das ist der vierte weltkrieg

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das ist der vierte weltkrieg Jean Baudrillard Biografie Jean Baudrillard; *Reims, Marne 20. Juli 1929; französischer Soziologe, Philosoph, Literaturkritiker, Übersetzer, Schriftsteller und Fotograf ¯˚20.7.1929 Geboren in Reims. Lebt in Paris, Studium der Germanistik an der Sorbonne in Paris, ˚1958-1966 Professeur für Deutsch am Lycée sowie Literaturkritiker und Übersetzer. Daneben Studium der Philosophie und Soziologie in Paris. ¯˚1966 Docteur ès lettres (Dr. phil.; Sociologie); Betreuer: Henri Lefebvre (1905-1991); Thèse de troisième cycle: Le Système des objets. ¯˚1966-1987 1966-1970 Maître Assistant, 1970- 1972 Maître de Conférences en Sociologie (Dozent für Soziologie), seit 1972 Professeur (Sociologie) an der Université de Paris-X Nanterre. ¯˚1972 Habilitation mit der Arbeit: L'Autre par lui-même. Außerdem Mitarbeiter des Institut de Recherche sur l'Innovation Sociale des Centre National de la Recherche Scientifique. ¯˚1986-1990 Directeur Scientifique (Wissenschaftlicher Direktor) beim IRIS (Institut de Recherche et d'Information Socio-Économique) an der Université de Paris-IX Dauphine. Lebt heute als Schriftsteller in Paris.

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Page 1: Das ist der Vierte Weltkrieg

das ist der vierte weltkrieg Jean Baudrillard

Biografie Jean Baudrillard; *Reims, Marne20. Juli 1929; französischer Soziologe,Philosoph, Literaturkritiker, Übersetzer,Schriftsteller und Fotograf

¯ 20.7.1929 Geboren in Reims. Lebt in Paris, Studium der Germanistik ander Sorbonne in Paris,  1958-1966 Professeur für Deutsch am Lycéesowie Literaturkritiker und Übersetzer. Daneben Studium der Philosophie undSoziologie in Paris. ¯ 1966 Docteur ès lettres (Dr. phil.; Sociologie);Betreuer: Henri Lefebvre (1905-1991); Thèse de troisième cycle: Le Systèmedes objets. ¯ 1966-1987 1966-1970 Maître Assistant, 1970-1972 Maître de Conférences en Sociologie (Dozent für Soziologie), seit 1972Professeur (Sociologie) an der Université de Paris-X Nanterre. ¯ 1972Habilitation mit der Arbeit: L'Autre par lui-même. Außerdem Mitarbeiter desInstitut de Recherche sur l'Innovation Sociale des Centre National de laRecherche Scientifique. ¯ 1986-1990 Directeur Scientifique(Wissenschaftlicher Direktor) beim IRIS (Institut de Recherche et d'InformationSocio-Économique) an der Université de Paris-IX Dauphine.

Lebt heute als Schriftsteller in Paris.

Page 2: Das ist der Vierte Weltkrieg

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›das ist der vierte weltkrieg‹Jean Baudrillard im Gespräch mit Spiegel Redaktor Romain Leick

Page 3: Das ist der Vierte Weltkrieg

Der französische Philosoph Jean Baudrillard über AmerikasFeldzug gegen den Terrorismus, den Widerstand gegen dieGlobalisierung und die Unbesiegbarkeit des Bösen.

Spiegel: Monsieur Baudrillard, Sie haben die Attentate vom 11.September in New York und Washington als das ›absoluteEreignis‹ beschrieben. Sie haben die USA beschuldigt, durchihre unerträgliche hegemoniale Übermacht den unwidersteh-lichen Wunsch nach ihrer Zerstörung zu wecken. Jetzt, wodie Herrschaft der Taliban kläglich zusammengebrochen ist,Bin Laden nichts mehr als ein gehetzter Flüchtling ist –müssen Sie nicht alles widerrufen?

Baudrillard: Ich habe nichts verherrlicht, niemanden angeklagtund nichts gerechtfertigt. Man darf den Botschafter nicht mitseiner Kunde verwechseln. Ich bemühe mich, einen Prozesszu analysieren: den der Globalisierung, die durch ihre schranken-lose Ausdehnung die Bedingungen für ihre eigene Zerstörungschafft.

Sp : Lenken Sie damit nicht einfach ab von der Tatsache, dassidentifizierbare Verbrecher und Terroristen für die Anschlägeverantwortlich sind?

Bd : Natürlich gibt es handelnde Akteure, aber der Geist desTerrorismus und der Panik reicht weit über sie hinaus. DerKrieg der Amerikaner konzentriert sich auf ein sichtbaresObjekt, das sie zerschmettern möchten. Doch das Ereignisvom 11. September in all seiner symbolischen Bedeutunglässt sich so nicht auslöschen. Die Bomben auf Afghanistansind eine völlig unzulängliche Ersatzhandlung.

Sp : Die USA haben immerhin eine barbarische Unterdrückungbeendet und dem afghanischen Volk eine Chance zumNeubeginn in Frieden gegeben. So sieht es auch Ihr KollegeBernard-Henri LÈvy.

Bd : Die Lage scheint mir nicht so eindeutig. Der Triumphalismuseines LÈvy ist mir fremd. Er bringt ein Hoch auf die B-52-Bomber aus, als wären diese Instrumente des Weltgeistes.

Page 4: Das ist der Vierte Weltkrieg

gegen eine endgültige Ordnung, gegen eine endgültige Macht,und die Zwillingstürme des World Trade Center verkörpertendiese endgültige Ordnung in vollkommener Weise.

Sp : Demnach erklären Sie den terroristischen Wahn als unaus-weichliche Reaktion auf ein System, das selbst größen-wahnsinnig geworden ist?

Bd : Das System selbst in seinem totalen Anspruch hat dieobjektiven Bedingungen dieses furchtbaren Gegenschlagsgeschaffen. Der immanente Irrsinn der Globalisierung bringtWahnsinnige hervor, so wie eine unausgeglichene GesellschaftDelinquenten und Psychopathen erzeugt. In Wahrheit sinddiese aber nur die Symptome des Übels. Der Terrorismus istüberall, wie ein Virus. Er braucht Afghanistan nicht alsHeimstatt.

Sp : Sie deuten die Globalisierung und den Widerstand gegensie wie den Verlauf einer Krankheit, sogar wie eine Selbst-zerstörung. Ist das nicht das eigentlich Skandalöse an IhrerAnalyse – dass diese das Moralische völlig auslässt?

Bd : Ich bin auf meine Weise durchaus ein Moralist. Es gibt eineMoral der Analyse, eine Pflicht zur Aufrichtigkeit. Ich willdamit sagen, dass es unmoralisch ist, die Augen vor derWahrheit zu verschließen, nach Vorwänden zu suchen, umdas schwer Erträgliche zu kaschieren. Wir müssen die Dingejenseits des Gegensatzes von Gut und Böse sehen. Ich suchedie Konfrontation mit dem Ereignis, so wie es ist, ohneZweideutigkeit. Wer das nicht kann, wird zu einer moralischenFalschschreibung der Geschichte verleitet.

Sp : Aber wenn der terroristische Akt sich zwangsläufig, praktischschicksalhaft vollzieht, wie Sie behaupten, ist er dann nichtzugleich entschuldigt? Es gibt kein verantwortliches Subjektmehr.

Bd : Die Begrifflichkeit meiner Analyse ist zweischneidig, das istmir klar. Die Worte können gegen mich gewendet werden.Aber ich lobpreise nicht Mord und Totschlag, das wäre

Sp : Es gibt keinen gerechten Krieg?

Bd : Nein, dafür gibt es zu viele Ambivalenzen. Kriege werdenoft aus dem Drang nach Gerechtigkeit heraus begonnen, dasist sogar fast immer die offizielle Begründung. Aber selbstwenn sie gerechtfertigt sein mögen und in bester Absichtgeführt werden, enden sie in der Regel nicht so, wie ihreUrheber sich das vorstellen.

Sp : Die Amerikaner haben unbestreitbare Erfolge erzielt. VieleAfghanen können jetzt auf ein besseres Leben hoffen.

Bd : Warten Sie ab. Noch haben nicht alle afghanischen Frauenihren Schleier abgelegt. Die Scharia soll in Kraft bleiben. DasRegime der Taliban ist zerschlagen, gewiss. Aber das inter-nationale Netzwerk der Terroristenorganisation al-Qaidaexistiert immer noch. Und Bin Laden, tot oder lebendig, istvor allem verschwunden. Das verleiht ihm eine mythischeMacht, er gewinnt in gewisser Weise eine übernatürlicheDimension.

Sp : Haben die Amerikaner erst gesiegt, wenn sie Bin Ladenoder seine Leiche im Fernsehen präsentieren können?

Bd : Das wäre ein fragwürdiges Spektakel, und selbst dannbliebe ihm die Rolle des Märtyrers. Ihn zur Schau zu stellenwürde ihn nicht unbedingt entzaubern. Auf dem Spiel stehtmehr als die Kontrolle eines Territoriums, einer Bevölkerungoder die Ausschaltung einer subversiven Organisation. DerEinsatz ist fast schon metaphysisch geworden.

Sp : Warum können Sie nicht einfach akzeptieren, dass dieZerstörung des World Trade Center die willkürliche, irrationaleTat einiger verblendeter Fanatiker war?

Bd : Eine gute Frage, aber selbst wenn es sich um eine bloßeKatastrophe gehandelt hätte, bliebe die symbolische Bedeu-tung des Ereignisses erhalten. Nur so erklärt sich auch seineFaszination. Hier ist etwas geschehen, das bei weitem denWillen der Akteure übersteigt. Es gibt eine universelle Allergie

Page 5: Das ist der Vierte Weltkrieg

DPA Ausschreitungen auf dem G-8-Gipfel in Genua

Bd : Man muss radikal zwischen dem Globalen und dem Uni-versellen unterscheiden. Die universellen Werte, wie sie dieAufklärung definierte, haben ein transzendentes Ideal. Siekonfrontieren das Ich mit seiner Freiheit, welche eine ständigeAufgabe und Verantwortung ist, nicht einfach ein Recht. ImGlobalen fehlt das völlig, es ist ein operationelles Systemdes totalen Handels und Tausches.

Sp : Die Globalisierung befreit die Menschheit nicht, sie verdinglichtsie?

Bd : Sie gibt vor, die Menschen zu befreien, dabei dereguliertsie nur. Die Abschaffung aller Regeln, genauer: die Reduzierungaller Regeln auf das Gesetz des Marktes ist das Gegenteilvon Freiheit – nämlich deren Illusion. So altmodische undaristokratische Werte wie Würde, Ehre, Herausforderung,

idiotisch. Der Terrorismus ist keine zeitgenössische Form derRevolution gegen Unterdrückung und Kapitalismus. KeineIdeologie, kein Kampf für eine Sache, auch nicht der islamischeFundamentalismus, können ihn erklären.

Sp : Aber warum sollte sich die Globalisierung gegen sich selbstrichten, warum sollte sie Amok laufen, da sie doch Freiheit,Wohlstand und Glück für alle verheißt?

Bd :Das ist die utopische Sicht, die Reklame gewissermaßen.Aber es gibt kein gänzlich positives System. Im allgemeinensind positivistische Geschichtsutopien äußerst mörderisch,wie Faschismus und Kommunismus gezeigt haben.

Sp : Globalisierung können Sie doch nun wirklich nicht mit denblutigsten Systemen des 20. Jahrhunderts vergleichen.

Bd : Sie beruht, wie früher der Kolonialismus, auf einer ungeheurenGewalt. Sie schafft mehr Opfer als Nutznießer, auch wenndie westliche Welt mehrheitlich davon profitiert. Natürlichkönnen die USA im Prinzip jedes Land so befreien wieAfghanistan. Aber was wäre das für eine sonderbare Be-freiung? Die derart Beglückten würden sich dagegen zurWehr zu setzen wissen, notfalls eben mit Terror.

Sp : Sie halten die Globalisierung für eine Form der Kolonisierung,getarnt als Ausbreitung der westlichen Zivilisation?

Bd : Sie wird angepriesen wie der Endpunkt der Aufklärung, dieAuflösung aller Widersprüche. In Wirklichkeit verwandelt siealles in einen verhandelbaren, bezahlbaren Tauschwert.Dieser Prozess ist extrem gewaltsam, denn er zielt auf eineVereinheitlichung als Idealzustand ab, in dem alles Einzigartige,jede Singularität, mithin auch jede andere Kultur und letztlichjeder nichtmonetäre Wert aufgehoben würden. Sehen Sie:An diesem Punkt bin ich der Humanist und der Moralist.

Sp : Setzen sich mit der Globalisierung nicht auch universelleWerte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte durch?

*)[foto der gegenüberliegendenseite +] es ist mir nicht danach, ›gewaltverherrlichendefotografien‹ darstellen zu MÜSSEN. – die ~vorlage hatte an dieser stelle den einschubder bildunterschrift – ; und um dem ›orginal‹ möglichst nahe zu kommen … (anm.d.red.)

*

Page 6: Das ist der Vierte Weltkrieg

Bd : US-Präsident Bush versucht, die Symmetrie Freund-Feindwiederzufinden, er strebt auf vertrautes Terrain zurück. DieAmerikaner führen diesen Krieg so, als müssten sie sichgegen ein Rudel Wölfe verteidigen. Aber gegen Viren funktio-niert das nicht, sie sind ja längst in uns. Es gibt keine Frontund keine Demarkationslinie mehr, der Feind sitzt im Herzender Kultur, die ihn bekämpft. Das ist, wenn man so will, dervierte Weltkrieg: nicht mehr zwischen Völkern, Staaten,Systemen und Ideologien, sondern der Gattung Mensch mitsich selbst.

Sp : Dann kann dieser Krieg Ihrer Meinung nach auch nichtgewonnen werden?

Bd : Niemand kann sagen, wie das alles ausgehen wird. Aufdem Spiel steht letztlich das Überleben der Menschheit, esgeht nicht um den Sieg einer Seite. Der Terrorismus hat keinpolitisches Projekt, er hat keine Finalität, und so gesehen ister zwar real, aber absurd.

Sp : Bin Laden und die Islamisten haben sehr wohl einengesellschaftlichen Entwurf, die Vorstellung einer strengenidealen Gemeinschaft von Allahs Gnaden.

DPA Ausschreitungen auf dem G-8-Gipfel in Genua

Opfer zählen darin nicht mehr.

Sp : Bildet die uneingeschränkte Anerkennung der Menschen-rechte nicht ein verlässliches Bollwerk gegen diesen Prozessder Entfremdung?

Bd : Ich glaube, dass die Menschenrechte schon in den Globa-lisierungsprozess integriert worden sind und als Alibi funk-tionieren. Sie gehören zum juristischen und moralischenÜberbau – kurzum: Sie sind Werbung.

Sp : Also Täuschung?

Bd : Ist es nicht paradox, dass die westliche Politik heute dieMenschenrechte als Waffe gegen das Andersartige benutzt,nach dem Motto: Entweder ihr teilt unsere Werte oder… ?Die Demokratie wird mit Drohung und Erpressung durchge-setzt. Damit sabotiert sie sich selbst. Sie stellt keine autonomeEntscheidung für die Freiheit mehr dar, sondern wird zumglobalen Imperativ. Das ist gewissermaßen die Perversiondes kategorischen Imperativs von Kant, der grundsätzlichdie freiwillige Zustimmung zu seinem Gebot impliziert.

Sp : So wäre das Ende der Geschichte, die absolute Herrschaftder Demokratie, eine neue Form von Weltdiktatur?

Bd : Ja, und es ist völlig unmöglich, dass es dagegen keinegewalttätige Reaktion gibt. Der Terrorismus entsteht, wennkeine andere Gegenwehr mehr möglich erscheint. Das Systemempfindet objektiv alles als terroristisch, was sich ihmentgegenstellt. Die Werte des Westens sind ambivalent, siekönnen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt einepositive Ausstrahlung haben und den Fortschritt beflügeln,zu einem anderen aber sich selbst so auf die Spitze treiben,dass sie sich verfälschen und sich am Ende gegen ihre eigeneBestimmung wenden.

Sp : Wenn der Antagonismus Globalisierung-Terrorismus wirklichunauflöslich wäre, welchen Sinn hätte dann noch der Krieggegen den Terrorismus?

Page 7: Das ist der Vierte Weltkrieg

Bd : Der Fatalismus bietet eine schlechte Interpretation der Welt,denn er führt zur Resignation. Ich resigniere nicht, ich willKlarheit haben, ein luzides Bewusstsein. Wenn wir die Spiel-regeln kennen, können wir sie auch ändern. Insofern binauch ich ein Aufklärer.

Sp : Aber Ihre Erkenntnis des Bösen führt nicht dazu, dass Siees bekämpfen?

Bd : Nein, denn das ist für mich sinnlos. Das Gute und das Bösesind unauflöslich miteinander verbunden, das ist im ursprüngli-chen Sinn fatal: Bestandteil des Fatums, unseres Schicksals.

Sp : Warum erträgt die westliche Kultur die Existenz des Bösenso schwer, warum wird es verdrängt und geleugnet?

Bd : Das Böse wird zum Unglück umgedeutet, denn das Unglückkann man gut bekämpfen: die Armut, die Ungerechtigkeit,die Unterdrückung und so weiter. Das ist die humanitäreSicht der Dinge, die pathetische und sentimentale Vision,das permanente Mitgefühl mit den Elenden. Das Böse ist dieWelt, wie sie ist und gewesen ist. Das Unglück ist die Welt,wie sie nie hätte sein dürfen. Die Ummünzung des Bösenins Unglück ist die einträglichste Industrie des 20. Jahrhun-derts.

Sp : Das Unglück lässt sich reparieren, es verlangt Wiedergut-machung, während sich das Böse nicht exorzieren lässt?

Bd : Das Unglück ist eine Mine, deren Erz unerschöpflich ist.Dem Bösen dagegen lässt sich nicht mit irgendeiner Rationa-lität beikommen. Das ist die Illusion des Westens: Weil dietechnische Perfektion in Reichweite scheint, glaubt man perÜbertragung auch an die Machbarkeit der moralischenPerfektion, an die pannenfreie Zukunft in der besten allerWelten. Alle sollen gerettet werden – darin besteht daszeitgenössische Ideal unserer Demokratie. Alles wird genetischverändert werden, um die biologische und demokratischeVollkommenheit der menschlichen Gattung zu erreichen.

Bd : Vielleicht, nur ist es nicht das Religiöse, das sie zumTerrorismus treibt. Das betonen alle Islam-Experten. DieAttentäter vom 11. September haben keine Forderungengestellt. Der Fundamentalismus ist eine symptomatischeForm der Ablehnung, der Verweigerung, seine Anhängerwollen nicht konkret etwas schaffen, sie erheben sich wildgegen etwas, das sie als Bedrohung ihrer Identität empfinden.

Sp : Das ändert doch nichts daran, dass im Lauf der Geschichteimmer auch eine kulturelle Evolution stattfindet. Beweist dieglobale Expansion der westlichen Zivilisation nicht geradedie Kraft ihrer Ausstrahlung?

Bd : Warum sagen Sie nicht gleich ihrer Überlegenheit? Kulturensind wie Sprachen. Jede ist unvergleichlich, ein abgeschlos-senes Kunstwerk für sich. Es gibt keine Hierarchie derSprachen. Man kann sie nicht am Universellen messen. Esließe sich zwar theoretisch eine globale Sprache durchsetzen,aber in dieser Reduzierung läge die absolute Gefahr.

Sp : Im Grunde leugnen Sie die Idee des moralischen Fortschritts.Das Einzigartige, das Sie verteidigen, ist doch kein Wert ansich. Es kann gut oder böse sein, selbstlos oder kriminell …

Bd : … ja, die Singularität kann alle Formen annehmen, auchdie bösartige oder die terroristische. Sie bleibt dennoch einKunstwerk. Im Übrigen glaube ich nicht, dass es überwiegendgute oder böse Kulturen gibt – verhängnisvolle Abwegeselbstverständlich, aber beides lässt sich nicht trennen. DasBöse nimmt nicht in dem Maße ab, wie das Gute zunimmt.Deshalb ist der Begriff des Fortschritts außerhalb der Rationa-lität der Naturwissenschaften in der Tat problematisch.Montaigne sagte: "Würde man das Böse im Menschenbeseitigen, zerstörte man die Grundbedingung des Lebens."

Sp : Kein Himmel ohne Hölle, keine Rettung ohne Verdammnis– lässt Ihre dualistische Weltsicht überhaupt etwas andereszu als Pessimismus und Fatalismus?

Page 8: Das ist der Vierte Weltkrieg

Sp : Bedauern Sie, dass der Westen den Glauben an die Rettungdurch Gott weitgehend verloren hat?

Bd : Wissen Sie, eigentlich müsste man die ganze Debatteumdrehen. Nicht, warum es das Böse gibt, ist die aufregendeFrage. Das Böse ist zuerst da, ganz natürlich. Warum gibt esdas Gute? Das ist das eigentliche Wunder.

Sp : Und? Können Sie es erklären, ohne Gott zu bemühen?

Bd : Man hat es versucht, Rousseau und andere im 18. Jahrhun-dert, aber nicht sehr überzeugend. Die beste und einfachsteHypothese ist in der Tat, Gott zu postulieren. Gott ist wie dieDemokratie: die am wenigsten schlechte und deshalb best-mögliche aller Lösungen.

Sp : Wenn man Sie hört, könnte man auf die Idee kommen, dassSie sich im Mittelalter den Katharern angeschlossen hätten.

Bd : O ja, ich liebe die Welt der Katharer, denn ich bin manichäisch…

Sp : … in der Meinung, es gebe ein ewiges Gegeneinander vonLicht und Nacht, Gut und Böse …

Bd : … ja, die Katharer hielten die materielle Welt für böse undschlecht, geschaffen vom Dämon. Gleichzeitig vertrauten sieauf Gott, das Heil und die Möglichkeit der Vollkommenheit.Das ist eine viel radikalere Sicht als die, im Bösen nur denallmählich verglühenden Satelliten des Guten zu erkennen.

Sp : Monsieur Baudrillard, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Redakteur Romain Leick

›der geist des terrorismus‹Jean Baudrillard

Page 9: Das ist der Vierte Weltkrieg

Analyse ohne Grenzen

Der 11. September nur Simulation? In seiner Reihe "Lesarten des Terrors" lädt das Literaturhaus Jean Baudrillard

ins Audimax   Von Stefanie Richter

-Wer war nochmal Baudrillard? - Das ist der, der gesagt hat, dass der Golfkrieg und das Jahr 2000 nicht

stattgefunden haben. - Ach so, der! Und der kommt jetzt nach Hamburg? - Ja, er hält einen Vortrag über den

11. September. - Wieso? Hat der etwa auch nicht stattgefunden?

Ja und nein: Jean Baudrillards "Simulationstheorie" besagt, dass in der Mediengesellschaft, in der wir leben,

das wirkliche Ereignis und seine mediale Vermittlung ununterscheidbar geworden sind, Ereignisse mithin ohne

Vermittlung gar nicht existent. Den Anschlag auf das World Trade Center deutet Baudrillard als "globales

symbolisches Ereignis", weil die Twin Towers die "definitive Ordnung" der Globalisierung verkörperten.

Mit seinem Aufsatz "Der Geist des Terrorismus" hat Baudrillard im letzten Herbst eine heftige Feuilleton-Debatte

losgetreten. Plötzlich hieß es überall, die Ereignisse vom 11. September würden einen endgültigen "Einbruch

der Wirklichkeit" markieren. Folglich wurden postmoderne Theorien wie Baudrillards Analyse der Simulation

nicht mehr nur belächelt, sondern als zynisch verurteilt.

Auch Diedrich Diederichsen wusste schon im Oktober in der taz: Postmoderne hin oder her, das World Trade

Center, das habe es auf jeden Fall gegeben. Schließlich seien bei seiner Zerstörung echte Menschen umgekommen.

Und das beweise, dass die Doppeltürme mehr als nur ein Symbol gewesen seien. Deshalb, so Diederichsen,

dürfte der "beliebte Baudrillardismus" ja wohl endgültig widerlegt sein.

Trotz alledem hat sich das Literaturhaus Hamburg nicht beirren lassen und Baudrillard eingeladen, im Rahmen

der Reihe "Lesarten des Terrors" einen Vortrag zum Thema zu halten. Wie aber ist das ungestillte öffentliche

Interesse an Baudrillard zu erklären? Ist es die Faszination an der Provokation? Oder ist es der Wunsch, der

Denker möge endlich seine unglaublichen Thesen zurücknehmen?

Tatsächlich führte der Spiegel zu Beginn des Jahres ein Interview mit dem Philosophen, und forderte ihn bereits

in der ersten Frage auf, seine Analyse des 11. Septembers zu widerrufen. Hierbei ging es allerdings weniger

um Baudrillards Bezeichnung der Ereignisse als rein symbolische, sondern um die Frage nach ihren Ursachen.

Dem Pariser Philosophen wird nämlich obendrein vorgeworfen, er mache die Amerikaner selbst für die Terror-

Attentate verantwortlich.

In Wirklichkeit ist Baudrillards Analyse wesentlich differenzierter: Er sagt, wir befänden uns im 4. Weltkrieg.

Anders als in den vorigen Kriegen gebe es aber keine klaren Freund-Feind-Grenzen mehr. Es sei vielmehr der

Kampf eines Systems mit sich selbst. Dieses System sei die so genannte Globalisierung. Ihr Ziel: die Herausbildung

einer einzigen, globalen Weltordnung. Aber da es gegen jede endgültige Macht oder Ordnung eine "universelle

Allergie" gebe, müssten die "Antikörper revoltieren". So schaffe die Globalisierung "durch ihre schrankenlose

Ausdehnung die Bedingungen für ihre eigene Zerstörung".

Mit anderen Worten: Die Amerikaner sind nicht "selbst Schuld" an den Attentaten. Der Krieg findet ja auch

nicht zwischen Amerika und einem äußeren Feind statt, sondern innerhalb des Systems der Globalisierung.

Wie soll die globalisierte Welt aber auf den Terror reagieren? "Das Böse", sagt Baudrillard, lasse sich überhaupt

nicht erfolgreich bekämpfen. Anders als in Hollywood-Filmen könne das Gute das Böse niemals besiegen, denn:

"Das Böse wird im selben Maße stärker wie das Gute." Also selbst wenn die Verheißungen der Globalisierung

- Menschenrechte, Demokratieund Wohlstand für alle - nichtnur Reklame seien, bliebe derWiderstand gegen sie allemalunausweichlich.

Was also tun? Die Globalisierungabschaffen? Alle Bemühungenum eine bessere, gerechtereWelt einstellen? Im Umkehr-schluss womöglich das Gutebekämpfen, um das Böse zu ver-ringern? Aber vielleicht habenwir ja Glück, und die Globalisie-rung hat in Wirklichkeit nie statt-gefunden.

heute, 20 Uhr, Audimax, Von-Melle-Park 4

taz Hamburg Nr. 6688 vom28.2.2002, Seite 27, 59 TAZ-Bericht Stefanie Richter

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Page 10: Das ist der Vierte Weltkrieg

Der moralischen Verurteilung, der heiligen Union gegen denTerrorismus entspricht auf der anderen Seite eine erstaunlicheSchadenfreude angesichts der Zerstörung der Supermacht, oderbesser: angesichts ihrer Selbstzerstörung, ihres Selbstmordesals Kunstwerk. Denn sie selbst hat durch ihre unerträglicheÜbermacht nicht nur diese ganze Gewalt geschürt, von der dieWelt erfüllt ist, sondern auch – ohne das selbst zu wissen - dieterroristische Phantasie, die in uns allen ist.

Es geht hier nicht bloß um den Hass auf die Dominanz dieserWeltmacht, wie er bei den Benachteiligten und Ausgebeutetenverbreitet ist, die das schlechtere Los der Globalisierung gezogenhaben. Von diesem Gefühl der Schadenfreude sind gerade auchdiejenigen erfasst, die von der neuen, globalen Weltordnungprofitieren. Glücklicherweise ist die Allergie gegen jede definitiveOrdnung, gegen jede endgültige Macht ein allgemein verbreitetesPhänomen, und die beiden Türme des World Trade Centers waren– gerade in ihrer Doppelgestalt – eine perfekte Verkörperungdieser definitiven Ordnung. Kein Todes- oder Zerstörungstriebmuss hier postuliert werden, ja nicht einmal das Prinzip derunerwünschten Nebenwirkung.

Es ist von äußerster (und unerbittlicher) Logik, dass es den Willenzur Zerstörung anstacheln muss, wenn eine Macht immermächtiger wird. Und diese Macht ist mitschuldig an ihrer eigenenZerstörung.

Als die beiden Türme zusammenbrachen, hatte man den Eindruck,dass sie auf die Selbstmord-Attacke aus der Luft mit ihremeigenen Suizid antworteten. Man hat gesagt: „Gott selbst kannsich nicht den Krieg erklären“. Oh doch! Das Abendland, das dieStelle Gottes eingenommen hat, wird selbstmörderisch underklärt sich selbst den Krieg. In gewissem Sinne ist es derGesamtzustand des Systems, das heißt seine innere Schwächeund Zerbrechlichkeit, die dem primären Akt des TerrorismusVorschub leistet.

In New York sind es achtzehn Kamikaze-Attentäter, die mit derabsoluten Waffe des Todes, die noch gesteigert wurde durch ihretechnischer Effizienz, ein Katastrophengeschehen von globalerReichweite auslösen.

Der Geist des Terrorismus

Das Abendland, das die Stelle Gottes eingenommen hat,wird selbstmörderisch und erklärt sich selbst den Krieg

von Jean Baudrillard

Wenn die Ereignisse stagnieren, muss man die Analysebeschleunigen, sagt Jean Baudrillard, der Analytiker derModerne – aber wenn sie sich überstürzen, muss man sichZeit lassen. Gerade hat er in Le Monde seine Sicht vom11.September präsentiert – die wir gekürzt abdrucken – undsofort eine intensive Diskussion ausgelöst.

Weltereignisse haben wir schon einige erlebt, vom Tod Dianasbis zur Fußballweltmeisterschaft, und auch gewaltsame undreale Ereignisse, von Kriegen bis hin zu Völkermorden. Aber einglobales, symbolisches Ereignis nicht bloß weltweiter Verbreitungin allen Medien, sondern das selbst der Globalisierung den Kampfangesagt hätte – so etwas hat es noch nie gegeben.

Während der langen Stagnation der neunziger Jahre hatten wirden „Streik der Ereignisse“ (wie der Schriftsteller MacedonioFernandez dieses Jahrzehnt charakterisiert hat). Nun, dieserStreik ist beendet. Die Ereignisse haben aufgehört zu streiken.Bei den Attentaten gegen das World Trade Center haben wir essogar mit einem absoluten Ereignis zu tun, das in sich alleEreignisse vereint, die niemals stattgefunden haben – die „Mutter“aller Ereignisse. Ohne uns durch das allgemeine Stimmengewirroder die Staubwolken des Krieges beeindrucken zu lassen, undohne das unvergessliche Aufleuchten der Bilder zu vergessen –bezogen auf das Ereignis selbst und auf die Faszination, die esausübt, stellen alle diese Stimmen und Kommentare nichtsanderes dar als eine gigantische Abreaktion.

Page 11: Das ist der Vierte Weltkrieg

mus ist) die triumphierende Globalisierung bezeichnet, die mitsich selbst in Konflikt gerät.

In diesem Sinne kann man durchaus von einem Weltkriegsprechen; nicht vom dritten, sondern vom vierten, dem einzigen,der seinen Namen wirklich verdient, weil es dabei unmittelbarum die Herausbildung einer globalen Welt geht.

Die beiden ersten Weltkriege entsprachen dem klassischen Bilddes Krieges. Der erste beendete die europäische Vorherrschaftund das Zeitalter des Kolonialismus. Der zweite beseitigte denNationalsozialismus.

Der dritte Weltkrieg, der in Form des Kalten Krieges und derAbschreckung stattfand, machte dem Kommunismus ein Ende.In jedem dieser Kriege kam man dem Ziel einer einzigen, globalenWeltordnung ein Stück näher.

Heute ist dieses Projekt an seine Grenzen gelangt; jetzt gerät esin Konflikt mit diffusen Gegenkräften, die sich überall bemerkbarmachen, in allen aktuellen Zuckungen, bis hinein ins Zentrumdes Globalen.

Der vierte Weltkrieg findet anderswo statt

Ein fraktaler Krieg aller Zellen, aller Singularitäten, die in Formvon Antikörpern revoltieren. So weit unter der Wahrnehmungs-schwelle gelegen, dass man die Idee des Krieges von Zeit zuZeit in spektakulären Inszenierungen – wie im Golfkrieg oderheute in Afghanistan – in Erinnerung rufen muss. Aber der vierteWeltkrieg findet anderswo statt.

Er ist das, was jede globale Weltordnung, jede hegemonialeHerrschaft wie ein Quälgeist heimsucht – wäre der Islam diedominierende Weltmacht, würde er sich gegen den Islam wenden.Denn es ist die globale Welt selbst, die sich der Globalisierungwidersetzt.

Der Terrorismus ist unmoralisch. Das Ereignis des World TradeCenters, diese symbolische Herausforderung, ist unmoralisch,und entspricht einer Globalisierung, die selbst unmoralisch ist.

Wenn die Situation so sehr durch das Monopol einer einzigenWeltmacht gekennzeichnet ist, durch eine unerhörte Konzentrationaller Funktionen im technokratischen Apparat und durch ein„Denken ohne Alternative“ – welcher andere Ausweg bleibt dannnoch als der Übersprung in den Terrorismus?

Es war das System selbst, das die objektiven Bedingungen fürdiesen brutalen Rückstoß geschaffen hat. Indem es selbst alleVorteile auf seiner Seite bündelt, zwingt es den Anderen, dieSpielregeln zu ändern.

Und die neuen Regeln sind deshalb barbarisch, weil das barbarischist, was auf dem Spiel steht. Auf ein System, dessen Übermachteine Herausforderung darstellt, die faktisch nicht pariert werdenkann, antworten die Terroristen mit einem endgültigen Akt, derebenfalls nicht mehr Gegenstand eines Tausches sein kann.

Der Terrorismus ist jener Akt, der im Herzen eines allgemeinenTauschsystems wieder etwas Singuläres schafft, das nicht aufetwas anderes zurückgeführt werden kann.

Terror gegen Terror ? Es gibt hinter alledem keine Ideologie mehr.Wir sind fortan an jenseits von Ideologie oder Politik. Die Energieauf den Begriff zu bringen, die diesen Terror speist und unterhält– dazu ist kein Programm, keine Ideologie imstande, auch nichtder Islam.

Hier geht es nicht einmal mehr um die Veränderung der Welt;hier geht es – wie einst in den Häresien – nur noch darum, dieWelt durch das Opfer zur radikalisieren, während das Systemseine Welt mit Gewalt realisieren will. Wir haben es also nichtmit einem Zusammenprall der Kulturen oder Religionen zu tun,und das betrifft auch keineswegs nur den Islam und Amerika,auf die man den Konflikt gerne zuspitzt, um sich die Illusion einersichtbaren Konflikts und einer gewaltsamen Lösung vorzugaukeln.

Es geht hier in der Tat um einen grundlegenden Antagonismus,der freilich in Gestalt Amerikas (das vielleicht das Zentrum, aberkeineswegs die einzige Verkörperung der Globalisierung ist) undin Gestalt des Islam (der ebenfalls nicht der Inbegriff des Terroris-

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Es geht hier in der Tat um einen grundlegenden Antagonismus,der freilich in Gestalt Amerikas (das vielleicht das Zentrum, aberkeineswegs die einzige Verkörperung der Globalisierung ist) undin Gestalt des Islam (der ebenfalls nicht der Inbegriff des Terroris-mus ist) die triumphierende Globalisierung bezeichnet, die mitsich selbst in Konflikt gerät.

Anäherung an eine globale Weltordnung

In diesem Sinne kann man durchaus von einem Weltkriegsprechen; nicht vom dritten, sondern vom vierten, dem einzigen,der seinen Namen wirklich verdient, weil es dabei unmittelbarum die Herausbildung einer globalen Welt geht.

Die beiden ersten Weltkriege entsprachen dem klassischen Bilddes Krieges. Der erste beendete die europäische Vorherrschaftund das Zeitalter des Kolonialismus. Der zweite beseitigte denNationalsozialismus. Der dritte Weltkrieg, der in Form des KaltenKrieges und der Abschreckung stattfand, machte dem Kommunis-mus ein Ende. In jedem dieser Kriege kam man dem Ziel einereinzigen, globalen Weltordnung ein Stück näher.

Heute ist dieses Projekt an seine Grenzen gelangt; jetzt gerät esin Konflikt mit diffusen Gegenkräften, die sich überall bemerkbarmachen, in allen aktuellen Zuckungen, bis hinein ins Zentrumdes Globalen. Ein fraktaler Krieg aller Zellen, aller Singularitäten,die in Form von Antikörpern revoltieren.

Heimsuchung vom Quälgeist Islam

So weit unter der Wahrnehmungsschwelle gelegen, dass mandie Idee des Krieges von Zeit zu Zeit in spektakulären Inszenierun-gen – wie im Golfkrieg oder heute in Afghanistan – in Erinnerungrufen muss. Aber der vierte Weltkrieg findet anderswo statt. Erist das, was jede globale Weltordnung, jede hegemonialeHerrschaft wie ein Quälgeist heimsucht – wäre der Islam diedominierende Weltmacht, würde er sich gegen den Islam wenden.Denn es ist die globale Welt selbst, die sich der Globalisierungwidersetzt.

Umschauen, jenseits von Gut und Böse

Seien also auch wir unmoralisch, schauen wir uns ein bisschenjenseits von Gut und Böse um, damit wir uns einen Reim daraufmachen können. Versuchen wir in diesem Fall, wo wir mit einemEreignis konfrontiert sind, das nicht nur die Moral, sondern jedeArt der Deutung herausfordert, ein Wissen vom Bösen zu erlangen.Der springende Punkt liegt in dem radikalen Unverständnis derabendländischen Philosophie – der Aufklärung – für das Verhältniszwischen dem Guten und dem Bösen.

Wir glauben naiverweise, dass der Fortschritt des Guten, seineVerbreitung in allen Bereichen, einer Niederlage des Bösenentsprechen würde. Niemand scheint begriffen zu haben, dassdas Gute und das Böse zur gleichen Zeit mächtiger werden, weilsie in ein und derselben Bewegung begriffen sind.

Balance im Gleichgewicht des Schreckens

In der traditionellen Welt gab es noch ein Gleichgewicht von Gutund Böse, eine Art dialektischer Beziehung, die mehr schlechtals recht für Spannung und Ausgewogenheit im moralischenUniversum sorgte – ein wenig wie im Kalten Krieg, wo die direkteKonfrontation der beiden Supermächte ein Gleichgewicht desSchreckens garantierte.

Dieses Gleichgewicht wird von dem Augenblick an gestört, woeine totale Verallgemeinerung des Guten stattfindet. Von diesemMoment an wird das Gleichgewicht gestört; es ist, wie wennBöse nun eine unsichtbare Autonomie gewinnen würde, indemes mit exponentiellen Zuwächsen verlorenen Boden wiedergut-macht.

Wir haben es also nicht mit einem Zusammenprall der Kulturenoder Religionen zu tun, und das betrifft auch keineswegs nurden Islam und Amerika, auf die man den Konflikt gerne zuspitzt,um sich die Illusion einer sichtbaren Konflikts und einer gewalt-samen Lösung vorzugaukeln.

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trischer Terror. Und es ist diese Asymmetrie, welche die globaleAllmacht vollständig entwaffnen muss.

Im Konflikt mit sich selbst, klammert sie sich umso verbisseneran ihre eigene Logik der Macht, ohne das Spiel auf dem Terrainder symbolischen Herausforderung und des Todes annehmen zukönnen. Vom Tod besitzt sie keine Vorstellung mehr, seit sie ihnin ihrer eigenen Kultur für null und nichtig erklärt hat.

Es ist den Terroristen gelungen, aus ihrem Tod eine absoluteWaffe gegen jenes System zu schmieden, das sich einer absolutenTodesvermeidung, also dem Prinzip „null Tote“ verpflichtet hat.Jedes System mit „null Toten“ ist ein Nullsummenspiel.

Und alle Mittel der Abschreckung und Zerstörung sind machtlosgegen einen Feind, der aus seinem Tod eine Waffe für denGegenangriff geschmiedet hat. „Was kümmern uns die ameri-kanischen Bomben! Unserer Männer sind ebenso begierig zusterben, wie die Amerikaner begierig sind zu leben !“ 7000 Toteauf einen Schlag sind unvergleichlich viel, wenn sie einem Systemzugefügt werden, das mit „null Toten“ rechnet. Die Hypothesedes Terrorismus ist, dass das System in Reaktion auf die vielfacheHerausforderung durch Suizid und Tod ebenfalls Selbstmordbegehen wird. Denn weder das System noch die Macht entgehender symbolischen Verpflichtung – in dieser Falle liegt die einzigeChance ihrer Katastrophe.

Der Tod des Terroristen ist in diesem schwindelerregenden Kreisdes Todes, der nicht getauscht werden kann, ein unendlich kleinerPunkt, der freilich eine Sehnsucht, eine Leere, eine Konvektionvon gigantischer Sogwirkung erzeugt.

Um diesen Punkt herum verdichtet sich das System des Reellenund der Macht, es fällt in einen Wundstarrkrampf, blockiert sichselbst und geht an seiner eigenen monströsen Vollkommenheitzugrunde.

Die Taktik des terroristischen Modells ist es, einen Realitätsexzesszu provozieren und das System darunter zusammenbrechen zulassen. Das Lächerliche der Situation und die Gewalt, mit der

Der Terrorismus ist unmoralisch. Das Ereignis des World TradeCenters, diese symbolische Herausforderung, ist unmoralisch,und entspricht einer Globalisierung, die selbst unmoralisch ist.Seien also auch wir unmoralisch, schauen wir uns ein bisschenjenseits von Gut und Böse um, damit wir uns einen Reim daraufmachen können. Versuchen wir in diesem Fall, wo wir mit einemEreignis konfrontiert sind, das nicht nur die Moral, sondern jedeArt der Deutung herausfordert, ein Wissen vom Bösen zu erlangen.

Der springende Punkt liegt in dem radikalen Unverständnis derabendländischen Philosophie – der Aufklärung – für das Verhältniszwischen dem Guten und dem Bösen. Wir glauben naiverweise,dass der Fortschritt des Guten, seine Verbreitung in allen Bereichen,einer Niederlage des Bösen entsprechen würde. Niemand scheintbegriffen zu haben, dass das Gute und das Böse zur gleichenZeit mächtiger werden, weil sie in ein und derselben Bewegungbegriffen sind. In der traditionellen Welt gab es noch ein Gleich-gewicht von Gut und Böse, eine Art dialektischer Beziehung, diemehr schlecht als recht für Spannung und Ausgewogenheit immoralischen Universum sorgte – ein wenig wie im Kalten Krieg,wo die direkte Konfrontation der beiden Supermächte ein Gleich-gewicht des Schreckens garantierte. Dieses Gleichgewicht wirdvon dem Augenblick an gestört, wo eine totale Verallgemeinerungdes Guten stattfindet.

Von diesem Moment an wird das Gleichgewicht gestört; es ist,wie wenn Böse nun eine unsichtbare Autonomie gewinnen würde,indem es mit exponentiellen Zuwächsen verlorenen Bodenwiedergutmacht.

Nach dem Untergang des Kommunismus und dem weltweitenTriumph der liberalen Mächte hat sich eine ähnliche Situation inder politischen Ordnung ereignet: Es tritt ein phantomhafter Feindauf, der sich auf dem ganzen Globus verbreitet, der wie ein Virusüberall eindringt und in allen Fugen der Macht sein Unwesentreibt. Der Islam.

Der Islam ist aber ist nur die bewegliche Front, an der sich dieserAntagonismus festmacht. Dieser Gegensatz ist überall, und erist in jedem von uns. Also gilt: Terror gegen Terror. Aber asymme-

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drängten Kriminalität, die stets in Gefahr steht, wenn nichtauszubrechen, so doch klammheimlich mitzufiebern angesichtsder Auftritte des Bösen. So wird das Ereignis zur Quelle einesnoch subtileren, mentalen Terrorismus. Der ungeheure Erfolgeines solchen Attentats stellt ein Problem dar. Wer ihn erklärenmöchte, muss sich von unserer abendländischen Optik lösenund zu verstehen suchen, was sich in der Organisation und denKöpfen der Terroristen abspielt.

Eine solche Effizienz würde bei uns ein Maximum an Berechnung,an Rationalität voraussetzen, die bei den Attentätern anzunehmenuns schwer fällt. Aber selbst wenn diese Voraussetzungengegeben wären, müssten auch hier, wie in jeder rationalenOrganisation und in jedem Geheimdienst, undichte Stellen undPannen vorkommen.

Das Geheimnis dieses Erfolges liegt also anderswo. Der Unter-schied liegt darin, dass diese Täter keinen Arbeitsvertrag erfüllen,sondern einen Pakt und eine Verpflichtung zum Opfer realisieren.

Eine solche Verpflichtung ist immun gegen jeden Verrat und überalle Versuchungen erhaben. Es ist diesen Leuten gelungen, sichan das globale Netz, an die Erfordernisse des technischenProtokolls anzupassen, ohne irgendetwas von ihrer Komplizen-schaft auf Leben und Tod aufzugeben – darin liegt das eigentlicheWunder.

Im Unterschied zum Vertrag bindet ein Pakt keine Individuen –selbst ihr „Selbstmord“ ist kein individueller Heroismus, sonderneine kollektive Opferung, die durch einen idealen Anspruchuntermauert wird. Und es ist diese Verknüpfung zweier Dispositive,einer operativen Struktur und eines symbolischen Paktes, dieeine Tat von dieser Maßlosigkeit möglich gemacht hat.

Neue Spielregeln - ohne uns gemacht

Die Selbstmord-Terrorismus war zuvor ein Terrorismus der Armen;hier haben wir es mit einem Terrorismus der Reichen zu tun.Und das macht uns ganz besonders Angst: Dass diese Leutereich geworden sind und trotzdem nicht aufhören, von unserem

die Macht reagiert, fallen auf sie zurück, denn die Terrorhandlungensind das vergröberte Abbild seiner eigenen Gewalt und gleichzeitigdas Modell einer symbolischen Gewalt, die ihm untersagt ist,der einzigen Gewalt, die das System nicht ausüben kann: dieseines eigenen Todes.

Dies ist der Grund, weshalb die ganze sichtbare Macht gegenden winzigen, aber symbolischen Tod einiger Individuen machtlosist.

Man muss sich klar darüber sein, dass hier ein neuer Terrorismusentstanden ist, eine neue Aktionsform, die das Spiel spielt undsich seine Spielregeln aneignet, um es besser zu stören. Nichtnur kämpfen diese Leute mit ungleichen Waffen, denn sie setzenihr eigenes Leben aufs Spiel, wogegen es keine mögliche Antwortgibt („Es sind Feiglinge“), denn sie haben sich alle Waffen derherrschende Macht angeeignet.

Das Geld und die Börsenspekulation, die Informationstechnologieund die Luftfahrt, die Dimension des Spektakulären und diemedialen Netze: sie haben sich alle Errungenschaften der Moderneund der globalen Zivilisation zu eigen gemacht, ohne ihr Ziel ausden Augen zu verlieren, das in der Zerstörung dieser Modernebesteht.

Und die größte ihrer Listen war, dass sie sogar die Banalität desamerikanischen Alltagslebens als Maske und Tarnung benutzthaben. Als Schläfer in den Vorstädten, als brave Studenten,häuslich, arbeitsam und unauffällig, die vom einen Tag zumanderen als Zeitbomben erwachten.

Die perfekte Beherrschung dieser klandestinen Existenz ist fastebenso terroristisch wie der spektakuläre Akt des 11. Septembers.Denn sie lenkt den Verdacht auf jedes x-beliebige Individuum:Ist nicht jede beliebige, harmlose Person ein potentieller Terrorist?

Wenn diese Täter unentdeckt blieben, dann ist jeder von uns einunentdeckter Krimineller, und in einem tieferen Sinne ist diesvielleicht sogar wahr. Denn es entspricht vielleicht einer unbe-wussten Form der potenziellen, maskierten und sorgfältig ver-

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ihr eigener Tod nicht von diesem Handeln getrennt werden kann– ganz im Gegensatz zur unpersönlichen Vernichtung des anderen.

Gegner im Duell

Entscheidend bleiben Herausforderung und Zweikampf, das heißtdie duale, persönlichen Beziehung zur gegnerischen Macht. Vonihr ging die Demütigung aus, sie soll nun selbst gedemütigtwerden. Es genügt nicht, sie zu vernichten. Man muss sie dazubringen, das Gesicht zu verlieren. Und dies erreicht man niedurch bloße Gewalt und Beseitigung des anderen. Dieser mussvielmehr von der vollen Wucht des Missgeschicks getroffenwerden.

Über den Pakt hinaus, der die Terroristen untereinander verbindet,gibt es hier auch eine Art von Paktieren mit dem Gegner wie beieinem Duell. Es ist also das genaue Gegenteil jener Feigheit, dieman ihnen zum Vorwurf macht, und es ist das genaue Gegenteilder amerikanischen Kriegführung im Golfkrieg (die sich nun inAfghanistan zu wiederholen scheint), wo das Ziel unsichtbarbleibt und getötet wird auf Knopfdruck.

Zu den verschiedenen Waffen, welche die Terroristen dem Systementwendet und gegen ihre Besitzer gerichtet haben, gehört dieEchtzeit der Bilder, ihre sofortige Verbreitung auf allen Kanälen.Sie haben sich der Medien ebenso bedient wie der Börsenspeku-lation, der Informatik oder des Flugverkehrs. Die Rolle des Bildesist ambivalent.

Ereignis nur als Bild-Ereignis

Das Ereignis wird im Bild nicht nur verstärkt, sondern gleichzeitigzur Geisel genommen. Es wird in seiner medialen Abbildungnicht nur unbegrenzt vervielfältigt, sondern gleichzeitig zerstreutund neutralisiert. Diese Zusammenhänge werden regelmäßigübersehen, wenn von der „Gefahr“ der Medien die Rede ist. DieAbbildung konsumiert das Ereignis, das heißt sie verschlingt esund reicht es dann zum Konsum. Gewiss, das Ereignis kann soeinen Einfluss ausüben, der vorher undenkbar war, aber nur alsBild-Ereignis.

Untergang zu träumen. Gewiss, nach unseren Wertvorstellungenspielen sie mit falschen Karten: Es gehört sich nicht, dass manseinen eigenen Tod aufs Spiel setzt. Doch das kümmert sie nicht,und die neuen Spielregeln gehören nicht mehr uns.

So kommt uns jedes Mittel gelegen, um ihre Taten in Verruf zubringen. Etwa von „Selbstmördern“ und „Märtyrern“ zu sprechen,um dann gleich hinzuzufügen, dass der Märtyrertod nichtsbeweise, dass er nichts mit der Wahrheit zu habe, ja dass geradeder Märtyrer – wie Nietzsche sagt – der schlimmste Feind derWahrheit sei. Gewiss, ihr Tod beweist nichts, doch das ist einemSystem, wo Wahrheit selbst unerreichbar ist, auch gar nicht nötig– oder wollen wir behaupten, dass wir die Wahrheit besitzen?

Andererseits lässt sich dieses höchst moralische Argumentumkehren. Wenn das freiwillige Martyrium von Kamikaze-Täternnichts beweist, dann ist auch mit dem unfreiwilligen Martyriumder Attentatsopfer nichts bewiesen, und es hat etwas Unanstän-diges und Frivoles, daraus ein moralisches Argument zu machen(ohne damit ihr Leiden und ihren Tod in Frage stellen zu wollen).

Ein anderes zweifelhaftes Argument: Diese Terroristen tauschenihren Tod gegen einen Platz im Paradies ein. Ihr Handeln ist nichtselbstlos, also ist es auch nicht aufrichtig.

Tod als Kosten/Nutzen-Verhältnis

Es wäre nur dann selbstlos, wenn diese Leute nicht an Gottglauben würden, wenn also für sie der Tod so hoffnungslos wäre,wie er das für uns ist. Auch hier kämpfen sie also mit ungleichenWaffen; sie leben in der Gewissheit eines Heils, auf das wir nichteinmal mehr hoffen können. Wir haben den Tod bereits abge-schrieben, für sie ist es der höchstmögliche Einsatz.

Die Ursache, der Beweis, die Wahrheit, die Belohnung, die Mittelund Zwecke – im Grunde ist es eine typisch abendländischeRechnung, die hier aufgemacht wird. Selbst den Tod bewertenwir danach, was er abwirft, nach seinem Kosten/Nutzen-Verhältnis.Es ist völlig verkehrt, im Handeln der Terroristen nur die reineLogik der Zerstörung am Werk zu sehen. Es scheint mir, dass

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fasziniert haben: die weiße Magie des Kinos und die schwarzeMagie des Terrorismus.

Man versucht krampfhaft, dem Ereignis nachträglich einen Sinnabzugewinnen oder irgendwelche Deutungsmuster überzustülpen.Doch es gibt keinen, und so bleibt uns einzig die Radikalität desSpektakels, seine Brutalität als ursprüngliche, letzte Wirklichkeitdieses Ereignisses.

Schmerzhafte Überprüfung der Werte

Das Spektakel des Terrorismus zwingt uns den Terrorismus desSpektakels auf. Und gegen dies unmoralische Faszination (auchwenn sie eine universelle moralische Reaktion auslöst) ist diepolitische Ordnung machtlos. Es ist unser Theater der Grausamkeit,das einzige, das uns noch bleibt.

Rückgang der Produktion, der Nachfrage, der Spekulation, desWachstums (aber gewiss nicht der Korruption): Alles erwecktden Eindruck, als ob das Weltsystem einen strategischen Rückzug,eine schmerzhafte Überprüfung seiner Werte vollziehen würde.Scheinbar geschieht dies in Reaktion auf die Terrorattacken, imGrunde aber entspricht es durchaus geheimen, systeminternenErfordernissen; als Folge der absoluten Unordnung kommt es zuZwangsregulierungen, die das System sich selbst auferlegt,indem es seine eigene Niederlage gleichsam verinnerlicht.

Es gibt keine Lösung für diese extreme Situation, vor allem nichtder Krieg, der nur ein Szenario des Altbekannten, also wiederdieselbe Sintflut von Streitkräften, geisterhaften Nachrichten,sinnlosen Luftschlägen, hohlen und pathetischen Ansprachen,Sternstunden der Technik und der Propaganda anbieten kann.Das ist denn auch der eigentliche Zweck dieses Krieges, einwirkliches, furchtbares Ereignis, das einzigartig und unvorherse-hbar ist, durch ein Pseudo-Ereignis der Wiederholung und desAltbekannten zu ersetzen.

Der Krieg als die Fortsetzung der Abwesenheit von Politik mitanderen Mitteln.

Was ist nun aber mit dem realen Ereignis, wenn überall das Bild,die Fiktion und das Virtuelle die Realität bestimmen? Man hatdie Terror-Attacken zum Anlass genommen, von einer Rückkehrdes Realen und der Gewalt des Realen in ein angeblich virtuellesUniversum zu sprechen. Vielleicht war man sogar ein wenigerleichtert.

„Schluss mit dem ganzen Gerede von der Virtualität – das da istecht !“ Auch von der Wiederauferstehung der Geschichte nachihrem angekündigten Ende war die Rede. Doch übertrifft dieRealität wirklich die Fiktion?

Der Einsturz des World Trade Center war unvorstellbar, aber erwar nicht ausreichend, um daraus ein reales Ereignis zu machen.Ein Übermaß an Gewalt genügt nicht, um in die Realität zugelangen. Denn die Realität ist ein Prinzip, und es ist diesesPrinzip, das wir verloren haben. Wirklichkeit und Fiktion sindnicht auseinander zu halten, und die Faszination des Attentatesist in erster Linie eine Faszination durch das Bild.

Symbolische Gewalt

In diesem Fall also addiert sich das Reale zum Bild wie eineSchreckensprämie, wie ein zusätzlicher Schauder. Es ist nichtbloß erschreckend, sondern auch wirklich geschehen. Nicht dieGewalt des Realen war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt desBildes, sondern es verhält sich eher umgekehrt: Am Anfang warBild, und erst dann kam der Schauder des Realen. Gleichsameine zusätzliche Fiktion, eine Fiktion, welche die Fiktion übertrifft.

Diese terroristische Gewalt bedeutet also weder eine Rückkehrder Wirklichkeit noch eine Wiederkehr der Geschichte. Dieseterroristische Gewalt ist nicht „real“. In gewissem Sinne ist sieschlimmer als das: Sie ist symbolisch. Gewalt als solche kannvon vollkommener Banalität sein. Nur symbolische Gewalt vermagSingularität zu erzeugen.

Und so findet man am Ende in diesem singulären Ereignis, indiesem Katastrophenfilm aus Manhattan jene beiden Phänomenevereint, die die Massen des 20. Jahrhundert mehr als alles andere

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…was andresFotografien von Jean Baudrillard

Von Jean Baudrillard ist zuletzt erschienen „La Penseeradicale“(bei Sens et Tonka, Paris, Februar 2001).

Deutsch von Matthias Grässlin

Copyright ©SV Online GmbH/ sued-deutsche.de GmbH/ Süd-deutsche Zeitung GmbHArtikel der SüddeutscheZeitung lizensiert durchDIZ München GmbH

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