.h. als Stilisierungen, wieder-erkennen.

3.3 Wo erklang die Stimme? Nicht hier! Phantasmagorische Stimmräume

Der Verlust der Vergangenheit (der fernen Kindheit, der geliebten Frau, der fürsorg-lichen Mutter, des Herkunftslandes) und schließlich gar der Erinnerung an diese Vergangenheit wird in vielen Liedern verdichtet an einem Ort der Begegnung. Diese Orte, an denen man die Stimme des anderen ein letztes Mal gehört hat, sind dann typischerweise Brücken (wie in Puente Alsina), esquinas (wie z.B. in dem weiter unten noch zu besprechenden Tango Balada para mi muerte) oder Bars (wie in dem bereits oben zitierten und gleich noch näher zu behandelnden Tangolied Recuerdo).

Stimme ist nicht verortbar, es sei denn im Sinne Bühlers als phantasmatische Deixis, im Modus also des abwesend Erinnerten. Stimme in Tangoliedern ist sehr oft die

35 Siehe den schon zitierten Beitrag von Sandig/Selting 1997 sowie Günthner 2002. 36 Vgl. Sams 2007. 37 Zur Rückbindung der medialen Transkription an den Körper, siehe Borsò (in diesem

Band).

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verklingende, die nun nicht mehr zu hörende Stimme: es geht mit ihr das Schwinden des alten Lebens einher:

RECUERDO Ayer cantaron poetas y lloraron las orquestas, en las suaves noches del ambiente del placer donde la bohemia y la frágil juventud aprisionadas a un encanto de mujer se marchitaron en el bar del Barrio Sud, muriendo de ilusión, muriendo su canción… Mujer de mi poema mejor; mujer, yo nunca tuve un amor. Perdón, si eres mi gloria ideal; perdón, serás mi verso inicial. Y la voz en el bar siempre se apagó; motivo sin par nunca más se oyó.38

Ebenso wie die Personalisierung (die Rückbindung an ein Ego) eine vermittelte und stilisierte ist, ist auch die Verortung der Stimme in einem hic für die Tangolieder gerade nicht wörtlich zu nehmen. Dem sprachwissenschaftlichen common sense zufolge kann jede Handlung des Sprechens an einen Sprechakt, der räumlich klar zu situieren ist, zurückgebunden werden. Werden in den Tangoliedern Orte evoziert, an denen ein Sprechakt stattgefunden hat oder – wie hier in phantasmatischer Deixis – haben wird, so sind dies jedoch gerade noch oder fast schon nicht mehr erinnerte Orte. Dies lässt sich etwa an Horacio Ferrers Balada para mi muerte (Musik: Astor Piazzolla) zeigen:

BALADA PARA MI MUERTE Moriré en Buenos Aires, será de madrugada, guardaré mansamente las cosas de vivir, mi pequeña poesía de adioses y de balas, mi tabaco, mi tango, mi puñado de esplín. Me pondré por los hombros, de abrigo, toda el alba, mi penúltimo whisky quedará sin beber, llegará, tangamente, mi muerte enamorada, yo estaré muerto, en punto, cuando sean las seis. Hoy que Dios me deja de soñar,

38 http://www2.informatik.uni-muenchen.de/tangos/msg03544.html (13.08.2010)

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a mi olvido iré por Santa Fe, sé que en nuestra esquina vos ya estás toda de tristeza, hasta los pies. Abrazame fuerte que por dentro me oigo muertes, viejas muertes, agrediendo lo que amé. Alma mía, vamos yendo, llega el día, no llorés. Moriré en Buenos Aires, será de madrugada, que es la hora en que mueren los que saben morir. Flotará en mi silencio la mufa perfumada de aquel verso que nunca yo te supe decir. Andaré tantas cuadras y allá en la plaza Francia, como sombras fugadas de un cansado ballet, repitiendo tu nombre por una calle blanca, se me irán los recuerdos en puntitas de pie.39 (Horacio Ferrer)

Nicht nur der Baudelairesche Spleen („esplín“) der ersten Strophe, sondern auch das Ziel der nächtlichen Wanderung: die im vornehmen Viertel Recoleta gelegene „plaza Francia“ und das dort schattengleich tanzende phantasmagorische Ballett, das die Erinnerungen an die Kindheit in Frankreich in die (vom Ballett) müden Fuß-spitzen schießen lässt, sind sprechend.

Diese Orte verbindet, dass sie konstitutiv für die Bildung des barrio sind; es handelt sich zugleich um Orte, die zwischen Welten zu liegen scheinen und häufig einen räumlich der Realität entrückten (phantasmagorischen) und also nicht nur zeitlich entrückten (phantasmatischen), mithin sehr gut stilisierbaren Charakter haben. Ver-allgemeinernd lässt sich hieraus eine zweite Hypothese ableiten:

THESE B:. Stimme kann nicht zurückgebunben werden an den Sprechakt als eine einmalig lokalisierbare, also im Wortsinne verortbare Erfahrung in einem HIC. Vielmehr sind die Orte, an denen die Stimme vermeintlich zu hören war, selbst Orte des Übergangs.

39 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=174 (13.08.2010)

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3.4 Wann wurde gesprochen? Nicht jetzt: Zeitverschiebungen in der Deixis am Phantasma

Die Stimme im Tango ist auch nicht, so möchten wir abschließend zeigen, an einen in der Chronologie verankerbaren Sprechmoment zurückzubinden. Derrida hat in La Voix et le phénomène (1967), seiner Schrift über Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins ([1928] 1980), ebenso wie in jüngster Zeit noch einmal Waldenfels (2006), darauf abgehoben, dass die Stimme immer als eine erst vom Hörer wahrgenommene und mithin in Produktion und Rezeption ver-setzte, d.h. verzeitlichte, Erfahrung gelten muss. Kurz gesagt: Stimme ist nicht als ein Jetztpunkt zu fassen. Auch das mit dem vermeintlichen Augenblick assoziierte Ephemere der Stimme verzeitlicht sich durch die Iteration der Erinnerung. Stimmen begegnen uns – das zeigen exemplarisch die Tangolieder – als erinnerte, wieder-erzählte oder besser wiederaufgeführte Stimmen. Für die Tangolieder sind im Hinblick auf die bühnenbegrenzten Wiederaufführungen die medialen Gestaltungs-mittel zu berücksichtigen. Die dialogische Situation ist eine inszenierte, publikumsbezogene, also stark mediengebundene40. Dies gilt nicht nur für das Tangolied.

Günthner (2002, 61) zeigt, dass bei solchen Inszenierungen die Überzeichnungen eine große Rolle spielen; es kommt zu einer „punktuelle(n) Überhöhung bestimmter Gestaltungsverfahren zur Kontextualisierung einer spezifischen sozialen Orien-tierung auf die portraitierte Figur beziehungsweise deren (kommunikative) Handlung“. Damit also Stimmen in der Wiederaufführung wiedererkannt werden, ist eine Stilisierung vonnöten. Die Stimme erscheint durch die verändernde, stili-sierende Wiedergabe verfremdet. Diese Verfremdungstechniken (i.d.R. durch Überzeichung der Parameter Stimmdruck und Stimmhöhe) ist bei Günthner für Alltagsgespräche vorgeführt worden, gilt aber in analoger Weise auch für die Auf-führungen der Tangolieder. Mit einem Unterschied: die stilisierende Animierung von Stimmen ist stärker als im Alltagsgespräch mit Typisierungen verbunden, wie die folgenden Ausführungen zu belegen versuchen.

Der Tango Margot ist bereits oben in raumtheoretischer Perspektive beschrieben worden. Die Transformation vom Vorstadtmädchen zur französischen Lebedame vollzieht sich über einen Umbenennungsakt. Wird der Aufstieg in die Glitzerwelt des Zentrums als moralischer Abstieg in Verantwortung der Protagonistin gestellt („Vos rodaste por tu culpa y no fue inocentemente“), so erfolgt die Umbenennung gleichsam als eine Berufung durch die Stimmen der anderen: „hasta el nombre te 40 So gesehen indizieren Stilisierungen im Sinne von Gumperz 1982 Kontextualisierungen,

die nur mit Bezug auf die in der historisch verorteten, sozialen Interaktion mit ihren Erwartungen und Erwartungserwartungen gedeutet werden können.

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han cambiado como has cambiado de suerte: ya no sos mi Margarita, ahora te llaman Margot“. Jedoch ist es nicht die Apostrophe als solche, die stimmtheoretisch von Interesse ist. Es geht vielmehr darum, wie diese Apostrophe im Tangolied mit Spuren der leibgebundenen Stimme realisiert wird: sie erscheint alltags-satirisch in Form einer stimmlichen Stilisierung des Französischen im Argentinischen.

Hier nun sind die vormals (angeblich) Sprechenden nicht mehr so leicht konkreten Figuren zuzuordnen, d. h. es gibt eine merkliche Distanz zu Sprechquelle, zur originär substituierten körperlichen Stimme. Es ist die plurale Figur der „Leute“ die hier inszeniert wird. Man sagt, und das heißt dann: „es hat gesprochen/ es spricht“. Im Spanischen als so genannte pro-drop Sprache ist hier die Formel “dicen que dicen” (‘man sagt, dass man sagt’; wörtlich ‘(sie) sagen, dass (sie) sagen’) be-zeichnend, sowohl mit Bezug auf die Unterspezifizierung der Agentes als auch hin-sichtlich der doppelten Brechung (andere sagen, dass… andere sagen), also der Abstufung der Nachricht in die „dritte“ Hand. Man erzählt sich, nur das zählt, im Stadtviertel oder in der Vorstadt, und man erzählt sich, dass jemand sich als der oder jener Typ inszeniert. Dies sei noch einmal an einer Passage aus dem Tango Audacia von Celedonio Flores (Musik: Hugo La Rocca) gezeigt.

AUDACIA Me han contado, y perdoname que te increpe de este modo que la vas de partenaire en no sé qué bataclán, que has rodao como un potrillo que lo pechan en el codo, engrupida bien debute por la charla de un bacán. 41

Für unsere Untersuchung ist nun entscheidend, dass diese Benennungen oder Kategorisierungen in vielen Tangoliedaufführungen mit einer eigentümlichen Wort-prosodie realisiert werden, in der man ein vielstimmiges – dabei tendenziell ab-schätziges – Sprechen wiederzuhören scheint. Der Nachklang der Stimmen, die ‚so’ sprechen, ist gänzlich zeitentbunden:

THESE C: Bei der Wiedergabe der Stimme in der Stimme im Tangolied geht es nicht um ‚Verlebendigung’. Der Hörer des Liedes soll nicht den Moment re-identifizieren, an dem jemand jemandem etwas gesagt hat; er soll sich nicht in ein gewesenes NUNC, in dem man die Stimme einst hörte, zurückversetzen. Die wiederaufgeführten Stimmen sind zeitentbunden.

41 http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=198 (13.08.2010)

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3.5 Tango ist, wenn Stimmen in Stimmen wiederaufgeführt werden

In den vielfachen Wiederaufführungen der Tangolieder verändern sich im Zuge jener für den Tango so charakteristischen Variation in Wörtern, Versen und Strophen auch diese Stimmen in der Stimme, sedimentieren, werden zu Typisierungstechniken für bestimmte Figuren. Die reine Apostrophe als ‚Margot’ oder ‚Malevo’ evoziert dann einen Gender- oder Soziotyp. Dennoch enthält die Apostrophe noch Spuren von Stimmstilisierungen.

Die Frage danach, in welcher Weise diese Spuren sich zwischen Buenos Aires, Montevideo und Paris verändern, und ob dies etwas zur Verfestigung der bekannten Typisierungen beigetragen hat, kann hier noch nicht abschließend beantwortet werden. Es handelt sich um eine Forschungsfrage, der wir in Zukunft nachgehen werden. Bei der Untersuchung der Stimme im Tangolied wären drei Transkriptions-tätigkeiten zu identifizieren: eine Herangehensweise, die versuchen würde, das stimmliche Original zu suchen, und somit danach fragte, wer eigentlich zitiert, welches Individuum erneut zum Sprechen gebracht werde, wäre naiv. Im Tangolied wird etwas wiedergegeben, was nie (in dieser Weise), was von niemandem gesagte wurde. Die Herausstellung der Technik des ‚quoting the unspoken’42 korrespondiert mit der Beobachtung, dass wenn in den Tangoliedern der originäre Sprechakt Er-wähnung findet, wenn also gesagt wird, wo einst diese Stimme erklang, Orte gewählt werden, die Orte der Transition sind: jene Brücken und Bars, jene esquinas, die für die barrios konstitutiv sind. Es sind Orte der Begegnung, aber zugleich der Trennung. Geographisch verbleiben sie im Ungefähren. Dieses Ungefähre der Orte hat in den Liedern unterschiedliche Ausprägungen. Manchmal erscheinen die Orte phantasmatisch, d.h. abwesend in der Erinnerung verschwimmend, manchmal ver-orten sie sich phantasmagorisch, d.h. in der Nacht des Schöpferischen.

4 Fazit Der Tango, so versuchten wir zu zeigen, ist in Schritt und Stimme eine originäre Substitution. Er entstammt nicht wie Folklore es tut einem bestimmten Raum in historischer Tiefe, er ereignet sich als Verzeitlichung und Verräumlichung gleicher-maßen. Das macht seinen Migrationsvordergrund aus und erklärt die bis heute un-gebrochene Reihe seiner Transkriptionen. Ob er nun mit Piazzolla auf Klassik und Jazz trifft, mit Juan Carlos Cáceres auf schwarze Karnevalsmusik zurückgreift oder schließlich von Gotan Project in einem Techno-Takt gesamplet wird: Die Achse Paris – Buenos Aires/Montevideo bleibt zentral, aber Ausschläge etwa mit Otros

42 Vgl. Sams 2007.

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Aires nach Barcelona, der Stadt, in der schon Enrique Cadícamo 1931 sein Anclao en Paris schrieb (vgl. Romano 2000, 227), bilden keine Ausnahme.

Wenn seine Präskripte a posteriori in den suburbios von Buenos Aires und Montevideo zu verorten sind, dann deshalb, weil sich an der Peripherie der Moderne in den Mietskasernen jener Metropolen gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Schar Entwurzelter dreier Kontinente zusammendrängte. Aus der Erinnerung an und dem Kampf um fiktive wie reale Zeit-Räume entstand eine Oszillationsbewegung, die den Tango als Aussage der Sprecher-Origo entrückt, ihn über den La-Plata-Raum hinausschlagen lässt und ihn gleichwohl stetig dorthin zurückführt.

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Abbildungen Abb. 1: http://www.lapshin.org/cultivar/N26/PIC/Rio-de-la-Plata.jpg (13.08.2010). Abb. 2: http://www.buenosaires54.com/images/la-boca-buenos-aires-map.jpg

(13.08.2010).