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DAS GRUNDRECHT DER GEWISSENSFREIHEIT
IN DER POLNISCHEN VERFASSUNG
EIN AUSLEGUNGSVERSUCH
MIT RECHTSVERGLEICHENDEN BEZÜGEN
Dissertation
zur Erlangung des Doktorgrades
der Juristischen Fakultät
der Europa-Universität Viadrina
vorgelegt von
Adam Jakuszewicz
Erstberichterstatter: Prof. Dr. Bogusław Banaszak
Zweitberichterstatter: Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff
Das Verfassungsrecht als Lehre muss, um seinen Auftrag zu erfüllen,
unabhängig von den a priori aufgestellten Schemata,
Dogmen und Geboten funktionieren und sich entwickeln.
B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 8.
III
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................... IV
Verzeichnis der Abkürzungen ............................................................................................... XI
Einführung ................................................................................................................................ 1
Kapitel I. Die Lehrmeinungen zur Gewissensfreiheit in der polnischen Lehre und
Rechtsprechung ........................................................................................................................ 7
Kapitel II. Allgemeine Voraussetzungen der Verfassungsauslegung ................................ 58
Kapitel III. Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach Wortlaut ..................................... 99
Kapitel IV. Die Gewissensfreiheit im Lichte der funktionalen Auslegungsmethoden ... 133
Kapitel V. Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der Grundrechtstheorien ........ 204
Kapitel VI. Schutzumfang der Gewissensfreiheit ............................................................. 245
Kapitel VII. Die Verweigerung aus Gewissensgründen im Bereich der Medizin .......... 305
Kapitel VIII. Andere Modalitäten der Gewissensfreiheit ................................................ 353
Kapitel IX. Schranken der Gewissensfreiheit .................................................................... 384
Zusammenfassung ................................................................................................................ 427
Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 440
IV
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................... IV
Verzeichnis der Abkürzungen ............................................................................................... XI
Einführung ................................................................................................................................ 1
Kapitel I. Die Lehrmeinungen zur Gewissensfreiheit in der polnischen Lehre und
Rechtsprechung ........................................................................................................................ 7
1. Allgemeines ............................................................................................................................ 7
2. Der Begriff der Verweigerung aus Gewissensgründen .......................................................... 9
2.1. Begriffsbestimmung ................................................................................................ 9
2.2. Typen der Verweigerung aus Gewissensgründen ................................................. 13
2.3. Arten der verweigerungsfähigen Rechtspflichten ................................................. 16
2.4. Abgrenzung der Verweigerung aus Gewissensgründen von dem zivilen
Ungehorsam .................................................................................................................. 21
3. Die Regelung der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtsystem ....................................... 25
3.1. Rechtsstand ............................................................................................................ 25
3.2. Bewertung der Regelungsweise der Gewissens- und Religionsfreiheit
in der polnischen Verfassung ....................................................................................... 30
3.3. Konsequenzen der terminologischen Änderungen für die Auslegung
der Gewissensfreiheit ................................................................................................... 37
4. Auslegungsansätze der Gewissensfreiheit in der polnischen Lehre und Rechtsprechung ... 40
4.1. Allgemeines ........................................................................................................... 40
4.2. Die Auslegung der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Freiheit „in religiösen
Angelegenheiten“ ......................................................................................................... 41
4.3. Gewissensfreiheit als forum internum der Glaubens- und
Weltanschauungsfreiheit .............................................................................................. 42
4.4. Gewissensfreiheit als Weltanschauungsfreiheit bzw. als „das Recht
der Nichtgläubigen“ ...................................................................................................... 47
4.5. Gewissensfreiheit und Bekenntnisfreiheit als allgemeine
Überzeugungsfreiheit. .................................................................................................. 49
4.6. Das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen der Erfüllung
einer Rechtpflicht in der polnischen Lehre und Rechtsprechung ................................. 54
5. Fazit ..................................................................................................................................... 56
V
Kapitel II. Allgemeine Voraussetzungen der Verfassungsauslegung ................................ 58
1. Allgemeines .......................................................................................................................... 58
2. Verständnisansätze des Auslegungsprozesses...................................................................... 58
3. Besonderheit der Grundrechtsvorschriften als Determinante der Verfassungsauslegung ... 62
4. Verfassungsauslegung als Prozess der Normkonkretisierung .............................................. 64
5. Auslegungsergebnis als Zusammenspiel der Rechtsvorschriften, der Subjektivität des
Interpreten und der sozialen Wirklichkeit ................................................................................ 67
6. Pluralität der vertretbaren Auslegungsergebnisse ................................................................ 69
7. Beschränkte Begründbarkeit der Auslegungsentscheidung ................................................. 73
8. Verfassungsauslegung als Rekonstruierung der „politischen Formel“ ................................ 74
9. Die schöpferische Rolle des Interpreten bei der Auslegung der Verfassung ....................... 76
10. Die Reihenfolge der einzelnen Interpretationsmethoden ................................................... 79
11. Bestimmung des Endpunkts des Auslegungsprozesses ..................................................... 84
12. Notwendigkeit der dynamischen Auslegung der Verfassung ............................................ 86
Kapitel III. Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach Wortlaut ..................................... 99
1. Grundsätze der Auslegung nach Wortlaut und ihre Folgen für die Auslegung des
Gewissensbegriffs .................................................................................................................... 99
2. Notwendigkeit der Definierung des Gewissensbegriffs ..................................................... 100
3. Alltagsverständnis des Gewissens als Ausgangspunkt für die Auslegung des
Gewissensbegriffs .................................................................................................................. 101
4. Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates als Auslegungsdirektive
des Gewissensbegriffs ........................................................................................................... 105
5. Autonome und heteronome Gewissenskonzeptionen......................................................... 107
6. Beitrag der Philosophie für das Verstehen des Gewissensbegriffs
in Rechtswissenschaft ............................................................................................................ 108
7. Ethische Dimension als Spezifikum einer Gewissensentscheidung................................... 111
8. Die höchstpersönliche Dimension des Gewissens ............................................................. 114
9. Psychologische Beiträge zum Verständnis des Gewissensbegriffs
in der Rechtswissenschaft ...................................................................................................... 116
10. Die Gewissenskonzeption von Niklas Luhmann und ihre Konsequenzen für die
Rechtsanwendung ................................................................................................................... 122
11. Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung ..................................................................... 125
12. Situationsbezogenheit der Gewissensentscheidungen...................................................... 127
13. Mindestmaß an Rationalität der Gewissensentscheidung ................................................ 129
VI
14. Fazit .................................................................................................................................. 131
Kapitel IV. Die Gewissensfreiheit im Lichte der funktionalen Auslegungsmethoden ... 133
1. Allgemeines ........................................................................................................................ 133
2. Systematische Auslegung der Gewissensfreiheit ............................................................... 133
2.1. Auslegung der Verfassung als axiologisches System ......................................... 133
2.2. Systematische Auslegung der Grundrechte in der polnischen Verfassung ......... 137
2.3. Systematische Auslegung der staatskirchenrechtlichen
Verfassungsbestimmungen ......................................................................................... 140
3. Teleologische Auslegung der Gewissensfreiheit ............................................................... 141
3.1. Voraussetzungen der teleologischen Auslegungsmethode .................................. 141
3.2. Die Rolle der Verfassungsgrundsätze bei der Verfassungsauslegung ................ 145
3.2.1. Allgemeines .......................................................................................... 145
3.2.2. Die Bedeutung der Klausel der Menschenwürde für die Auslegung
der Gewissensfreiheit ...................................................................................... 147
3.2.3. Grundsatz der Freiheit des Einzelnen ................................................... 155
3.2.4. Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung der Grundrechte .... 157
3.2.5. Die Gewissensfreiheit und Gleichheitssatz .......................................... 172
4. Die rechtsvergleichende Auslegung ................................................................................... 178
4.1. Voraussetzungen der rechtsvergleichenden Auslegung ...................................... 178
4. 2. Modelle der Regelung der Gewissensfreiheit ..................................................... 182
4.2.1. Keine ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit
in der Verfassung ............................................................................................ 182
4.2.2. Anerkennung des allgemeinen Rechts auf Gewissensfreiheit bei
gleichzeitigem Verbot der Verweigerung aus Gewissensgründen ................. 188
4.2.3. Die eindeutige Verknüpfung der Gewissensfreiheit
mit Religionsfreiheit ....................................................................................... 189
4.2.4. Ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit als das von der
Glaubensfreiheit verselbstständigte Grundrechts ........................................... 194
4.2.5. Fazit ...................................................................................................... 195
5. Berücksichtigung der sozialen Folgen einer Auslegungsentscheidung ............................ 195
6. Fazit .................................................................................................................................... 203
Kapitel V. Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der Grundrechtstheorien ........ 204
1. Die Rolle der einzelnen Grundrechtstheorien als Hilfsmittel der Auslegung
der Gewissensfreiheit ............................................................................................................. 204
VII
2. Die Gewissensfreiheit im Lichte der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie ...... 206
2.1. Ausgangspunkt .................................................................................................... 206
2.2.Gewissensfreiheit als geistige Grundlage der demokratischen Ordnung ............. 209
2.3. Legitimationsfördernde Funktion der Gewissensfreiheit in der Demokratie ...... 210
2.4. Förderung des Pluralismus durch Gewissensfreiheit .......................................... 211
2.5. Die Gewissensfreiheit als das Recht auf Mitverantwortung
für das Gemeinwesen ................................................................................................. 212
2.6 Die Stiftung des öffentlichen Diskurses im Bereich des Ethischen ..................... 215
2.7. Gewissensfreiheit als Katalysator des moralischen Vorschritts
des Gemeinwesens ...................................................................................................... 220
2.8. Die Würdigung der demokratisch-funktionalen Auslegungstheorie der
Gewissensfreiheit ....................................................................................................... 222
2.9. Skeptische Meinungen gegenüber demokratisch-funktionalen Auslegung
der Gewissensfreiheit ................................................................................................. 226
2.10. Schlussfolgerung ............................................................................................... 227
3. Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach der liberalen Grundrechtstheorie................... 228
4. Die institutionelle Grundrechtstheorie ............................................................................... 229
4.1. Voraussetzungen der institutionellen Grundrechtstheorie ................................... 229
4.2. Gewissensfreiheit als Mechanismus der Stabilisierung des sozialen Systems
nach Niklas Luhmann ................................................................................................. 231
4.3. Die Pflicht des Gesetzgebers, Gewissenskonflikte zu vermeiden ....................... 233
4.4. Die Gewissensschonenden Handlungsalternativen ............................................. 236
5. Die Wertetheorie ................................................................................................................ 242
Kapitel VI. Schutzumfang der Gewissensfreiheit ............................................................. 245
1. Subjekte der Gewissensfreiheit .......................................................................................... 245
1.1. Allgemeines ......................................................................................................... 245
1.2. Kinder und Jugendliche als Rechtssubjekte der Gewissensfreiheit .................... 246
1.3. Juristische Personen ............................................................................................. 253
2. Der Schutz des forum internum der Gewissensfreiheit ...................................................... 258
2.1. Die rechtliche Relevanz des forum internum der Gewissensfreiheit ................... 258
2.2. Der Schutzumfang des forum internum ............................................................... 259
2.2.1. Allgemeines .......................................................................................... 259
2.2.2. Freiheit vom Zwang in Gewissensfragen ............................................. 261
2.2.3. Das Recht auf Gewissensbildung ......................................................... 267
VIII
2.2.3.1. Allgemeines ........................................................................... 267
2.2.3.2. Das Recht auf Gewissensbildung im schulischen Bereich .... 268
2.2.3.3. Die Gewissensbildung und das Beachtungsgebot des sog.
„christlichen Wertsystems“ im Rundfunkwesen und Fernsehen ........ 272
2.3. Fazit zum Schutz des forum internum der Gewissensfreiheit ............................. 275
3. Der Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit...................................................... 275
4. Der Umfang der Gewissensbetätigungsfreiheit .................................................................. 286
4.1. Die Bekenntnisfreiheit der Gewissensinhalte ...................................................... 286
4.2. Gewissensfreiheit als Freiheit vom Zwang ......................................................... 287
4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit
nach der Überzeugung des Einzelnen ......................................................................... 290
4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit im moralischen Bereich ...................... 292
5. Die Abgrenzung der Gewissensfreiheit von anderen Grundrechten .................................. 292
6. Nachweis der Gewissensentscheidung ............................................................................... 295
6.1. Indizien der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung .......................... 295
6.2. Die Rechte des Grundrechtsträgers im Anerkennungsverfahren ........................ 303
Kapitel VII. Die Verweigerung aus Gewissensgründen im Bereich der Medizin .......... 305
1. Allgemeines ........................................................................................................................ 305
2. Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen ............................................... 305
2.1. Begriffsbestimmung der Verweigerung der Abtreibung
aus Gewissensgründen ................................................................................................ 305
2.2. Die Regelung der Zulässigkeit der Abtreibung
in der polnischen Rechtsordnung .............................................................................. 306
2.3. Die Regelung der Gewissensfreiheit im Bereich der Medizin
im polnischen Recht ................................................................................................... 309
2.4. Der Schutzbereich der Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen ... 312
2.5. Das Verfahren der Inanspruchnahme der Gewissensklausel ............................... 318
2.6. Das Diskriminierungsverbot ................................................................................ 324
2.7. Schranken der Gewissensklausel ......................................................................... 326
2.8. Die Gewissensfreiheit des medizinischen Personals und Arbeitsrecht ............... 328
2.9. Fazit ..................................................................................................................... 329
3. Die Verweigerung aus Gewissensgründen des Pharmazeuten ........................................... 330
3.1. Allgemeines ......................................................................................................... 330
3.2. Die Interessenabwägung ...................................................................................... 331
IX
4. Die Verweigerung der medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen ...................... 332
4.1. Allgemeines ......................................................................................................... 332
4.2. Der Zusammenhang zwischen dem Recht auf Leben und der Verweigerung
einer medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen .......................................... 334
4.3. Rechtsgrundlage der Einwilligung des Patienten als Voraussetzung
einer legalen medizinischen Behandlung .................................................................. 337
4.4. Subjektiver Schutzbereich und Umfang des Verweigerungsrechts einer
medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen ................................................... 340
4.5. Die Verweigerung der medizinischen Behandlung im Fall
der Minderjährigen ..................................................................................................... 350
Kapitel VIII. Andere Modalitäten der Gewissensfreiheit ................................................ 353
1. Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen .............................................................. 353
2. Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen ................................................. 356
2.1. Problemstellung ................................................................................................... 356
2.2. Objektiver Ansatz (Perspektive der Rechtsordnung) .......................................... 357
2.3. Subjektiver Ansatz (Perspektive des Grundrechtsträgers) .................................. 358
2.4. Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen und das Prinzip der
parlamentarischen Repräsentation .............................................................................. 361
2.5. Rechtsvergleichende Bestätigung des erzielten Ergebnisses .............................. 363
2.6. Die Vorschläge der gesetzgeberischen Anerkennung der Steuerverweigerung
aus Gewissensgründen ................................................................................................ 365
2.6. Fazit ..................................................................................................................... 367
3. Der Schutz der Gewissensfreiheit im Privatrecht............................................................... 367
3.1. Die Drittwirkung der Grundrechte in der polnischen Verfassung ....................... 367
3.2. Die Auswirkung der Gewissensfreiheit im Zivilrecht ......................................... 372
3.2.1. Die Gewissensfreiheit im Vertragsrecht ............................................... 372
3.2.2. Die Gewissensfreiheit als persönliches Rechtsgut ............................... 375
3.2.3. Auswirkungen der Gewissensfreiheit im Arbeitsrecht ......................... 378
4. Die Auswirkungen der Gewissensfreiheit im Strafrecht .................................................... 380
Kapitel IX. Schranken der Gewissensfreiheit .................................................................... 384
1. Allgemeines ........................................................................................................................ 384
2. Das Verhältnis der allgemeinen Einschränkungsklausel der Grundrechte
(Art. 31 Abs. 3 Verf.) zur speziellen Einschränkungsklausel
der Religionsfreiheit (Art. 53 Abs. 5 Verf.) ........................................................................... 385
X
3. Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Einschränkung der
Gewissensfreiheit ................................................................................................................... 389
3.1. Die Rolle des Gesetzgebers und der Gerichtsbarkeit im Prozess der
Güterabwägung ........................................................................................................... 389
3.2. Einzelne Kriterien der Güterabwägung ............................................................... 392
3.2.1. Allgemeine Kriterien der Güterabwägung ............................................ 392
3.2.2. Das Verhältnis der Gewissensfreiheit zu anderen Verfassungswerten
und anderer formaler Grundsätzen ................................................................. 393
3.2.3. Die Intensität des Eingriffs in das Grundrecht des Einzelnen .............. 396
3.2.4. Ausweichmöglichkeiten eines Gewissenskonflikts .............................. 396
3.2.5. Art der verweigerten Rechtspflichten ................................................... 397
3.2.6. Handlungs- und Unterlassungspflichten ............................................... 399
3.2.7. Die Gewissensfreiheit der Funktionsträger .......................................... 400
3.2.8. Erreichbarkeit des Zweckes der verweigerten Rechtspflicht ................ 402
4. Der Wesensgehalt der Gewissensfreiheit ........................................................................... 403
5. „Weltanschauungsneutrale“ Gesetze als Grenze der Gewissensfreiheit ........................... 406
6. Einzelne Einschränkungstatbestände des Grundrechts der Gewissensfreiheit .................. 410
6.1. Allgemeines ......................................................................................................... 410
6.2. Das geltende Recht .............................................................................................. 411
6.3. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage
der Grundrechtseinschränkung ................................................................................... 413
6.4. Staatssicherheit .................................................................................................... 414
6.5. Öffentliche Ordnung ............................................................................................ 415
6.6. Gesundheit ........................................................................................................... 417
6.7. Moral .................................................................................................................. 419
6.8. Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer .......................................................... 423
7. Fazit .................................................................................................................................... 425
Zusammenfassung ................................................................................................................ 427
Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 440
XI
Verzeichnis der Abkürzungen
ACRMV
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AMRK
App.
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Art.
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BVerfG
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BVerwG
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Nr.
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para.
PiM
PiP
poz.
S.
Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Amerikanische Menschenrechtskonvention
Application (Beschwerde)
Archiv des öffentlichen Rechts
Artikel
Arbeit und Recht
Bundesarbeitsgericht
Betrifft Justiz
Bundesverfassungsgericht
Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts
Bundesverwaltungsgericht
Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts
Die Öffentliche Verwaltung
Decissions and Reports
Deutsche Steuer-Zeitung
Deutsches Verwaltungsblatt
Demokratie und Recht
Dziennik Ustaw
Europäische Menschenrechtskonvention
Europäischer Gerichtshof
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
GGBfG das Gesetz über Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit
in der Regel
Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Juristische Schulung
JZ Juristenzeitung
Neue Juristische Wochenschrift
Nummer
Naczelny Sąd Administracyjny (Polnischer Oberer Verwaltungsgerichtshof
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
Orzeczenie Trybunału Konstytucyjnego (Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs)
Paragraph
Prawo i Medycyna
Państwo i Prawo
Pozycja
Seite
XII
SN
STC
StuW
TK
Verf.
VVDStRL
ZaöRV
z.B.
ZeuP
ZP
Sąd Najwyższy (polnischer Oberster Gerichtshof)
Sentencias del Tribunal Constitucional (Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals)
Steuer und Wirtschaft
Trybunał Konstytucyjny (polnischer Verfassungsgerichtshof)
Verfassung der Republik Polen
Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
zum Beispiel
Zeitschrift für Europäisches Privatrecht
Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention
1
Einführung
Die Verfassung der Republik Polen von 2. April 19971 hat zum einen das auf dem
Mehrheitswillen beruhende Demokratieprinzip sowie den Grundsatz des Rechtsstaates zu den
Hauptprinzipien des politischen Staatssystems der Republik Polen erklärt. Zum anderen
bekennt sich die polnische Verfassung zum Schutz der Freiheit und Menschenwürde; bereits
die Präambel enthält eine Aufforderung an Alle, „die diese Verfassung zum Wohl der Dritten
Republik anwenden werden,“ dass sie „dabei die dem Menschen angeborene Würde, sein
Recht auf Freiheit und seine Pflicht zur Solidarität mit anderen Menschen beachten.“ Zu den
wichtigsten Ausprägungen der durch die Verfassung geschützten Menschenwürde und
Freiheit gehört die Freiheit des Gewissens, die neben der Religionsfreiheit gemäß Art. 53
Abs. 1 Verf. jedermann gewährleistet ist. Mit dieser Regelung hat die Verfassung das
Potenzial für schwer zu lösende Konfliktlagen von Richtigkeitsauffassungen der Einzelnen
und der Richtigkeitsauffassung der Mehrheit geschaffen. Da der Bereich des Gewissens für
jeden Grundrechtsträger eigens geprägt ist, ruft die praktische Verwirklichung der
Gewissensfreiheit immense Probleme und Kontroversen hervor. Insbesondere wegen der
fortschreitenden Prozesse der Säkularisierung und der damit einhergehenden
Individualisierung der einzelnen Moralpositionen kann vorhergesehenen werden, dass in der
Zukunft Widerstreite zwischen Gewissensnormen der einzelnen Bürger und Rechtsnormen
zunehmen werden.
Die Gewissensfreiheit als Inhalt einer positiv-rechtlichen Norm ist somit ein Paradoxon;
einerseits ist sie ein Faktor der Verfeinerung und Humanisierung der Rechtsordnung, weil sie
die Bereitstellung einer Ausnahmeregelung von der Erfüllung der allgemeinen Rechtspflicht
zugunsten des Einzelnen ermöglicht, um ihn von dem Konflikt zu schonen, der aus den
Divergenzen zwischen seiner zutiefst gehegten Moralvorstellungen und einer
allgemeingültigen Rechtspflicht resultiert. Andererseits kann wegen des individuellen und
höchstpersönlichen Charakters der Gewissensimperative praktisch jede Rechtsnorm von dem
Einzelnen als mit seinem Gewissen unvereinbar in Frage gestellt werden. Das individuelle
Gewissen drängt nach Verwirklichung seiner Gebote in Außenwelt, was in den Extremfällen
auf den Anspruch auf „die hegemonische Herrschaft über das Recht“2 hinauslaufen kann. Die
1 Dz.U. 1997, Nr. 78 poz. 483.
2 R. J. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 45. Die Übersetzungen der Zitate,
falls nicht anders angegeben, stammen vom Autor der Arbeit.
2
Untersuchung der Gewissensfreiheit muss sich daher mit der Auseinandersetzung mit dem
Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum und dem Staat befassen, welches das
individuelle Gewissen mit seinen Ansprüchen herstellt. In diesem Zusammenhang taucht die
Frage auf, ob sich die staatliche Rechtsordnung, welche die Gewissensfreiheit garantiert,
selbst nicht in Widerspruch setzt und die durch das Gesetz vorausgesetzte Allgemeingültigkeit
des Rechts nicht untergräbt.
Die Gewissensfreiheit ist seit der Märzverfassung von 1921 in einem Begriffspaar mit der
Bekenntnisfreiheit in den polnischen Verfassungen geregelt. Außerdem wird sie neben der
Religions- und Weltanschauungsfreiheit in den durch Polen ratifizierten völkerrechtlichen
Abkommen zum Schutz der Menschenrechte gewehrleistet. Gleichwohl schenken ihr die
polnische Rechtsprechung und Doktrin kaum Beachtung. Sowohl die polnische
Verfassungslehre als auch die Staatskirchenrechtslehre befasst sich vornämlich mit den
einzelnen Problemen der Glaubensfreiheit, die vor allem im Zusammenhang mit der
Transformation des ideologisch atheistischen Staates in die weltanschaulich pluralistische
Demokratie aufgetreten sind, wie etwa die Fragen der Verhältnisse des Staates zur Kirchen
und der Bekenntnisgemeinschaften oder des Religionsunterrichts in den öffentlichen
Schulen.3 Es ist sogar streitig, ob der Gewissensfreiheit über die Religionsfreiheit hinaus
überhaupt Bedeutung zukommt. Die Gewissensfreiheit ist eine Norm, deren Bedeutung und
Potenzial im Rahmen der polnischen Rechtsordnung weitgehend ungeklärt sind. Dies ist zum
einen darauf zurückzuführen, dass die Gewissensfreiheit als das Recht auf moralische
Selbstbestimmung außer Fragen der Wehrdienstverweigerung (die mit der Einführung in
Polen seit 2010 einer Berufsarmee an praktischer Bedeutung verloren hat) sowie der
Verweigerung aus Gewissensgründen im Bereich der Medizin in der polnischen Wirklichkeit
geringe soziologische und rechtliche Relevanz aufweist. Zum anderen ist die Bestimmung des
Schutzbereichs und Schranken der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung durch ihre
lakonische Erwähnung im Sachzusammenhang mit der Religionsfreiheit erheblich erschwert.
Der Verfassungsgeber hat nämlich den Schwerpunkt auf den Schutz der privaten und
3 Dies bezeugt vor allem die in Deutschland erschienene Dissertation von Ewa Schwierskott: Das Grundrecht der
Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001. Die Autorin geht zwar vom Verständnis der
Gewissensfreiheit als die Handlungsfreiheit des autonomen Individuums im Bereich des Ethischen aus,
konzentriert sich aber auf ihre religiösen Aspekte. Diese Betrachtungsweise begründet sich ohne Zweifel mit der
polnischen Rechtswirklichkeit, lässt jedoch einzelne rechtsdogmatische Fragen, wie etwa die Fundierung der
Gewissensausübungsfreiheit in der polnischen Verfassung und vor allem die „säkularisierte“ Seite des
Grundrechtschutzes oder die Problematik der Behandlung der Verweigerung aus Gewissensgründen im
polnischen Rechtssystem weitgehend ungeklärt. In dieser Hinsicht versteht sich die vorliegende Dissertation als
eine Fortsetzungs- und Ergänzungsarbeit.
3
öffentlichen Religionsausübungsfreiheit gelegt. Der Schutz der Gewissensfreiheit als ein
selbständiges, von der Religionsfreiheit abgelöstes Grundrecht könnte lediglich in der
allgemeinen Fassung des Art. 53 Abs. 1 Verf. eine Stütze finden. Dort wird die
Gewissensfreiheit neben der Religionsfreiheit als das jedem Einzelnen zustehende Recht
erwähnt. Die folgenden Absätze des Art. 53 Verf. regeln ausführlich einzelne Aspekte der
Religionsausübung, ohne dass die Freiheit der Äußerung nichtreligiöser Weltanschauungen
oder moralischer Überzeugungen ausdrücklich thematisiert wird. Auch die durch die
Verfassung vorgesehenen Schranken der Ausübungsfreiheit beziehen sich ausdrücklich nur
auf die Religionsfreiheit.
Da die Gewissensfreiheit lediglich als „Spurelement“ in der polnischen Verfassung erscheint,
erhebt sich die Frage, inwieweit ihre Garantie greift. Es ist nämlich zu prüfen, ob die
Gewissensfreiheit so wie sie in der polnischen Verfassung garantiert ist, lediglich eine Facette
der Glaubensfreiheit darstellt, was zur Folge hätte, dass deren Betätigung nur im Rahmen der
allgemein anerkannten Formen der Religionsausübung möglich ist, oder ob ihr eine von
einem religiösen Glauben unabhängige und autonome Bedeutung zukommt. In diesem
Zusammenhang gewinnt die Ermittlung, ob und inwieweit das Recht gemäß den Diktaten
seines Gewissens leben zu dürfen, das seinen Inhalt nicht notwendig aus einem religiösen
Glauben schöpft, durch die polnische Verfassung geschützt wird, an Relevanz.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, eigenständige Merkmale der Gewissensfreiheit in der
polnischen Verfassung von 1997 herauszuschälen. Dabei wird aufgezeigt, welche Bedeutung
die Gewissensfreiheit sowohl für den Einzelnen als auch für das demokratische Gemeinwesen
hat bzw. haben kann. Zum Ausgangspunkt der Analyse wird die Darstellung der Entwicklung
der Auslegung der Gewissensfreiheit in der polnischen Rechtslehre und Rechtsprechung
gemacht. Daraufhin wird geprüft, inwieweit die bisher aufgearbeiteten Lehrmeinungen zum
Umfang und Bedeutung der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung im Lichte der
durch die allgemeine Methodenlehre erarbeiteten Auslegungsregeln der Rechtsvorschriften
sowie der für die Auslegung der Verfassung spezifischen Interpretationsdirektiven haltbar
sind. Der Ergründung des Schutzbereichs und Schranken der Gewissensfreiheit geht der
Versuch voraus, ein möglichst präzises Verständnis des Gewissensbegriffs zu gewinnen und
es für die rechtsdogmatische Diskussion fruchtbar zu machen. Die Arbeit wird mit
Darstellung der wichtigsten Typen der Verweigerung aus Gewissensgründen und Erforschung
deren Schutzmöglichkeiten durch die Gewissensfreiheit abgeschlossen.
4
Die Gewissensfreiheit wird in den Fällen relevant, wo bestimmte Rechtspflichten mit den
Diktaten des eigenen Gewissens nicht vereinbar sind und daher der Konflikt zwischen der
Rechtsordnung und einer individuellen Moralvorstellung entsteht. Es wird deshalb zu prüfen
sein, ob die Rechtsordnung, welche die Religions- und Gewissensfreiheit gewehrleistet, neben
den typischen Modalitäten des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen auch das
allgemeine Verweigerungsrecht, d.h. das Recht von irgendeiner Rechtspflicht befreit zu
werden, die gegen das Gewissen des betroffenen Individuums verstößt, implizite vorsieht oder
ob es zumindest begründete Argumente für diese These gibt.
Die Erforschung des Schutzbereichs und Schranken der Gewissensfreiheit erfolgt unter
Berücksichtigung der einschlägigen völkerrechtlichen Rechtsprechung und Lehre. Die
Einbeziehung der völkerrechtlichen Perspektive bei der Auslegung des einheimischen Rechts
wird in erster Linie mit dem Verfassungsgebot begründet, dass die Republik Polen das für sie
verbindliche Völkerrecht befolgen soll (Art. 9 Verf.). Der Bezug auf völkerrechtliche
Regelungen der Glaubens- und Gewissensfreiheit befindet sich auch in der Präambel zum
Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit.4 Danach besteht der Zweck
des erwähnten Gesetzes nicht nur darin, die verfassungsrechtlichen Schutzbestimmungen der
Religions- und Gewissensfreiheit zu konkretisieren, sondern auch die interne Rechtslage in
diesem Bereich an völkerrechtliche Schutzstandarte anzupassen.
Während die Betrachtung der Gewissensfreiheit als die von ihrem „Muttergrundrecht“ der
Religionsfreiheit verselbstständigte Freiheitverbürgung in der polnischen Verfassungslehre
nur ansatzweise zu verzeichnen ist, ist die mit dem Prozess der Säkularisierung verbundene
Ablösung der Gewissensfreiheit von ihren religiösen Wurzeln in vielen westlichen Ländern
bereits weitgehend fortgeschritten. Die Auslegung der Gewissensfreiheit hat im Ausland eine
erhebliche Evolution vom Verweigerungsrecht der religiösen Minderheiten zu einem
allgemeinen Grundrecht erfahren, das auch diejenigen ethischen Positionen schützt, die mit
keiner Religion in Verbindung stehen. Deshalb wird aus methodologischer Sicht zwecks der
Erweiterung der Argumentationsbasis und des Problembewusstseins die Rechtsprechung und
Lehre anderer Länder einbezogen. Dabei wird vor allem auf den Forschungsstand des
deutschen und spanischen Schrifttums und Rechtsprechung rekurriert. Die Auswahl der
4 Ustawa z dnia 17 maja 1989 o gwarancjach wolności sumienia i wyznania, Dz.U. 1989, Nr. 29, poz.155.
5
Rechtsordnungen Deutschlands und Spaniens wird damit begründet, dass dort die Problematik
der Gewissensfreiheit seit langem heftig diskutiert wird. Die unterschiedlichen
rechtsdogmatischen Betrachtungsweisen der Gewissensfreiheit in den genannten Ländern
kann sich für die polnische Grundrechtslehre als besonders bereichernd erweisen. Während in
Spanien der Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit verschiedenartigen Formen der
Verweigerung aus Gewissensgründen gelegt wird, die als eine Ausnahme von allgemeiner
Pflicht der Rechtsbefolgung profiliert werden, geht die Diskussion in Deutschland von einer
freiheitsrechtlichen Perspektive, d.h. von der Erfassung des Handelns nach Maßgabe seines
Gewissens als Ausübungsform des allgemeinen Grundrechts auf Gewissensfreiheit aus. Die
beiden Ansätze ergänzen sich gegenseitig, deswegen scheint es dienlich, sie als Impulse und
Wegweiser auf den polnischen Grund zu übertragen und für die Auslegung der
Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung fruchtbar zu machen.
Die Annahme des rechtsvergleichenden Ansatzes lässt sich auch mit soziologischen Gründen
rechtfertigen; die Verweigerung der Erfüllung einer Rechtspflicht wird nämlich immer
weniger an die Zugehörigkeit zu einem religiösen Kredo gebunden.5 Der Gewissensträger
wird nicht mehr als Hüter der überzeitlichen, objektiven Wahrheit angesehen; die
Verweigerung der Erfüllung einer Rechtspflicht aus Gewissensgründen wird nicht mehr für
eine Konfliktlage zwischen ius und lex gehalten. Der Verweigerer wird vielmehr als Schöpfer
der historischen und subjektiven Wahrheit und seine Gewissensverweigerung als ein
Spannungsverhältnis zwischen Recht und Praxis betrachtet.6 Darüber hinaus scheint es „dass
in den letzten Jahren die Forderung nach der Anerkennung des Rechts auf Verweigerung aus
Gewissensgründen seitens der Gesellschaft zugenommen hat. Derartige Forderungen werden
voraussichtlich auf Fälle ausgedehnt werden, die heutzutage unvorhersehbar sind.“7 Diese
Tendenz ist bereits in der Rechtsprechung der Europäischen Kommission und des
Gerichtshofs für Menschenrechte ersichtlich, wonach die Mehrzahl der durch die
Konventionsorgane entschiedenen Beschwerden wegen der Verletzung des Art. 9 EMRK
nicht den Schutz des traditionellen Glaubens oder Religion, sondern vielmehr philosophische
Überzeugungen und Anschauungen zum Leben betreffen.8 Die genannten Phänomene
5 J. L. Guzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 17.
6 R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del Estado español, Pamplona 1993,
S. 478f. 7 A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos
Nr. 4, Madrid 1986/87, S. 400 f. 8 M. Sobczak, Wolność sumienia i wyznania, jej gwarancje w systemie prawnym Rady Europy oraz w
orzecznictwie Europejskiego Trybunału Praw Człowieka w Strasburgu, in: Ius Novum, Nr. 3, 2003,S. 94.
6
betreffen zwar vor allem die Sozialwirklichkeit der westlichen Länder, welche mit der
Anwendung der Gewissensfreiheit wesentliche Erfahrungen gemacht haben, es ist aber zu
vermuten, dass ähnliche Probleme in vorhersehbarer Zukunft auch in Polen auftreten werden.
Deswegen ist notwendig, außer den in der polnischen Lehre bereits weitgehend erforschten
religionsbezogenen Aspekten der Gewissensfreiheit ihre „säkularisierte“ Dimension zu
untersuchen.
7
Kapitel I
Die Lehrmeinungen zur Gewissensfreiheit in der polnischen
Lehre und Rechtsprechung
1. Allgemeines
Im polnischen Konstitutionalismus war die Gewissensfreiheit zuerst an die Bekenntnisfreiheit
gekoppelt. Der Rechtsbegriff „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit“ erscheint zum ersten Mal
in der Märzverfassung von 1921, dann wurde er durch die Verfassung von 1952
aufgenommen. In der Verfassung von 1997 wurde allerdings dieser in der polnischen
Verfassungs- und Staatskirchenrechtslehre verwurzelte Rechtsbegriff durch einen bis dahin
sowohl in dem einheimischen als auch im Völkerrecht unbekannten Terminus „Gewissens-
und Religionsfreiheit“ ersetzt. Die folgenden Ausführungen haben zum Zweck, das
Verständnis der betroffenen Rechtsbegriffe in der polnischen Lehre aufzuzeigen. Daraufhin
wird geprüft, inwieweit sich die erwähnte terminologische Änderung auf die Auffassung des
Schutzbereichs des Rechts auf Gewissens- und Religionsfreiheit ausgewirkt hat. Letztlich
wird versucht zu ermitteln, ob und inwieweit die Gewissensfreiheit als das Recht auf
moralische Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in der polnischen Lehre und
Rechtsprechung geschützt wird. Dabei wird von dem allgemeinen d.h. von einer bestimmten
Rechtsordnung abstrahierten Konzept der Gewissensfreiheit als klassisches Grundrecht
ausgegangen. Danach bezieht sich die Gewissensfreiheit „auf die Überzeugungen jedes
Einzelnen von dem moralisch gesollten Verhalten. Sie schützt diese Überzeugungen der
Individuen von den Konsequenzen, welche sie wegen ihres Verhaltens gemäß ihren
Anschauungen leiden müssten.“9 Es wird somit vorausgesetzt, dass sich der Schutzberiech der
Gewissensfreiheit nicht auf den Bereich der Bildung der eigenen moralischen Überzeugungen
beschränkt, sondern dass er sich auch auf die Sphäre ihrer Verwirklichung, d.h. auf die
Handlungsfreiheit gemäß den unbedingten Diktaten des eigenen Gewissens erstreckt. Mit
anderen Worten enthält die Gewissensfreiheit das Recht, nicht nur eine bestimmte
philosophische, axiologische oder religiöse Position für sich zu wählen und anzunehmen,
9 M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 256.
8
sondern auch das Recht, das persönliche Verhalten an die genannten Überzeugungen
innerhalb der durch andere schützenswerte Rechtsgüter abgesteckten Grenzen anzupassen.10
Derart definiert kommt der Begriff der Gewissensfreiheit als ein Oberbegriff zur Erscheinung,
in dem das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen umfasst wird. Die Gewissensfreiheit
schützt nämlich den Einzelnen nicht nur vor den Eingriffen seitens des Staates und
gegebenenfalls seitens der Dritten in seine Handlungsfreiheit, gemäß den angenommenen
moralischen Überzeugungen in der Sphäre des rechtlich Erlaubten (Gewissensfreiheit im
engeren Sinne) zu leben, sondern auch eröffnet ihm eine Möglichkeit, sich auf sein Gewissen
zu berufen, um die Erfüllung einer Rechtspflicht zu verweigern, wenn sie mit den Diktaten
seines Gewissens unvereinbar sind (Gewissensfreiheit im weiteren Sinne). Es wird somit
vorausgesetzt, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen „eine Konkretisierung der
Gewissensfreiheit ad extra“11
d.h. eine Verwirklichungsform der letzteren in den Situationen
ist, in denen die tiefen moralischen Überzeugungen des Einzelnen mit den geltenden
Rechtspflichten in einen Konflikt geraten. Weder die polnische Rechtstheorie noch die
Verfassungslehre und Staatskirchenrechtslehre thematisieren die Problematik des allgemeinen
Verweigerungsrechts als Hauptanwendungsfall der Gewissensfreiheit: nur gelegentlich wird
dieses Recht mit dem Hinweis verneint, dass die Berufung auf die Gewissensklausel lediglich
in den gesetzlich reglementierten Fällen möglich ist.12
Unter diesen Umständen sind die
nachfolgenden Ausführungen mit einer rechtstheoretischen Darstellung dieser Figur zu
beginnen, wobei auf ausländische Lehre zurückgegriffen wird.
10
Á. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la
fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 38. 11
Ebenda, S. 37. 12
A. Łopatka, Jednostka, jej prawa człowieka, Warszawa 2000, S. 127; J. Godlewski, Obywatel a religia.
Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 27.
9
2. Der Begriff der Verweigerung aus Gewissensgründen
2.1. Begriffsbestimmung
Das Leitmotiv der Gewissensfreiheit ist der Konflikt zwischen Gewissensgeboten und
Rechtsgeboten.13
Dieser Konflikt wird mit der Rechtsfigur der Verweigerung aus
Gewissensgründen beschrieben. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist eine
Widerstandsform gegen eine Rechtsnorm, falls sie mit „moralischen, religiösen oder
Gerechtigkeitspflichten eines Einzelnen“ 14
in den Widerstreit gerät. Dem wird insbesondere
in der Lehre der Länder des romanischen Sprachraums dadurch Rechnung getragen, dass dort
vielmehr von Verweigerung aus Gewissensgründen (objeción de conciencia) als von der
Gewissensfreiheit die Rede ist. Die Fokussierung auf den Konflikt zwischen der
Rechtsordnung und den Moralvorstellungen des Einzelnen bei der rechtstheoretischen
Behandlung der Gewissensfreiheit kann damit begründet werden, dass der Einzelne nicht
braucht, sich auf Gewissensfreiheit zu berufen, wenn es keine (gesetzliche oder vertragliche)
Rechtsnorm gibt, die ihm verpflichtet, sich im Widerspruch zu seinem Gewissen zu verhalten,
oder wenn ihm eine Möglichkeit offensteht, ein anderes Recht in Anspruch zu nehmen, um
dadurch dem Gewissenskonflikt zu entgehen.15
Als Beispiel für die zweite Möglichkeit wird
in der Lehre auf die Vorschriften über den Ausschluss der Richter aus einem gerichtlichen
Verfahren angegeben. Es wird nämlich argumentiert, dass es Fälle geben kann, in denen die
Gewissensgründe des Richters seine Unparteilichkeit insoweit beeinträchtigen, dass der
Ausschluss des Richters mit Hilfe von diesbezüglichen Regelungen erreicht werden kann.16
Wenn der Richter die Teilnahme in einem Verfahren aus Gewissensgründen verweigert, etwa
eine Genehmigung zu der Abtreibung im Fall der Minderjährigen zu erteilen, liegt ein
Sonderfall der Parteilichkeit vor, weil die Gewissensnot ihn zu einer Entscheidung contra
legem bewegen kann. Die Ausschließung des Richters ist somit mit dem Grundsatz des
Rechtsstaates kohärent.
13
J. Rivera-Flores, I. Acevedo-Medina, Objeción de conciencia y el anestesiólogo, in: Revista Mexicana
deAnestesiología, Vol. 32, Suplemento 1, abril-junio, 2009, S. 156; U. K. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2, in: E.
Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland, Art. 4, Rn. 34, Frankfurt 1989. 14
Á. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la
fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 36. 15
J. López Gózman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 83; A. Ruiz Miguel, Sobre la
fundamentación de objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos, Madrid 1986/87, S. 407. 16
R. Asís Roig, Juez y objeción de conciencia, in: Sistema, 1993, S. 113.
10
Einige Autoren haben die Ansicht geäußert, dass die Anerkennung der allgemeinen
Gewissensfreiheit, d.h. des Rechts des Einzelnen, in jedem Lebensbereich nach Diktaten
seines eigenen Gewissens handeln zu können, zur Negation des allgemeinverpflichtenden
Charakters der Rechtsnormen und daher zur Negation des Staats- und Rechtswesens führen
würde,17
weil damit die Erfüllung jeder Rechtspflicht von der Gewissensentscheidung des
Einzelnen abhängig gemacht wird. Aus diesem Grund wird das allgemeine
Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen gelegentlich mit der Rechtsfigur des zivilen
Ungehorsams gleichgestellt.18
Das Postulat von John Rawls, dass das Recht immer die
Diktate des Gewissens respektieren muss,19
scheint somit unerfüllbar zu sein. Das
Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen kann nur in den konkreten Falltypen durch die
Norm „des adäquaten Ranges“20
anerkannt werden.
Nach einer Ansicht besteht die Verweigerung aus Gewissensgründen in einem rechtswidrigen
Verhalten (Tun oder Unterlassen), das mit axiologischen – und nicht bloß psychologischen –
Gründen vom religiösen oder ethischen Inhalt motiviert wird und das zum Zweck hat,
entweder eine für das Gewissen weniger lästige der gesetzlich vorgesehenen Alternativen in
Anspruch zu nehmen, oder die Erfüllung einer Rechtspflicht und/oder die mit der
Nichterfüllung zusammenhängende Sanktion zu vermeiden. Darüber hinaus kann sich die
Gewissensverweigerung durch die auf Herbeiführung einer mit der individuellen
Gewissensposition konformen Rechtsänderung zielenden Maßnahmen zum Ausdruck
kommen.21
Diese Begriffsbestimmung ist wegen ihres unpräzisen Charakters und ihrer inhaltlichen Breite
nicht anzunehmen. Zum einen wenn davon ausgegangen wird, dass die Verweigerung aus
Gewissensgründen eine rechtswidrige Handlung ist, kann nicht behauptet werden, dass diese
Handlung u.a. in einer Entscheidung für eine durch das Gesetz vorgesehene weniger lästige
Alternative besteht. Weder im rechtstechnischen noch im umgangssprachlichen Sinn wird
behauptet, dass sich im Fall einer Entscheidung für eine gesetzlich anerkannte Option, etwa
17
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 43; Entscheidung des spanischen
Verfassungstribunals STC 161/1987. 18
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 43. 19
J. Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1971, S. 370. 20
J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del
derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 370. 21
R. Navarro–Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,
S. 482; J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 105.
11
für eine weltliche Eidesform, um Verweigerung aus Gewissensgründen handelt. Zum anderen,
wenn angenommen wird, dass die Rechtsfigur der Verweigerung aus Gewissensgründen
Maßnahmen umfasst, die darauf ausgerichtet sind, die von dem Einzelnen für „gerecht“
gehaltene moralische Position etwa durch eine Rechtsänderung den Anderen aufzuerlegen,
verwischt sich die Grenze zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen und dem
zivilen Ungehorsam.22
Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Befolgung eines
Gewissensimperatives lediglich „die (Wieder)Herstallung des Friedens mit sich selbst und
Aufbewahrung eigener Identität“23
zum Ziel hat. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist
deshalb immer direkt; d.h. sie richtet sich gegen diejenige Rechtspflicht, die für den Einzelnen
gewisse moralische Relevanz aufweist, und damit geeignet ist, den Gewissenskonflikt
hervorzurufen. Die Verweigerung, die gewissensneutralen Rechtspflichten zu erfüllen, etwa
als Druckmittel, um die Befreiung von der gewissensverletzenden Rechtspflicht zu erlangen
(indirekte Verweigerung), steht wegen einer anderen Finalität außerhalb des Begriffsbereichs
der Verweigerung aus Gewissensgründen.24
Die Verweigerung stützt sich auf eine zwingende
Gewissensnorm, die vom Einzelnen als hochrangiger gegenüber einer verweigerten
Rechtsnorm angesehen wird. Die Geltung der Gewissensnorm geht aber über den personellen
Bereich nicht hinaus. Auch der Versuch, eine Sanktion wegen Nichterfüllung einer
Rechtspflicht zu vermeiden, kann in den Fällen der nachträglichen d.h. ein rechtswidriges
Verhalten folgenden Berufung auf das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen zwar für
den Einzelnen von Bedeutung sein, gehört aber nicht zu den konstitutiven Elementen dieser
Rechtsfigur. Die Vermeidung der Sanktion leistet nämlich keinen wesentlichen Beitrag zur
Aufrechterhaltung der moralischen Identität des Gewissensträgers.
Der dargestellten Begriffsbestimmung ist allerdings insoweit zuzustimmen, dass die
Rechtswidrigkeit der Handlung das Wesen der Verweigerung aus Gewissensgründen
ausmacht. Damit unterscheidet sie sich von der Gewissensfreiheit im engeren Sinne, die
ihrerseits als eine Handlungsfreiheit gemäß den Diktaten des Gewissens zu verstehen ist, die
sich im Bereich des rechtlich Erlaubten abspielt und zu keinen Konflikten mit dem geltenden
22
Zur Abgrenzung zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen und dem zivilen Ungehorsam siehe:
Kapitel 1, Punkt 2.4. 23
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 31. 24
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 54.
12
Recht führt.25
Die Verweigerung aus Gewissensgründen besteht somit in einer Absage des
Einzelnen, eine mit den Diktaten seines Gewissens kollidierende Rechtspflicht zu erfüllen.
López Guzmán situiert die Figur der Verweigerung aus Gewissensgründen in das Spektrum
der möglichen Haltungen des Einzelnen gegenüber der Rechtsordnung und hebt sie von dem
sog. passiven Gehorsam ab.26
Mit dem passiven Gehorsam wird die Nichterfüllung einer
Rechtsnorm bei gleichzeitiger Hinnahme der vorgesehenen Sanktion gemeint. Obwohl in
diesem Fall eine Rechtsnorm nicht befolgt wird, wird diese Haltung als eine Gehorsamsform
dem Recht gegenüber mit der Begründung angesehen, dass das Individuum die Anwendung
einer Sanktion ohne Widerstand und mit Resignation hinnimmt. Die Verweigerung aus
Gewissensgründen weist die Eigenschaften des passiven Gehorsams auf. Dazu kommt aber
der öffentliche Charakter der Verweigerung, welcher die differentia specifica dieser
Rechtsfigur ausmacht. Dem Verweigerer kommt nämlich nicht nur darauf an, sein Leben mit
den angenommenen Grundsätzen kohärent zu machen, sondern auch darauf, diese Grundsätze
zu offenbaren und sich zu ihnen zu bekennen.
Diesem Ansatz ist entgegenzuhalten, dass die Absicht, die anerkannten ethischen Grundsätze
öffentlich kundzutun, zum Wesen der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht gehört,
sondern lediglich die Nebenfolge ihrer Inanspruchnahme darstellt. Auch die Bereitschaft, die
von der Rechtsordnung vorgesehene Sanktion hinzunehmen, ist für die Verweigerung aus
Gewissensgründen nicht begriffsnotwendig. Darüber hinaus ist die Bezeichnung „passiver
Gehorsam“ wenig geeignet, um den genus proximus der Verweigerung aus Gewissensgründen
zu beschreiben, weil eine Rechtsnorm doch verletzt wird und die eventuelle Bereitschaft, sich
der Sanktion zu unterwerfen, daran nichts ändern kann.
Eine präzise Definition der Verweigerung aus Gewissensgründen wurde von Gascón
Abellán27
vorgeschlagen. Die Autorin weist dabei auf zwei Elemente hin, die für die
Rechtsfigur der Verweigerung aus Gewissensgründen konstitutiv sind:
25
M. J. Ciaurriz, Objeción de conciencia y estado democrático, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas,
Derecho fundamental de libertad religiosa, México 1994, S. 76. 26
J. Guzmán López, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 23ff, siehe auch: S. Pau Agulles,
La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 26ff. 27
M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 245.
13
a) Das Vorliegen einer konkreten Rechtspflicht: Wenn dagegen eine Handlung dem freien
Ermessen des Einzelnen überlassen ist, oder wenn verschiedene Erfüllungsalternativen einer
Rechtspflicht zur Verfügung gestellt werden, kann vom Optieren und nicht vom Verweigern
die Rede sein.
b) Die Befreiung von einer Pflicht erfolgt gerade wegen Gewissensgründen und nicht wegen
anderen Motiven.
Darüber hinaus handelt sich bei der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht um die
Ausübung einer Freiheit, die eine Unterlassungspflicht des Staates fordert, sondern um einen
Anspruch, dass der Staat eine individuelle Norm der Anerkennung erlässt, aufgrund deren
dem Einzelnen entweder die Befreiung von der verweigerten Rechtspflicht oder die
Freistellung von der Sanktion wegen ihrer Nichterfüllung erteilt wird. Die Sanktion kann
dabei sowohl einen öffentlich-rechtlichen (strafrechtlichen, verwaltungsrechtlichen) als auch
einen privatrechtlichen (zivilrechtlichen, arbeitsrechtlichen) Charakter haben. Die eventuelle
Auferlegung einer Ersatzpflicht hat dagegen für die Rechtsfigur der Verweigerung aus
Gewissensgründen keine konstitutive Bedeutung.28
2.2. Typen der Verweigerung aus Gewissensgründen
Es können folgende Typen der Verweigerung aus Gewissensgründen unterschieden werden:
a) Direkte und indirekte Verweigerung aus Gewissensgründen.
Bei der direkten Verweigerung aus Gewissensgründen wird die Haltung des Gewissensträgers
damit begründet, dass die Erfüllung des betroffenen Rechtsgebots an sich sein Gewissen
verletzen würde. Dagegen im Fall der indirekten Gewissensverweigerung behauptet der
Einzelne, dass die verweigerte Rechtspflicht zwar keinen gewissensverletzenden Charakter
hat, ihre Erfüllung verursacht aber (zumindest gemäß dem vom Gewissensträger unterstellten
Ursachenzusammenhang) bestimmte Folgen, die von seinem Gewissen nicht getragen werden
können. Es ist allerdings in Betracht zu ziehen, dass das Kriterium der Unmittelbarkeit eines
Eingriffs in die Gewissensfreiheit für die Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs
untauglich ist. Die Frage, ob das Gewissen der Betroffenen unmittelbar oder mittelbar tangiert
ist, muss von dem einzelnen Grundrechtsträger entschieden werden. Würde sich das Gericht
28
M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 245, 249.
14
diese Entscheidung anmaßen, so liefe dies letztlich auf die unzulässige Kontrolle oder
apriorische Festlegung von akzeptablen Gewissensinhalten hinaus.29
b) Allgemeine und situationsbezogene Verweigerung aus Gewissensgründen.
Die allgemeine Verweigerung aus Gewissensgründen besteht in einer absoluten Ablehnung
der Erfüllung einer Rechtspflicht unabhängig von den Umständen und Folgen der
Gewissensbetätigung. Bei der situationsbedingten Verweigerung handelt es sich dagegen um
die Relativierung der Gewissensnormen hinsichtlich der konkreten Umstände.
c) Absolute und relative Verweigerung aus Gewissensgründen.
Bei dieser Differenzierung wird auf konkrete Modalitäten der Pflichterfüllung abgestellt. Im
Fall der absoluten Verweigerung lehnt der Einzelne jede durch den Gesetzgeber zur
Verfügung gestellte Modalität der Pflichterfüllung ab, während bei der relativen
Verweigerung der Betroffene bereit ist, eine bestimmte Modalität der Rechtspflicht zu
erfüllen (z.B. der Einzelne lehnt den Wehrdienst mit der Waffe ab, der waffenlose Wehrdienst
würde dagegen sein Gewissen nicht verletzen).
d) Totale und partikuläre Verweigerung aus Gewissensgründen.
Diese Unterscheidung setzt an die Motivation des Verweigerers an. Bei dem ersten
Verweigerungstyp wird die Anerkennung der Gewissensbetätigung des Einzelnen mit der
Glaubhaftmachung keiner speziellen Kategorie der Gewissensgründe verbunden. Bei der
partikulären Verweigerung aus Gewissensgründen macht der Gesetzgeber die Anerkennung
der Gewissensposition vom Bestehen der bestimmten (z.B. religiösen, ethischen)
Motivationstypen abhängig.30
In der historischen Entwicklung der Verweigerung aus
Gewissensgründen lassen sich zwei Etappen ihrer Anerkennung durch den Staat
unterscheiden: In der ersten Phase wird die Befreiung von einer Rechtspflicht aus
Gewissensgründen ausschließlich aus religiösen Gründen denkbar. In diesem Zusammenhang
ist erwähnenswert, dass die erste Modalität der Verweigerung aus Gewissensgründen, also die
Kriegsdienstverweigerung mit dem Christentum in die Erscheinung tritt.31
Zurzeit lässt sich in
verschiedenen Staaten eine deutliche Tendenz beobachten, die Verweigerung aus
29
C. Eiselstein, Das „forum externum“ der Gewissensfreiheit – ein Weg in die Sackgasse, Die öffentliche
Verwaltung 1984, S. 797. 30
V. Reina, A. Reina, Lecciones del derecho eclesiástico del estado, Barcelona 1983, S. 417. In Deutschland
wird dagegen die totale Verweigerung, die Ablehnung sowohl des Kriegs- als auch Ersatzdienstes bezeichnet. 31
J. O. Araújo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 54.
15
Gewissensfreiheit an die Gewissen- oder Weltanschauungsfreiheit und nicht an die
Religionsfreiheit anzuknüpfen.
e) Die Verweigerung secundum legem und contra legem.
Das Unterscheidungskriterium ist hier der Umstand, ob ein Verweigerungstyp durch den
Gesetzgeber anerkannt ist oder nicht. Gelegentlich wird vertreten, dass die echte
Verweigerung aus Gewissensgründen eine rechtsverletzende Handlung voraussetzt; wenn
eine Verweigerungsmodalität durch den Gesetzgeber anerkannt ist, soll vielmehr von einer
Option des Gewissens und nicht von der Verweigerung aus Gewissensgründen gesprochen
werden In diesem Fall erhalten die Bürger in der Tat eine Wahlmöglichkeit zwischen den
alternativen Rechtspflichten. Damit verliert die Verweigerung aus Gewissensgründen ihre
konstitutiven Eigenschaften, d.h. ihren individuellen und höchstpersönlichen Charakter.32
Durch die Schwerpunktsetzung auf die Rechtswidrigkeit einer Handlung verkennt diese
Auffassung allerdings, dass nicht die Rechtswidrigkeit, sondern das Vorliegen der
Konfliktsituation zwischen einer Rechtsnorm und Gewissensnorm den Kern der
Verweigerung aus Gewissensgründen ausmacht. Die eventuelle Anerkennung eines
Verweigerungstyps durch den Gesetzgeber ist für die Definition dieser Rechtsfigur ohne
Bedeutung.33
Es ist nämlich zu betrachten, dass aus Gewissensfreiheit keine rechtliche Unverbindlichkeit
einer Rechtsnorm für den Einzelnen ableitbar ist, welcher der Überzeugung ist, dass sie sich
mit seinem Gewissen nicht vereinbaren lässt. Die objektive Gültigkeit einer demokratisch
verabschiedeten Norm hängt von keinen subjektiven Maßstäben ab, sondern gründet sich
darin, dass sie gemäß dem in der Verfassung vorgesehenen Verfahren zustande gekommen
ist. Die Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit kann deshalb nur die
Beschränkung der Erzwingbarkeit des Rechts zur Folge haben. Die im demokratischen
Willensbildungsprozess zustande gekommenen Normen sind verbindlich auch für das
Individuum, dessen Gewissen sie widersprechen. Sie dürfen allerdings ihm gegenüber nicht
erzwungen werden.34
Eine Rechtspflicht wird daher mit ihrer Verweigerung automatisch nicht
aufgehoben. Wenn der Pflichtadressat die Verweigerung nicht zur Kenntnis gibt, ist diese
Pflicht weiter bindend. Das konstitutive Element der Verweigerung aus Gewissensgründen,
32
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 336; R. Navarro - Valls, Las
objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993, S. 482. 33
R. Navarro - Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario de
Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 261, Fn. 9. 34
D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 230.
16
also die Ablehnung, eine Rechtspflicht aus moralischen Gründen zu erfüllen, ist somit nicht
berührt, wenn die Verweigerung in einem Fall gesetzlich anerkannt ist. Im Unterschied zu
einer bloßen Wahlalternative, etwa zwischen Religions- und Ethikunterricht oder zwischen
der religiösen und weltlichen Eidesform, wo der Einzelne für eine der angebotenen
Alternativen optieren kann, handelt es sich bei der Verweigerung aus Gewissensgründen um
eine Ablehnung oder Negierung einer Rechtspflicht. Darüber hinaus wird die Befreiung von
der Rechtspflicht nicht aus einem beliebigen, sondern aus Gewissensgründen erteilt, daher
kann von einer gänzlichen Entscheidungsfreiheit des Verpflichteten nicht die Rede sein.35
2.3. Arten der verweigerungsfähigen Rechtspflichten
Bei der Bestimmung der Reichweite der Rechtsfigur der Verweigerung aus
Gewissensgründen ist die Feststellung von Bedeutung, welche Kategorien der Rechtspflichten
zum Gegenstand der Verweigerung werden können. Da die Meinung, wonach sich die
Verweigerung aus Gewissensgründen gegen irgendeine Rechtspflichten richten kann36
, in der
Lehre aus verschiedenen Gründen nicht geteilt wird, ist zu prüfen, ob es Rechtspflichtarten
gibt, die naturgemäß „verweigerungsunfähig“ sind. Darunter ist zwischen folgenden
Kategorien der Rechtspflichten zu unterscheiden:
a) Absolute und relative Rechtspflichten
Fraglich ist zunächst, ob zum Gegenstand der Verweigerung aus Gewisssensgründen lediglich
die sog. absoluten Rechtspflichten werden können, deren Nichterfüllung mit einer Sanktion
versehen ist, oder ob damit auch die sog. relativen Rechtpflichten umfasst werden, die in der
Tat keine echten Rechtspflichten sind, sondern nur eine unerlässliche Voraussetzung für die
Erlangung eines Rechts oder einer Begünstigung darstellen. Die Antwort auf die so gestellte
Frage hängt von dem zugrundegelegten rechtstheoretischen Konzept der Sanktion ab. Wenn
unter einer Sanktion die Herbeiführung jeder ungünstigen Situation für den Einzelnen zu
verstehen ist, d.h. dieser Begriff nicht nur auf eine Bestrafung, sondern auch auf den Verlust
eines Vorteiles erstreckt wird, müssen die relativen Pflichten konsequenterweise als
35
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 48; A. Ruiz Miguel,
Sobre la fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos, Nr. 4, Madrid
1986/87, S. 406 ff. 36
J. Rivera-Flores, I. Acevedo-Medina, Objeción de conciencia y el anestesiólogo, in: Revista Mexicana de
Anestesiología, Vol. 32, Suplemento 1, abril-junio, 2009, S. 156.
17
verweigerungsfähig angesehen werden.37
Zum Kern des Sanktionsbegriffes gehört zwar die
Versetzung eines Individuums in eine Zwangslage, die darin besteht, dass ihm im Fall der
Nichtbefolgung einer Norm ein gewisses Übel angetan wird, die Sanktion wird aber nicht
gegen eine beliebige Person, sondern gegen den konkreten Normadressaten einer
Rechtspflicht gerichtet.38
Die sog. relativen Pflichten sind allerdings keine echten
Rechtspflichten, sondern lediglich Voraussetzungen an deren Erfüllung die Ausübung eines
Rechts oder die Zulassung zu einem Dienst angeknüpft wird. Da niemand rechtlich
verpflichtet ist, sich etwa um bestimmte Stellen zu bewerben oder bestimmte Begünstigungen
in Anspruch zu nehmen, werden die sog. relativen Pflichten von der Rechtsfigur der
Verweigerung aus Gewissensgründen nicht erfasst. Diese Sachverhalte sollen vielmehr als
Diskriminierungsfälle wegen religiösen oder weltanschaulichen Gründen thematisiert
werden.39
b) Öffentlichrechtliche und privatrechtliche Pflichten
Weiterhin umfasst der Begriff der verweigerungsfähigen Rechtspflicht sowohl
öffentlichrechtliche als auch privatrechtliche Rechtspflichten, weil aus der Perspektive des
Verweigerers die Quelle und Entstehungsart der verweigerten Rechtspflicht irrelevant ist. Die
verweigerungsfähigen Rechtspflichten können sich daher unmittelbar aus einem generellen –
abstrakten Rechtsakt sowie aus einem individuellen richterlichen und behördlichen
Rechtsanwendungsakt ergeben.40
c) Handlungs- und Unterlassungspflichten
Weiterhin können sowohl die Handlungs- als auch die Unterlassungspflichten zum
Gegenstand der Verweigerung aus Gewissensgründen werden. In der Praxis richtet sich die
Verweigerung allerdings gegen die Handlungspflichten,41
weil das Gewissen primär in seiner
Abwehrfunktion auftritt. Seine Imperative sind vor allem Gebote des Unterlassens den
Anforderungen von außen gegenüber.42
Deshalb wird gelegentlich der Schutzbereich der
37
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 44. 38
S. Wronkowska, Z. Ziembiński, Zarys teorii prawa, Poznań 2001, S. 206f. 39
I. M. Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State Relations,
Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S.396. 40
P. A. Talavera Fernández, V. Bellver Capella, La objeción de conciencia farmacéutica a la píldora postcoital,
in: Bioética en la red, http://www.bioeticaweb.com/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=264
(01.09.2010). 41
Z. B. die Verweigerung eines Arztes, die gerichtlich gebotene Behandlung durchzuführen, für welche die
Einwilligung des Patienten fehlt. 42
S. Sieira Mucientes, La objeción de conciencia sanitaria, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y
función pública, Madrid 2007, S. 46.
18
Gewissensfreiheit in ihrer abwehrrechtlichen Dimension auf das Recht auf Freistellung „von
der Pflicht zur Erfüllung gewissensbelastender staatlicher Gebote, sofern diese dem
Individuum einen gravierenden Konflikt aufzwingen (...)“43
beschränkt. In diesem
Zusammenhang wird argumentiert, dass die Gesellschaft im größeren Maße zustande ist, sich
auf die Folgen des gewissensbedingten Unterlassens als auf die Konsequenzen des
„aggressiven“ Tuns einzustellen, deshalb muss sich die Gesellschaft im Fall des
gewissensgeleiteten Unterlassens den Ausfall einer Leistung kompensieren. Im Fall der
Handlung muss dagegen der Einzelne nach alternativen Ausweichmöglichkeiten suchen; „Die
Folgen muss tragen, wer über die Alternativen verfügt.“44
Bei der Beschränkung der
Verweigerung aus Gewissensgründen auf gesetzliche Handlungsgebote wird auch auf gewisse
Passivität und den friedlichen Charakter dieser Rechtsfigur sowie kleinere Gefahr für die
Gesellschaft im Fall ihrer Anerkennung hingewiesen.45
Die Kategorie der Handlungspflichten
ist allerdings sehr weit und umfasst die Pflichten, welche von dem Einzelnen verschiedene
Verhaltensweisen verlangen, nämlich ein aktives Tun (facere), eine Vermögensleistung zu
erbringen (dare) oder das Verhalten Anderer oder einen Zustand zu dulden46
(pati).47
Obwohl die Verweigerungsfälle aus Gewissensgründen, einem Rechtsverbot zu folgen,
„Laborbeispiele“ sind, die keine beträchtliche statistische Relevanz aufweisen, lässt sich das
gewissensmäßige Verhalten nicht auf Tun und Unterlassen aufspalten und damit dem
unterschiedlichen Schutz der Gewissensbetätigungsfreiheit unterstellen. Es ist daher der
Meinung nicht zu folgen, wonach gesetzliche Verbote prinzipiell Vorrang vor
gewissensmotiviertem Handeln haben. Die grundsätzliche Beschränkung des Schutzbereichs
der Gewissensfreiheit auf das gewissensbedingte Unterlassen ist schon deshalb unzulässig,
weil die Rechtsordnung dem Gewissen nicht vorschreiben darf, in welchen Situationen es
herausgefordert wird. Es lässt sich auch kein Grund finden, weshalb ein Gewissenskonflikt
bei einer Verweigerung, ein Rechtsgebot zu erfüllen grösser sein sollte, als wenn ein
43
D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229. Siehe auch: J. Daniska, Wolność
sumienia na Słowacji, in: Międzynarodowy Przegląd Polityczny, Nr. 1, 2006, S. 232; M. J. Falcón y Tella,
Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de Derechos Humanos.
Nueva Época, vol. 10, 2009, S.181. 44
N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 283. 45
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 30. 46
Ein Beispiel für das Abwehrrecht gegen eine staatliche Duldungspflicht bildet der Fall, in dem
Grundstückbesitzer nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, auf seinem Grundstück die Jagt tolerieren zu
müssen, weil er Gegner der Jagt ist. (App. 25088/94, Chassagnou et Lasgrezas v. France; App. 28443/95,
Montion v. France.). 47
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 34.
19
gewissensmäßiges Tun staatlicherseits verboten ist.48
Der Ausdehnung des Schutzes der
Gewissensfreiheit auf das gewissensbedingte Handeln liegt ein Verständnis dieses
Grundrechts zugrunde, wonach es die für das Gewissen charakteristischen Funktionen der
Kontrolle, der Abwehr und der Reaktion auf aufgezwungene Situationen schützen soll.
Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass gesetzliche Gebote, etwas zu tun oder zu dulden,
hinter einer dagegen getroffenen Gewissensentscheidung zurücktreten können, wenn die
Möglichkeit besteht, eine andere Handlung oder Duldung ersatzweise gesetzlich zur Pflicht zu
machen, ohne dass die gesetzlich geschützten Belange der Allgemeinheit oder Dritter dadurch
beeinträchtigt werden, während die Nichtbefolgung der gesetzlichen Verbote, aus welchen
Gründen auch immer, in der Regel dem Dritten oder der Allgemeinheit einen erheblichen
Schaden zufügt, sodass die Sanktion seitens des Staates durchaus gerechtfertigt ist.49
Darüber
hinaus ergibt sich zwischen dem gewissensbedingten Tun und Unterlassen ein qualitativer
Unterschied: beim gewissensgeleiteten Tun können individuelle Handlungsalternativen
vorhanden sein, wenn der dem Gewissensgebot zugrundeliegende Zweck verschiedenweise
erreicht werden kann. Beim positiven Tun verfügt das Gewissen selbst über
Handlungsalternativen, weil sich die positiven Prinzipien und Gebote in der Regel auf
verschiedene Weise realisieren lassen.50
Dieser Umstand ist bei der Abwägung der ins Spiel
kommenden Interessen auf der Schrankenebene zu berücksichtigen.51
Erst wenn die anderen
individuellen Handlungsalternativen durch das Gewissen verboten sind, oder wenn die
gewählte Handlungsweise durch das Gewissen geboten ist, dann besteht zwischen Handlung
und Unterlassung kein Unterschied mehr; beide Modalitäten sind im Hinblick auf
Schutzintensität der Gewissensfreiheit gleichwertig.52
48
G.U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 159. 49
Ch. Starck, Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt, F. Klein, Ch. Starck, Bonner Grundgesetz,
Kommentar, Band 1, Art. 4, München 1999, S. 472, Rn. 91. 50
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 68. 51
M.Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 201; F. Filmer, Das Gewissen als Argument im
Recht, Berlin 2000, S. 220f; G. U. Freihalter, Die Freiheit des Gewissens. Aspekte eines Grundrechts, Berlin
1973, S. 158. 52
R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München, 1993, Rn. 140; derselbe, Die
Freiheit des Gewissens und der Gewissensverwirklichung, in: DVBL, Nr. 84, 1969, S. 720; U. K. Preuß, in: AK,
Neuwied, Frankfurt 1989, Art. 4, Abs. 1, 2, S. 377, Rn. 43.
20
d) Persönliche Pflichten und Vermögenspflichten
Es ist anzunehmen, dass sowohl persönliche als auch Vermögenspflichten zum Gegenstand
der Verweigerung aus Gewissensgründen werden können53
, obwohl der letzte Punkt in der
Lehre streitig ist. Einige Autoren wollen nämlich die Vermögenspflichten aus dem
Schutzbereich der Gewissensfreiheit mit dem Hinweis ausschließen, dass der durch das
Gewissen des Einzelnen erlittene Schaden infolge der Erfüllung einer Vermögenspflicht
relativ geringfügig ist. Die gewissenswidrigen persönlichen Rechtspflichten verletzen das
Gewissen des Einzelnen im höheren Grade als der indirekte Beitrag zur Verwirklichung eines
für ungerecht gehaltenen Zweckes oder Situation, deswegen verdienen sie den höheren
Schutz.54
Die Verengung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf das Recht auf
Verweigerung der persönlichen Pflichten wird auch mit dem Demokratieprinzip begründet;
von der Erfüllung der durch die politische Mehrheit verabschiedeten Rechtspflichten kann
lediglich in der Ausnahmesituation abgewichen werden.55
Das Problem der Qualifizierung der Vermögenspflichten ist vor allem im Zusammenhang mit
der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen von Bedeutung. Bei der Entscheidung solcher
Fälle ist in Betracht zu ziehen, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen immer einen
direkten Charakter hat, d.h. es wird die Erfüllung derjenigen Rechtspflicht verweigert, die
vom Individuum als unmoralisch betrachtet wird. Die Verweigerung der Steuerzahlung hat
dagegen einen indirekten Charakter, weil die Zahlung der Steuer an sich gegen das Gewissen
des Einzelnen nicht verstößt, sondern die dadurch mitfinanzierten Ausgaben. Darüber hinaus
werden durch die Einnahmen alle staatlichen Aufgaben pauschal finanziert. Durch ihren
mittelbaren Charakter nähert sich die Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen
der Rechtsfigur des zivilen Ungehorsams.
53
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam , in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, Berlin 1989, S. 496; S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006,
S. 34. 54
J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del
derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 370; A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de
conciencia, Anuarios de Derechos Humanos, Nr. 4, S. 408; I. Iban, L. Prieto Sanchís, Lecciones de derecho
eclesiástico, Madrid 1989, S. 160. 55
L. Prieto Sanchis, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,
1984, S. 54.
21
2.4. Abgrenzung der Verweigerung aus Gewissensgründen von dem zivilen Ungehorsam
Einige Autoren betrachten die Verweigerung aus Gewissensgründen als Unterfall des zivilen
Ungehorsams. Z. B. Biały beschreibt diese Rechtsfigur als ein Ungehorsam, der in
öffentlicher, augenfälliger Nichtbefolgung einer Rechtsnorm besteht, welche im Gewissen für
ungerecht und unglimpflich gehalten wird. Ihr wohnt die Bereitschaft inne, eventuelle
negative Folgen der Nichterfüllung der Rechtspflicht zu tragen, weil sein Zweck nicht nur in
der Absage an dem Bösen teilzunehmen liegt, sondern auch sie bildet eine Handlung, die auf
Änderung der ungerechten Norm durch Anrufung des Gewissens (Sensibilität) der
Öffentlichkeit ausgerichtet ist.56
Um die Klarheit über die Charakteristika der Verweigerung
aus Gewissensgründen zu verschaffen, ist sie allerdings von der „benachbarten“ Rechtsfigur
des zivilen Ungehorsams abzugrenzen.57
Der zivile Ungehorsam ist eine illegale, nichtgewaltsame, öffentliche Handlung, welche auf
die Vereitelung eines als unmoralisch oder ungerecht empfundenen Rechtsaktes oder einer
politischen Entscheidung ausgerichtet ist.58
Das entscheidende Unterscheidungskriterium des
zivilen Ungehorsams von der Verweigerung aus Gewissensgründen ist daher die Zielsetzung
der beiden Rechtsfiguren.59
Während der Bürger, der sich auf den zivilen Ungehorsam beruft,
56
S. Biały, Wybrane zagadnienia z bioetyki, Olecko 2006, S. 339f. 57
Statt vieler: M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in:
Anuario de Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 171ff; G. Escobar Roca, La objeción de
conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 58 ff.; M. J. Falcón y Tela, La desobediencia civil,
Barcelona 2000, S. 77 ff; H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2,
Santiago de Chile 2008, S. 15; S. Mosquera Molenos, El derecho de libertad de conciencia y de religión en el
ordenamiento jurídico peruano, Lima 2005, S. 164f; J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-
Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 363ff. Skeptisch zur
Abgrenzung zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen und dem zivilen Ungehorsam spricht sich
Navarro-Valls aus, der vom Selbstverständnis des Gewissensträgers als maßgebliches Abgrenzungskriterium
ausgeht, die Unterscheidungsmaßstäbe zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen und dem zivilen
Ungehorsam (individuell – kollektiv, öffentlich – privat) für irrelevant hält, sowie den Druck auf
Gesetzesveränderung als eine der Zielsetzungen der Verweigerung aus Gewissensgründen zulässt. Dabei
argumentiert er, dass die Abgrenzung zwischen dem zivilen Ungehorsam und der Verweigerung aus
Gewissensgründen theoretisch zwar zutrifft, in der Praxis verwischt sich aber die Grenze zwischen den beiden
Konzepten: R. Navarro–Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español,
Pamplona 1993, S. 481.
Zippellius betrachtet dagegen die Verweigerung aus Gewissensgründen als eine Sonderform des zivilen
Ungehorsams: „Soweit aber einer schwerwiegenden Gewissenspflicht der Vorrang vor einer sonnst bestehenden
Rechtspflicht zugesprochen wird, ist der so motivierte und begrenzte „zivile Ungehorsam“ durch die Verfassung
legalisiert, im strengen Sinn also kein Rechtsgehorsam“ (R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung – Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch.
Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 52). 58
E. de la Fuente Rubio, Democracia y desobediencia civil. Objeción de conciencia, in: Revista de la Facultad de
Derecho, Curso 1993-1994, Madrid 1995, S.102. 59
L. Prieto Sanchís, Desobediencia civil y objeción de conciencia, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 16; derselbe, La objeción de conciencia como forma de
22
die Veränderung einer bestimmten Rechtsnorm oder Politik herbeizuführen bezweckt, strebt
der Verweigerer aus Gewissensgründen nur danach, durch die Befreiung von der
Rechtspflicht sein Gewissen zu entlasten und dadurch seine Identität zu bewahren, selbst
wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die Verweigerung aus Gewissensgründen
in bestimmten Fällen in das Instrument der politischen Waffe umwandelt.
Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist in dem Sinne direkt, dass der Verweigerer sich
gerade gegen diejenige Rechtsnorm widersetzt, die gegen sein Gewissen verstößt. Der
Gegenstand einer Verweigerung kann lediglich, auf den konkreten Rechtsadressaten
gerichtete Rechtspflicht sein. Der Bürger, der auf den zivilen Ungehorsam greift, verletzt
dagegen eine Rechtsnorm, um damit zu erreichen, dass eine andere Rechtsnorm oder
Maßnahme, die er für ungerecht oder unmoralisch hält, aufgehoben oder verändert wird.60
Der
zivile Ungehorsam kann sich somit nicht nur gegen eine Rechtsnorm, sondern auch gegen
eine politische Maßnahme oder Institution richten. Daher sind die dem zivilen Ungehorsam
zugrunde liegenden Gründe immer der politischen Natur, wenn auch beim Rückgriff auf diese
Rechtsfigur in der Mehrzahl der Fälle auch moralische Motive wesentliche Rolle spielen,
wodurch sich der zivile Ungehorsam zur Verweigerung aus Gewissensgründen verdichten
kann.61
Weiterhin ist der zivile Ungehorsam immer illegal und stellt eine faktische Situation dar. Ihre
Anerkennung in den demokratischen Gesellschaften ist nur unter Voraussetzung der
„gravierenden Entstellung (desvirtuación transcendental) des demokratischen Systems und
absoluter Verkehrung der ihm unterliegenden Werte denkbar.“62
Die Legalität der
Verweigerung aus Gewissensgründen hängt dagegen von ihrer Anerkennung durch den
Rechtsgeber ab. Einige Autoren sprechen allerdings nicht vom illegalen, sondern vom
paralegalen Charakter des zivilen Ungehorsams. Damit soll diese Rechtsfigur von anderen,
insbesondere strafrechtlichen Rechtsverstößen abgehoben werden. Diese Bezeichnung wird
desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59, 1984, S. 50; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la
constitución española, Madrid 1993, S. 58; A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de
conciencia, in:Anuario de Derechos Humanos, Nr. 4, Madrid 1986/87, S. 402; S. Pau Agulles, La objeción de
conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 31. 60
L. Prieto Sanchís, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,
1984, S. 49. 61
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo,
Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, 254. 62
J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del
derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 369.
23
mit der allgemeinen Anerkennung des demokratischen Verfassungsstaates und freiwilligen
Hinnahme der Sanktion wegen der mit Ausübung des zivilen Ungehorsams verbundenen
rechtswidrigen Handlungen begründet.63
Das folgende Unterscheidungskriterium zwischen der Verweigerung aus Gewissensgründen
und dem zivilen Ungehorsam knüpft an die betroffenen Subjekte und seine
Handlungsmotivation an. Die Verweigerung aus Gewissensgründen hat vornehmlich den
individuellen Charakter, selbst wenn sich die Verweigerer zu einer Organisation
zusammenschließen, die ihre Interessen vertritt. Im Gegenteil nimmt der zivile Ungehorsam
wegen seiner Finalität am häufigsten die Form einer kollektiven Handlung an. Aus diesem
Grund basiert er auf politischen oder moralischen Grundsätzen, die dem jeweiligen
Gemeinwesen zugrundeliegenden. Die Fundierung des zivilen Ungehorsams ist niemals
subjektiv; er wird vielmehr immer in Übereinstimmung der persönlichen Gewissenspositionen
mit den anerkannten objektivierbaren und verallgemeinerbaren Grundsätzen der Moral und
Gerechtigkeit ausgeübt, auf denen die Rechtsordnung basiert und die in einem konkreten Fall
von der Mehrheit außer Acht gelassen worden sind. Deshalb können im Unterschied zur
Verweigerung aus Gewissensgründen weder subjektivistische Positionen, noch religiöse
Lehren als Basis für den zivilen Ungehorsam dienen.64
Der Bezug auf universale Werte wird
auch in der Zielsetzung des zivilen Ungehorsams deutlich: durch diese Tätigkeit wird
versucht, das demokratische System von Unregelmäßigkeiten und Ungerechtigkeiten zu
bewahren.65
Bei der Berufung auf den zivilen Ungehorsam wird gestrebt, die Mehrheit für
einen bestimmten Standpunkt zu gewinnen, wobei die Freiheit Anderer geachtet wird. Der
zivile Ungehorsam ist eine politische Handlung nicht nur deswegen, weil mit seiner
Ausübung an die jeweiligen Mehrheiten appelliert wird, sondern auch, weil diese Maßnahme
mit den politischen Prinzipien, d.h. mit den Prinzipien der Gerechtigkeit, welche die sozialen
Institutionen regulieren, gerechtfertigt wird.66
Die Verweigerung aus Gewissensgründen hat
dagegen seinen Ursprung in den subjektiven moralischen Auffassungen, die von dem
63
M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de
Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 173. 64
E. de la Fuente Rubio, Democracia y desobediencia civil. Objeción de conciencia, in: Revista de la Facultad de
Derecho, Curso 1993-1994, Madrid 1995, S.105; M. J. Falcón y Tela, La desobediencia civil, Barcelona 2000, S.
79; M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de
Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 178; G. Peces- Barba Martínez, Derecho y derechos
fundamentals, Madrid 1993, S. 360. 65
J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del
derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 367f. 66
L. Prieto Sanchís, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,
1984, S. 44f.
24
Moralverständnis der Gemeinschaft abweichen können,67
obwohl auch sie in der Mehrzahl
der Fälle aus den universellen moralischen Quellen schöpfen
Darüber hinaus nimmt der zivile Ungehorsam am häufigsten die Form eines aktiven
Verhaltens (Verstoß gegen Rechtsverbote), während die Verweigerung aus Gewissensgründen
vor allem den passiven Charakter hat d.h. sie kommt vornehmlich durch Verletzung von
Rechtsgeboten zum Ausdruck.68
Die beiden Rechtsfiguren (vorausgesetzt, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen
durch die Rechtsordnung nicht anerkannt ist) sind Formen des Ungehorsams dem Recht
gegenüber, deshalb weisen sie zahlreiche Ähnlichkeiten auf. Die Individuen, die auf beide
Konstellationen greifen, bringen die „minimale Treue“69
der rechtlichen und politischen
Ordnung entgegen. Der Staat und die Rechtsordnung werden von ihnen als legitim angesehen,
ihre Ablehnung richtet sich lediglich gegen eine bestimmte Norm. Betrachtet aus der
Perspektive des Einzelnen stellt sowohl die Verweigerung aus Gewissensgründen als auch der
zivile Ungehorsam eine bewusste und absichtsvolle Handlung dar. Die beiden
Handlungsformen sind nicht gewaltsam. Sowohl der zivile Ungehorsam als auch die
Verweigerung aus Gewissensgründen haben den öffentlichen Charakter, wenn auch die
Verweigerer nach der öffentlichen Manifestierung nicht streben. Im Fall der privaten oder
geheimen Verweigerung sollte vielmehr von einer Rechtsumgehung aus Gewissensgründen
und nicht von Verweigerung gesprochen werden.70
Die Betroffenen nehmen in der Regel die
durch ihr Verhalten hervorgerufene Sanktion hin. Insbesondere im Fall des zivilen
Ungehorsams kann die Bereitschaft, die Sanktionen für den Verstoß gegen eine Rechtsnorm
hinzunehmen, von Bedeutung sein. Dies geschieht, wenn durch Vergegenwärtigung der
Beschwerlichkeit einer Sanktion die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die zu Tage
gebrachte Unregelmäßigkeit gelenkt werden soll. Die Bereitschaft der Ungehorsamen für eine
causa bona Opfer zu erleiden, kann dazu benutzt werden, die Sympathie der übrigen Bürger
67
L. Prieto Sanchís, Desobediencia civil y objeción de conciencia, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 16, Fn. 6. 68
M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de
Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 181. 69
M. J. Falcón y Tela, La desobediencia civil, Barcelona 2000, S. 77. 70
M. J. Falcón y Tella, Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de
Derechos Humanos. Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 176.
25
hervorzurufen und sie zur Mitwirkung zu bewegen, welche zum Zweck hat, die zuständigen
Behörden zur Problemlösung zu veranlassen.71
3. Die Regelung der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtsystem
3.1. Rechtsstand
Die wichtigste Bestimmung betreffs der Gewissensfreiheit befindet sich in Art. 53 Abs. 1
Verf., wonach die Gewissens- und Religionsfreiheit jedem Einzelnen gewährleistet ist. Die
übrigen Absätze des Art. 53 Verf. beschäftigen sich jedoch ausschließlich mit Regelung der
einzelnen Aspekte der Religionsausübung. Im Vergleich zur Normierung anderer Grundrechte
in der polnischen Verfassung hat sich der Verfassungsgeber für ziemlich detaillierte
Beschreibung von einzelnen Modalitäten der Glaubensfreiheit entschieden, während er von
der ausdrücklichen Normierung der Ausübungsfreiheit des Gewissens und der
Weltanschauung völlig abgesehen hat. Auch die in Art. 53 Abs. 5 Verf. vorgesehenen
Schranken des Grundrechts beziehen sich lediglich auf die Freiheit der Religionsausübung.
Für die Regelung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit ist auch die Verankerung in der
polnischen Verfassung des Erziehungsrechts der Eltern von Bedeutung: gemäß Art. 53 Abs. 3
Verf. haben die Eltern das Recht, die moralische und religiöse Erziehung und Unterrichtung
ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren Anschauungen sicherzustellen. Die erwähnte
Vorschrift enthält einen Verweis auf Art. 48 Verf., der bestimmt, dass die Eltern bei der
Ausübung des Erziehungsrechts den Grad der Reife, die Gewissens- und Religionsfreiheit
sowie Anschauungen ihrer Kinder berücksichtigen sollen.
Die Gewissensfreiheit ist weiterhin im Zusammenhang mit dem Recht auf Religionsunterricht
(Art. 53 Abs. 4 Verf.) erwähnt; gemäß dieser Bestimmung kann Religion einer Kirche oder
einer anderen rechtlich anerkannten Glaubensgemeinschaft zum Gegenstand des schulischen
71
J. P. Rodriguez, La obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del
derecho, Barcelona, Madrid 1999, S. 368.
26
Unterrichts werden, wobei die Freiheit des Gewissens und der Religion Anderer nicht berührt
werden darf.
Von großer Bedeutung für die Regelung der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem
ist auch Art. 25 Abs. 2 Verf. Danach wahrt die öffentliche Gewalt die Unparteilichkeit in
Angelegenheiten der religiösen, weltanschaulichen und philosophischen Anschauungen und
gewährleistet die Freiheit, diese im öffentlichen Leben zu äußern. Die erwähnte Bestimmung
setzt die Gewissens- und Religionsfreiheit implizit voraus, ansonsten hätte sie keinen Sinn. In
diesem Zusammenhang wird vertreten, dass Gewissens- und Religionsfreiheit nicht nur einen
Grundrechtscharakter hat, sondern auch zum Rang eines der staatsorganisatorischen
Prinzipien erhoben worden ist.72
Winiarczyk - Kossakowska steht sogar auf dem Standpunkt,
dass Art. 25 Verf. „die wichtigste Garantie der Gewissens- und Religionsfreiheit darstellt.“73
Dieser Meinung ist allerdings die folgende Auffassung des Verfassungsgerichtshofes
entgegenzusetzen: „Die im ersten Kapitel der Verfassung enthaltenen Grundsätze des
Staatssystems der Republik Polen sind Vorschriften, die keinen höheren Rechtsrang im
Verhältnis zu anderen Verfassungsvorschriften genießen. Angesichts dessen finden sie in
denjenigen Situationen Anwendung, die nicht in anderen konkreteren Regelungen normiert
sind, sie können aber die letzteren nicht ‚ersetzen„. Sie können auch nicht zur Umgehung der
konkreten Verfassungslösungen führen, obwohl die letzteren in Übereinstimmung mit den
fundamentalen Systemgrundsätzen und nicht abgesehen von ihnen interpretiert werden
müssen.“74
Die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie der Grundsatz der Unparteilichkeit der
öffentlichen Gewalt in Angelegenheiten der religiösen, weltanschaulichen und
philosophischen Anschauungen bilden eine systematische Ganze, indem sie sich gegenseitig
bedingen und ergänzen. Die Gewissens- und Religionsfreiheit bildet „das allerletzte
Fundament, das die Neutralität des Staates und damit die Existenz des nichttotalitären Staates
sichert.“75
Das an den Staat gerichtete Neutralitätsgebot ist dagegen „eine objektive Garantie
72
P. Sarnecki, Idee przewodnie Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z 2 kwietnia 1997 r., in: Przegląd
Sejmowy, Nr. 5(22), 1997, S. 12; derselbe in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz,
Art. 53, Warszawa 2003, S. 2. 73
M. Winiarczyk - Kossakowska, Państwowe prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 27. 74
Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes von 29.04.2003: SK 24/02, OTK-A 2003/4/33. 75
M. Beneyeto, Art. 16. in: Villaamil Alzaga, Comentarios a las leyes políticas. Constitución Española de 1978,
Band 2, Madrid 1984, S. 337.
27
der politischen Art“76
der Religions- und Gewissensfreiheit. Die Sicherung dieser
Grundrechte wäre in einem konfessionellen Staat erschwert, wenn nicht unmöglich. Der enge
Zusammenhang zwischen dem Grundsatz der religiös - weltanschaulichen Unparteilichkeit
des Staates und der individuellen religiösen Freiheit wurde von Böckenförde wie folgt
expliziert: „Wie die Gewissensfreiheit am Beginn der Freiheit des Individuums, so steht die
Nichtidentifikation (Neutralität) am Beginn des modernen Staates; beide korrespondieren
einander. Durch den zunehmenden Abbau der existierenden Identifikationen ist der Staat zum
Wegbereiter der individuellen Freiheit und im eigentlichen Sinn zum gemeinsamen Haus aller
seiner Untertanen und Bürger geworden. Aus der Nichtidentifikation bezieht er daher im
hohen Maße seine Legitimität. Damit wird die Neutralität nicht nur als bloße
Nichtidentifikation gegenüber Identifikationsansprüchen der Religionen oder Ideologien
gedeutet, sondern auch als eine übergreifende, offene Neutralität, in deren Rahmen der
Einzelne sich in seiner Eigenart als geistige und sittliche Persönlichkeit in seinem Staat
unberührbar und geborgen weiß.“77
Darüber hinaus hat das Neutralitätsgebot als Interpretationsprinzip eine Ausstrahlungskraft
auf andere Verfassungsvorschriften. Das Neutralitätsgebot beeinflusst die Auslegungsrichtung
der Gewissensfreiheit dahingehend, dass es das weite über die bloße Glaubensfreiheit
hinausgehende Verständnis der grundrechtlichen Verbürgung als neutrale, ideologische
Freiheit, die zwar den religiösen Aspekt umfasst, sich aber in ihm nicht erschöpft, fördert.78
Aus dem Grundsatz der Neutralität des Staates ist geboten, den Begriff der Religion so weit
zu interpretierten, dass er neben Religionsfreiheit auch Weltanschauungsfreiheit mitumfasst.79
Die Hauptmanifestation der Gewissensfreiheit ist sowohl aus der historischen Perspektive als
auch in der Gegenwart die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen.80
In der
polnischen Verfassung ist dieses Recht in Art. 85 Abs. 3 gewährleistet. Danach kann ein
Staatsangehöriger, dessen religiöse Anschauungen oder moralische Überzeugungen die
Ableistung des Wehrdienstes nicht zulassen, zu einem Ersatzdienst gemäß den im Gesetz
bestimmten Grundsätzen verpflichtet werden. Für den Charakter des Art. 85 Abs. 3 Verf. als
76
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 456. 77
E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,
Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 267. 78
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 456. 79
J. Ipsen, Staatsrecht II. Grundrechte, Neuwied, Kriftel 2001, S. 122, Rn. 371. 80
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 201.
28
Rechtgrundlage des Rechts auf Wehrdienstverweigerung spricht die Nichtberücksichtigung
dieser Modalität bei der Aufzählung anderer Ausübungsformen der Gewissens- und
Religionsfreiheit; hätte der Verfassungsgeber das Recht auf Wehrdienstverweigerung als
Ausfluss der allgemeinen Gewissens- und Religionsfreiheit regeln wollen, hätte er diese
Problematik in Art. 53 Verf., also neben anderen Ausübungsformen der Gewissens- und
Religionsfreiheit normiert. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung stellt eine Konkretisierung
der Gewissens- und Religionsfreiheit aber nur dann dar, wenn der Schutzbereich des in Art.
53 Verf. verankerten Grundrechts der Gewissensfreiheit vom Denken über das Äußern bis
zum Handeln reicht.81
Deshalb falls das Recht auf Wehrdienstverweigerung oder Ersatzdienst
weder in der Verfassung ausdrücklich erwähnt noch vom Gesetzgeber geregelt worden wäre,
wäre ihre Einräumung insbesondere für diejenigen Personen, die den Kriegsdienst aus
moralischen Gründen ablehnen, von der Annahme der weiten Auslegung der
Gewissensfreiheit abhängig.
Letztlich befindet sich der Bezug auf das Gewissen in der Präambel zur Verfassung. Danach
ist von dem Bewusstsein „der Verantwortung vor Gott oder vor dem eigenen Gewissen“ die
Rede. Der Text der Präambel liefert Hinweise und Orientierungshilfe für die Interpretation
des Grundrechts der Gewissensfreiheit, worauf noch einzugehen sein wird.
Auf der gesetzlichen Ebene wird die Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem
ausführlich in dem Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit
behandelt. Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, dass obwohl dem Gesetzgeber die primäre
Interpretionskompetenz der Verfassung zusteht, bedeutet dies nicht, dass er der einzige und
endgültige Ausleger ist. Der Inhalt der Grundrechte wird nicht vom Gesetzgeber, sondern von
der Verfassung selbst bestimmt. Die Verfassungsvorschriften werden zwar von dem
Gesetzgeber konkretisiert, seine konkretisierende Tätigkeit schöpft aber nicht immer alle
potenziellen Sinndeutungen einer verfassungsrechtlichen Verbürgung aus, ansonsten hätte der
81
Vgl. die Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals von 23.April 1982, STC 15/1982, die sich unter
anderen auf die Auslegung von Art. 9 der EMRK durch konsultative Versammlung des Europarates (Resolution
337 von 1967) beruft.
29
Gesetzgeber (und sein Schweigen) bei der Inhaltsbestimmung der Grundrechte das letzte
Wort.82
Art. 1 GGBfG gewährleistet jedem Bürger die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Nach Abs.
2 des Art. 1 umfasst diese Freiheit das Recht, eine Religion oder Überzeugung zu wählen
sowie das Recht, sie individuell oder kollektiv, privat oder öffentlich zu äußern. Abs. 3 sichert
die gleichen Rechte im öffentlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Leben für Gläubige aller Religionen sowie für Nichtgläubige.
In Art. 2 GGBfG werden die einzelnen Manifestierungsformen der Religion und
Weltanschauung aufgezählt, wobei wie in der Verfassung der Schwerpunkt auf die
Religionsausübung gelegt wurde. Für die Ausübung der Gewissensfreiheit in ihrer weltlichen
Dimension sind die folgenden Betätigungsmodalitäten von besonderer Bedeutung: das Recht
der freien Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft (Nr. 2a), das Recht, seine Religion
oder Überzeugungen kundzutun (Nr. 3), das Recht, seine Kinder in Übereinstimmung mit
eigenen Überzeugungen zu erziehen (Nr. 4), das Schweigerecht in religiösen Angelegenheiten
(Nr. 5), das Recht laizistische Verbände zu bilden, die zum Zweck der Erfüllung von
Aufgaben dienen, die mit der Ausübung einer Religion oder Überzeugung zusammenhängen
(Nr. 11), das Diskriminierungs- und Privilegierungsverbot aufgrund der Überzeugungen in
religiösen Angelegenheiten (Art. 6), die Gleichstellung der Ausländer in den Staatsbürgern
zustehenden Rechten (Art. 7).
Art. 3 GGBfG regelt die Schranken der Betätigung eines Glaubens oder der Überzeugungen.
Die Beschränkung der Ausübungsfreiheit kann lediglich durch das Gesetz erfolgen, wenn dies
notwendig zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, der öffentlichen
Moral sowie der Rechte und Freiheiten Anderer ist. Besonders problematisch für die
Gewissensfreiheit ist die Regelung des Art. 3 Abs. 2 GGBfG, wonach die Inanspruchnahme
der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht dazu führen kann, dass sich der Rechtsträger von
den durch das Gesetz auferlegten öffentlichen Pflichten entzieht. Diese Regelung macht die
Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen, eine gesetzliche Pflicht zu erfüllen,
nicht möglich. Ihre Verfassungsmäßigkeit wird noch zu prüfen sein.
82
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 186.
30
3.2. Bewertung der Regelungsweise der Gewissens- und Religionsfreiheit in der
polnischen Verfassung
In den Arbeiten des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung wurde zuerst der
überkommene, auf die Märzverfassung von 1921 zurückgehende Begriff „Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit“ für die Bezeichnung der geregelten Freiheiten erwogen. Dann hat sich
aber der Verfassungsausschuss für den Begriff „Gewissens- und Religionsfreiheit“
entschieden.83
Die letztgenannte Bezeichnung wurde in den Art. 53 Verf. aufgenommen.
Sowohl die terminologische Änderung der Grundrechtsbezeichnung als auch die Ausrichtung
der bezüglichen verfassungsrechtlichen Verbürgungen auf den Schutz der Religion lässt sich
als Reaktion auf die Benachteiligung der Rechte der Gläubigen in der Epoche der
Volksrepublik Polen erklären. In diesem Zusammenhang wird die Ansicht vertreten, dass der
Ersatz des Begriffes „Bekenntnisfreiheit“ durch den engeren Begriff „Religionsfreiheit“ zum
politischen Ziel hatte, die Unterstützung der katholischen Kirche für die Verfassung zu
gewinnen.84
Die traditionelle Bezeichnung der besprochenen Grundrechte ist allerdings im
Rechtsbewusstsein sowohl der Rechtskundigen als auch der Laien sehr tief eingewurzelt,
sodass ihre Beseitigung durch die Verfassung von 1997 in der Rechtsprechung und Lehre nur
sehr langsam nachfolgt. Der Rechtsbegriff „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit“ wird im
Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit beibehalten. In dem nach
dem Inkrafttreten der Verfassung vom 1997 entstandenen Schrifttum zur Problematik der
Glaubensfreiheit werden die beiden Begriffspaare alternativ benutzt.85
Die interpretatorischen Probleme der die religiösen und weltanschaulichen Fragen
normierenden Vorschriften der Verfassung lassen sich allerdings nicht nur auf die einseitige
Fokussierung des Verfassungsgebers auf den Schutz der Religion und eine hintergründige,
nahezu beiläufige, Erwähnung der Gewissensfreiheit und der nichtreligiösen Überzeugungen
83
Das Protokoll der gemeinsamen Sitzung vom Justizausschuss und Gesetzgebungsausschuss des polnischen
Sejm des 10. Wahlperiode von 13. Februar 1991. 84
M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w RP (regulacje prawne i praktyka) in: B. Oliwa – Radziłkowska,
Obywatel - jego wolności i prawa. Zbiór studiów przygotowany z okazji 10 lecia urzędu Rzecznika Praw
Obywatelskich, Warszawa 1998, S. 163; J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in:
Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 53. 85
E. Waszkiewicz, Prawo do wolności sumienia i wyznania – aspekty międzynarodowe i rozwiązania prawne w
III RP, in: A. Florczak, B. Bolechow, Prawa i wolności I i II generacji, Toruń 2006, S. 207.
31
zurückfuhren. Die Auslegung der betroffenen Bestimmungen wird noch damit erschwert, dass
in der Verfassung die terminologische Einheit nicht bewahrt wurde. Bereits in Art. 53 Verf.
gibt es verschiedene Bezeichnungen für die Gewissens- und Religionsfreiheit. Neben dem im
Abs. 1. Art. 53 Verf. befindlichen Terminus „Gewissens- und Religionsfreiheit“, der als eine
generelle Schlüsselbezeichnung der geschützten Rechte betrachtet werden kann, erscheinen in
diesem Artikel auch andere Bezeichnungen: Gemäß Art. 53 Abs. 3 Verf. haben die Eltern das
Recht die religiöse und moralische Erziehung ihrer Kinder gemäß ihren Überzeugungen 86
sicherzustellen. Das an den Staat gerichtete Verbot der Auferlegung einer Offenbarungspflicht
bezieht sich auf die Weltanschauung, religiöse Überzeugungen und Konfession (Art. 53 Abs.
7 Verf.). In Art. 48 Verf., der das Erziehungsrecht der Eltern regelt, ist von Überzeugungen
der Eltern und von der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit der Kinder die Rede. Außerdem
spricht Art. 25 Abs. 2 Verf. von der Unparteilichkeit der öffentlichen Behörden im Bereich
der „religiösen, weltanschaulichen und philosophischen Überzeugungen“.
Die Gründe für eine solche terminologische Vielfalt sind nicht einzusehen.87
Das Fehlen der
vereinheitlichten Terminologie in der Verfassung wurde als Ausdruck der Nachlässigkeit und
sogar der Ignoranz des Verfassungsgebers bewertet.88
Wenn der Begriff „Überzeugungen“ als
nichtreligiöse Anschauungen zu interpretieren ist, die für den Einzelnen einen mit dem
religiösen Glauben vergleichbaren Wert haben, bleibt die Frage offen, warum dieser Begriff,
dessen Reichweite offenkundig weiter als diejenige der Religion ist, in Art. 53 Abs. 1 Verf.
nicht eingeschlossen wurde. Wenn dagegen der Begriff der Überzeugungen als Synonym der
Gewissens- und Religionsfreiheit zu verstehen wäre, müsste angenommen werden, dass sich
der Verfassungsgeber für eine synonymische Wiederholung entschieden hat. Diese Lösung ist
aber sowohl unter dem Gesichtspunkt der rationalen Gesetzgebung (die Vorschriftsprache soll
unnötige Wiederholungen vermeiden) als auch aus der Perspektive der Auslegungsdirektiven
(verschiedenen Wörtern und Ausdrücken soll unterschiedliche Sinndeutung im Weg der
Auslegung zugeschrieben werden) nicht akzeptabel. In Art. 48 Verf., der das elterliche
86
Das polnische Wort „przekonania” wird manchmal in den Übersetzungen der polnischen Verfassung ins
Deutsche mit „Anschauungen“ wiedergegeben. Siehe: http://www.sejm.gov.pl/prawo/konst/niemiecki/kon1.htm.
(20.06.2010). 87
M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w RP (regulacje prawne i praktyka), in: B. Oliwa - Radziłkowska,
Rzecznik Praw Obywatelskich, Obywatel – Jego wolności i prawa, Warszawa 1998, S. 163. 88
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S.53.
32
Erziehungsrecht regelt, wird die adäquatere Terminologie, nämlich „Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit“ sowie die Überzeugungsfreiheit benutzt.
Gelegentlich wird vertreten, dass sich der Verfassungsgeber bei der Formulierung des Art. 53
Verf. mit den entsprechenden völkerrechtlichen Bestimmungen inspiriert hat.89
Die
Vereinheitlichung der verfassungsrechtlichen Terminologie mit den völkerrechtlichen
Bezeichnungen der Gewissens- und Religionsfreiheit war zwar Anliegen einiger
Verfassungsentwürfe, dieses Vorhaben wurde aber durch den Verfassungsgeber nicht
berücksichtigt.90
Die völkerrechtliche Formel „Gedanken,- Gewissens- und Religionsfreiheit“
ist so umfassend, dass die Gefahr eines engen oder begrenzten Verständnisses dieser
Freiheiten ausgeschlossen ist. Die Anwendung des weiten Begriffs in den völkerrechtlichen
Menschenrechtsabkommen hat zum Zweck, das möglichst weite Spektrum der menschlichen
Gedanken, Anschauungen, Verhalten und Handlungen umzufassen, „also alles, was die
menschliche Aktivität in der moralischen, philosophischen und – ganz allgemein gesagt –
weltanschaulichen Sphäre betrifft.“91
Die dargestellte terminologische Änderung bedeutet allerdings das Abkommen von der
überkommenen Klausel in der polnischen Verfassungs- und Staatskirchenrechts, die als
Synonym für die weite völkerrechtliche Musterformulierung der Gedanken-, Gewissens, und
Religionsfreiheit interpretiert war.92
Die angenommene Formel ist sowohl im Lichte des
polnischen Rechtssystems als auch aus der völkerrechtlichen Perspektive eine Neuheit, die
den Bereich der weltanschaulichen Tätigkeit nicht vollständig umfasst und einen Anstoß zur
Kontroverse in der Lehre bildet. Sie ist somit als Regress in dem polnischen
Konstitutionalismus zu bewerten.93
89
Polski Raport na XI Konferencje Europejskich Sądów Konstytucyjnych, Wolność sumienia i religii w
orzecznictwie polskiego Trybunału Konstytucyjnego, in: Biuletyn Trybunału Konstytucyjnego, Nr. 1 (7), 1999,
S. 51; J. Krukowski, Kościół i Państwo. Podstawy regulacji prawnych, Lublin 2000, S. 293; derselbe, Polskie
prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 64. 90
M. Pietrzak, Demokratyczne, świeckie państwo prawne, Warszawa 1999, S. 269.
Die völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen erwähnen neben Gewissens- und Religionsfreiheit auch die
Gedanken- und Weltanschauungsfreiheit. Der Hauptunterschied zwischen den völkerrechtlichen
Rechtsinstrumenten und der polnischen Verfassung besteht darin, dass sich in ersteren die Ausübungsfreiheit
nicht nur auf die Religion, sondern auch auf die Weltanschauung erstreckt, während sich der Schutzbereich der
Betätigungsfreiheit in der polnischen Verfassung zumindest nach Wortlaut des Art. 53 Abs. 2 lediglich auf den
religiösen Glauben beschränkt. 91
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 41
ff. 92
A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 9. 93
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 48.
33
Der Verfassungsgeber hat nämlich weder Gedanken- noch Weltanschauungsfreiheit von den
völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte übernommen. Gleichzeitig hat
er den weiten Bekenntnisbegriff, der sich auf jede Weltanschauung bezieht, mit dem engeren
Begriff „Religionsfreiheit“ ersetzt. Bei der Annahme seiner Rationalität und bewusster
Anwendung der Sprache ist daher davon auszugehen, dass er das weite Konzept der
Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Freiheit im weltanschaulichen Bereich nicht annehmen
wollte94
und dass er den Schutzbereich auf den religiösen Glauben de iure verengt hat. Art. 53
Abs. 2 Verf. kann somit als Legaldefinition der Religionsfreiheit verstanden werden.95
Die
folgenden Absätze des Art. 53 Verf. enthalten eine kasuistische Aufzählung der einzelnen
Ausübungsformen der Religion. Darüber hinaus beginnt die Aufzählung mit der
Formulierung: „Die Religionsfreiheit enthält“, was nahelegt, dass sie enumerativ ist. A
contrario kann man argumentieren, dass die nichterwähnten Aspekte der Religionsfreiheit
nicht geschützt werden. Eine solche Regulierungsart ist allerdings für die Staats- und
Rechtskonzeption charakteristisch, wo der Staat als Quelle der Freiheit und der
Freiheitsrechte angesehen wird. In diesem Fall werden die Freiheit und Freiheitsrechte nicht
als eine vorstaatliche Wirklichkeit anerkannt, sondern von dem Verfassungsgeber konstituiert.
In dem demokratischen Staat, welcher Menschenrechte achtet, besteht dagegen die
Regulierung der menschlichen Freiheit nicht in Bestimmung, was dem Einzelnen erlaubt,
sondern was verboten sein soll.96
Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass die durch den
polnischen Verfassungsgeber gewählte Regelungsart der Glaubensfreiheit eine Auslegung
zulässt, dass die Freiheit areligiöser und antireligiöser Anschauungen und Verhalten aus dem
Schutzbereich des Art. 53 Verf. völlig ausgeschlossen ist.97
Bei der Annahme dieser
Interpretation wären freilich auch die ethischen Positionen der Nichtgläubigen d.h. die
Gewissensfreiheit in ihrer säkularen Dimension durch den Schutzbereich des Art. 53 Verf.
nicht erfasst.
94
M. Zieliński, Klauzule prawnowyznaniowe jednolitego projektu Konstytucji RP.(Uwagi de lege ferenda), in:
PiP, Nr. 2, 1997; J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr.
2(73), 2006, S. 49. 95
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 52. 96
K. Pyclik, Postmodernistyczne/poststrukturalistyczne założenia wolności sumienia i wyznania, in: Przegląd
Prawa i Administracji, 2003, Tom LIV, S. 228f. 97
B. Banaszak, M. Jabłoński, in: J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej Polskiej, Kraków 2003, S. 104; J.
Szymanek, Klauzule wyznaniowe w Konstytucji RP, in: Studia z Prawa Wyznaniowego, Band 8., 2005, S. 34;
M. Zieliński, Klauzule prawnowyznaniowe jednolitego projektu Konstytucji RP.(Uwagi de lege ferenda), in:
PiP, Nr. 2, 1997, S. 83; H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 134f.
34
Die Normierung der Religionsausübung in der polnischen Verfassung ist aber auch deswegen
inadäquat, weil sich das Phänomen der Religiosität auf rituelle Handlungen nicht reduzieren
lässt. Die Religiosität ist ein vielschichtiges Phänomen, das neben der kulutischen auch eine
kognitive, emotionale, moralische und praktische Dimension aufweist.98
Die
verfassungsrechtlichen Regelungen verkennen die Erkentnisse der Religionssoziologie.
Danach bildet die postmoderne Religiosität einen Bereich der sich stets verändernden
unverbundenen Elemente, ohne eine deutliche Entwicklungsrichtung anzunehmen. Sie soll
vielmehr in den prozessualen Kategorien als ein unvollendeter Entwurf aufgefasst werden.
Bemerkenswert ist auch die Entinstitutionalisierung und Individualisierung der Religiosität,
welche durch die Zunahme des Skeptizismus gegenüber den institutionalisierten Kirchen,
ihrer Dogmen und Lehren zum Ausdruck kommt. Religiöse Bedürfnisse in der sich
differenzierenden pluralistischen Gesellschaft nehmen immer häufiger individualisierte
Ausdruckformen an: sie kommen zunehmend als Konglomerate der unbestimmten
Anschauungen außerhalb der religiösen Organisationen und ihrer Autoritäten zur
Erscheinung. Die gedanklich komfortable Trennung zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen
wirkt für die Zwecke der Beschreibung der Entwicklung der Religiosität anachronistisch. Mit
den Tendenzen zur Situierung der Religion in der Sphäre „der kreativen Autonomie des
Einzelnen“99
werden voraussichtlich die Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit in ihrer
individualistischern Ausprägungen an Bedeutung gewinnen. Die verfassungsrechtlichen
Regelungen der Glaubensfreiheit tragen allerdings den geschilderten Phänomenen nicht
genügend Rechnung. Die damit verbundenen Anwendungsprobleme der betroffenen
Vorschriften könnten zwar durch erweiternde Auslegung behoben werden, es ist aber zu
befürchten, dass der Schutz der wenig bekannten Minderheiten oder Individuen verkürzt wird.
Aus den genannten Gründen hat die Wortfassung des Art. 53 Verf. eine vehemente Kritik in
der Lehre ausgelöst. Pyclik100
argumentiert, dass die Bezeichnung „Bekenntnisfreiheit“ besser
geeignet ist, die Annahme und Ausübung einer säkularen Grundanschauung im Vergleich
zum Begriff Religionsfreiheit zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff „Bekenntnisfreiheit“
kann sowohl im Sinne der Kundgabe einer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung
98
K. Pyclik, Postmodernistyczne/poststrukturalistyczne założenia wolności sumienia i wyznania, in: Przegląd
Prawa i Administracji, 2003, Tom LIV, S. 230. 99
K. Pyclik, Postmodernistyczne/poststrukturalistyczne założenia wolności sumienia i wyznania, in: Przegląd
Prawa i Administracji, 2003, Tom LIV, S. 230f. 100
K. Pyclik, Wolność sumienia i wyznania w Rzeczypospolitej Polskiej (założenia filozoficzno-prawne), in: B.
Banaszak , A. Preisner, Prawa i wolności obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 457, Rn. 10.
35
(vgl. lateinisch confiteri) als auch im Sinne der Ausrichtung des ganzen Lebens gemäß den
Grundsätzen einer Religion oder Weltanschauung (vgl. lateinisch profiteri) interpretiert
werden. Er vermag somit den ganzen Bereich des forum externum der Glaubens,- Gewissens-
und Weltanschauungsfreiheit wiederzugeben. Pietrzak hat in diesem Zusammenhang die
verfassungsrechtliche Terminologie als „archaisch“ und nicht präzise genug bewertet, um den
Schutzbereich der zu schützenden Rechte genau festzulegen.101
Leszczyński hält die
Formulierung der Gewissens- und Religionsfreiheit für „fehlerhaft“. Gemäß diesem Autor
entspricht die Beschränkung der Ausübungsfreiheiten auf religiöse Überzeugungen den
Anforderungen einer pluralistischen Gesellschaft nicht und kann zur Diskriminierung der
Nichtgläubigen führen.102
Die Verengung des Schutzbereichs des Art. 53 Verf. zum Schutz der Religion ist zwar nach
dem Wortlaut des Art. 53 Verf. durchaus vertretbar, sie lässt sich aber mit dem Grundsatz des
demokratischen ergo pluralistischen Rechtsstaates nicht in Einklang bringen. Bereits in der
Präambel, welche als „Akt des Selbstbewusstseins des Souveräns – der polnischen Nation“ 103
erscheint, wird der Grundsatz des weltanschaulichen Pluralismus zum Ausdruck gebracht. In
der Tat wird die Weltanschauung zum grundsätzlichen Unterscheidungskriterium der Polen
erhoben. Sowohl Gläubigen als auch Nichtgläubigen werden als gleichberechtigte Bürger des
Staates anerkannt, der das gemeinsame Gut aller Polen darstellt. Die Position des
Nichtglaubens wurde nicht als negativ oder schlechter im Verhältnis zum Glauben angesehen.
Ebenso wenig wird sie als amoralisch oder nihilistisch geschildert.104
Die ausdrückliche
Anerkennung der Betätigungsfreiheit des Gewissens und der Weltanschauung in der
polnischen Verfassung wäre gerade Ausdruck der Toleranz und Pluralismus, welche sich
dagegen richten, dass die Mitbürger herabgewürdigt und zur Preisgabe seines Gewissens
gezwungen werden.105
Die Begünstigung der Gläubigen in Art. 53 Verf. verstößt auch gegen
den Grundsatz der Unparteilichkeit des Staates in religiösen, philosophischen und
weltanschaulichen Fragen, der die Äußerung derartigen Überzeugungen im öffentlichen
101
M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 242, 254. 102
L. Leszczyński, Zagadnienia wyznaniowe w Konstytucji RP, Warszawa 2001, S. 61f. 103
P. Borecki, Kompromis końca wieku. Klauzule wyznaniowe w Konstytucji z1997 r., in: Res Humana, Nr. 2,
2007, S. 12. 104
Ebenda, S. 12. 105
D. Lipsic, Argumenty prawne w sprawie klauzuli sumienia, in: Międzynarodowy Przegląd Polityczny, Nr. 4,
2006, S. 172f.
36
Leben gewehrleistet (Art. 25 Abs. 2 Verf.). Die Gegenüberstellung der beiden Vorschriften
legt nahe, dass der Verfassungsgeber „sich selbst widerspricht“106
Die Einengung des Schutzes des Art. 53 Verf. auf Gläubige würde auch den Bestimmungen
der Verfassung widersprechen, welche den Vorrang des Völkerrechts und dessen unmittelbare
Geltung festlegen.107
In diesem Zusammenhang wird auf die Inkonsistenz der
grundrechtlichen Regelung der Glaubensfreiheit mit dem Verfassungsgrundsatz der
Befolgung des die Republik Polen bindenden Völkerrechts hingewiesen. Pietrzak sieht die
angenommene Terminologie im Hinblick auf den in Art. 91 Abs. 2 Verf. normierten Vorrang
der ratifizierten völkerrechtlichen Verträge im Verhältnis zu Gesetzen als
„kontroversstiftend“108
an.
Nach einer anderen Meinung sollen die terminologischen Änderungen in der Verfassung von
1997 lediglich dahingehend verstanden werden, dass der Verfassungsgeber die Qualifizierung
der Gewissens- und Religionsfreiheit als das durch den Staat reglementierten Bürgerrecht
aufgegeben hat. Da die traditionelle Terminologie in Art. 48 Verf. sowie in der ordentlichen
Gesetzgebung beibehalten wurde, ist zu schließen, dass der Verfassungsgeber den
Schutzgegenstand der betroffenen Freiheiten nicht ändern wollte.109
Es ist daher der Ansicht
zuzustimmen, dass aus der rechtlichen Perspektive die terminologische Änderung nicht
relevant ist.110
Winiarczyk-Kossakowska hat den Ersatz des Begriffs „Bekenntnis“ durch den
Terminus „Religion“ zum Wechsel des in der Märzverfassung von 1921 vorhandenen
Begriffs „Religionsgemeinschaft“ durch den in der Verfassung von 1952 eingeführten Begriff
„Bekenntnisgemeinschaft“ verglichen. Sie argumentiert, dass wie die damalige Änderung
keinen Einfluss auf die Auslegung der Verfassung von 1952 gehabt hat, wird auch die
Einführung des Begriffs „Religionsfreiheit“ keine beträchtlichen Konsequenzen für die
Auslegung dieses Grundrechts in der Verfassung von 1997 haben.111
Beiden Begriffspaaren
106
J. Szymanek, Klauzule wyznaniowe w Konstytucji RP, in: Studia z Prawa Wyznaniowego, Band 8., 2005, S.
35. 107
E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.
84. 108
M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 242. 109
A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 62. 110
Diese Schlussfolgerung kann anhand der Lektüre von L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne. Zarys
wykładu, Warszawa 2008, S. 111, sowie P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne Rzeczypospolitej
Polskiej, Warszawa 1995, S. 75f gezogen werden. 111
M. Winiarczyk-Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, Nr. 1, 2001, S. 28.
37
ist daher bei der Rechtsauslegung die gleiche Bedeutung beizumessen, obwohl die in der
Verfassung. vorhandene Terminologie bevorzugt werden soll.112
Die Tatsache, dass der Verfassungsgeber keine Ausübungsformen der Gewissensfreiheit
aufgezählt hat, lässt sich mit der Natur dieses Freiheitsrechts erklären; die Gewissensfreiheit
betrifft den inneren Bereich, der einer wirksamen rechtlichen Regelung nicht zugänglich ist.
Das Wesen der Gewissensfreiheit besteht in dem Recht, eine religiöse oder nichtreligiöse
Weltanschauung zu wählen. Darüber hinaus bietet die Gewissensfreiheit einen normativen
Anhaltspunkt für die Behauptung, dass trotz der Schwerpunktsetzung auf dem Schutz der
Religionsfreiheit auch die Nichtgläubigen durch die Verfassung geschützt werden. Die
Ausübung der nichtreligiösen Überzeugungen ist nämlich vermittels anderer Freiheitsrechte
garantiert. Die ratio legis für die grundrechtliche Einseitigkeit zugunsten der Religionsfreiheit
ist allerdings nicht einzusehen.113
3.3. Konsequenzen der terminologischen Änderungen für die Auslegung der
Gewissensfreiheit
Die Interpretationsprobleme des Art. 53 Verf. werden nicht nur durch die terminologische
Veränderungen und der Fokussierung des Verfassungsgebers auf den Schutz der Religion,
sondern auch durch die lakonische Regelung der Gewissensfreiheit verursacht. Die
Gewissensfreiheit wird in der polnischen Verfassung nämlich nicht definiert. Es werden auch
keine Ausübungsformen und keine Garantien ihrer Achtung bestimmt.114
Durch die
Verbürgung der Gewissensfreiheit in einem Begriffspaar mit der Religionsfreiheit in Art. 53
Abs. 1 Verf. wird eine enge Verbindung beider Rechte geschaffen. Die enge Verflechtung der
Gewissensfreiheit mit der Religionsfreiheit ist zwar unleugbar (wie ein brasilianischer Autor
bildhalft schreibt, „die Freiheit des Gewissens und des Glaubens sind zwei Wangen desselben
112
P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne, Warszawa 1995, S. 76, Rn. 93; M. Makarska, Przestępstwa
przeciwko wolności sumienia i wyznania w Kodeksie karnym z 1997 roku, Lublin 2005, S. 19. 113
A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 65. 114
H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 135; J.Hołda, Z. Hołda, D.
Ostrowska, J. A. Rybczyńska, Prawa człowieka. Zarys wykładu, Warszawa, Kraków 2008, S. 130.
38
Gesichts (…). Das Gewissen manifestiert sich im Glauben; der Glaube fundiert sich im
Gewissen. Man kann nicht an eine denken, wenn man an die andere zu denken aufhört.“115
) es
ist aber nicht zu verkennen, dass die verfassungsrechtliche Regelung der Glaubens- und
Gewissensfreiheit in Polen der Tatsache nicht Rechnung trägt, dass infolge des Prozesses der
zunehmenden Pluralisierung und Säkularisierung der polnischen Gesellschaft immer mehr
Rechtspflichten mit immer diversifizierteren Begründungen als gewissensverletzend in Frage
gestellt werden können, was voraussichtlich zur größeren Bedeutung von Gewissensfreiheit
führen wird.
Nach einer anderen Meinung hat sich die Aussonderung der Gewissens- und Religionsfreiheit
nicht eindeutig vollzogen, was gerade den Impuls für Kontroversen gibt.116
Dieser Ansatz war
unter Geltung der Verfassung von 1952 zutreffend, wenn das Begriffspaar „Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit“ wegen seiner Breite als ein einheitlicher Terminus verstanden war und
seine Teilung in die einzelnen Begriffselemente der Auslegung nicht zunutze kam. Der
Begriff „Gewissens- und Religionsfreiheit“ in der Verfassung von 1997 bildet dagegen keine
terminologische Einheit. Er besteht vielmehr aus zwei selbstständigen Formeln, bzw. zwei
stilistischen Figuren.117
Daraus ergibt sich, dass in der Formulierung „Gewissens- und
Religionsfreiheit“ zwei getrennte Freiheiten verborgen werden. Die Verbindung der beiden
Elemente in einem Begriff verleiht ihm keinen selbstständigen normativen Gehalt; die
Nebeneinanderreihung beider Freiheiten bildet keine neue Begriffskategorie und stellt keine
normative Bedeutungsanreicherung dar; es ist keine neue normative Funktion oder neue
Inhaltsbedeutung der Begriffskonstruktion „Gewissens- und Religionsfreiheit“ ersichtlich.
Die Rolle des neuen Begriffspaars „Gewissens- und Religionsfreiheit“ erschöpft sich somit
mit der technischen Artikulierung der voneinander unabhängigen Freiheiten.118
Die ausdrückliche Erwähnung beider Freiheiten und die Annahme ihrer Disjunktion und
eventuell ihrer Komplementarität begründet die Notwendigkeit ihrer autonomen Auslegung.
Bei der disjunktiven Betrachtung der Gewissens- und Religionsfreiheit scheint bereits auf den
ersten Blick, dass ihre Schutzbereiche trotz fehlerhafter sprachlicher Artikulierung nicht
115
C. Silva Costa, A interpretacão constitucional e os direitos e garantías fundamentais na constituicão de 1988
(Princípios de interpretacão jurídica e princípios de interpretacão constitucional em especial), Rio de Janeiro
1992, S.155. 116
E. Schwierskott, Gwarancja wolności sumienia w systemach prawnych Polski i Niemiec, in: Przegląd
Sejmowy, Nr. 6, 2003, S. 61. 117
P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997, S. 73. 118
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S.55.
39
verengt worden sind. Bei der Annahme des Grundsatzes der sog. wohlwollenden Auslegung
der Verfassung ist vielmehr von einem maximal weiten Schutzbereich der Gewissens- und
Religionsfreiheit auszugehen. Die interpretatorische Ausweitung des Schutzbereichs der
Gewissensfreiheit, wenn überhaupt vertretbar, müsste jedoch infolge kreativer, sogar
„halsbrechender“119
Auslegung erfolgen. Sie sollte dabei durch das erste Begriffselement –
also die Gewissensfreiheit – erfolgen. Diese Vorgehensweise scheint damit gerechtfertigt zu
sein, dass der Verfassungsgeber keine Ausübungsformen der Gewissensfreiheit aufgezählt
hat. Außerdem hat die Gewissensfreiheit hinsichtlich der Religionsfreiheit einen
ursprünglichen Charakter; die Religionsfreiheit stellt nur einen Aspekt oder eine
Erscheinungsform der Gewissensfreiheit dar.
Die lakonische Erwähnung der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung verursacht
jedoch interpretatorische Schwierigkeiten. Zuerst ist die Klärung notwendig, ob das
Grundrecht auf ethische Selbstverwirklichung überhaupt in den Grundrechtskatalog durch den
Verfassungsgeber einbezogen worden ist. Mit anderen Worten es ist zu ermitteln, ob der
Gewissensfreiheit eine selbständige Schutzfunktion neben der Religionsfreiheit zukommt und
inwieweit sich die in der Verfassung aufgezählten Formen der Religionsausübung auf die
Freiheit der Gewissensbetätigung übertragen lassen. Bei der Beantwortung der Frage,
inwieweit die nichtreligiösen Überzeugungen durch die polnische Verfassung geschützt
werden, hat die Auslegung der Hauptnorm des Art. 53 Abs. 1 Verf. die Schlüsselrolle. Den
übrigen Verfassungsvorschriften kommt lediglich eine konkretisierende Bedeutung zu.120
Bevor aber zur Klärung der interpretatorischen Fragen der Gewissensfreiheit übergegangen
wird, sind die in der polnischen Literatur bereits vorhandenen Interpretationsansätze
darzustellen. Es wird dabei geprüft, inwieweit sie im Verhältnis zur Gewissensfreiheit
„tragfähig“ sind, d.h. inwieweit sie einen Anhaltspunkt für die weite Auslegung der
Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung bieten.
119
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 56. 120
Ebenda, S. 54.
40
4. Auslegungsansätze der Gewissensfreiheit in der polnischen Lehre und
Rechtsprechung
4.1. Allgemeines
Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, die Analyse des polnischen
verfassungsrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Schrifttums zum Grundrecht der
Glaubensfreiheit vorzunehmen, um die Bedeutung und Funktion des Begriffselementes
„Gewissensfreiheit“ zu ermitteln. Zum Gegenstand der Untersuchung wird dabei die Frage,
ob sich in der polnischen Rechtsprechung und Literatur Ansätze finden lassen, worauf eine
weite Auslegung der Gewissensfreiheit als das Recht, gemäß Geboten des eigenen Gewissens
zu leben, beruhen könnte.
In Bezug auf die polnische Lehre lässt sich verallgemeinernd feststellen, dass die Mehrheit
der Autoren von einem einheitlichen Rechtsbegriff der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit,
bzw. Gewissens- und Religionsfreiheit ausgeht. In ihren Kommentierungen kommt häufig
darauf nicht an, einzelne Begriffselemente präzise zu definieren bzw. deren
Regelungsbereiche abzugrenzen, sondern vielmehr um eine generelle Darstellung des
Schutzbereichs des Grundrechts der Religionsfreiheit. Auch in denjenigen Fällen, wo die
Abgrenzung versucht wird, wird sie nicht konsequent durchgeführt. Es ist daher schwierig,
die Bedeutung und Funktion der einzelnen Begriffselemente herauszuschälen.
In der vorliegenden Arbeit werden auch die unter Geltung der Verfassung von 1952
entstandenen Lehrmeinungen zur Gewissens- und Bekenntnisfreiheit berücksichtigt. Dies
wird damit begründet, dass die Auswirkungen der aus der Zeit der Volksrepublik Polen
stammenden Interpretationsvorschläge der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit auf die
Auslegung der verfassungsrechtlichen Begriffe der Gewissens- und Religionsfreiheit in der
Verfassung von 1997, also in der radikal veränderten soziopolitischen Wirklichkeit,
wesentlich spürbar sind. Die wichtigsten Auslegungsansätze der Glaubensfreiheit in der
41
sozialistischen Verfassung haben nach dem Inkrafttreten der Verfassung von 1997 ihre
Fortsetzung in der neueren Lehre gefunden.
4.2. Die Auslegung der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Freiheit „in religiösen
Angelegenheiten“
Nach der engsten Auslegung des Schutzbereichs der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit in der
polnischen Literatur wird dieses Recht als positive und negative Freiheit in Bezug auf das
Religiöse aufgefasst. Diese Ansicht wird von Świątkowski vertreten, der keine
Begriffsbestimmungen der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit vorschlägt, sondern beschränkt
sich nur auf eine Aufzählung der einzelnen Ausübungsformen der Glaubensfreiheit. In seiner
Darstellung sind allerdings keine deutlichen Bezüge auf die Weltanschauungsfreiheit oder auf
die Freiheit der ethischen Selbstbestimmung zu finden. Gemäß dem zitierten Autor ergeben
sich aus der Gewissensfreiheit für den Einzelnen folgende Rechte: das Recht, eine Konfession
zu wählen, zu wechseln, aus einer Kirche auszutreten und in keine einzutreten; das Recht,
keiner Konfession anzugehören; das Recht, eine neue Religion zu gründen; das Recht, privat
und öffentlich Gottesdienste zu feiern und daran teilzunehmen. Diese Berechtigungen können
unter Wahrung der öffentlichen Ordnung in Anspruch genommen werden.121
Gemäß der dargestellten Auffassung wird der Schutzbereich der Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit auf die positive und negative Religionsausübung verengt. Die Ausübung
der weltlichen Weltanschauung oder Betätigung einer Gewissensentscheidung wird von
Świątkowski überhaupt nicht thematisiert. Durch Schwerpunktsetzung auf die Beziehung des
Individuums zu den religiösen Fragen nähert sich seine Auffassung dem Verständnis der
Gewissens- und Glaubensfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil als „libertas in
religiosa“ (Freiheit in religiösen Angelegenheiten).122
121
H. Świątkowski, Wyznaniowe prawo państwowe, problematyka prawna wolności sumienia w PRL,
Warszawa 1962, S. 9; derselbe, Wolność sumienia i wyznania w Polsce Ludowej, Warszawa 1949, S. 17f. 122
In der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Dignitatis Humanae ist von der „religiösen Freiheit“ die
Rede. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen von jedem Zwang sowohl seitens Einzelner und
gesellschaftlicher Gruppen sowie seitens jeglicher menschlichen Gewalt frei sein müssen, so dass niemand in
religiösen Dingen gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und
42
4.3. Gewissensfreiheit als forum internum der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit
Im polnischen Schrifttum wird die Gewissensfreiheit oft dem Bereich des forum internum
sowohl der Religions- als auch der Weltanschauungsfreiheit zugeordnet. Die
Bekenntnisfreiheit wird entsprechend mit der Betätigungsfreiheit des Glaubens und der
Weltanschauung gleichgesetzt. Sie wird dabei weit ausgelegt; sie umfasst nicht nur das Recht,
seine Überzeugung kundzutun, sondern auch das Recht, das gesamte Leben danach
auszurichten.123
Illustrativ für diesen Ansatz ist die Begriffsbestimmung Winiarczk-
Kossakowskas, wonach die Gewissensfreiheit als Freiheit „eine Überzeugung, eine
Anschauung über das Wesen der Welt zu haben (psychologische Freiheit)“ aufzufassen ist,
„während die Bekenntnisfreiheit die Freiheit ihrer Ausübung nach außen bedeutet.“124
Gemäß
Jabłoński bietet die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit eine Möglichkeit, „eine beliebige
Weltanschauung zu wählen und gemäß dieser Wahl zu handeln. Die Gewissensfreiheit
beinhaltet die Möglichkeit der Annahme, Entwicklung, Bildung und Wechsels der
Überzeugungen in Angelegenheiten des Glaubens und der Weltanschauung. Die
Bekenntnisfreiheit ist die Freiheit, seine Weltanschauung individuell oder kollektiv zu
manifestieren, sowie das Recht, im Alltag in Übereinstimmung mit den Geboten seines
Glaubens zu handeln.“125
Die Bekenntnisfreiheit ist nach diesem Ansatz ein „untrennbares
Element der Gewissensfreiheit, ihr Bestandteil und Konsequenz“126
, ihre „Konkretisierung
und Vollendung.“127
In diese Richtung argumentieren auch Mezglewski, Misztal und Stanisz. Sie verstehen die
Gewissensfreiheit als eine allgemeine „Freiheit der Selbstbestimmung in religiösen
Angelegenheiten.“128
Dies bedeutet vor allem die Annahme einer beliebigen Weltkonzeption,
öffentlich, als Einzelner oder in Verbindung mit anderen - innerhalb der gebührenden Grenzen - nach seinem
Gewissen zu handeln. 123
Z. Łyko, Wolność sumienia i wyznania w relacji: człowiek – kościoły – państwo, in: L. Wiśniewski,
Podstawowe prawa jednostki i ich sądowa ochrona, Warszawa 1997, S. 83ff; derselbe, Wolność sumienia i
wyznania jako wartość współczesnej cywilizacji i kultury, in: Res Humana, Nr. 3, 2001, S. 33;
K. Małek, Realizacja konstytucyjnej zasady wolności sumienia i wyznania w Rzeczypospolitej Polskiej, in:
Wrocławskie Studia Politologiczne, Nr. 7, 2006, S. 78. 124
M. Winiarczyk-Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, Nr. 1, 2001, S. 28. 125
K. H. Jabłoński. Wolność sumienia i wyznania. Konstytucyjne prawo człowieka, in: Wiek XXI, Nr. 2/3,
2006, S. 37. 126
J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 18. 127
Z. Łyko, Wolność sumienia i wyznania jako wartość współczesnej cywilizacji i kultury, in: Res Humana, Nr.
3, 4, 2001, S. 56. 128
A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 82.
43
eines Lebensziels und eines Wertesystems.129
Nach Winiarczyk-Kossakowska ist unter der
Gewissensfreiheit „die Möglichkeit, eine bestimmte Religion oder nichtreligiöse
Überzeugung zu bewerten, sowie eine Wahl zu treffen, welche das Resultat dieser Bewertung
ist“130
, zu verstehen.
Eine andere Systematisierung der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit wurde von Misztal 131
vorgeschlagen. Der Autor geht bei seiner Analyse der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit von
dem Oberbegriff der Religionsfreiheit aus, der sich aus der Gewissensfreiheit, der
Kultusfreiheit und der Freiheit der Kirche zusammensetzt. Dabei beinhaltet die
Gewissensfreiheit das forum internum der Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie die
innere Freiheit der ethischen Selbstbestimmungsfreiheit, also der Gewissensfreiheit im
eigenen Sinne. Die Kultusfreiheit wird mit dem Recht auf Religionsausübung gleichgesetzt.
Die Freiheit der Kirche umfasst dagegen die organisatorische Freiheit der
Religionsgemeinschaften. Dieser Ansatz ist allerdings dahingehend ungeeignet, weil ihm die
Zuordnung des forum externum der Weltanschauungsfreiheit fehlt.
Krukowski versteht die Gewissensfreiheit als das Recht, „die moralischen Entscheidungen
aufgrund der von dem Menschen erkannten und anerkannten Werte der Wahrheit und des
Guten, einschließlich der religiösen Wahrheiten (…) zu treffen. Die Gewissensfreiheit betrifft
somit die souveräne Sphäre der Erlebnisse jeder menschlichen Person, den Bereich ihrer
Akten der Vernunft und des Willens, in dem der Gesetzgeber nicht eingreifen darf.“132
In
diesem Interpretationsansatz wird der Schwerpunkt auf die inneren Vorgänge des Menschen
gelegt. Es entsteht allerdings die Frage, inwieweit danach die Verwirklichung der mit keiner
Religion verbundenen moralischen Gewissenspositionen in der Außensphäre
verfassungsrechtlich geschützt wird. Es lässt sich in dieser Hinsicht eine Evolution der
Ansichten des zitierten Verfassers nachweisen. In der ersten Auflage seines Werkes Polskie
prawo wzynaniowe geht nämlich Krukowski davon aus, dass die Gewissensfreiheit trotz ihres
inneren Charakters naturgemäß an die äußere Betätigung der religiösen und moralischen
Überzeugungen des Einzelnen im Privatleben sowie im öffentlichen Bereich orientiert ist. Um
129
A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 82. 130
M. Winiarczyk-Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, 2000, S. 27. 131
H. Misztal, Prawo wyznaniowe, Lublin 1996, S. 46. 132
J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 77.
44
diesem Bedürfnis gerecht zu werden, steht dem Individuum die Religionsfreiheit zur
Verfügung. Gerade in diesem Punkt tauchen interpretatorische Probleme auf: der Autor
versteht die Religionsfreiheit als Möglichkeit, zwangsfreie Entscheidungen betreffs
Aufnahme und Aufrechterhaltung der Beziehungen zu Gott zu treffen, sowie die Freiheit,
dieser Beziehung auf der Ebene der menschlichen Verhältnisse Ausdruck zu verleihen.133
Obwohl diese Freiheit dem Einzelnen sowohl in ihrem positiven als auch in ihrem negativen
Aspekt zusteht, ist sie eindeutig im Bezug auf eine Religion und nicht auf eine
Weltanschauung oder ein ethisches System definiert. Es ist somit nicht möglich, das Recht auf
die Ausübung nichtreligiöser Positionen der derart beschriebenen Religionsfreiheit zu
entnehmen. Dieses Ergebnis wird trotz der Bemerkung Krukowski, dass der Katalog der
einzelnen Ausübungsformen der Religion „aus der Natur der Sache“ nicht enumerativ ist,
obwohl die Verfassung etwa durch Einführung der Formel „insbesondere“ dies ausdrücklich
nicht vorschreibt,134
nicht geändert. In der 4. Auflage des zitierten Werkes präzisiert jedoch
der Verfasser ausdrücklich, dass die Gewissensfreiheit einen weiteren Umfang als die
Religionsfreiheit hat, weil der Mensch in seinem Gewissen nicht nur religiöse, sondern auch
philosophische und weltanschauliche Überzeugungen annehmen kann. Die Ausübung der
letzteren erfolgt analog zur Religionsfreiheit: „Die Gewährleistung der Gewissensfreiheit
umfasst somit Gläubige und Nichtgläubige, also diejenigen, welche ihre existenziellen
Probleme mit Ausschluss religiöser Prämissen lösen.“135
Ähnlich Pietrzak sieht die Gewissensfreiheit in der inneren Sphäre des Menschen angesiedelt
und definiert sie als das Recht des Einzelnen, „die Anschauungen in religiösen Fragen frei zu
wählen, zu bilden und zu ändern.“136
Um den Entwicklungstendenzen der Glaubensfreiheit in
den völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen gerecht zu werden, wonach ihr
Schutzbereich auch auf die Freiheit der nichtreligiösen Weltanschauungen ausgedehnt wird,
erstreckt Pietrzak seine Ausgangsdefinition ebenfalls auf nichtreligiöse Weltanschauungen.
Diese Auslegung der Gewissensfreiheit wird von Waszkiewicz übernommen, die bemerkt,
dass das Gewissen des Einzelnen nicht nur durch eine Religion, sondern auch durch
133
J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 77. 134
Ebenda, S. 78; derselbe, Kościół i państwo. Podstawy regulacji prawnych, Lublin 2000, S. 293. 135
J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 64. 136
M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 20.
45
nichtreligiöse Strömungen geprägt werden kann.137
Im Bezug auf Bekenntnisfreiheit schreibt
die zitierte Autorin jedoch, dass diese Freiheit unmittelbar mit einer Religion verbunden ist
und am häufigsten als das Recht, eine Religion durch Kultushandlungen auszuüben,
verstanden wird.138
Aus dieser Auffassung ergibt sich eine Asymmetrie zwischen dem
Schutzumfang der inneren Gewissensfreiheit und der äußeren Freiheit ihrer Betätigung;
während die Gewissensfreiheit die Annahme, Bildung und Änderung sowohl einer Religion
als auch einer Weltanschauung umfasst, bezieht sich die Bekenntnisfreiheit auf die Betätigung
der Religion und vor allem auf die Freiheit zur Vornahme der kultischen Handlungen. Auch
Pietrzak schließt die Betätigung einer nichtreligiösen Weltanschauung aus dem Schutzbereich
der Bekenntnisfreiheit aus. Nach seiner Auffassung beinhaltet die Bekenntnisfreiheit neben
den strikt kultischen Handlungen das Recht, Religionsgemeinschaften zu bilden. Darüber
hinaus schützt die Bekenntnisfreiheit die Tätigkeit der Religionsgemeinschaften, die darauf
abzielt, die religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigenn139
Die Identifizierung der Gewissensfreiheit mit der inneren Sphäre der Religions- und
Weltanschauungsfreiheit wird gelegentlich damit begründet, dass das Gewissen als
anthropologische Kategorie allen Menschen eigen ist. Dagegen kann die
Weltanschauungsausübungsfreiheit nicht aus der Religionsausübungsfreiheit abgeleitet
werden, weil der Wortlaut des Art. 53 Verf. lediglich auf die Manifestation der Religion
zugeschnitten ist; die Weltanschauungsausübungsfreiheit wird vielmehr durch andere
Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
gedeckt.140
Dem ist entgegenzuhalten, dass der Verweis auf andere Grundrechte als Rechtsgrundlage für
den Schutz der Ausübung einer Weltanschauung oder einer ethischen Position und Ablehnung
des Zugriffs auf Vorschriften, die Religionsausübung regeln, zur Privilegierung der Religion
führen kann. Nach dieser Meinung könnte z.B. ein Weltanschauungssystem in der
öffentlichen Schule nicht zum Gegenstand des Unterrichts werden, weil in Art. 53 Abs. 4
137
E. Waszkiewicz, Prawo do wolności sumienia i wyznania – aspekty międzynarodowe i rozwiązania prawne w
III RP, in: A. Florczak, B. Bolechow, Prawa i wolności I i II generacji, Toruń 2006, S. 209. 138
Ebenda, S. 209. 139
M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 20. 140
Z. Łyko, Wolność sumienia i wyznania w relacji: człowiek – kościoły – państwo in: L. Wiśniewski,
Podstawowe prawa jednostki i ich sądowa ochrona, Warszawa 1997, S. 86 – 87.
46
Verf. die Unterrichtungsmöglichkeit auf die Religion einer Kirche oder
Glaubsnsgemeinschaft beschränkt wurde.
Zum Schluss dieses Abschnitts sei noch die im Schrifttum vertretene Ansicht dargestellt,
wonach die Gewissensfreiheit als Freiheit, eine eigene moralische Bewertung einer Situation,
einer Haltung oder eines Verhaltens aufgefasst wird. Dabei wird bemerkt, dass die Personen,
welche derselben Konfession angehören oder dieselbe Weltanschauung teilen, häufig den
gegebenen Sachverhalt unterschiedlich bewerten, obwohl sie dieselben Bewertungsmaßstäbe
anwenden.141
Ähnlich argumentiert Szewczyk, der das Gewissensphänomen als eine
Bewertungsfähigkeit „in Bezug auf den Wert einer konkreten Religion oder areligiöser
Überzeugungen sowie die Wahlfähigkeit aufgrund der vorgenommenen Bewertung
versteht.“142
Die Zugrundelegung des dargestellten Gewissensverständnisses der Bestimmung
vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit hätte zur Folge, dass diese Freiheit als das Recht,
eine Religion oder Weltanschauung zu wählen, d.h. als forum internum der Religions- und
Weltanschauungsfreiheit zu verstehen ist. Die beiden Autoren bestimmen zwar den
Bewertungsgegenstand, es wurde aber nicht geklärt, welche Typen der Maßstäbe der
Bewertung (philosophische, religiöse, praxeologische, u.a.m.) zugrunde gelegt werden sollen,
um die Bewertungstätigkeit des Einzelnen als Ausübung der Gewissensfreiheit zu
qualifizieren. Eine präzisere Begriffsbestimmung im Hinblick auf die Bewertungskriterien
wurde von Dębowski vorgeschlagen. Danach wird das Gewissen als moralisches Bewusstsein
und Fähigkeit verstanden, die moralische Qualität des menschlichen Handelns, insbesondere
des Handelns des wertenden Subjektes zu bewerten.143
Der ganze Ansatz greift allerdings zu
kurz; danach wird zwar die urteilende Funktion des Gewissen hervorgehoben, sein
imperativischer Charakter d.h. der Gewissensdrang in Bezug auf die Umsetzung der
Gewissensentscheidungen ins praktische Verhalten wird aber völlig außer acht gelassen.
141
T. Sokołowski, in: A. Kidyba, Kodeks cywilny. Komentarz. Tom 1. Część ogólna. Art. 23, Warszawa 2009,
S. 111. 142
H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 509. 143
J. Dębowski, Mała encyklopedia filozofii. Pojęcia, problemy, kierunki, szkoły, Bydgoszcz 1996, S. 448f.
47
4.4. Gewissensfreiheit als Weltanschauungsfreiheit bzw. als „das Recht der
Nichtgläubigen“
Łopatka interpretiert die Gewissensfreiheit als Berechtigung des Einzelnen, eine
Weltanschauung, die den persönlichen Überzeugungen entspricht, anzunehmen und zu
manifestieren. Dabei nimmt er an, dass die Gewissensfreiheit die Toleranz den
weltanschaulichen Haltungen anderer Bürger gegenüber voraussetzt. Die Bekenntnisfreiheit
versteht der zitierte Autor als eine Freiheit, in Übereinstimmung mit dem Willen des
Einzelnen eine Religion kundzutun und auszuüben oder keine Religion zu bekennen. Die
Gewissens- und Bekenntnisfreiheit umfasst danach auch die Möglichkeit, eine Religion oder
Weltanschauung zu wechseln.144
Nach einer anderen Ansicht besteht die Gewissensfreiheit in der Möglichkeit, eine beliebige
Weltanschauung anzunehmen, womit die Annahme eines bestimmten Wertsystems verbunden
ist. Die Religionsfreiheit besteht dagegen in der Annahme einer Weltanschauung, welche die
Existenz Gottes voraussetzt.145
Präziser formuliert beinhaltet die Gewissensfreiheit das Recht,
irgendeine Weltanschauung (religiös oder areligiös) zu haben und auszuüben, während die
Bekenntnisfreiheit auf das Haben und Ausüben einer Religion beschränkt ist.146
Aus der
Gegenüberstellung mit der Religions- bzw. Bekenntnisfreiheit ergibt sich, dass die zitierten
Autoren die Gewissensfreiheit als Freiheit der nichtreligiösen Weltanschauung definieren.
Die „weltanschauliche“ Dimension der Gewissensfreiheit wird von Winczorek ausdrücklich
bejaht. Der zitierte Autor definiert nämlich die Gewissensfreiheit als „das Recht der
Nichtgläubigen“ bzw. als „die andere Seite“ der Religionsfreiheit und beschreibt sie als eine
Freiheit zur Annahme und Bekennen von philosophisch-weltanschaulichen Überzeugungen,
welche religiös, areligiös oder antireligiös sein können, wie Deismus, Agnostizismus oder
Atheismus. Die Gewährleistungen der Verfassung bezüglich der Religionsausübungsfreiheit
sind nach diesem Auslegungsvorschlag per analogiam auf eine so verstandene
144
A. Łopatka, Wolność sumienia i wyznania, in: Prawa człowieka. Model prawny, Wrocław 1991, S. 415. 145
W. Brodziński, Wolność sumienia i religii (Art. 53), in: W. Skrzydło, S. Grabowska, R. Grabowski,
Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz encyklopedyczny, Warszawa 2009, S. 658. 146
M. Winiarczyk-Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, Nr. 1, 2001, S. 28.
48
Gewissensfreiheit auszudehnen.147
Skrzydło setzt den säkularen Charakter der
Gewissensfreiheit voraus, indem er bemerkt, dass dieses Recht in Polen einen engeren
subjektiven Schutzbereich im Vergleich zur Religionsfreiheit hat. Dies ist darauf
zurückzuführen, dass sich die Mehrheit der Bürger zu einem religiösen Glauben bekennt. Die
Gewissensfreiheit soll zwar in der Verfassung ähnlich wie die Religionsfreiheit behandelt
werden, die Rechte der Nichtgläubigen werden aber in der Verfassung nur zurückhaltend
erwähnt.148
Garlicki interpretiert die Gewissensfreiheit als das Ergänzungsrecht im Verhältnis zur
Glaubensfreiheit; danach kann jeder Einzelne eine beliebige philosophische, moralische und
soziale Überzeugungen annehmen und danach handeln. Die Gewissensfreiheit hat dabei die
besondere Bedeutung für Nichtgläubige. Sie ist aber auch für Gläubige in den
Lebensbereichen relevant, die von einer Religion nicht erfasst werden.149
Die Auslegung der Gewissensfreiheit als Weltanschauungsfreiheit hat seine Stütze in der
Präambel zur Verfassung, wo von der Verantwortung vor Gott oder vor eigenem Gewissen
die Rede ist. Die durch das Wort „oder“ eingeführte Disjunktion war zwar ein Zeichen des
weltanschaulichen Kompromisses, sie erweckt aber den Anschein, dass sich die Gläubigen
lediglich vor Gott und nicht vor seinem Gewissen verantwortlich fühlen.150
Die Konsequenz
der Interpretation der Gewissensfreiheit als Freiheit, eine nichtreligiöse Weltanschauung zu
haben und auszuüben, ist die Annahme, dass die Rechte der Nichtgläubigen im Vergleich zu
der Rechtsstellung der Gläubigen in der Verfassung „nicht zufriedenstellend normiert
wurden.“151
Der gänzlichen Gleichsetzung von Gewissensfreiheit mit der Weltanschauungsfreiheit ist
nicht beizupflichten. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Gewissensfreiheit eine
147
P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, Art. 53, Abs. 1 – 2, Warszawa 2000, S.
73. 148
W. Skrzydło, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Art. 53, Kraków 2000, S. 63 f. 149
L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne. Zarys wykładu, Warszawa 2008, S. 110. 150
H. Misztal , P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Sandomierz 2003, S. 190. 151
J. Hołda, Z. Hołda, D. Ostrowska, J.A. Rybczyńska, Prawa człowieka. Zarys wykładu, Warszawa, Kraków
2008, S. 130.
49
Freiheit ist, ethische Entscheidungen zu treffen und danach zu leben. Dabei ist ohne Belang,
ob der Rechtsträger gläubig oder nichtgläubig ist. Dies erklärt sich zum einen damit, dass das
religiöse Gewissen ebenso als das weltliche schutzbedürftig ist. Darüber hinaus muss
berücksichtigt werden, dass Religionsgrundsätze lediglich als eine der möglichen Quellen der
Gewissensentscheidung zugrundegelegt werden können. Viele Gläubigen bilden ihre
autonomen Gewissensentscheidungen auch aufgrund anderer Prämissen und Werte, die
manchmal der Lehre ihrer Religion wiederstreiten. Anzunehmen ist hingegen die Ansicht,
wonach die Vorschriften bezüglich der Religionsausübung auf Weltanschauung
entsprechende Anwendung finden sollen.
4.5. Gewissensfreiheit und Bekenntnisfreiheit als allgemeine Überzeugungsfreiheit
Einige Autoren152
gehen bei der Darstellung der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit von
einem weiten Oberbegriff der Weltanschauung aus, welche sowohl religiösen als auch
philosophischen Überzeugungen umfasst. Bujny definiert die Gewissensfreiheit als das Recht,
eine beliebige Weltanschauung, welche den persönlichen Überzeugungen entspricht,
anzunehmen und ihr in der Außenwelt Ausdruck zu verleihen.153
In eine ähnliche Richtung
argumentiert Osuchowski: gemäß diesem Autor beinhaltet die Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit das Recht, jegliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu
haben, und die Möglichkeit, sie frei zu äußern und im öffentlichen Leben auszuüben.154
Die
derart verstandene Weltanschauungsfreiheit umfast somit nicht nur den Schutz der
weltanschaulichen Innenwelt des Einzelnen, sondern auch die Ausübungsfreiheit.155
Piekarski fügt zu seiner Auffassung der Weltanschauung noch einen ethischen Bestandteil
hinzu. Danach ist die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit eines der fundamentalen
152
A. Merker, Indywidualna wolność sumienia w ustawodawstwie PRL, in: M. Staszewski, Wolność sumienia.
Szkice i polemiki, Warszawa 1973, S. 24; zustimmend: J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w
PRL, Warszawa 1971, S. 11; A. Pyrzyńska, Kilka uwag na temat nadużycia klauzuli sumienia (Art. 39 ustawy o
zawodach lekarza i lekarza dentysty), in: J. Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk, Lege artis. Problemy prawa
medycznego, Poznań 2008, S.15. 153
J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 104. 154
J. Osuchowski, Prawno – teoretyczne problemy ochrony wolności sumienia i wyznania, in: Dylematy
wolności sumienia i wyznania w państwach współczesnych, Warszawa 1996, S. 12. 155
Die zitierten Autoren sprechen vom „prawo do wyznawania“, was wörtlich als Recht, die Weltanschauung zu
bekennen, übersetzt werden könnte. Der polnische Rechtsbegriff „wolność wyznania“ hat jedoch nach dem
üblichen Verständnis einen weiteren Bedeutungsumfang als das deutsche Gegenstück „Bekenntnisfreiheit“ und
ist vielmehr mit der Ausübungsfreiheit gleichzusetzen.
50
Menschenrechte, das die Freiheit umfasst, eine gewählte religiöse bzw. areligiöse
Weltanschauung auszuüben. Der Einzelne ist berechtigt, „diejenigen Bedürfnisse zu
befriedigen, die aus weltanschaulichen Überzeugungen ausfließen. Das ist eine Freiheit, seine
Stellungnahme betreffs der Glaubensfragen zum Ausdruck zu bringen, eine Freiheit, gemäß
seinem eigenen Gewissen zu handeln.“156
Die Gewissens- und Bekenntnisfreiheit
gewährleistet die Äußerung der weltanschaulichen Haltungen im Rahmen der
Glaubensgemeinschaften oder ohne Verbindung mit derartigen institutionalisierten
Gruppierungen. Die Gewissensfreiheit ist ein Bestandteil des Prozesses der individuellen
Selbstbestimmung. Der Staat soll daher dem Einzelnen reale Möglichkeiten bereitstellen, eine
freie Wahl in Weltanschauungsfragen zu treffen.157
Dieser Auslegungsansatz hat auch unter Geltung der Verfassung von 1997 Fortsetzung
gefunden: die Gewissens- und Religionsfreiheit wird danach als ein einheitliches Grundrecht
interpretiert, dessen Schutzbereich generell weltanschauliche Aktivität des Einzelnen umfasst,
d.h. die Sphäre sowohl der inneren Überzeugungen, die religiös und nichtreligiös sein können,
als auch die Sphäre ihrer Betätigung.158
Die Begriffe des Gewissens und der Religion weisen
dabei keine wesentlichen Unterschiede auf.159
Die Analyse der einzelnen Begriffselemente des Begriffspaares „Gewissens- und
Religionsfreiheit“ wird dagegen von Sarnecki unternommen, der die Gewissensfreiheit als das
Recht deutet, eine beliebige Weltanschauung anzunehmen, „die sich auf die Sphäre des Seins
und die Sphäre des Bewusstseins erstreckt, und deren Genese, Entwicklung, gegenseitige
Relationen, und Zweck erklären soll. Damit wird die Annahme eines bestimmten
Wertsystems vorausgesetzt.“160
Der zitierte Autor definiert dabei die Weltanschauung mit
dem Verweis auf die Präambel als „eine Überzeugung in Bezug auf die metaphysische
Struktur und Quelle der Wahrheit, des Guten, der Gerechtigkeit und des Schönen.“161
Das so
156
A. Piekarski, Wolność sumienia i wyznania w Polsce, Warszawa 1979, S. 73. 157
Ebenda, S. 51f. 158
K. Pyclik, Wolność sumienia i wyznania w Rzeczypospolitej Polskiej (założenia filozoficzno-prawne), in: B.
Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 438 – 439, Rn. 3;
H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 511. 159
M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 17. 160
P. Sarnecki, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Art. 53, Warszawa 2003, S.
3. 161
Ebenda, S.3.
51
weite Verständnis der Weltanschauung setzt voraus, dass sie auch ethische oder sogar
ästhetische Werte umfasst. Die Religionsfreiheit bildet nach diesem Ansatz eine der
Verwirklichungsformen der Gewissensfreiheit. Sie müsste in der Verfassung überhaupt nicht
erwähnt werden; die Erwähnung und sogar die Hervorhebung der Religionsfreiheit in den
modernen Verfassungen hat lediglich eine historische Bedeutung.162
Sarnecki unterscheidet zwischen dem forum internum und dem forum externum der
besprochenen Freiheiten nicht. Einerseits definiert er die Gewissensfreiheit als Freiheit, eine
Weltanschauung anzunehmen, was nahelegen könnte, dass er ihren Schutzbereich auf die
innerliche Sphäre reduziert, andererseits spricht er von der Religionsfreiheit als eine der
Verwirklichungsformen der Gewissensfreiheit. Aus seiner Interpretation ergibt sich, dass er
die Gewissensfreiheit als einen Oberbegriff deutet, welcher Religions-, Weltanschauungs- und
Bekenntnisfreiheit sowie Gewissensfreiheit im engeren Sinne, d. h. die Freiheit der ethischen
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung umfasst. Ähnliche Interpretationsvariante lässt
sich auch in der Literatur zum ausländischen Verfassungsrecht nachweisen. Z.B. Hesse
vertritt die Auffassung, dass heutzutage Glaubens-, Bekenntnis- und Weltanschauungsfreiheit
als Ausformung des allgemeinen Grundrechts der Gewissensfreiheit erscheint.163
Schwierskott geht von der völligen Emanzipierung der Gewissensfreiheit von ihrem
„Muttergrundrecht“ in der polnischen Verfassung aus: „War ursprünglich die
Gewissensfreiheit in Polen als Religionsfreiheit zu verstehen, so wurde sie jetzt aus diesem
Zusammenhang herausgelöst. Heute erscheint die Freiheit des religiös motivierten Gewissens
als Anwendungsfall einer allgemeinen Überzeugungs- und Gewissensfreiheit.“164
Schwierskott steht dabei unter Einfluss der deutschen Lehre und Rechtsprechung zur
Gewissensfreiheit als selbstständiges Grundrecht und überträgt ihre Errungenschaften auf das
polnische Rechtssystem. Sie nimmt an, dass im polnischen Rechtsystem neben dem forum
internum auch die Betätigungsfreiheit der Gewissensfreiheit geschützt wird.165
In ihrer
Dissertation konzentriert sie sich allerdings auf ihren religiösen Aspekten; die „weltliche“
Facette der Gewissensfreiheit wird dagegen kaum besprochen. Dies wird damit begründet,
dass in Polen vor allem die Glaubensfreiheit in Anspruch genommen wird.166
162
P. Sarnecki, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Art. 53, Warszawa 2003, S.3. 163
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 158. 164
E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.77. 165
Ebenda, S. 77. 166
E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.73.
52
Makarska vertritt die Auffassung, dass der Rechtsbegriff „Gewissensfreiheit“ einen breiteren
Umfang als Religionsfreiheit hat. Die Gewissensfreiheit umfasst das Recht, sowohl einen
religiösen Glauben, als auch philosophisch-weltanschauliche Überzeugungen anzunehmen,
die religiös, areligiös oder antireligiös sein können. Sie können analog zur Religion nach
außen manifestiert werden.167
Die Gewissensfreiheit erscheint dabei als ein Oberbegriff, der
Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit in sich vereinigt. Zu dieser terminologischen
Klarstellung fügt Makarska die ethische Dimension der Gewissensfreiheit hinzu und setzt den
Schwerpunkt auf den Bildungsprozess der Gewissensentscheidungen: „Die Gewissensfreiheit
ist eine Fähigkeit des Individuums, moralische Entscheidungen aufgrund der erkannten und
anerkannten Werte der Wahrheit und des Guten, einschließlich der religiösen Wahrheit zu
treffen, die ihm Antworten auf seine existenziellen Fragen nach Lebenssinn liefern. Im
Gewissen gelangt der Mensch zur Erkenntnis des moralischen Guten und Bösen. Aufgrund
dieser Erkenntnisse trifft er eine freie moralische Entscheidung und verleiht ihr den Ausdruck
durch sein Verhalten. Die innere Autonomie in der Erlangung der Wahrheit, die
Entscheidung, diese Wahrheit zu bekennen sowie die Freiheit von Zwang seitens der andern
Subjekte wird Gewissensfreiheit genannt.“168
Das weiteste Konzept der Gewissensfreiheit in der polnischen Literatur, wonach sich die
Gewissensfreiheit bei seiner Ausübung „in die Überzeugung verwandelt“169
wird von
Czahora und Banaszak vertreten. Gemäß Czahora bedeutet die Gewissensfreiheit die
Autonomie der freien Wahl. Sie „kommt in der zwangsfreien Bildung und Äußerung der
Gedanken von dem Individuum sowie in ihrer Verwirklichung im Handeln und Haltung zum
Ausdruck. Die Gedankenfreiheit setzt die Bekenntnisfreiheit voraus.“170
Banaszak dagegen
behauptet, dass die Gewissensfreiheit die Autonomie des Einzelnen im Bereich der
philosophischen, axiologischen, moralischen sowie religiösen und politischen Anschauungen
beinhaltet. Dieses Grundrecht ermöglicht dem Einzelnen die individuelle Selbstbestimmung
in Bezug auf seine „eigene intellektuelle Identität.“171
Was die äußere Dimension der
Gewissensfreiheit angeht, scheint der zitierte Autor die möglichst weite Auslegung dieses
167
M. Makarska, Przestępstwa przeciwko wolności sumienia i wyznania w Kodeksie karnym z 1997 roku,
Lublin 2005, S. 21. 168
Ebenda, S. 21f. 169
B. Gronowska, T. Jasudowicz, M. Balcerzak, M. Lubiszewski, R. Mizerski, Prawa człowieka i ich ochrona,
Toruń 2005, S. 324. 170
A. Czahora, Mechanizmy ochrony wolności sumienia i wyznania w państwach Europy Zachodniej, in:
Dylematy wolności sumienia i wyznania w państwach współczesnych, Warszawa 1996, S. 48. 171
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 279, Rn. 1.
53
Grundrechts zu befürworten: „In der äußeren Sphäre bedeutet die Gewissensfreiheit, ähnlich
wie die Glaubensfreiheit, nicht nur das Recht, die gewählte Weltanschauung frei zu äußern
(zu vertreten). Der Gewissensfreiheit ist vor allem das Recht zu entnehmen, gemäß seinem
eigenen Gewissen zu handeln und die Freiheit von dem Zwang, gegen sein Gewissen zu
handeln. Von diesem Verständnis der Gewissensfreiheit geht sowohl der Verfassungsgeber (z.
B. Art. 85 Abs. 3 Verf.) als auch der Gesetzgeber (Art. 39 des Gesetztes über den Beruf des
Arztes und des Zahnarztes) sowie der Verfassungsgerichtshof aus.“172
Dieser Auslegungsansatz liefert für die Gewissensfreiheit als Recht auf moralische
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eine solide rechtsdogmatische Fundierung Da
dieses Konzept der Gewissens- und Religionsfreiheit die Gleichstellung der Rechtsposition
der Gläubigen und Nichtgläubigen voraussetzt, trägt es unter dem Gesichtspunkt der Toleranz
und Neutralitätspflicht des Staates den modernen Entwicklungstendenzen der Auslegung der
Gewissensfreiheit am besten Rechnung. Die Religions-, Weltanschauungs- und
Gewissensfreiheit entwickelten sich aus dem Stammgrundrecht der Religionsfreiheit.
Systematisch gesehen stellen die drei Freiheitsrechte den Ausfluss des übergeordneten
Grundrechts der freien Überzeugungsbildung dar. Deshalb wäre es nicht sachgerecht, der
Weltanschauung und dem Gewissen des Individuums einen engeren verfassungsrechtlichen
Schutz als der Religion einzuräumen.173
Auch aus den anderen Regelungen der Verfassung
lässt sich ableiten, dass der Verfassungsgeber die Religion und Weltanschauung prinzipiell
gleichstellen wollte. Art. 25 Abs. 2 Verf. enthält ausdrücklich den Grundsatz der
Unparteilichkeit der staatlichen Gewalten in Fragen der religiösen, weltanschaulichen und
philosophischen Überzeugungen und die Garantie ihrer Äußerung im öffentlichen Leben.
Dem Anliegen, Religion und Weltanschauung gleichzustellen entspricht auch der Wortlaut
des Art. 48 Abs. 1 Verf, wonach den Eltern das Erziehungsrecht ihrer Kinder gemäß ihren
Überzeugungen zusteht. Daher ist nicht notwendig, auf den allgemeinen Gleichheitssatz zu
greifen, was gelegentlich vertreten ist, um die Gleichstellung der nichtreligiösen moralischen
und weltanschaulichen Überzeugungen mit dem religiösen Glauben und Überzeugungen zu
sichern.
172
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 279, Rn. 1. 173
A. Bleckmann, Staatsrecht II, Die Grundrechte, Köln, München 1997, S. 741f., Rn. 8.
54
4.6. Das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen der Erfüllung einer
Rechtpflicht in der polnischen Lehre und Rechtsprechung
Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass die Mehrheit der polnischen Autoren der
Gewissensfreiheit keine autonome Bedeutung zugeschrieben hat. Die Gewissensfreiheit wird
vielmehr im begrifflichen und funktionalen Zusammenhang mit Bekenntnis- bzw.
Religionsfreiheit betrachtet. Es verwundert daher nicht, dass an die Frage, ob die
Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung das Verweigerungsrecht enthält, nur
vereinzelt herangegangen wird. Nach einer Ansicht bedeutet die Gewissensfreiheit als eines
der fundamentalen Menschenrechte „das Recht, etwas in Übereinstimmung mit seinem
Gewissen zu tun oder zu unterlassen, ohne den äußeren Drücken zu unterliegen“174
Diese
Ansicht wirkt wegen der isolierten d.h. von der Religionsfreiheit abstrahierten Betrachtung
der Gewissensfreiheit im polnischen Schrifttum original. Der zitierte Autor nimmt aber keine
Stellung zur Frage ein, ob die Gewissensbetätigungsfreiheit das Verweigerungsrecht umfasst
oder ob sie nur im Rahmen des geltenden Rechts ausgeübt werden kann.
Einige Autoren verneinen ausdrücklich die Möglichkeit, das allgemeine Verweigerungsrecht
aus Gewissensgründen aus der Gewissensfreiheit abzuleiten, obwohl sie den Schutzbereich
dieses Rechts weit bestimmen. Godlewski steht zwar auf dem Standpunkt, dass die Freiheit
der weltanschaulichen Überzeugungen zu „einer leeren Floskel“175
würde, wenn sie keine
Ausübungsfreiheit enthielte, die Gewissensfreiheit kann aber nicht so weit reichen, dass sie
das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen schützt. Sie ist lediglich im Rahmen des
geltenden Rechts garantiert und bildet keine Rechtsgrundlage für die Befreiung des Einzelnen
von den geltenden Rechtspflichten.176
Lang argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die
Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen zur Privilegierung einer
Weltanschauung führen würde und deshalb gegen das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht
unabhängig von den Überzeugungen des Einzelnen verstößt.177
Auch unter Geltung der
Verfassung von 1997 wird vertreten, dass das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen
lediglich in Ausnahmesituationen Anwendung findet, nämlich dann, wenn der Gesetzgeber
dem Einzelnen das Recht garantiert, eine durch das Gesetz gebotene oder erlaubte Handlung
174
T. Płoski, Prawo do wolności sumienia i religii w Polsce, in: Prawo kanoniczne, Nr. 3/4, 2003, S. 88. 175
J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 18. 176
J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 27. 177
W. Lang, Prawo i moralność, Warszawa 1989, S. 259.
55
verweigern zu können. In diesem Fall wird der Konflikt zwischen der Gewissensnorm und
dem Recht durch den Gesetzgeber zugunsten des Einzelnen gelöst. Im polnischen
Rechtssystem hat die Gewissensklausel als das Wehrdienstverweigerungsrecht und
Verweigerungsrecht, eine medizinische Leistung zu erbringen, ihre normative Entfaltung
erfahren.178
Für diesen Ansatz ist die Meinung Pietrzaks charakteristisch, der davon ausgeht,
dass der Schutzgegenstand der Gewissens- und Religionsfreiheit das Recht des Einzelnen auf
die Selbstbestimmung in religiös-weltanschaulichen Fragen, sowie das Recht, „gemäß den
Geboten seines Gewissens zu handeln“, umfast.179
Nach diesem Ansatz ist sie vor allem als
Freiheit vom Zwang zu verstehen, was im Grundsatz nemo cogatur, nemo impediatur zum
Ausdruck kommt. Die Ausübung der Gewissens- und Religionsfreiheit kann allerdings nicht
darin bestehen, sich von der Erfüllung der gesetzlichen Pflichten entziehen zu dürfen. Im
Konfliktfall hat vielmehr der Einzelne der gesetzlichen Pflicht Folge zu leisten. Die Regelung
der Wehrdienstverweigerung wird nur als ein „Zugeständnis“ den religiösen Pflichten
gegenüber betrachtet.180
Die weite Interpretation der Gewissensfreiheit, die das Verweigerungsrecht aus
Gewissensgründen zu enthalten scheint, wird dagegen vom Verfassungsgerichtshof vertreten.
In der noch vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1997 gefällten Entscheidung hat der
Verfassungsgerichtshof die Ansicht geäußert, dass dem Arzt erlaubt ist, sowohl die
Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs als auch die Ausfertigung der Bescheinigung
über die Zulässigkeit der Abtreibung unter Berufung auf das Grundrecht der
Gewissensfreiheit zu verweigern. Die Ableitung des Verweigerungsrechts des Arztes
unmittelbar aus der verfassungsrechtlichen Garantie der Gewissensfreiheit wird damit
begründet, dass die Gewissensfreiheit „nicht nur das Recht bedeutet, eine bestimmte
Weltanschauung zu vertreten, sondern vor allem das Recht, gemäß seinem Gewissen zu
handeln, sowie die Freiheit von dem Zwang, gegen sein Gewissen zu handeln.“181
Der
Verfassungsgerichtshof argumentiert, dass eine solche Auslegung der Gewissensfreiheit seine
Bestätigung in Art. 18 Abs. 2 IPbpR findet, wonach niemand einem Zwang ausgesetzt werden
darf, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung nach seiner Wahl zu haben
oder anzunehmen, beeinträchtigen würde. Es ist bemerkenswert, dass obwohl der
178
H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 514. 179
M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania, in: Res Publica Nowa, Nr. 1, 1998, S. 27; derselbe, Wolność
sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno – Historyczne, 2001, Heft 1,
S. 129. 180
Ebenda, S. 128f. 181
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs: U 8/90 von 15.01.1991; OTK 1991 Nr. 1 poz. 8.
56
Verfassungsgerichtshof in seiner Definition den Schwerpunkt auf die Freiheit vom Zwang zu
legen scheint, was eine Konsequenz der Berufung auf Art. 18 IPbpR zu betrachten ist,
erwähnt er auch die positive Gewissensfreiheit, d.h. das Recht, gemäß den Diktaten des
eigenen Gewissens handeln zu können.
Im Schrifttum zeichnen sich auch vorsichtige Tendenzen auf, die Einbeziehung des
Verweigerungsrechts in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit zu erwägen: „Das Streben
nach einer vollen Gewährleistung der Freiheit in religiösen Angelegenheit fordert die
Anerkennung des Rechts, eine gewissenswidrige Handlung zu verweigern.“182
Die allgemeine
verfassungsrechtliche Pflicht, das Recht der Republik Polen zu befolgen, erlegt den Bürgern
keine absolute Befolgungspflicht des durch den Staat beschlossenen Rechts auf. Ihre
Formulierung in der Verfassung schließt etwa das Widerstandsrecht grundsätzlich nicht
aus.183
5. Fazit
Aus der obigen Darstellung der Auslegungsvarianten der Gewissensfreiheit in der polnischen
Lehre ergibt sich, dass die Bemerkung Osuchowskis von 1996, dass der Rechtsbegriff der
Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht einheitlich verstanden wird und in der Lehre weiterer
Klärung bedarf,184
an Aktualität nicht verloren hat. Die Mehrzahl der dargestellten
Lehrmeinungen bietet keine präzise Begriffsbestimmung der Gewissens- und Bekenntnis-
bzw. Religionsfreiheit und konsequenterweise liefert keine scharfe Abgrenzung der den
beiden Begriffselementen entsprechenden Schutzbereiche. Die einzelnen Lehrmeinungen
nehmen vielmehr die Form der Annäherungen oder Beschreibungen an. Dies ist darauf
zurückzuführen, dass Gewissens- und Bekenntnisfreiheit ein überkommenes Begriffspaar ist,
das vielmehr als das unteilbare Ganze besser verstanden ist, als bei der Analyse der Einzelnen
Begriffselemente.185
182
A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 104. 183
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 415f., Rn. 2, 3. 184
J. Osuchowski, Prawno – teoretyczne problemy ochrony wolności sumienia i wyznania, in: Dylematy
wolności sumienia i wyznania w państwach współczesnych, Warszawa 1996, S. 12. 185
M. Winiarczyk- Kossakowska, Wolność sumienia i religii, in: Studia Prawnicze, Nr. 1, 2001, S. 27.
57
In dem älteren Schrifttum wird die Gewissensfreiheit entweder mit dem forum internum der
Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit oder als eine „weltliche Seite“ der Religionsfreiheit
aufgefasst. Die einzelnen Autoren unternehmen jedoch keinen Versuch, die einzelnen
Betätigungsformen unter die konkreten Begriffselemente zu subsumieren. In der neueren
Lehre überwiegt dagegen die Auffassung, dass Gewissens- und Religionsfreiheit allgemein
die Sphäre der religiös-weltanschaulichen Überzeugungen und ihrer Betätigung schützt. Die
Gewissensfreiheit als das von der Religionsfreiheit verselbstständigte Recht, ethische
Gewissensentscheidung zu treffen und danach sein Verhalten zu gestalten, wird nur selten
erwähnt (Schwierskott, Banaszak). Was das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen
angeht, wird es von einigen Autoren (Godlewski, Pietrzak und Łopatka), welche den Schutz
der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem bejahen, ausdrücklich abgelehnt, während
aus der neusten Kommentierung der Verfassung von Banaszak entnommen werden kann, dass
dieses Recht zumindest nicht ausgeschlossen ist. Das allgemeine Verweigerungsrecht aus
Gewissensgründen wurde dagegen ausdrücklich durch den Verfassungsgerichtshof anerkannt.
Da die Gewissensfreiheit in Polen bisher nur ansatzweise thematisiert wurde, sind ihre
Konturen noch nicht näher bestimmt. Mit der Säkularisierung der polnischen Gesellschaft ist
allerdings nicht auszuschließen, dass die Religionsfreiheit allmählich zur allgemeinen
Weltanschauungsfreiheit unabhängig von ihrer Provenienz evolvieren wird. Die
Gewissensfreiheit wird dabei einige Funktionen der Religionsfreiheit immer mehr
übernehmen. Die weitesten Auffassungen der Gewissens- und Religionsfreiheit bieten den
Anhaltspunkt für die Annahme, dass Art. 53 Verf. neben den auf die religiösen Fragen
bezogenen Anschauungen auch ethische Positionen schützt. Im Folgenden wird geprüft,
inwieweit sich diese Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der allgemeinen und
spezifisch verfassungsrechtlichen Auslegungsdirektiven bestätigen lässt. Im Gegensatz zur
richterlichen Auslegung, die darin besteht, anhängende Rechtsstreite zu lösen, erfüllt die
Auslegungstätigkeit der Lehre u.a. die Funktion der Erforschung vom Anwendungspotenzial
der Rechtsnormen auch im Hinblick auf diejenigen Sachverhalte, die in absehbarer Zukunft
zu aktuellen Streitfragen werden können. Gerade wegen ihrer Zukunftsorientierung kann sich
die wissenschaftliche Auslegung als besonders fruchtbar erweisen, den Schutzberiech der
Gewissensfreiheit präziser zu bestimmen sowie die Potenzialitäten ihrer Entwicklung im
Rahmen der Regelung in der polnischen Verfassung zu ergründen.
58
Kapitel II
Allgemeine Voraussetzungen der Verfassungsauslegung
1. Allgemeines
Im Schrifttum wird gelegentlich postuliert, dass die Freiheit des Individuums, gemäß seinen
tiefen moralischen und anderen Überzeugungen zu leben, „angenommen werden soll“186
. In
diesem Zusammenhang wird die These aufgestellt, dass die Fokussierung der normativen
Regelungen der polnischen Verfassung auf die Religionsfreiheit eine weite Auslegung ihres
Schutzgegenstandes nicht ausschließt: „Zurzeit soll der Schutz dieser Freiheiten im höheren
Grade gestrebt werden, indem neben dem Aspekt des Glaubens auch der moralische und
intellektuelle Aspekt berücksichtigt wird.“187
Bis dahin wurde jedoch die These von dem so
weiten Schutzbereich des Art. 53 Verf. hinsichtlich ihrer Vertretbarkeit im Lichte der
allgemeinen Auslegungsregeln des Rechts sowie der Auslegungsmethodologie der
Verfassung nicht geprüft. Die folgenden Ausführungen haben zum Zweck festzustellen, ob
die Bestimmungen der polnischen Verfassung dahingehend interpretiert werden können, dass
sie das Recht auf moralische Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung umfassen. Da die
Auslegungsresultate von dem angenommenen Verständnis der Auslegung, der Rolle des
Interpreten im Auslegungsprozess und – selbstredend – von den angenommenen
Auslegungsdirektiven und ihrem Vorgang weitgehend determiniert werden, beginnen die
nachstehenden Ausführungen mit der Auseinandersetzung mit dieser Problematik.
2. Verständnisansätze des Auslegungsprozesses
Jeder Akt der Rechtsanwendung setzt eine Auslegung voraus.188
Die Interpretation sichert,
dass das Recht seine Funktion der Regulierung des sozialen Verhaltens erfüllt. Sie ist ein
186
L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne, Zarys wykładu, Warszawa 2008, S. 111. 187
T. Sokołowski, Wolność myśli, sumienia i wyznania dziecka, in: T. Smyczyński, Konwencja o prawach
dziecka. Analiza i wykładnia, Poznań 1999, S. 261. 188
In der polnischen Lehre wurde eine Ansicht geäußert, die heute als überholt git, dass das Recht gewöhnlich
„unmittelbar” d.h. intuitiv verstanden wird. Erst wenn Zweifel zur Bedeutung des Rechtstextes auftauchen,
kommt das „mittelbare“ Verständnis des Rechts im Wege der Auslegung zum Zuge. Die eventuellen Zweifel
haben einen pragmatischen Charakter, d.h. sein Vorliegen ist mit der Rechtsanwendung in einer bestimmten
Situation verbunden; je nach Kontext kann derselbe Rechtstext hinreichend „klar“ oder „unklar“ betrachtet
werden. Die Rechtsanwendung, insbesondere die gerichtliche, beruht auf dem buchstäblichen Verständnis der
59
Faktor, der in der Regel das Rechtssystem dynamisiert.189
„Der Rechtstext bekommt
Lebenskraft und wird erläutert, wenn er nach der durchgeführten Auslegung mit der sozialen
Wirklichkeit in Berührung kommt. Ohne die Auslegung versteinert das Recht und wird
ineffizient. Mit der Auslegung erhält sich das Recht am Leben und alles, was das Leben hat,
ändert sich ohne Unterlass. Ohne Auslegung gibt es kein Recht.“190
Mit der Auslegung oder Interpretation des Rechts wird ein gedanklicher Prozess gemeint,
„mittels dem (verbindlich oder unverbindlich) festgestellt wird, welche Handlungsnormen
d.h. die Äußerungen, die besagen, wer, wann und unter welchen Umständen etwas tun oder
unterlassen soll, im gegebenen Rechtstext enthalten worden sind (...)“191
Die Rechtsauslegung
ist somit die Sinnrekonstruierung oder Sinndeutung einer Norm.192
Es handelt sich dabei um
diejenige Sinndeutung, welche die Norm in einem konkreten historisch-sozial bedingten
Moment ihrer Anwendung hat.193
Der Gegenstand der Interpretation ist eine Vorschrift, d.h.
ein Text, welcher mit einer normativen Sinnbedeutung (significación normativa) ausgestattet
ist. Die Normen sind dagegen die für die Vorschriften festgestellten Bedeutungen und
konkreten Verhaltensdirektiven.194
Im Unterschied zur klassischen Konzeption der
Auslegung, wonach lediglich nicht genügend klare Vorschriften zu ihrem Gegenstand werden
sollen,195
ist anzunehmen, dass jede Vorschrift einer Auslegung bedarf,196
wenn auch in
Rechtssprüche clara non sunt interpretanda sowie interpretatio cessat in claris. Siehe Dazu: J. Wróblewski,
Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 58f.
Dem wird entgegengehalten, dass die Bezeichnung einer Vorschrift als „klar“ eine zumindest unbewusste
Auslegung voraussetzt. Das sog. „unmittelbare“ Verständnis des Rechtstextes ist bereits Resultat seiner
Auslegung. Darüber hinaus können die Kriterien des „unmittelbaren“ Rechtsverständnisses veränderlich sein. Es
ist aber noch wichtiger, dass die Erreichung eines „unmittelbaren“ Verständnisses von individuellen Fähigkeiten
des Interpreten abhängt; eine Vorschrift, die für einen Subjekt verständlich ist, kann für einen anderen
Interpreten unklar sein. Die genannten Gründe führen zum Ergebnis, dass die Theorie des „unmittelbaren“
Verständnisses der Rechtsvorschriften nicht angenommen werden kann. Siehe dazu statt vieler: J. Oniszczuk.
Stosowanie prawa. Wybrane zagadnienia, Warszawa 2000, S. 30f. 189
J. Jabłońska-Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 151. 190
A. Torres Vásquez, Introducción al Derecho. Teoría General del Derecho, Bogota 2001, S. 528. 191
Z. Ziembiński, Teoria prawa, Warszawa – Poznań 1973, S. 95. 192
Statt vieler: S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro
1981, S. 13; J. Krukowski, Wstęp do nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S.137. 193
S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro 1981, S. 29;
E. Kunstra, Wstęp do nauk o państwie i prawie, Toruń 1997, S. 129. 194
A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 390. In der polnischen Lehre wird
die Unterscheidung zwischen Vorschrift und Norm allgemein anerkannt, was sich in dem Verständnis der
Auslegung wiedrspiegelt. statt vieler: S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań
2003, S. 73; J. Jabłońska - Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 147; J. Krukowski, Wstęp do
nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S. 137. 195
In der gegenwärtigen polnischen Methodenlehre wird diese Ansicht etwa von Łopatka repräsentiert: A.
Łopatka, Prawoznawstwo, Warszawa – Poznań 2000, S. 209. 196
Statt vieler; S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro
1981, S. 32; P. Bonavides, Curso de Direito Constitucional, São Paulo, S. 398; A. Squella Narducci,
Introducción al derecho, Santiago de Chile 2000, S. 377 ff.; Anders: J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego
60
einigen Fällen die Rekonstruierung der Norm wegen der sprachlichen Eindeutigkeit der
ausgelegten Vorschrift mittels des „unmittelbaren Verständnisses“ relativ einfach ist.197
In der Methodenlehre wird zwischen drei Verständnisströmungen der Interpretation
unterschieden, die als ein kognitiver, nichtkognitiver und gemischter Ansatz bezeichnet
werden können.
Nach der kognitiven Auffassung ist die Auslegung eine Erkenntnistätigkeit, wobei
vorausgesetzt wird, dass es immer möglich ist, den Sinn des ausgelegten Texts eindeutig
festzustellen. Die Aufgabe des Interpreten besteht somit in der Entdeckung der Bedeutung der
Norm, welche der auszulegenden Vorschrift innewohnt. Seine Behauptungen haben den
Charakter eines Satzes im Sinne der Formallogik, d.h. ihnen kommt die Kategorie „wahr“ und
„falsch“ zu. Jede Rechtsfrage hat nach diesem Konzept eine einzige korrekte Antwort. Diese
Position hat z.B. Dworkin angenommen: „ (...) auch wenn keine festgesetzte Norm den
Rechtsstreit löst, ist möglich, dass eine der Rechtsparteien ihn obsiegt. Die Pflicht des
Richters zu entdecken, welche Rechte den Parteien zustehen, statt neue Rechte rückwirkend
zu finden, bleibt auch in den schwierigen Fällen bestehen. Allerdings muss ich unverzüglich
hinzufügen, dass diese Theorie in keinem seiner Teile behauptet, dass es eine mechanische
Prozedur gibt, um festzustellen, welche Rechte die Streitparteien in den schwierigen Fällen
haben.“198
Gemäß dem nichtkognitiven Ansatz wird die Auslegung als eine Entscheidungstätigkeit
begriffen. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass keine Rechtsfrage eine einzig korrekte
Antwort hat, bevor die richterliche Entscheidung gefällt worden ist. Die Aufgabe des
Interpreten besteht deshalb darin, einer Rechtsnorm ihren Sinn zu geben. Die Behauptungen
des Interpreten orientieren sich somit nicht nach Kategorien „wahr“ und „falsch“ und
deswegen sind keine Sätze im Sinne der Formallogik. Diese Position wird von Guastini wie
folgt verteidigt: „Die interpretatorischen Äußerungen (der Text „T“ bedeutet „B“) sind weder
wahr noch falsch. Diese Äußerungen haben dieselbe tiefe Struktur wie die sog. persuasiven
Definitionen, d.h. diejenigen Definitionen, die den effektiven Gebrauch eines Begriffs nicht
wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 65ff., der das Konzept eines „unmittelbaren
Verständnisses“ der Rechtsvorschriften annimmt und folglich die Notwendigkeit der Interpretation lediglich in
denjenigen Fällen bejaht, wo die auszulegenden Vorschriften nicht genügend klar sind. 197
J. Krukowski, Wstęp do nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S. 137f. 198
R. Dworkin, Taking rights seriously, London 1977, S. 146.
61
beschreiben, sondern vorschlagen, dem Begriff oder der Äußerung eine Bedeutung
zuzuschreiben, die im Verhältnis zu anderen Bedeutungen bevorzugt wird.“199
Der gemischte Ansatz versucht die beiden Positionen zu versöhnen. Danach nimmt die
Auslegung je nach Einzelfall entweder die Form der Sinnfindung, bzw. Sinnentdeckung oder
die Gestalt der Sinndeutung. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die Rechtstexte partiell
unbestimmt sind. Daraus ergibt sich, dass für typische Anwendungsfälle das Recht eine
korrekte Antwort bereitstellt. Für atypische Fälle ist das Recht dagegen nicht genügend
bestimmt, deshalb liefert es keine korrekte Antwort. Der Vertreter dieser Konzeption ist z. B.
Hart: „Ich habe die Rechtstheorie geschildert, die durch zwei Extremen verfolgt wird: den
Alptraum und den noblen Traum; den Gesichtspunkt, dass die Richter immer das Recht, das
sie den Parteien im gerichtlichen Verfahren auferlegen, schaffen und niemals vorfinden,
sowie den gegenteiligen Gesichtspunkt, wonach die Richter niemals Recht schaffen. Meiner
Meinung nach sind die beiden Gesichtspunkte - wie andere Träume und Alpträume -
Illusionen, wenn auch sie die Juristen in ihrer Wachezeit viel zu unterrichten haben. Die
Wahrheit – vielleicht trivial – ist, dass die Richter manchmal das Eine, manchmal das Andere
tun.“200
Das kognitive und nichtkognitive Interpretationskonzept ist wegen seiner Einseitigkeit
abzulehnen. Die beiden Konzeptionen halten nämlich eine Alternative für wahr: der kognitive
Ansatz geht davon aus, dass die Rechtsvorschriften mit Genauigkeit die Totalität des durch
sie geregelten menschlichen Verhaltens normieren, während die nichtkognitive Konzeption
alle Normen auf das individuelle Entscheidungsresultat reduziert. Angesichts dieser
Disjunktion scheint im Allgemeinen der Mittelweg richtig zu sein; die Rechtsvorschriften
erfüllen eine unabweisbare Rolle bei der Rekonstruktion des Rechts, sie bestimmen allerdings
nicht immer präzise das ganze normierte Verhalten. Es gibt daher eine Zone, innerhalb deren
der Interpret nach seiner Verantwortung entscheiden muss, ob der zu lösende Fall durch den
Normtatbestand erfasst ist. Die Interpretation hat somit in bestimmten Fällen einen
kognitiven, informatorischen Charakter, in anderen ist die Auslegung konstitutiv und
entscheidungsabhängig.201
Was dagegen die grundrechtlichen Bestimmungen angeht, ist bei
199
R. Guastini, Le fonti del diritto e l‟interpretatione, Milano 1993, S. 109. 200
H. L. Hart, American Jurisprudence through English Eyes; the Nightmare and the Noble Dream, in: Essays in
Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, S. 144. 201
D. Mendonca, Interpretación y argumentación, in: P. E. Navarro, A. Bouzat, L. M. Esandi, Interpretación
constitucional, Bahia Blanca 1999, S. 12.
62
ihrer Auslegung dem nichtkognitiven Ansatz der Vorrang einzuräumen. Dies lässt sich mit
ihrer prägnanten Formulierung sowie mit ihrem offenen, erfüllungsbedürftigen Charakter
rechfertigen. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, inwieweit die spezifische Wortfassung der
Grundrechte die Schwerpunktsetzung bei der Wahl der Auslegungsmethoden determiniert.
3. Besonderheit der Grundrechtsvorschriften als Determinante der
Verfassungsauslegung
Die Besonderheit der Verfassungsauslegung ergibt sich aus der Stellung der Verfassung auf
dem Gipfel der Normenpyramide und ihrer Funktion als heteronome Determinante im
Verhältnis zum unterverfassungsrechtlichen Recht sowie aus dem Charakter der einzelnen
Verfassungsnormen. Die Verfassungsnormen, insbesondere die Grundrechtsbestimmungen,
charakterisieren sich mit einer bestimmten Offenheit. Dabei wird zwischen horizontaler und
vertikaler Offenheit unterschieden. Die horizontale Offenheit bedeutet, dass die
Verfassungsvorschriften den fragmentarischen und nichtkompletten Charakter haben. Die
vertikale Offenheit bezieht sich dagegen auf die Unbestimmtheit vieler
Verfassungsregelungen,202
was ihre Konkretisierung unentbehrlich macht.203
Die
Unbestimmtheit einer Norm bedeutet das Mangel an Informationen, die für den
Deutungsgehalt der interpretierten normativen Formulierung notwendig sind, wie z.B. die
Individualisierung der Normadressaten, die Spezifizierung der Umstände, unter denen das
geforderte Verhalten gesollt ist, und ähnliche Daten.204
Außer einigen staatsorganisatorischen Bestimmungen, die einen hohen Grad an Konkretheit
aufweisen, haben die Verfassungsvorschriften den Charakter der „lapidaren
Generalklausel“205
„und Grundsatzbestimmungen, die aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit
weithin entbehren.“206
Die große Unbestimmtheit der Verfassungsnormen ist auch darauf
202
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 189f.. Die textliche Offenheit wird von einigen
Autoren auf alle Rechtstexte bezogen, z. B. E. Kunstra, Wstęp do nauk o państwie i prawie, Toruń 1997, S. 130. 203
K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik
Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 231. 204
D. Mendonca, Interpretación y argumentación, in: P. E. Navarro, A. Bouzat, L. M. Esandi, Interpretación
constitucional, Bahia Blanca 1999, S. 18. 205
E. W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, in: NJW, 1976, S. 2091. 206
E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,
Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 115. Nach einer anderen
Ansicht ist die Verfassung nicht durchgehend unbestimmter und vager formuliert als andere Rechtssätze,
deswegen nimmt Verfassungsrecht unter methodologischen Gesichtspunkten keine Sonderstellung ein. Vgl. Ch.
63
zurückzuführen, dass sie Kompromißformeln darstellen, welche Ausdruck der breiten
gesellschaftlichen Verständigung sind.207
Sie sind Zielbestimmungen, „die nur das – zuweilen
in sich nicht eindeutige – Ziel festlegen, aber Wege, Mittel und Intensität ihrer
Verwirklichung offen lassen; Lapidarformeln, die – oft aus der Verfassungstradition
überkommen – für etwas stehen, das in ihrer Wortfassung keinen annähernden Ausdruck
findet; Formelkompromisse, die gerade Ausdruck der Nichteinigung sind und die
Entscheidung vertagen.“208
Daraus ergibt sich, dass um aus den Grundrechten unmittelbar
anwendbare Rechte herleiten zu können, bedürfen sie einer nicht nur explizierenden, sondern
auch einer ausfüllenden, konkretisierenden Interpretation: „Mit der Verfassung ist das
Gerippe oder das Gerüst der verfassungsrechtlichen Gebäude errichtet.(…) Es obliegt den
konstituierten Gewalten, diese Struktur auszufüllen.“209
Trotz ihrer Offenheit sind die Verfassungsnormen, darunter die Grundrechte, ein unmittelbar
anwendbares Recht; gemäß Art. 8 Abs. 2 Verf. sind die Vorschriften der Verfassung
unmittelbar anzuwenden, es sei denn, die Verfassung bestimmt es anders. Gerade in dem
„Auseinanderfallen zwischen Form und Verbindlichkeit“210
der Verfassungsnormen liegen
die Schwierigkeiten ihrer Auslegung.
Die Auseinandersetzung zur Auslegung der Grundrechte in der Lehre zielt zur Beantwortung
der folgenden Grundfragen: ob und inwieweit die Grundrechte des Einzelnen durch die sich
verändernde soziale Wirklichkeit determiniert werden und inwieweit die vorhandenen
grundrechtlichen Bestimmungen mittels der Interpretation an die sich verändernde
Wirklichkeit angepasst werden können.211
Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 192, 200. 207
P. Sobczyk, Wolność sumienia i religii w Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej – postulaty Kościoła
katolickiego, in: Prawo kanoniczne, Nr. 3/4, 2008, S. 372. 208
E. W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, Bestandsaufnahme und Kritik, in: derselbe:
Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, S. 58. 209
F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,
Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 294. 210
F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der
Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 597. 211
B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności
obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 48.
64
4. Verfassungsauslegung als Prozess der Normkonkretisierung
Da die Verfassung ein Rechtsakt in der Form eines Gesetzes ist, muss bei ihrer Auslegung
von den klassischen Interpretationsmethoden ausgegangen werden, wenn auch die einzelnen
Auslegungskriterien weder klar sind, noch es einen Maßstab gibt, wonach zu entscheiden
wäre, welcher Methode im Konfliktfall der Vorrang einzuräumen ist.212
Bei der Auslegung
der Verfassung ist allerdings das Spezifikum ihrer Bestimmungen zu berücksichtigen, was zu
Modifikationen der Anwendung von überkommenen Auslegungsmethoden führen kann.213
Die Grundrechtsvorschriften weisen keine „wenn A, dann B“ Struktur auf, wie es bei den
Gesetzesvorschriften der Fall ist, deswegen lässt sich bei strikter Anwendung des
interpretatorischen Kanons kein kategorisches Auslegungsergebnis finden.
Die Konsequenz des offenen Charakters der Verfassungsvorschriften ist das Bedürfnis einer
solchen Auslegung, die im Wesentlichen in Konkretisierung der den hohen Abstraktionsgrad
aufweisenden Verfassungsnormen besteht. Der Rechtanwender hat bei der Interpretation der
Verfassung wenige textliche Kriterien, welche den Auslegungsprozess orientieren könnten.
Bei der Anwendung der Verfassung muss zwar immer ein deutlicher Bezug auf ihren Text
genommen werden, die Verfassungsregelungen stellen aber nur selten dem Rechtsanwender
eine komplette und präzise Antwort auf seine Rechtsfragen bereit. Diese Antwort ist häufig in
den etablierten Präzedenzfällen und in der Rechtsprechungspraxis befindlich.214
Der
Verfassungstext bietet bei der Wahl einer aus vielen rationalen und mit der Verfassung
vereinbaren Auslegungsalternativen lediglich einen „Ausgangspunkt auf der langen Reise der
Argumentation und Erörterung.“215
Die offene Struktur der Verfassungsvorschriften, ihre
synthetische Sprache und abstrakter Charakter verleiht ihnen große Elastizität, was ihre
Anwendung in unterschiedlichen historischen Kontexten ermöglicht. Die normativen
212
B. Banszak, A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 52; G. Peces- Barba
Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 581; M. Pavcnik, Interpretation
and Understanding of the Constitution, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka wykładni prawa, Warszawa 2005,
S.180; P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsauslegung im Verfassungsstaat – Zugleich zur
Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 916; J. Carpizo, H. Fix-Zambudio,
Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el ordenamiento mexicano, in: Instituto de
Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S.15. 213
F. Bastida Freijedo, Teoría general de los derechos fundamentales en la constitución española de 1978,
Madrid 2004, S. 58f.; E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat,
Verfassung, Demokratie, Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S.
115. 214
L. Garlicki, Aksjologiczne podstawy reinterpretacji konstytucji, in: M. Zubik, Dwadzieścia lat transformacji
ustrojowej w Polsce, Wydawnictwo Sejmowe, Warszawa 2010, S. 101. 215
M. J. Cepeda, Los derechos fundamentales en la Constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 16.
65
Elemente, die nicht deutlich im Verfassungstext ausgedrückt wurden, werden mittels der
Einbeziehung der sozialen Wirklichkeit bestimmt. Der Inhalt der anzuwendenden Norm wird
durch die Interpretation ergänzt. Die Konkretisierung ist somit mehr Sinngebung als
Sinndeutung. „Sie bezeichnet Verfassungsentfaltung, -ausschöpfung und –anreichung, mithin
das Heranbilden eines aktuellen, problembezogenen Normsinns.“216
Gerade in diesem
Hinblick hat die Verfassungsauslegung einen schöpferischen Charakter.217
„Das Bedürfnis,
angesichts der verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten den Umfang der Verfassungsklausel
(…) zu konkretisieren, ist etwas relativ Normales. Dies erlaubt der Verfassungsinterpretation
den evolutionären Rhythmus zu geben.“218
Die überkommenen Auslegungsmethoden haben zum Zweck, den Willen des Gesetzgebers
wiederzugeben. Dabei wird vorausgesetzt, dass dieser Wille in Gestalt von einer
Entscheidung in den auszulegenden Vorschriften niedergeschrieben ist, die hohen Grad an
Konkretheit aufweisen. Gleichwohl fällt der Verfassungsgeber in vielen Fällen absichtlich
derartige konkrete Entscheidungen nicht und überlässt dem Gesetzgeber den
Entscheidungsspielraum.219
Die Abstellung auf das aus der Pandektenlehre in das Staatsrecht
übernommene Willensdogma erweist sich somit als Verschleierung der wirklichen Sachlage.
Für die Fälle, für welche die Verfassung keine eindeutigen Maßstäbe der Problemlösung
enthält, hat der Verfassungsgeber in der Tat keine Entscheidung getroffen, sondern lediglich
„mehr oder weniger zahlreiche unvollständige Anhaltspunkte für die Entscheidung
gegeben.“220
Wenn kein objektiver Wille der Norm, oder subjektiver Wille des Normgebers
vorhanden ist, ist der Zweck der Auslegung, diesen Willen zu rekonstruieren, schon im
Ansatz verfehlt.
216
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 67. 217
K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho
constitucional panameño, Panama 1987, S. 961. 218
E. Camacho, Lecciones de derecho constitucional, Tomo 1, Asunción - Paraguay 2001, S. 108. 219
A. M. García Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia
chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento
jurídicos, Santiago de Chile 1991, S. 327. Die Entscheidungsmacht des Gesetzgebers kann am Beispiel des
Rechts auf Leben verdeutlicht werden. Der Verfassungsgeber regelt absichtlich die Fragen des zeitlichen
Schutzbereiches dieses Rechts nicht; die Entscheidung, ob etwa das Recht auf Leben das Recht auf Sterbehilfe
beinhaltet soll, wurde dem Gesetzgeber überlassen. 220
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 22;
derselbe, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho
constitucional panameño, Panama 1987, S. 959. Siehe auch: M. Caetano, Direito constitucional, Volume II.
Direito constitucional brasileiro, Rio de Janerio 1978, S. 12; H. Bethge, Aktuelle Probleme der
Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 357.
66
Jede Rechtsvorschrift ist zwar mit den ihr unterliegenden Zielverfolgungen, Intentionen und
Wertungen des Gesetzgebers verabschiedet, deswegen kann in diesem Zusammenhang von
dem Willen des Gesetzgebers die Rede sein. Wenn aber die Vorschrift in Kraft tritt, entfaltet
sie ihren eigenen von dem Willen des Gesetzgebers immer entfernteren Sinngehalt, indem sie
sich an die verschiedenen und wandelnden sozialen Situationen anpasst, welche von dem
Gesetzgeber nicht vorgesehen wurden. Es ist somit festzuhalten, dass sowohl die
Zielsetzungen und Absichten des Gesetzgebers, als auch Wertungen und Ziele, welche in der
Zeit der Normanwendung vorhanden sind, in die Norm zusammenfließen. Daraus ergibt sich,
dass der Interpret nicht braucht, sich mit dem Willen des historischen Gesetzgebers zu
identifizieren, darf er allerdings nicht, von diesem Willen gänzlich loskommen.221
Da die Verfassung ein Rechtsakt ist, finden bei ihrer Interpretation die üblichen canones der
Auslegung Anwendung. Die allgemeinen, grundsatzartigen Vorschriften der Verfassung und
die Notwendigkeit ihrer Konkretisierung lassen eigentlich für den Interpreten weiteren
Spielraum zu.222
Der Prozess der Verfassungsauslegung besteht aus der Kombination der
klassischen und der ergänzenden, verfassungsspezifischen Auslegungsmethoden.223
Wegen
des „klauselartigen“ Charakters vieler Verfassungsbestimmungen öffnet sich nämlich die
Verfassung – gemäß dem Willen des Verfassungsgebers – in die Richtung der Grundsätze und
Werte, welche außerhalb des geschriebenen Verfassungstextes situiert sind. Diese
außerverfassungsrechtlichen Werte und Grundsätze erfüllen die Aufgabe, die
Verfassungsvorschriften axiologisch zu präzisieren. Allgemeine Rechtsgrundsätze,
universelle Standards der Demokratie, oder Elemente des Verfassungsnaturrechts werden in
das positive Recht „eingesaugt“, weil nur mit deren Hilfe die Bedeutung der geschriebenen
Verfassungsgrundsätze ermittelt werden kann.224
221
A. Torres Vásquez, Introducción al Derecho. Teoría general del derecho, Bogota 2001, S.531. 222
Ebenda, S. 583. 223
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 50; G. Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006,
S.109. 224
L. Garlicki, Normy konstytucyjne relatywnie niezmieniane, in: J. Trzciński, Charakter i struktura norm
konstytucji, Warszawa 1997, S. 153; M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in: P.
Winczorek, Teoria i praktyka wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 180.
67
5. Auslegungsergebnis als Zusammenspiel der Rechtsvorschriften, der
Subjektivität des Interpreten und der sozialen Wirklichkeit
Die Aufgabe des Interpreten im Prozess der Auslegung besteht darin, den in der Vorschrift
enthaltenen Sinngehalt objektiv zu erfassen und zu kommunizieren, mag dieser Sinngehalt
verdeckt sein. Mit anderen Worten, der Interpret hat „die Norm über den konkreten
Sachverhalt sprechen zu lassen, für welchen die Norm angewendet werden soll.“225
Es lässt
sich jedoch nicht verkennen, dass die Wiedergabe dessen, was die Norm „wirklich sagt“ ohne
die Vermittlung der Subjektivität des Interpreten nicht realisierbar ist. Der Interpret ist kein
bloßes Rezeptionssubjekt eines normativen Textes, „weil der Text demjenigen nichts sagt, der
nicht fragen kann.“226
Die Partizipation des Interpreten an dem Auslegungsergebnis taucht
bereits mit der Formulierung der Interpretationsfrage auf. Die Interpretation ist kein
Rezipieren des absolut objektiven Sinnes einer Norm; im Wege der Auslegung wird vielmehr
der Norm ein aus dem komplexen System der Bedeutungen entnommener Sinngehalt gegeben
oder zugeschrieben. Das gesetzte Recht hat somit keinen objektiven Sinn, sondern nur
denjenigen, welcher von dem Interpreten attribuiert wird.227
Bereits aus diesem Grund ist die
Meinung nicht haltbar, wonach die Auslegung „zu einem einzigen und eindeutigen
Festlegung des Vorschriftinhalts führen muss.“228
Die Antinomie zwischen der Subjektivität
des Verständnisses und der Objektivität des normativen Sinngehalts wird durch die
Auslegungsmethoden gelöst.
Die Auslegung wird weiterhin im Verhältnis zu den konkreten sozialen Tatsachen
vorgenommen, in Bezug auf welche die Norm Anwendung finden sollte. Der Sinngehalt der
Norm wird somit nicht in abstracto, sondern in Bezug auf den konkreten Sachverhalt
ermittelt.229
„Der reale Kontext der Fälle gewinnt eine große Bedeutung bei der Festlegung
des Umfangs einer Charta der Grundrechte. Ansonsten würden die Probleme konzeptuell fast
nichthandhabbar und so abstrakt, dass es unmöglich wäre, sie in eine überzeugende Weise zu
lösen.“230
Die Normanwendung und Norminterpretation bilden somit einen einheitlichen
Prozess; die Normanwendung kann nicht als eine nachträgliche Anwendung vom etwas
225
A. Torres Vásquez, Introducción al Derecho. Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 529. 226
Ebenda, S. 529. 227
Ebenda, S. 514. 228
A. Łopatka, Prawoznawstwo, Warszawa – Poznań 2000, S. 202. 229
A. Torres Vasquez, Introducción al. Derecho. Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 511. 230
M. H. Cepeda, Los derechos fundamentales en la Constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 16.
68
Gegebenen oder Allgemeinen, das zunächst unabhängig von einem Sachverhalt verstanden
wird.231
Die Einbeziehung der außertextlichen Kontexte in den Prozess der Auslegung wird auch von
dem Verfassungsgerichtshof für notwendig gehalten. Der Verfassungsgerichtshof
argumentiert zwar, dass die Auslegung keine Rechtsfortbildung ist, „sondern bildet die
Festlegung des korrekten Verständnisses des in den Rechtvorschriften ausgedrückten Inhalts
der Normen in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen und bei der
Anwendung der in der Kultur des demokratischen Rechtsstaates angenommenen
Interpretationsregeln. Der Verfassungsgerichtshof, wie auch die anderen Gerichte,
berücksichtigt aber bei der Interpretation der Vorschriften ihren Sprachkontext, ihren
Systemkontext, den sozialen Kontext, den axiologischen Kontext und den Zweck der
Vorschriften.“232
Daraus ergibt sich, dass der Verfassungsgerichtshof das geltende Recht mit
dem Wortlaut der Rechtsvorschriften nicht gleichstellt. Das Recht gewinnt vielmehr den Sinn
nur durch seine Bezugnahme auf bestimmte Kontexte.233
Um die Frage, was das geltende
Recht ausmacht, beantworten zu können, müssen verschiedene Faktoren in Betracht gezogen
werden. Zum einen gehören dazu die von dem Verfassungsgerichtshof aufgezählten Kontexte,
in denen die Rechtsnormen funktionieren, zum anderen gehören dazu die in der Rechtskultur
anerkannten Auslegungsgrundsätze, die darüber entscheiden, inwieweit die Elemente der
einzelnen Kontexte bei der Normrekonstruierung zu berücksichtigen sind.
Der Zusammenhang zwischen der ausgelegten Vorschriften, der Person des Interpreten und
der sozialen Wirklichkeit wird insbesondere in der hermeneutischen Tradition mit der
Metapher des hermeneutischen Zirkels hervorgehoben Danach ist die Interpretation immer
konkret; sie wird nämlich dazu unternommen, ein bestimmtes Problem zu lösen.234
Der zu
interpretierende Rechtstext wird im Lichte des (auch hypothetischen) Sachverhalts betrachtet.
Der Sachverhalt wird dagegen aus der Perspektive des Rechtstextes wahrgenommen. Daraus
231
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 24f. 232
Beschluss des Verfassungsgerichtshofs von 7. März 1995, W 9/94, OTK 1995 Nr. 1, poz. 20. 233
T. Gizbert - Studnicki, Teoria wykładni Trybunału Konstytucyjnego, in: Teoria prawa, filozofia prawa,
współczesne prawoznawstwo, Toruń 1998, S. 79. 234
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 27ff. Es wird dabei unterschieden zwischen Hermeneutik, die als Disziplin, deren
Gegenstand das Studium und Systematisierung der Grundsätze und Methoden der Interpretation ist, und der
Interpretation, die als praktische Anwendung der durch Hermeneutik herausgearbeiteten Regeln zu begreifen ist.
69
ergibt sich, dass die Auslegung eine ständige Änderung der Perspektive voraussetzt.235
Diese
Erwägung bezieht sich sowohl auf die richterliche, als auch auf die wissenschaftliche
Auslegung, weil das Bedürfnis der Interpretation lediglich in Bezug auf konkrete oder
hypothetische Sachverhalte entsteht.236
Je abstrakter und genereller eine Rechtsvorschrift ist,
desto dringlicher ist die Notwendigkeit, diese Vorschrift „zu verarbeiten und zu erneuern“237
,
um sie auf den konkreten Sachverhalt anwenden zu können. Die Verfassungsinterpretation ist
somit Konkretisierung.238
Sie lässt sich nicht vom historisch bedingten Vorverständnis des
Interpreten und dem Kontext ablösen, in dem die Interpretation vorgenommen wird. Der
Interpret geht nämlich an die Norm von einem bestimmten Vorverständnis heran. Dieses
Vorverständnis macht ihm möglich, „mit gewissen Erwartungen auf die Norm zu sehen, sich
einen Sinn des Ganzen vorauszuwerfen und zu einem Vorentwurf zu gelangen, der dann im
tieferen Eindringen der Bewährung, Korrektur und Revision bedarf, bis sich als Ergebnis
ständiger Annäherung der jeweils revidierten Entwürfe an die ‚Sache„ die Einheit des Sinnes
eindeutig festlegt.“239
Da jedem Verstehen die Vor – Urteilhaftigkeit innewohnt, ist das
Vorverständnis des Interpreten zu begründen, um sich vor Willkür der Interpretation
abzuschirmen. Die Aufgabe der Begründung des Vorverständnisses erfüllt vor allem eine
Verfassungstheorie, die ihrerseits nicht beliebig ist, sondern aus der konkreten
Verfassungsordnung gewonnen wird und durch die Rechtsprechung bestätigt und korrigiert
wird.
6. Pluralität der vertretbaren Auslegungsergebnisse
Die Rechtsnormen charakterisieren sich mit einer beabsichtigten Unbestimmtheit (d.h.
derjenigen, die sich aus ihrer Generalität naturgemäß ergibt) und einer unbeabsichtigten
Unbestimmtheit (z.B. Mehrdeutigkeit eines Wortes, Diskrepanz zwischen Wortlaut und
Zweck einer Norm, Widerspruch zwischen zwei Normen, die gleichzeitig Geltung
beanspruchen). Daraus ergibt sich, dass das anzuwendende Recht nur einen Rahmen bildet,
innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten seiner Anwendung gegeben sind. Eine
235
K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho
constitucional panameño, Panama 1987, S. 962. 236
T. Gizbert - Studnicki, Teoria wykładni Trybunału Konstytucyjnego, in: Teoria prawa, filozofia prawa,
współczesne prawoznawstwo, Toruń 1998, S. 83. 237
A. Torres Vásquez, Introducción al Derecho. Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 529. 238
M. H. Cepeda, Los derechos fundamentales en la Constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 15; G.
Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 586; C. Gomes, J.
Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 201. 239
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 24.
70
Interpretationsvariante ist rechtsmäßig, soweit sie sich in den durch den Rechtsakt
abgesteckten Rahmen hält, „den Rahmen in irgendeinen möglichen Sinn ausfüllt.“240
Die
Aufgabe der Interpretation ist somit alle möglichen Sinndeutungen einer Rechtsvorschrift zu
ermitteln. Alle Auslegungsvarianten, die sich in den durch den normativen Akt bestimmten
Rahmen halten, sind im Hinblick auf die Rechtsanwendung gleichwertig. Es wäre nicht
richtig, von dem Interpreten die einzig richtige Entscheidung zu fordern.241
Kelsen wirft mit Recht der traditionellen Methodenlehre vor, dass sie den Vorgang der
Interpretation so schildert, als ob es sich nur um einen intellektuellen Akt des Klärens oder
Verstehens handelte. Gleichwohl aktiviert der Interpret im Prozess der Auslegung außer dem
Verstand auch seinen Willen. Es gibt nämlich kein Kriterium, wonach die Richtigkeit einer
unter vielen anderen Auslegungsalternativen festgestellt werden könnte. Entscheidend ist in
dieser Hinsicht die rational begründete Präferenz des Interpreten. Der Konflikt zwischen den
Willen des Normgebers und dessen Ausdruck bleibt durch die Methodenlehre ungelöst. Alle
bisher entwickelten Interpretationsmethoden führen stets nur zu einem möglichen, niemals zu
dem einzig richtigen Resultat. „Sich unter Vernachlässigung des Wortlautes an den
mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers zu halten, oder den Wortlaut streng zu beobachten
und sich dabei um den – meist problematischen – Willen des Gesetzgebers nicht zu kümmern,
ist – positivrechtlich – durchaus gleichwertig.“242
Die Frage nach Richtigkeit einer
Auslegungsalternative hat somit keinen rechtstheoretischen, sondern rechtspolitischen
Charakter. Auch der insbesondere bei der Einschränkung der Grundrechte zur Anwendung
kommende Grundsatz der Interessensabwägung stellt lediglich die Formulierung des
Problems und nicht seine Lösung dar. Er liefert nämlich keinen objektiven Maßstab, wonach
die entgegensetzten Interessen verglichen und abgewogen werden könnten; die anzuwendende
Norm oder System von Normen enthält keine Rangbestimmung der ins Spiel kommenden
Interessen, sondern überlässt die Entscheidung dem Richter.
Aus diesen Erwägungen bleibt festzuhalten, dass sich im Prozess der Rechtsanwendung die
erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechts mit dem Willensakt verbindet.
Durch den Willensakt trifft das rechtsanwendende Organ eine Wahl „zwischen den durch die
240
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1992, S. 348. 241
Ebenda, S. 349f.; siehe auch: A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 389f. 242
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1992, S. 350.
71
erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten.“243
Was dagegen die
rechtswissenschaftliche Interpretation angeht, postuliert Kelsen, dass ihre Aufgabe in
Aufzeigung aller Bedeutungsmöglichkeiten einer vieldeutigen Norm besteht. Ein Gelehrter
würde eine rechtspolitische und nicht wissenschaftliche Funktion erfüllen, wenn er eine
bestimmte Lösung als einzig „richtige“ ausgäbe, ohne auf die anderen Auslegungsalternativen
hinzuweisen, wenn auch sie politisch unerwünscht wären.244
Es muss somit niemals außer
Acht gelassen werden, dass der Interpret außer der Festlegung der möglichen
Auslegungsvarianten eine Entscheidung trifft und wählt eine „richtige“ Lösung. Die
Entscheidung zwischen den vertretbaren Auslegungsmöglichkeiten hat allerdings politischen,
nicht rechtlichen Charakter.245
Dies wird besonders deutlich bei der Abwägung der
kollidierenden Interessen.246
Die Richtigkeit eines Auslegungsergebnisses kann zum einen als Minimalkorrektheit
verstanden werden, d.h. eine Auslegungsvariante wird isoliert von anderen
Interpretationsalternativen hinsichtlich ihrer Vertretbarkeit geprüft. Zum anderen kann die
Richtigkeit als Maximalkorrektheit also als ein Vergleichsergebnis aller möglichen
Auslegungsoptionen betrachtet werden. Die Idee der absolut richtigen
Auslegungsentscheidung kann allerdings auf der Ebene der Rechtsanwendung in praxi nicht
völlig aufgegeben werden. Der Rechtsanwender hat doch die vertretene
Auslegungsentscheidung als „die richtigste“ zu begründen, also ihre Maximalkorrektheit zu
beweisen.247
Die Richtigkeit der Auslegung mißt sich anhand der in der Verfassung
verankerten Werte wie Rechtssicherheit, Prinzip der Gewaltenteilung, Gebundenheit des
Richters an das Gesetz, Schutz der Grundrechte etc. Die Konstitutionalisierung der Auslegung
hat zur Folge, dass ihre methodologische Richtigkeit als Vereinbarkeit mit den
Verfassungswerten angesehen werden kann.248
Die Richtigkeitsmaßstäbe einer Auslegungsentscheidung können lediglich in ihrer
Begründung gefunden werden. Die Unterscheidung zwischen dem Kontext der Entdeckung
(der auch Ergebnis eines Zufalls oder eines intuitiven Gefühls sein kann und deshalb
243
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1992, S. 351. 244
Ebenda, S. 353. 245
J. Araujo Renteria, Teoría de la Constitución, Santafe de Bogota 1996, S. 66. 246
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 228. 247
T. Spyra, Granice wykładni prawa: znaczenie językowe tekstu prawnego jako granica wykładni, Kraków
2006, S. 33. 248
Ebenda, S.33f.
72
wissenschaftlich nicht verifizierbar ist) und dem wissenschaftlich kontrollierbaren Kontext
der Begründung hat große Resonanz in der Rechtstheorie gefunden. Dort ist nämlich von dem
Übergang in der Rechtstheorie von der Auslegungslehre zur Begründungslehre die Rede. Die
Begründungslehre fragt nicht nach Determinanten einer Auslegungsentscheidung, sondern
nach Richtigkeit der Argumente, auf welchen die Auslegungsentscheidung beruft.249
Das
Abkommen von der Idee einer einzig richtigen Auslegungsentscheidung hat zur Folge, dass in
der Methodenlehre der Schwerpunkt auf die Festlegung der Grenzen der Richtigkeit der
interpretatorischen Tätigkeit gelegt wird. Es ist nämlich zu prüfen, ob sich eine tatsächlich
getroffene interpretatorische Entscheidung in dem methodologischen Rahmen hält.250
Die Auslegung als kognitiver Prozess der Sinngebung besteht somit aus Erwägung der
möglichen Verhaltensalternativen und aus dem Wahlurteil zwischen den in Frage kommenden
Optionen.251
Im Fall der divergierenden Auslegungsvarianten hat der Interpret diejenige zu
wählen, die im höchsten Grade überzeugend ist, d.h. dasjenige Ergebnis, für welches die
Mehrzahl der Argumente (in qualitativer und quantitativer Hinsicht) spricht und welches
zugleich mit dem Ziel des Rechtsaktes vereinbar ist.252
Was die Verfassungsinterpretation
angeht, besteht ihre Aufgabe darin, ein verfassungsrechtlich „korrektes“ Ergebnis mittels
eines rationalen und kontrollierbaren Verfahrens zu finden und dieses Ergebnis auch in einer
rationalen und kontrollierbaren Art und Weise zu begründen und damit Rechtssicherheit und
Rechtsvorhersehbarkeit zu schaffen.253
Die Notwendigkeit, dass sich der Interpret für eine
Auslegungsalternative entscheidet, kann auch damit gerechtfertigt werden, dass die
Auslegung nicht zwecklos durchgeführt wird. Die interpretatorische Tätigkeit verfolgt
vielmehr das Ziel, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen.254
249
T. Spyra, Granice wykładni prawa: znaczenie językowe tekstu prawnego jako granica wykładni, Kraków
2006, S. 23ff. 250
Ebenda, S.33. 251
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 31f. 252
M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka
wykładni prawa, Warszawa 2005, S.180. 253
K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho
constitucional panameño, Panama 1987, S. 963. 254
A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 391.
73
7. Beschränkte Begründbarkeit der Auslegungsentscheidung
Im Allgemeinen kann der Auslegungsprozess als eine Sequenz der intellektuellen Tätigkeiten
aufgefasst werden, der sich mit der Verflechtung der kognitiven und bewertenden Elemente
charakterisiert.255
Die wertende Komponente ist insbesondere beträchtlich im Fall der
Verfassungsauslegung, deshalb wurde sie wegen ihrer Natur als wertende Interpretation
(interpretación valorativa) bezeichnet.256
Dies bedeutet, dass die Interpretation die
Evaluierung der vorhandenen Auslegungsoptionen voraussetzt. Die Wertungen werden
allerdings nicht nach freiem Ermessen des Interpreten durchgeführt, sondern müssen sich im
Rahmen der im Text der Verfassung objektivierten Werte halten. „Es bleibt dabei, dass das
Höchstmaß an rationaler Rechtsfindung nur mittels einer rationalen Begründung der
Ergebnisse erreicht werden kann, nicht aber durch Verabsolutierung irgendwelcher Theorien
oder Methoden.“257
Die Sicherheit über die gefundene Norm soll sich aus dem Konsens über Solidität der
angebrachten Argumente ergeben, die aus der Abwägung der in der Verfassung proklamierten
Werte hervorgeht.258
Ossenbühl argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Wahl der in
dem konkreten Einzelfall anzuwendenden Auslegungsmethode dem „Begründungszwang“
unterliegt.259
Gomez Canotilho weist darauf hin, dass die Aufgabe des Verfassungsinterpreten
darin besteht, ein verfassungsrechtlich gerechtes Ergebnis mittels der rationalen und
kontrollierbaren Methoden zu finden und zu begründen.260
Dabei geht es nicht um eine
absolute Rationalität, sondern um eine relative Richtigkeit der Ergebnisse, die die
Begrenztheit ihres Anspruches eingesteht, die allerdings in dieser Begrenztheit einsichtig,
überzeugend und wenigstens zu einem gewissen Grad voraussehbar ist. „Der
Begründungseffekt einer Interpretation ist grundsätzlich Resultat der kumulativen Würdigung
der Argumente pro und contra, also die Einschätzung, ob bessere (stärkere) Argumente
vorhanden sind, welche für die Annahme oder Verwerfung einer Auslegungsentscheidung
255
J. Oniszczuk, Stosowanie prawa. Wybrane zagadnienia, Warszawa 2000, S. 26. 256
G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 401f. 257
F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der
Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 619. 258
J. L. Cea Egaña, La interpretación axiológica de la Constitución, in: Interpretación, integración y
razonamiento jurídicos. Conferencias y ponencias presentadas en el Congreso realizado en Santiago y Viña del
Mar entre el 23 y 25 de mayo de 1991, Santiago de Chile 1992, S. 96. 259
F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der
Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 600, 629. 260
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 209.
74
sprechen.“261
Dieser Konsens ist im Laufe der Zeit veränderungsfähig, was zu einem anderen
Resultat der Auslegung führen kann.262
Wenn eine der Auslegungsvarianten zu den vom Interpreten für „begehrenswert“263
gehaltenen Konsequenzen führt, kann dies als ausschlaggebendes Argument für die Annahme
gerade dieser Auslegungsalternative gelten.264
Die topische Vorgehensweise, die einerseits an
das zu lösende Problem gebunden ist, andererseits durch die Verfassungsnormen orientiert ist,
hat dabei die größte Möglichkeit, solide, rational begründbare und kontrollierbare Resultate
herzustellen. Es ist allerdings sicher, dass eine interpretatorische Entscheidung, insbesondere
im Bereich des Verfassungsrechts nicht total rationalisiert werden kann. Es handelt sich
vielmehr um die Rationalisierung im Rahmen des Möglichen. Die absolute Begründbarkeit
der interpretatorischen Ergebnisse wie in der Naturwissenschaften ist eine Fiktion, hinter der
die wirklichen Motive der Entscheidung verborgen werden. Wenn die absolute Korrektheit
einer interpretatorischen Entscheidung nicht nachweisbar ist, strebt der Interpret nach
Erreichung der relativen Korrektheit, die nicht nur ein Quantum der juristischen Ehrlichkeit,
sondern auch die bestimmte Vorhersehbarkeit und die beschränkte Rechtssicherheit erreichen
lässt.265
8. Verfassungsauslegung als Rekonstruierung der „politischen Formel“
Aus der rechtlich–politischen Perspektive soll die Verfassungsauslegung der Tatsache gerecht
werden, dass die Verfassung den Charakter des „rechtlichen Statuts des Politischen“266
(estatuto jurídico do político) hat. Ihre Normen sind dazu bestimmt, den Regierungsapparat
für das Volk zu konstruieren, die Kompetenzbereiche und gegenseitige Beziehungen
zwischen den einzelnen Gewalten festzulegen, sowie ihre Beziehungen zu den Bürgern und
ihrer Gruppen zu gestalten. Darüber hinaus stellt die Verfassung ein Depositum dar, in
welchem die durch das Gemeinwesen geteilten Werte, Ideale und Symbole hinterlegt und
geschützt sind. Deshalb bildet die Verfassung eine Widerspiegelung dieses Gemeinwesens
261
L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 139f. 262
F. Bastida Freijedo, Teoría general de los derechos fundamentales en la constitución española de 1978,
Madrid 2004, S. 64f. 263
W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 444. 264
J. Nowacki, Z. Tabor, Wstęp do prawoznawstwa, Kraków 2001, S. 225; C. Gomes, J. Jose, Direito
Constitucional, Coimbra 1993, S. 227. 265
K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho
constitucional panameño, Panamá 1987, S. 966. 266
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 209.
75
und ein wesentliches Element seines Selbstbewusstseins. Sie spielt bei der Gestaltung der
nationalen, kulturellen und axiologischen Identität des Volkes eine grundlegende Rolle.267
Die
Verfassung ist ein „Entwurf oder Modell der nach einer bestimmten sozioökonomischen
Struktur und im Einklang mit den gestrebten Zielen politisch organisierten Gesellschaft.“268
Es ist deshalb unabdingbar, diese Struktur und Ziele bei der Bemühungen, den Sinn den
Verfassungsnormen zu geben, in Betracht zu ziehen.269
Mit anderen Worten: jede Verfassung
enthält die sog. „politische Formel.“270
Der Verfassung liegt eine bestimmte „treibende
politische Idee zugrunde, welche die politische Organisation und soziale Strukturierung
bestimmt.“271
Damit wird eine normierte ideologische Äußerung (expresión ideológica)
gemeint, wonach das politische Zusammenleben in einer gesellschaftlichen Struktur
organisiert wird. Das in der Verfassung entworfene politische und soziale System stellt ihr
„geistiges Substrat“272
dar. Die Aufgabe des Interpreten besteht in Herausarbeitung dieser
politischen Formel, die ihrerseits die Schranke der Auslegung darstellt.273
Gerade das Vorhandensein einer politischen Formel in der Verfassung macht ihre Auslegung
besonders schwierig und anfällig für die Ideologisierung; es handelt sich nämlich nicht um
partikuläre Interessen, wie es etwa im Privatrecht der Fall ist, sondern um einen durch die
Verfassungsnormen festgesetzten Rahmen, in dem eine bestimmte politische Formel in die
gesellschaftliche Struktur übertragen wird.274
Ein spezifisch verfassungsrechtliches Prinzip
der Auslegung ist der Grundsatz der Achtung der durch die Verfassung verankerten
politischen Ordnung. Danach soll diejenige Auslegungsvariante gewählt werden, welche die
in der Verfassung für das Gemeinwesen konstituierte politische Ordnung verstärkt. Gerade
durch die Auslegung erwirbt die politische Formel ihre volle Vitalität.275
Es besteht daher ein
Sachzusammenhang zwischen der Interpretation der einzelnen Grundrechtsbestimmungen und
267
Z. Stawrowski, Aksjologia i duch konstytucji III. Rzeczypospolitej, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 4(81), 2003, S.
49. 268
M. Caetano, Direito constitucional, Volume II. Direito constitucional brasileiro, Rio de Janeiro 1978, S. 11. 269
Ebenda, S. 11. 270
A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia
chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento
jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 328. 271
G. Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1., Buenos Aires 2006, S. 108. 272
M. Caetano, Direito constitucional, Volume II. Direito constitucional brasileiro, Rio de Janeiro 1978, S. 11. 273
L. A. Huerta Guerrero, Jurisprudencia constitucional e interpretación de los derechos fundamentales, in:
Comisión Andina de Juristas, Derechos fundamentales e interpretación constitucional (ensayos – jurisprudencia),
Lima 1997, S. 25. 274
A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia
chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento
jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 328. 275
F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,
Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 299.
76
den in der Verfassung zum Ausdruck gebrachten Staatsauffassung sowie mit den
Verfassungswerten wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Gleichheit.276
Es ist unbestreitbar, dass der Interpret der Verfassung in der Regel die überkommenen
Auslegungsmethoden anzuwenden hat. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass „die
interpretatorische Arbeit wegen des fundamentalen Charakters der Verfassung und ihres
abstrakten Gehalts durch die politische Komponente in einer besonderen Art und Weise
belastet wird.“277
Dies beeinflusst das Auslegungsresultat dahingehend, dass dem Recht
derjenige Sinn gegeben werden soll, der von dem Gemeinwesen akzeptiert werden kann, für
das das Recht bestimmt ist.278
9. Die schöpferische Rolle des Interpreten bei der Auslegung der
Verfassung
Das Auslegungsresultat ist ein Produkt der Interaktion zwischen dem Text und dem
Interpreten, deswegen enthält es sowohl objektive als auch subjektive Elemente und zwar in
verschiedenen Proportionen. Das objektive Moment zeichnet die Parameter für die
interpretatorische Handlung vor und erlaubt die Richtigkeit der interpretatorischen
Entscheidung im Lichte der exegetischen Möglichkeiten des Textes und der
Interpretationsdirektiven zu begründen. Dagegen tritt das subjektive Moment in Gestalt der
Sensibilität des Interpreten in die Erscheinung, der die Norm humanisiert, um sie an die
soziale Wirklichkeit anzuwenden. Das subjektive Element kommt mit dem Streben des
Interpreten nach einer gerechten Lösung innerhalb der Alternativen, welche ihm die
Rechtsordnung bietet.279
Wegen des offenen Charakters der Verfassungsnormen bieten sich für den Interpreten ein
relativ weiter Spielraum und zahlreiche potenziell verwertbare Auslegungsoptionen.280
Je
276
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 200. 277
J. Vallejo Mejia, Lecciones de Teoría Constitucional, Madellin 2000, S. 135. 278
G. Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 578. 279
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 89. 280
J. L. Cea Egaña, La interpretación axiológica de la Constitución, in: Interpretación, integración y
razonamiento jurídicos. Conferencias y ponencias presentadas en el Congreso realizado en Santiago y Viña del
Mar entre el 23 y 25 de mayo de 1991, Santiago de Chile 1992, S. 94.
77
abstrakter eine Norm formuliert ist, desto weiter ist der Spielraum des Interpreten.281
Der
Prozess der Normenverdichtung im Wege der Verfassungsinterpretation hat deshalb einen
schöpferischen Charakter. Er kann ohne die von dem Interpreten und Rechtsanwender
eingeführten autonomen Determinanten nicht existieren. Der Interpretationsprozess weist eine
wertende Dimension auf und ist nicht von den ideologischen Optionen frei.282
Dies gilt
besonders für die Auslegung der Grundrechte, deren Sinngehalt und Tragweite in der Regel
nur aus einem „Stichwort“ zu ermitteln ist.283
Wróblewski akzentuiert den subjektiven Moment im Auslegungsprozess, indem er darauf
hinweist, dass die Auslegung mit einer Reihe von Wertungen und Wahlalternativen
verbunden ist. In diesem Zusammenhang führt er den Begriff „Ideologie der
Rechtsinterpretation“ ein, den er als Gesamtheit aller Werte und Auslegungsdirektiven
versteht. Das Treffen der interpretatorischen Entscheidungen setzt die Annahme bestimmter
Werte voraus. Die von dem Interpreten angenommenen Werte beeinflussen sowohl die Wahl
der konkreten Interpretationsdirektiven wie auch ihre Anwendungsart. In einem Konfliktfall
zwischen verschiedenen Auslegungsergebnissen sind sie bei der Begründung einer
Wahlalternative heranzuziehen.284
Kelsen dagegen argumentiert, dass es zwischen dem
Gesetzgeber, welcher an die Verfassung gebunden ist, und dem Richter, der im Rahmen der
generellen und abstrakten Norm einen individuellen Rechtsakt gewinnt, keinen qualitativen,
sondern lediglich einen quantitativen Unterschied gibt. Wenn auch in materieller Hinsicht die
Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung viel geringer ist als die Bindung des Richters an
das Gesetz, ändert dies daran nicht, dass beide Subjekte Rechtschöpfer sind. Gerade deswegen
ist die Rechtsauslegung eine Willensfunktion.285
Das subjektive Element bedeutet zum einen die fallbezogene Schwerpunktsetzung durch die
Gerichte und den Verfassungsgerichtshof auf die einzelnen Auslegungsmethoden, zum
281
J. Carpizo, H. Fix-Zambudio, Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el ordenamiento
jurídico mexicano, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S.
23. 282
G. Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 571, 578. 283
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 210; F. Zúñiga Urbina, Tendencias
contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez,
Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 294; M. Hilti, Die
Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 67. 284
J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 75. 285
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1992, S. 351.
78
anderen keine festgesetzte Rangfolge der einzelnen Auslegungskriterien.286
Es wird sogar
vertreten, dass es sich bei der Auslegung weniger um eine wissenschaftlich exakte Methode
als vielmehr um eine Kunstfertigkeit handelt, die sorgfältig die relevanten Gesichtspunkte in
der Lebenswirklichkeit und in den vorgegebenen Normmaterial „aufspürt, würdigt,
gegeneinander abwägt und in sinnvolle Beziehung setzt.“287
Die einzelnen
Auslegungsdirektiven haben keinen zwingenden Charakter. Da sie Ausnahmen von ihrer
Anwendung zulassen, können sie als Vermutungen aufgefasst werden. Die wichtigste
Funktion der Mehrzahl der Interpretationsdirektiven besteht darin, dass sie lediglich stärkere
oder schwächere Argumente dafür liefern, dass die ausgelegte Rechtsnorm eine bestimmte
Sinnbedeutung hat. Es kommt äußert selten vor, dass eine Auslegungsdirektive isoliert
genommen als endgültiges und zwingendes Argument für oder gegen eine interpretatorische
Entscheidung betrachtet werden kann. Wegen dieser Eigenschaft der Interpretationsdirektiven
ist zu konstatieren, dass sie keine absolut bindende Gebote, sondern nur Richtlinien oder
„gute Gründe“288
, „Ratschläge“289
für die Annahme einer Auslegungsalternative bilden.290
Die
Auslegungsdirektiven geben dem Interpreten einen relativ weiten Ermessensspielraum, auf
der Suche nach der Lösung, die er als zufriedenstellend betrachtet.291
Eine Interpretationsentscheidung nimmt nur selten die Form des interpretatorischen
Syllogismus an. Sie ist vielmehr Resultat der kumulativen Würdigung aller in Frage
kommenden Argumente pro und contra.292
Die argumentative Begründung einer
Interpretationsentscheidung, d.h. die Auseinandersetzung nicht nur mit
Auslegungsargumenten, welche das Gericht annimmt, sondern auch mit denjenigen, welche
verworfen werden, bürgert sich stufenweise in der liberal-demokratischen Staaten ein. Die
Anbringung der ins Spiel kommenden Argumente wird im Wege einer topischen Tätigkeit
bewerkstelligt, die ihrerseits durch Verfassungsnormen orientiert und eingeschränkt ist. Die
einzelnen topoi (Gesichtspunkte, Argumentationskomplexe) werden mittels der sog. inventio
(Herausfinden) zur Analyse pro und contra bereitgestellt, um die Entscheidung möglichst
überzeugend zu begründen. Die Auswahl der Gesichtspunkte steht jedoch keinesfalls zum
freien Ermessen des Interpreten. Einerseits hat er diejenigen topoi zu benutzen, die mit dem
286
T. Gizbert - Studnicki, Teoria wykładni Trybunału Konstytucyjnego, in: Teoria prawa, filozofia prawa,
współczesne prawoznawstwo, Toruń 1998, S. 82. 287
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 68. 288
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 56f. 289
Ebenda, S. 62. 290
Ebenda, S. 57. 291
Ebenda, S. 62. 292
Ebenda, S. 58.
79
zu lösenden Problem verbunden sind. Zum anderen ist er verpflichtet, diejenigen Elemente
der Konkretisierung der Norm einzuschließen, die ihm die Verfassungsnorm vorgibt, sowie
die in der Verfassung enthaltenen Richtlinien bezüglich der Anwendung, Koordinierung und
Wertung dieser Elemente im Prozess der Problemlösung zu berücksichtigen.293
Nogueira Alcala bemerkt, dass weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung eine
Theorie zu finden ist, welche bei der Verfassungsauslegung ein bestimmtes methodologisches
Verfahren zwingend vorschreibt.294
Die verschiedenen Auslegungsmethoden ergänzen sich
einander gemäß dem Gewicht, das ihnen von dem Interpreten nach Maßgabe seiner
philosophischen Anschauungen über das Recht beigelegt wird.295
In diesem Zusammenhang
wird von dem „vielbeklagten Methodenpluralismus“296
gesprochen. In der gerichtlichen
Praxis werden die einzelnen Auslegungsmethoden wahlweise oder kombiniert angewendet;
ihre Anwendbarkeit hängt von dem jeweils zu entscheidenden Einzelfall ab.297
„Die Auswahl
der Auslegungsargumente, die ihrerseits das Auslegungsergebnis präjudiziert, oder
präjudizieren kann, wird in die Hände des Interpreten gelegt und der Auslegungsvorgang
wieder subjektiviert.“298
10. Die Reihenfolge der einzelnen Interpretationsmethoden
Die Rechtspraxis des westlichen Kulturkreises (sowohl in den Rechtssystemen des civil law
als auch in denjenigen des common law) geht von dem Grundsatz des Vorrangs der
Auslegung nach Wortlaut und der Subsidiarität anderer Auslegungsmethoden aus.299
Nach
dem modernen Verständnis des Grundsatzes clara non sunt interpretanda ist nicht erlaubt,
außersprachliche Auslegungsdirektiven anzuwenden, wenn der Wortlaut des Rechtstextes klar
293
K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho
constitucional panameño, Panamá 1987, S. 963. 294
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 58. 295
A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 515; J. Jabłońska-
Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 150. 296
F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der
Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 600. 297 M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka
wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 78; E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation,
in: Staat, Verfassung, Demokratie, Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main
1992, S. 140. 298
F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der
Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 617. 299
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 67; J. Oniszczuk, Stosowanie prawa. Wybrane
zagadnienia, Warszawa 2000, S. 41.
80
ist.300
Auf die anderen Auslegungsmethoden wird zurückgegriffen, um das aufgrund der
Interpretation nach Wortlaut erzielte Ergebnis zu bestätigen oder eine zwischen den
alternativen Auslegungslösungen zu wählen.301
Der Interpret darf über den Text der
Vorschriften nicht hinausgehen, ansonsten würde seine Aktivität auf Voluntarismus
hinauslaufen. Die durch den Wortlaut der Vorschriften gesetzte Grenze für die
interpretatorische Tätigkeit garantiert das objektive Element der Auslegung zu bewahren, mag
sie wertend und dynamisch sein.302
Von dem Grundsatz des Vorrangs der Auslegung nach
Wortlaut kann nur dann abgewichen werden, wenn dafür besonders erhebliche rechtliche,
soziale, wirtschaftliche oder ethische Gründe sprechen 303
sowie wenn das Ergebnis im Lichte
der angenommenen Werte zu krass ungerechten, irrationalen oder den Normzweck
vereitelnden richterlichen Entscheidungen führt (argumentum ad absurdum).304
Der Teleologie als Interpretationsmethode geht Wortlaut, Grammatik, System und erkennbare
subjektive Regelungsabsicht des Normgebers voraus. Erst wenn eine Fallkonstellation zur
Entscheidung steht, die vom Gesetz erkennbar nicht erfasst ist, d.h. wenn sich aus den
genannten canones, die zunächst heranzuziehen sind, keine zuverlässigen Schlüsse ziehen
lassen, kann auf die teleologische Auslegungsmethode zurückgegriffen werden. Die
teleologische Auslegungsmethode nimmt somit unter anderen gleichberechtigten canones
eine nachrangige Stellung ein.305
Ähnliche Meinung vertritt der polnische
Verfassungsgerichtshof; wegen ihrer Relevanz für die polnische Methodenlehre wird sie in
extenso wiedergegeben.
„Der Verfassungsgerichtshof möchte hervorheben, dass er sich in den von ihm entschiedenen
Rechtsstreiten nicht nur auf die linguistischen, sondern auch auf die außerlinguistischen
Auslegungsmethoden, darunter auf funktionale Interpretation oder auf teleologische
Auslegung, die eine Sonderart der letzten darstellt, beruft. Die funktionale Auslegung ist eine
Interpretationsart eines Rechtstextes, in der der funktionale Kontext in Betracht gezogen wird.
Dieser Kontext ist sehr zusammengesetzt. Zu seinen Bestandteilen gehören alle Fakten (zum
Beispiel das Wirtschaftssystem), außerrechtliche Regeln und Wertungen (zum Beispiel die
300
J. Jabłońska-Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 167. 301
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 69f. 302
G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 416. 303
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 77. 304
Ebenda, S. 79; S. Wronkowska, Z. Ziembiński, Zarys teorii prawa, Poznań 2001, S. 167. 305
Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der
Bundesrepublik Deutchland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 203.
81
Ziele des Rechts), welche das Verständnis eines Rechtstextes beeinflussen. (...) Die
teleologische Auslegung ist eine Art der funktionalen Interpretation, die sich damit
charakterisiert, dass bei der Festlegung des Sinnes von einem Rechtstext die Ziele des Rechts
in Betracht gezogen werden. Die relativ weite Anwendung der funktionalen und
teleologischen Auslegungsmethoden ist nicht dahingehend zu verstehen, dass sich der
Verfassungsgerichtshof den verschiedenen Auslegungsmethoden zufällig bedient und dass der
Umfang und Modalitäten der Benutzung von außerlinguistischen Auslegungsmethoden
keinen Beschränkungen unterliegen. In dem Rechtsstaat muss der Interpret immer in der
ersten Reihe den Wortsinn des Rechtstextes berücksichtigen. Wenn der Sprachsinn klar ist,
dann ist gemäß dem Grundsatz clara non sunt interpretanda nicht nötig, auf andere
außerlinguistische Auslegungsmethoden zurückzugreifen. In diesem Fall kann die
außerlinguistische Auslegung die Ergebnisse der Interpretation nach Wortlaut vermittels der
systematischen und funktionalen Auslegungsmethoden lediglich zusätzlich bestätigen und
somit verstärken. Ähnlich verhält es sich im Fall der Auslegung von Rechtstexten, deren
Sprachsinn deswegen nicht eindeutig ist, weil der Rechtstext einige mögliche sprachliche
Bedeutungen hat. Die funktionale (teleologische) Auslegung erfüllt dann die Rolle der
Wahldirektive eines der möglichen Sprachsinne. In beiden Fällen ist der Interpret an den
Sprachsinn des Rechtstextes gebunden; der Sprachsinn stellt immer die Grenze der von ihm
vorgenommenen Interpretation dar. In bestimmten Sonderfällen beschränkt sich allerdings die
Funktion der funktionalen Auslegung nicht ausschließlich auf die Rolle einer Wahldirektive
eines der möglichen Sprachsinne, sondern kann eigenartige sich von den sprachlichen
Alternativen unterscheidende Bedeutung des Sprachtextes erzeugen. Die Annahme eines
solchen aufgrund der funktionalen (teleologischen) Auslegung festgelegten eigenartigen
Sinnes des Rechtstextes führt immer zur erweiternden oder verengenden Interpretation. Auch
in diesem Fall stellt der Sprachsinn eines Rechtstextes eine Grenze der Auslegung in diesem
Sinne dar, dass nicht zulässig ist, die eigenartigen Ergebnisse der funktionalen Auslegung
anzunehmen, wenn die Auslegung nach Wortlaut zur Eindeutigkeit des Rechtstextes führt.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Grenze der Interpretation, welche der Sprachsinn des
Rechtstextes bilden kann, absolut ist. Dies bedeutet nur, dass für die Überschreitung dieser
Grenze eine starke axiologische Begründung, die sich vor allem auf Verfassungswerte beruft,
unentbehrlich ist.“306
306
Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 28. Juni 2000, K25/99, OTK 2000/5/141.
82
Nach einer anderen Ansicht sollen die grammatische, systematische und historische
Auslegungsmethoden dem Dienste der teleologischen Methode stehen.307
Dies trifft
insbesondere auf die Verfassungsauslegung zu. Es wird sogar vertreten, dass im Fall der
Verfassungsauslegung einen größeren Wert der systematischen und teleologischen
Auslegungsmethode als der Interpretation nach Wortlaut beizumessen ist. Dies erklärt sich
mit der eminenten Rolle der allgemeinen Grundsätze in dem Verfassungsgefüge.308
Die
Auslegung der Verfassung soll sich immer an ihrem vorrangigen Ziel orientieren, das im
Schutz der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit besteht.309
„Die Grundrechte und
ihre Schranken sollen zum Gegenstand der teleologischen, zielorientierten und systematischen
Auslegung werden, die in Übereinstimmung mit der sozialen Wirklichkeit ist und die mit ihr
zusammenhängenden sozialen und politischen Konsequenzen berücksichtigt.“310
Der
normative Gehalt einer Norm, insbesondere der Verfassungsnorm, birgt in sich die ganze
Menge der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen sowie der
verschiedenartigen ideologischen Strömungen. Daraus ergibt sich, dass die teleologische
Auslegungsmethode bei der Interpretation der Verfassung die geeignetste ist.311
Die
Begründung des Vorrangs dieser Interpretation liegt auch in der Konnexion der Verfassung
mit der in ihr verbürgten politischen Formel und dem realen politischen Prozess.312
„Dafür
spricht auch die Tatsache, dass die politische Wirklichkeit dynamisch ist. Um den
Verfassungsvorschriften volle Effektivität zu verschaffen, muss der Interpret dieser Dynamik
gerecht werden.“313
Die in der Verfassung verankerten Zwecke bringen die in einem
Gemeinwesen vorherrschende und sein Funktionieren steuernde politische Theorie zum
Ausdruck. Die Verfassung ist ein Instrument des Regierens und Zeichen der nationalen
307
P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsauslegung im Verfassungsstaat – Zugleich zur
Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 916. 308
A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 419. 309
J. Carpizo, H. Fix-Zambudio, Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el ordenamiento
jurídico mexicano, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S.
46; F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,
Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 293. 310
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,
S. 14; siehe auch: J. Carpizo, H. Fix-Zambudio, Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el
ordenamiento jurídico mexicano, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional,
México 1975, S. 21. 311
I. Burgoa, Derecho Constitucional Mexicano, México 1985, S. 396. 312
F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,
Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 293. 313
A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia
chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento
jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 330.
83
Einheit, deshalb ist ihre Auslegung zum Misserfolg verurteilt, falls der Interpret die
politischen und sozialen Motive, welche der Verfassung vorschweben, außer Acht lässt.314
Diese Ansicht verkennt, dass die anderen Auslegungstechniken gegenüber der Auslegung
nach Wortlaut keine selbständige Stellung haben. Aufgrund lediglich der funktionalen
Auslegungsmethoden ist nämlich nicht möglich, konkrete Verhaltensnormen festzustellen:
Aus der Tatsache, dass jemand ein bestimmtes Wertsystem anerkennt, lässt sich noch nicht
schließen, dass dieses Subjekt bestimmte Verhaltensnormen festlegt.315
Es ist allerdings
anzunehmen, dass bei der Interpretation des Verfassungsrechts wegen des offenen Charakters
vieler Verfassungsnormen, insbesondere der Grundrechtsverbürgungen, den funktionalen
Auslegungsmethoden eine besondere Bedeutung zukommen soll. Die vorrangige Stellung der
funktionalen Auslegungsmethoden im Auslegungsprozess der Grundrechte wird dabei mit
ihrer „tiefgreifenden und vielseitigen axiologischen Verwicklung“316
gerechtfertigt. Dies
bedeutet jedoch nicht, dass die starke axiologische Begründung, insbesondere diejenige, die
sich auf Verfassungswerte beruft, die Überschreitung der durch die Auslegung nach Wortlaut
gezogenen Interpretationsgrenzen rechtfertigt.317
Der Wortlaut bildet somit zugleich den
Anhaltspunkt für die Sinnfassung der Norm sowie die Grenze der interpretatorischen
Tätigkeit, die ihrerseits keine Ergebnisse gegen den Wortlaut der auszulegenden Vorschrift
liefern soll.318
„Was nicht mehr vom Wortlaut im allgemeinsprachlichen, allgemeinjuristischen
oder spezialgesetzlichen Sprachverständnis erfasst wird, kann auch nicht durch systematische,
objektiv-teleologische oder historische Interpretation in die Norm hineingelesen werden.“319
Die beiden Ansichten zum Methodenvorrang im Prozess der Verfassungsinterpretation lassen
sich jedoch dahingehend versöhnen, dass während der Wortlaut als eine unübersteigbare
Schranke der Auslegung anzusehen ist, ist der Schwerpunkt auf den Sinn und Zweck der zu
314
G. Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1., Buenos Aires 2006, S. 108. 315
S. Wronkowska, Z. Ziembiński, Zarys teorii prawa, Poznań 2001, S. 167. 316
A. Murawska, Konflikt interesów indywidualnego i ogólnego w prawie praw człowieka, in: L. Morawski,
Wykładnia prawa i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 207; vgl.: J. Carpizo, H. Fix - Zambudio,
Algunas reflexiones sobre la interpretación constitucional en el ordenamiento jurídico mexicano, in: Instituto de
Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S. 22. 317
A. Murawska, Konflikt interesów indywidualnego i ogólnego w prawie praw człowieka, in: L. Morawski,
Wykładnia prawa i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 208; K. Pleszka, Językowe znaczenie tekstu
prawnego jako granica wykładni, in: M. Zirk - Sadowski, Filozoficzno - teoretyczne problemy sądowego
stosowania prawa, Łódź 1997, S. 66f. 318
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 26; C.
Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 214. 319
K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
Band III/2, München 1994, S. 1668.
84
interpretierenden Norm zu setzen.320
Die Festlegung der strikten Reihenfolge der einzelnen
Auslegungsmethoden wäre dabei nicht dienlich. Dieses Unternehmen setzt nämlich die
Trennung zwischen den grammatischen, systematischen, teleologischen und historischen
Überlegungen voraus, womit die enge Verflechtung der einzelnen Auslegungskriterien
verkannt wird. Die Auslegung nach Wortlaut ist aber ohne Berücksichtigung
entstehungsgeschichtlicher Elemente kaum möglich. Die Worterfassung wird darüber hinaus
durch systematische Überlegungen beeinflusst, während die Systematik eines Rechtsaktes
ihrerseits stark durch objektiv-teleologische Momente bestimmt wird. Die historischen
Gesichtspunkte entfalten bei allen Auslegungsmethoden ihre Wirkung. Da eine strikte
Trennung der Auslegungskriterien nicht möglich ist, muss grundsätzlich der
Einzelfallentscheidung überlassen werden, welchem Gesichtspunkt der Auslegung jeweils der
Vorzug zu geben ist.321
11. Bestimmung des Endpunkts des Auslegungsprozesses
Streitig ist auch der Moment, in dem der Interpretationsprozess zu beenden ist. In diesem
Zusammenhang haben sich in der Lehre zwei Ansätze herausgebildet. Es ist dabei zu merken,
dass die Entscheidung, welcher der beiden Ansätze zu befolgen ist, ideologisch nicht neutral
sein kann, weil gemäß dem zweiten Ansatz die funktionale Auslegungsmethode immer zur
Anwendung kommt.322
Nach der ersten Auffassung ist die Interpretation zu beenden, wenn die Zweifel hinsichtlich
der Bedeutung der ausgelegten Vorschrift behoben sind (interpretatio cessat in claris). Es
wird hier die bestimmte Reihenfolge der Auslegungsmethoden vorausgesetzt, wobei die
Auslegung nach Wortlaut einen hervorragenden Platz einnimmt. Wenn die grammatische
Auslegung Klarheit verschafft, erübrigt sich die Anwendung der funktionalen
Interpretationsmethoden, weil Ihr Zweck lediglich in der Unterstützung und Ergänzung der
Auslegungsmethode nach Wortlaut besteht.323
Nur im Fall, wenn die Auslegung nach
320
J. Armagnague, Manual de Derecho Constitucional, Tomo 1. Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996,
S. 31. 321
K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
Band III/2, München 1994, S. 1667. 322
J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 86f. 323
S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 84.
85
Wortlaut zu keinem „zufriedenstellenden Resultat“324
führt, ist auf die übrigen
Auslegungsmethoden zurückzugreifen (und zwar zuerst auf die systematische und erst dann,
wenn dadurch kein Ergebnis erzielt worden ist, auf die teleologische Auslegungsmethode).325
In diesem Fall wird allerdings eine „starke axiologische Begründung“326
in Übereinstimmung
mit Wertungen des Gesetzgebers verlangt. Nach diesem Ansatz wird der Rechtsspruch
interpretatio cessat in claris wörtlich verstanden.
Gemäß der gegenteiligen Meinung sind alle Interpretationsdirektiven in jedem Fall
anzuwenden, um potenzielle Sinnalternativen der Vorschrift zu finden. Der
Auslegungsprozess endet daher nicht nach Erreichung eines eindeutigen Ergebnisses, sondern
mit Vollendung aller durch die Methodenlehre vorgegebenen Auslegungstätigkeiten, auch
wenn die durch die Anwendung der Auslegung nach Wortlaut gewonnene Auslegungslösung
zufriedenstellend erscheint. Die in der polnischen Methodenlehre verbreitete Direktive
interpretatio cessat in claris wird nach diesem Ansatz somit nicht beachtet.327
In der vorliegenden Arbeit wird dem letzten Ansatz gefolgt. Dies wird mit der Aufgabe der
wissenschaftlichen Auslegung begrüdet, die darin besteht, alle potenziellen Sinndeutungen
der Norm herauszuschälen. Damit wird auch dem Charakter des Interpretationsprozesses als
ein gedankliches Ganze Rechnung getragen, dem die Verflechtung und Zusammenspiel der
Interpretationsmethoden eigen ist. Die Interpretationsmethoden schließen sich dabei nicht aus;
sie sind vielmehr als sich ergänzende Techniken zu begreifen, welche zur Erreichung des
Auslegungszweckes, also zur Ermittlung des Sinnes und Anwendungsumfangs einer Norm
mitwirken.328
Die Anwendung des letzten Ansatzes entspricht im größeren Maß dem Zweck
der vorliegenden Arbeit, die Anwendungspotenzialitäten der Gewissensfreiheit in der
polnischen Verfassung zu untersuchen.
324
M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii
prawa, Toruń 2005, S. 40. 325
L. Leszczyński, Zagadnienia teorii stosowania prawa. Doktryna i tezy orzecznictwa, Kraków 2001, S. 119,
123; L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 150; A. Municzewski, Reguły interpretacyjne w
działalności orzeczniczej Sądu Najwyższego, Szczecin 2004, S. 17; Z. Ziembiński, Logika praktyczna,
Warszawa 1994, S. 244. Aus der Rechtsprechung siehe z. B. Urteil des Obersten Gerichtshofs von 8 Januar 1993
III ARN 84/92; Urteil des Obersten Gerichtshofs von 20. Juni 1995, III ARN 22/95, OSNAPiUS 1995, poz. 297;
Beschluss des Verfassungsgerichtshofs von 20. Februar 1991, W 5/90, OTK 1991, poz. 18. 326
M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii
prawa, Toruń 2005, S. 41; Z. Ziembiński, Logika praktyczna, Warszawa 1994, S. 238. 327
M. Zieliński, Podstawowe zasady współczesnej wykładni prawa, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka
wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 124. 328
A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 411.
86
Weiterhin ist dieser Ansatz wesensgemäß für die Verfassungsinterpretation im größeren Maße
geeignet. Für die Auslegung der Verfassung, insbesondere des Grundrechtsteils, hat sich
nämlich der Begriff „Konkretisierung“ durchgesetzt. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht,
dass es sich in diesm Prozess nicht ausschließlich darum handelt, das bereits Vorhandene
mittels geeigneter Methoden herauszufinden, Mit der Verfassungsauslegung wird teilweise
auch neues Recht erst geschaffen, „welches zum verfassungsrechtlichen Text zuweilen in
bloß losen Zusammenhang steht (...).“329
12. Notwendigkeit der dynamischen Auslegung der Verfassung
Die Auseinandersetzung in der Lehre zur Auslegung der Grundrechte zielt zur Beantwortung
zwei Grundfragen:, nämlich ob und inwieweit der Inhalt der einzelnen Grundrechte durch die
sich verändernde soziale Wirklichkeit determiniert wird, sowie in welche Weise die
vorhandenen grundrechtlichen Bestimmungen mittels der Interpretation an die sich
verändernde Wirklichkeit angepasst werden können.330
In diesem Zusammenhang ist für die
Auslegung der Grundrechte, darunter der Gewissensfreiheit, in der polnischen Verfassung die
Unterscheidung zwischen dem statischen und dynamischen Interpretationsansatz331
von
grundlegender Bedeutung. Während die statische Interpretation den historischen Willen des
Gesetzgebers zu erschließen sucht, verfolgt die dynamische Auslegung den Zweck, die
Adäquatheit der Rechtsnormen zu der sozialen Wirklichkeit herbeizuführen. Daraus ergibt
sich, dass im Fall des statischen Ansatzes die grammatische Auslegungsmethode im
Vordergrund tritt, dagegen ist beim dynamischen Ansatz die teleologische
Interpretationsmethode entscheidend.332
Die statische Interpretationstheorie setzt voraus, dass der subjektive Wille des Gesetzgebers
relativ leicht rekonstruierbar ist. Dies verkennt allerdings die Wirklichkeit der Willensbildung
in den pluralistischen Demokratien. Der moderne Gesetzgeber ist nämlich eine anonyme
Einrichtung, die sich mit Pluralität der Willensrichtungen charakterisiert, deshalb wurde in der
329
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 67. 330
B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności
obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 48. 331
Zur Darstellung der beiden Ansätze siehe statt vieler: J. Nowacki, Z. Tabor, Wstęp do prawoznawstwa,
Kraków 2001, S. 237 ff.; J. Oniszczuk, Stosowanie prawa. Wybrane zagadnienia, Warszawa 2000, S. 36ff. 332
W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 450; J. Krukowski, Wstęp
do nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S. 145.
87
Lehre die Konstruktion des Willens des kollektiven Gesetzgebers zu Recht als
„hochverdächtig“333
qualifiziert.
Der andere Wert, der den Anhängern des statischen Interpretationsansatzes vorschwebt, ist die
Achtung des Demokratieprinzips. Danach wird die Entwicklung des Rechts grundsätzlich den
demokratisch gewählten Mehrheiten im Parlament vorbehalten. Die Kontrolle der
Gerichtsbarkeit soll dabei eine Ausnahme darstellen; ihre Durchführung soll nämlich
innerhalb der klaren Verfassungskompetenzen erfolgen. Die Konkretisierung der
Verfassungswerte durch die jeweiligen Mehrheiten im Parlament und nur ausnahmsweise
durch die Gerichte entspricht auch dem Prinzip des politischen Pluralismus.
Dem wird entgegengehalten, dass der Gesetzgeber den sozialen Veränderungen in der Regel
nicht Schritt hält, was die Anpassung des geltenden Rechts an die veränderte Wirklichkeit
wesentlich verhindert. Außerdem erweist sich das Abstellen auf den Willen des historischen
Gesetzgebers für die Regulierung der sozialen Wirklichkeit mit dem Zeitablauf als nicht
geeignet. Es taucht jedoch die Frage auf, wie diese Anpassung an die sich verändernde
Realität zu verstehen ist und nach welchen Kriterien die Adäquatheit der
Interpretationsresultate zu messen ist sowie welche Vorkehrungen zu treffen sind, damit sich
die Auslegungstätigkeit in die Aufstellung der Postulate de lege ferenda nicht umschlägt. Die
Kritiker der dynamischen Auslegungsmethode legen in diesem Zusammenhang den
besonderen Wert auf den Schutz der Rechtsklarheit und Rechtsicherheit.334
Sie weisen darauf
hin, dass ihre Anwendung in der Tat auf Anerkennung der verdeckten
Verfassungswandlungen als legitimer Akt der Verfassungsauslegung hinausläuft.
Dem durch die Entwicklung der Verfassungswirklichkeit ausgelösten Bedarf an
Sinnwandlung einer Verfassungsnorm ist allerdings Rechnung zu tragen, solange die den
Staat strukturierenden rechtlichen Prinzipien nicht verletzt werden und solange diese
Sinnwandlung gegen die eindeutige Regelung der constitutio scripta nicht verstößt. Mit
anderen Worten: die Verfassungsumwandlung ist zulässig, wenn sie sich auf ein endogenes
normatives Problem zurückführen lässt, sie ist aber nicht erlaubt, wenn sie aus einer exogenen
333
R. Sarkowicz, J. Stelmach, Teoria prawa, Kraków 1996, S. 86. 334
W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 449; J. Wróblewski,
Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 94.
88
normativen Evolution hervorgeht.335
Sagüez spricht in diesem Zusammenhang von der sog.
verändernden Auslegung (interpretación mutativa). Nach diesem Ansatz wird zwischen der
verändernden Interpretation praeter constitutionem und der veränderten Interpretation contra
constitutionem unterschieden: die verändernde Interpretation praeter constitutionem hat zum
Zweck, die Ergänzung oder Entwicklung der Verfassungsbestimmungen und führt zur
Ausfüllung der Verfassungslücken. Dagegen besteht die verändernde Auslegung contra
constitutionem in Hinzufügung oder Beseitigung einer Norm der Verfassung gegen den
Willen des historischen Verfassungsgebers.336
Aus den obigen Anmerkungen ist sichtbar, dass die beiden Interpretationsansätze die
gewichtigen Werte schützen, aber auch bestimmte Begründungsdefizite aufweisen. Es lässt
sich auch nicht leugnen, dass die Wahl zwischen den beiden Ansätzen von der
angenommenen Auslegungsideologie des Interpreten abhängt, weil in der Lehre sowohl der
Inhalt der Interpretationsdirektiven, als auch ihre Anwendbarkeit im Auslegungsprozess
umstritten ist.337
In dieser Arbeit wird vorausgesetzt, dass die Anwendung des dynamischen
Ansatzes dem Charakter des Verfassungsrechts im größeren Maße gerecht wird, deswegen
wird er der Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit zugrundegelegt. Für diese
interpretatorische Option lassen sich folgende Gründe angeben.
a) Das Recht im Allgemeinen ist ein soziales Phänomen, das zur effektiven Regelung der
sozialen Wirklichkeit dient und in der Zeit seiner Anwendung ausgelegt wird. „Nach seiner
Verabschiedung bekommt das Recht das eigene Leben, eine relative Autonomie. Es stellt sich
dem Gesetzgeber als ein neues Produkt gegenüber. Es erweitert und sogar ersetzt seinen
Inhalt, ohne dass sein Wortlaut berührt wird, und erweist sich in der Praxis vorsorglicher als
sein Urheber.“338
Eine Vorschrift kann daher den ursprünglichen Sinn aus der Zeit ihrer
Entstehung nicht behalten, wenn sich die Lebenswirklichkeit der Normadressaten ändert.
Neue Probleme tauchen auf, - alte werden im neuen Licht gesehen. „Das unveränderliche
Recht kann nur in einer unveränderlichen Gesellschaft existieren.“339
335
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 232. 336
N. P. Sagúés, Manual de derecho constitucional, Buenos Aires 2007, S. 38f. 337
J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 94; J.
Jabłońska-Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 150; A. Squella Narducci, Introducción al
Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 407. 338
S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro 1981, S. 30 339
Ebenda, S. 29.
89
Die Rechtsordnung ist in die soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Umgebung
eingebettet. In diesem Kontext werden die Sachverhalte erfasst, für welche eine rechtliche
Antwort verlangt wird. Die soziale Wirklichkeit wird in Form der Tatbestände in
Rechtsvorschriften abstrakt erfasst. Daher gibt es ein dynamisches Zusammenspiel zwischen
der Rechtsordnung und der zu regelnden sozialen Wirklichkeit und ihre gegenseitige
Konditionierung. Es ist somit unerlässlich, dass die Auslegung diese beiden Elemente, d.h. die
Rechtsordnung und die soziale Wirklichkeit berücksichtigt.340
Der zu normierende Abschnitt
der sozialen Realität kann jedoch von dem Gesetzgeber nicht mit voller Exaktheit erfasst
werden. Der Gesetzgeber hat vielmehr eine approximative Perzeption eines
Realitätsfragments, das er zu normieren sucht. Die Entscheidung des Gesetzgebers ist somit in
vielen Fällen mit der Unsicherheit betreffs der Zukunft und der zu regelnden sozialen
Phänomene behaftet. Da die Prognose- und Kontrollfähigkeit des Gesetzgebers über die
sozialen Vorgänge relativ beschränkt ist, erweist sich die Auslegung als unabdingbares
Korrelat des gesetzten Rechts. Deshalb ist sachgerecht, dass die Auslegung die Aufgabe
erfüllt, der zu interpretierenden Norm entsprechende Sinngehalte zu geben, damit die Norm
auch auf die von dem Gesetzgeber nicht vorgesehenen Sachverhalte angewendet werden
kann.341
b) Für die Anwendung des dynamischen Ansatzes bei der Auslegung der Verfassung spricht
der offene Charakter ihrer Vorschriften:342
„die Verfassung eines Staates hat einen
grundsätzlich dynamischen Charakter, d.h. der Verfassung wohnt eine Qualität inne, die sich
an den sozialen Wandel anpassen lässt, ohne dass ihre Normen verletzt werden. (…) Die
dynamische Interpretation ist nicht möglich, wenn wir die dynamische Natur dieses
fundamentalen Textes nicht anerkennen.“343
c) Es wird vertreten, dass die Anpassung der verfassungsrechtlichen Normen an die soziale
und politische Wirklichkeit im Wege der Verfassungsänderung und nicht im Wege der
Auslegung verwirklicht werden soll. Die dynamische Auslegung, welche durch die zur
340
A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 519. 341
Ebenda, S. 523. 342
B. Banszak, A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 55; H. Nogueira Alcala,
Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos, Santiago de Chile 2006,
S. 40. 343
F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,
Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 290.
90
Verfassungsreform unbefugten Organe vorgenommen wird, ist als Verstoß gegen die die
Prozeduren der Verfassungsänderung regelnden Verfassungsnormen anzusehen.344
Dem ist entgegenzuhalten, dass die Verfassung ein auf Dauer angelegter Rechtsakt ist. Dies
erklärt sich damit, dass der durch sie konstituierte Staat die Beständigkeit beansprucht. Der
Beständigkeitsanspruch der Verfassung ist allerdings nicht als Fossilisieren ihrer Normen zu
begreifen, sondern als Postulat, die fundamentalen Verfassungswerte aus der alltäglichen
politischen Diskussion auszuschließen, solange sich nicht herausstellt, dass sie sich für das
harmonische Zusammenleben in dem Gemeinwesen als ungenügend erweisen. Daher ist für
die Verfassung auch ihre Adaptierbarkeit charakteristisch, die als Fähigkeit zu verstehen ist,
Antworten auf die Situationen zu geben, die bei ihrer Entstehung nicht vorhergesehen werden
konnten.345
Da sich die soziale Wirklichkeit schneller ändert als die normative, ist die
Beständigkeit der Verfassung ohne ihre gewisse Anpassungsfähigkeit an neue Bedingungen
nicht möglich.
Die Adaptierbarkeit der Verfassung wird entweder durch ihre Interpretation bewerkstelligt,
mit deren Hilfe neue Situationen in den Werterahmen des historischen Textes eingelegt
werden (Adaptierbarkeit im engeren Sinne) oder im Wege der Verfassungsänderung zustande
gebracht, wenn es sich herausstellt, dass die Auslegung keine zufriedenstellende Antwort auf
eine sozial relevante Rechtsfrage bereitstellt, ohne dass dabei der Rahmen des
Verfassungstextes überschritten wird, oder wenn der gesellschaftliche Konsens über die
fundamentalen Werte der Verfassung nicht mehr besteht (Adaptierbarkeit der Verfassung
sensu largo).346
„Die Verfassung ist dazu bestimmt, künftige Zeiten zu überdauern, und in der
Folge adaptierbar an die verschiedenartige Krisen der menschlichen Angelegenheiten zu
sein.“347
Die dynamische Interpretation ermöglicht diejenigen Probleme zu lösen, an die die
Urheber der Verfassung nicht dachten oder auch nicht denken konnten. In diesem Sinn ist die
Verfassung „intelligenter als ihre Schöpfer, indem sie neue Realität und unterschiedliche
344
R. Guastini, Estudios sobre la interpretación juridica, Porrúa 2001, S. 123. 345
J. Armagnague, Manual de Derecho Constitucional, Tomo 1. Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996,
S. 31. 346
E. Grana, C. Alvarez, Principios de Teoría del Estado y de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 299 ff.;
siehe auch: A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la
jurisprudencia chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y
razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 329; M. Limón Rojas, Algunas consideraciones sobre
interpretación constitucional, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, La interpretación constitucional, México
1975, S. 74. 347
J. Armagnague, Manual de Derecho Constitucional, Tomo 1., Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996,
S. 30.
91
historische Kontexte zu normieren vermag.“348
Nogueira Alcala spricht in diesem
Zusammenhang von der Vorsorgelosigkeit oder Kurzsichtigkeit der Verfassung, die sowohl
eine positive, als auch eine negative Facette hat. Der positive Aspekt des Mangels an
Vorsorge des Verfassungsgebers äußert sich in der „Futurität“ (Zukunftsorientierung) der
Verfassung sowie in der Elastizität ihrer Normen, die absichtlich darauf ausgerichtet sind,
nichtvorhergesehene künftige Sachverhalte zu regeln. In seiner negativen Dimension bedeutet
der Mangel an Vorsorge der Verfassung bewusste Verschiebung einer politischen
Entscheidung oder ist Resultat der Nichterreichung eines politischen Kompromisses, was
unmöglich macht, eine entsprechende Regelung in den Verfassungstext einzuschließen.
Darüber hinaus kann die Nichtregelung eines Sachverhaltes auf Mängel der legislatorischen
Technik zurückgeführt werden.349
Garlicki dagegen bemerkt, dass der Verfassungsgeber die
Lücken manchmal absichtlich in die Verfassung integriert, damit dem Parlament, der
Regierung, sowie anderen politischen Kräften einen Handlungsspielraum zu überlassen.350
Angesichts dessen muss der Interpret über die bloße Textexegese hinausgehen; ihm obliegt
den Sinn der Norm für die Regelung des Gemeinwesens in der jeweiligen historischen
Situation zu ermitteln. „Es ist klar, dass in der Erfüllung der Aufgabe des Interpreten die
Evolution jedes Begriffs, die Umstände unter denen die zu interpretierenden Vorschriften
herausgearbeitet worden sind, die Tradition bezüglich ihrer Anwendung, die Ideen, von denen
sie sich speisten, eine große Rolle spielen. Allerdings fordert die Harmonie der Gesamtheit
(…) und die teleologischen Gesichtspunkte der verfassungsrechtlichen Ordnung, dass die
Verfassung nicht im Hinblick auf die Vergangenheit, sondern hinsichtlich der Probleme der
Gegenwart und Eventualitäten der Zukunft interpretiert werden soll.“351
Insbesondere die
Grundrechte sind nicht in ihrem Bedeutungsgehalt ihrer historischen Momentaufnahme
erstarren zu lassen, für den jede Art von Fortschreibung zur Bewältigung neuartiger akuter
Probleme ausgeschlossen wäre. Eine Verfassung, die derart interpretiert wäre, dass sie
Antworten lediglich auf die in der Zeit ihrer Entstehung zu lösenden Probleme hat, wäre zu
einem Geschichtelehrbuch degradiert. Die primäre Aufgabe des Interpreten ist somit aus den
zeitbedingten Verfassungsnormen, zeitlose Grundsätze für die Rechtssetzung und
Rechtsanwendung zu entwickeln. Der materielle Gehalt eines Grundrechts kann nicht als
348
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 40. 349
Ebenda, S. 175. 350
L. Garlicki, Aksjologiczne podstawy reinterpretacji konstytucji, in: M. Zubik, Dwadzieścia lat transformacji
ustrojowej w Polsce, Wydawnictwo Sejmowe, Warszawa 2010, S. 98. 351
J. Vallejo Mejia, Lecciones de Teoría Constitucional, Madellin 2000, S. 136.
92
abgeschlossen betrachtet werden. „Er muss von einer Offenheit in die Zeit hinein geprägt und
‚Entwurf„ einer stets neu zu realisierenden Ordnung sein.“352
Die Interpretation der
Verfassung ist nicht nur eine notwendige Voraussetzung der Rechtsanwendung; sie erfüllt
zugleich die Funktion „der Erneuerung und Aktualisierung der Rechtsordnung.“353
Die dynamische Auslegung bedeutet allerdings nicht, dass der Interpret den historischen
Willen der Verfassungsväter verkennen oder ignorieren darf. Diese Auslegungsart ist erlaubt,
solange der Interpret gegen den historischen Willen des Gesetzgebers nicht verstößt. Die
Normativität der Verfassung darf weder durch eine arbiträre Entscheidung des Interpreten,
noch durch die sich wandelnde soziale Wirklichkeit eingebüßt werden. Zum anderen kann die
normative Kraft der Verfassung infolge der übermäßigen Fokussierung auf den historischen
Willen des Verfassungsgebers und die Umstände ihrer Verabschiedung paralysiert werden;
die normative Kraft der Verfassung wird vielmehr in ihrer evolutiven normativen
Leistungsfähigkeit optimiert. „Der Interpret, welcher sich der dynamischen Auslegung
bedient, fungiert als Vermittler zwischen den Urhebern der Verfassung und der historischen
Zeitlichkeit der eintretenden Situationen, die sich mehrmals von den Schöpfern der
Verfassung distanzieren, und ohne ihren Willen zu verändern, macht er diesen Willen
zukunftsorientiert und lebhaft in der Kontinuität der sozialen Transformationen.“354
Die Anwendung der dynamischen Interpretation wird auch mit der Funktion des Staatsrechts
als „der rechtliche Rahmen für das politische Phänomen“355
begründet. Die Fähigkeit der
Evolution der politischen Prozesse verlangt, dass die diese Prozesse regelnden Normen eine
besondere Adaptationsfähigkeit aufweisen. Die „politische“ Interpretation der Verfassung
bezieht sich freilich nicht auf Umstandselemente und soll nicht den vorübergehenden
Interessen der Machtmehrheiten dienen. Sie muss aber die das Zusammenleben innerhalb der
politischen Gemeinschaft determinierenden Grundfaktoren berücksichtigen.356
d) Die Annahme der dynamischen Interpretation wird manchmal auch durch die
verfassungsrechtliche Position der Gerichtsbarkeit als „die dritte Gewalt“ gerechtfertigt: der
352
H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 354. 353
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 53. 354
G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 415.
M. Limón Rojas, Algunas consideraciones sobre interpretación constitucional, in: Instituto de Investigaciones
Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S. 74. 356
M. Limón Rojas, Algunas consideraciones sobre interpretación constitucional, in: Instituto de Investigaciones
Jurídicas, La interpretación constitucional, México 1975, S. 75.
93
Richter ist als Träger der „dritten Gewalt“ des Staates „auf der gleichen Ebene gegenüber dem
Gesetzgeber situiert (está situado en un plano de igualdad con respecto al legislador). Die
Umwandlung des Rechtsanwenders in einen treuen Diener des Gesetzgebers würde die
Degradierung seiner Funktion bedeuten. Wenn er vermittels der objektiven Interpretation das
Recht als solches zur Geltung bringt, verteidigt er zugleich seine Unabhängigkeit.“357
Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Abgeordneten im Gegensatz zu den Richtern
von dem Souverän in demokratischen Wahlen gewählt werden. Das Demokratieprinzip
verlangt, dass das Recht von dem Willen des Volkes bestimmt wird, wie er von seinen
Repräsentanten zum Ausdruck kommt. Da das durch das Parlament gesetzte Recht im Wege
der Auslegung ermittelt wird, muss das Recht in Übereinstimmung mit den Absichten der
demokratisch legitimierten Legislative interpretiert werden.358
Die zitierte gleichrangige
Situierung der Judikative als „dritte Gewalt“ kann nicht als Anmaßung der Kompetenzen
anderer Gewalten interpretiert werden; aus ihrer rechtsanwendenden Funktionen lässt sich
somit das Gebot der Anwendung der dynamischen Auslegung nicht schließen.
e) Die Anwendung der dynamischen Auslegung ist auch mit der Evolution des Verständnisses
der Menschenrechte vereinbar. Die einzelnen Grundrechtsbestimmungen bilden die
verstärkten Formen der Verwirklichung der Menschenwürde. Der Inhalt der Menschenwürde
ist allerdings nicht objektiv vorgegeben, sondern „in ständiger Kommunikation gemeinsam zu
konkretisieren.“359
Die einzelnen Grundrechte stellen Konstanten im Verständnis dessen dar,
was die Würde des Menschen ausmacht. Wie die Menschenwürde haben auch die
Grundrechte keinen vorstaatlichen oder überzeitlichen Charakter; sie bilden in ihrer heutigen
rechtlichen Verankerung geschichtlich gewordene Rechte. Daraus wird deutlich, dass sie
nicht feststehend, sondern für eine kontinuierliche Differenzierung und Weiterentwicklung
offen sind. Aufgrund „ihrer geschichtlichen Konstanz“360
genießen sie jedoch gegenüber
Wandlungen und insbesondere gegenüber Verletzungen erhöhten Bestand.361
Um den
Erfordernissen der konkreten historischen Lage gerecht zu werden, ist den Vorschriften der
Verfassung die aktuelle Sinndeutung beizumessen, und nicht diejenige, die sie im Moment
357
A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 405. 358
Die Meinung von Joseph Raz, zittiert nach A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile
2000, S. 408 ohne Angabe der Quelle. 359
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 134. 360
Ebenda, S. 138. 361
Ebenda, S. 139.
94
ihrer Verabschiedung hatten. Damit wird der Schutzbereich der Grundrechte um die von dem
Verfassungsgeber nicht vorhergesehenen Situationen erweitert.362
Die Anwendung der dynamischen Auslegung der Grundrechte tut Genüge dem in dem
freiheitlich- demokratischen Staat unentbehrlichen Postulat des umfassenden und lückenlosen
Grundrechtsschutzes.363
Danach soll immer eine geschriebene oder unter Umständen sogar
ungeschriebene Norm zur Verfügung stehen, die sich subsidiär aller nicht geschützten
Freiheitsbereiche annimmt. Dies bedingt eine zusätzliche Öffnung der Verfassung d.h. ihre
Offenhaltung für alle unbenannten und zur Zeit ihrer Entstehung unbekannten
Entfaltungsmöglichkeiten und Schutzbedürftigkeit des Bürgers.364
365
f) Der privilegierte Status der Auslegung nach Wortlaut steht der Anwendung der
dynamischen Auslegung nicht im Wege. Die Auslegung wird in einem bestimmten
historischen Kontext durchgeführt, in dem ein bestimmter Usus der einzelnen Sprachelemente
durch den historischen Rechtsgeber in der Zwischenzeit durch einen neuen Usus ersetzt
werden kann, der seinerseits die Sinnfindung der ausgelegten Vorschrift determiniert.366
Der
Interpret kann an den Text derart herangehen, dass alle möglichen im Text enthaltenen
Sinnalternativen herausgearbeitet werden, damit der Text aktuell bleibt. Der Wortlaut darf
jedoch bei der Auslegung weder übergangen noch entkräftet werden;367
eine Deutung, die
nicht mehr im Bereich des möglichen Wortsinnes liegt, ist nicht mehr Ausdeutung, sondern
Umdeutung.368
362
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 181. 363
G. Dürig, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz-Kommentar, München 1993, Art. 2, Rn. 1; H. Bethge,
Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 360. 364
H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 361f.
365Die instruktiven Beispiele für die Entwicklung der Grundrechte mittels der dynamischen Interpretation werden
von G. J. Bidart Campos in seinem Werk Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 413f.
angegeben. Obwohl eine Verfassung aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, wie etwa die argentinische, welche die
Äußerungsfreiheit lediglich mittels der Presse garantiert, wäre absurd, wenn der Interpret, der diese Verfassung
100 Jahre später auslegt, annehmen würde, dass die anderen Äußerungsformen durch das Grundrecht der
Äußerungsfreiheit nicht erfasst sind, und zwar unabhängig davon, ob diese Äußerungsformen dem historischen
Verfassungsgeber bekannt waren (z.B. Theater), oder nicht (wie etwa die Massenmedien oder Internet). Das
andere Beispiel betrifft die Auslegung des Gleichheitssatzes: wenn im 19. Jahrhundert die Benachteiligung der
nichtehelichen Kinder nach ehemaligen Standards den Gleichheitssatz nicht verletzte, würde heutzutage
derartige Diskriminierung das Erfordernis der Gleichbehandlung nicht erfüllen und ohne weiteres als
verfassungswidrig erklärt werden müsste. 366
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 211. 367
M. Caetano, Direito constitucional, Volume II. Direito constitucional brasileiro, Rio de Janeiro 1978, S. 12. 368
K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
Band III 2, München 1994, S. 1660.
95
Bei der Formulierung der einzelnen Grundrechte ist die Traditionswirkung dafür
verantwortlich, dass über veränderte verfassungsrechtliche Zusammenhänge hinweg die
sprachlich identische Verbürgung eines Freiheitsrechts gewählt worden ist. Die Grundrechte
„weisen eine sehr lange, vielfach zufällige, historisch bedingte textliche Fassung auf, die der
Interpret hinter sich lassen muss, wenn er ihren Sinn ergründen will.”369
Der Auslegung ist
das zeitgenössische, und nicht das historische Verständnis der Sprachbegriffe zugrunde zu
legen. Mit zunehmendem Alter eines Rechtsaktes wandeln sich die sozialen Verhältnisse und
politische Anschauungen im Vergleich zu dessen Entstehungszeit. Die Auslegung, welche
den Willen des Gesetzes und nicht denjenigen des Gesetzgebers sucht, ermöglicht die
veränderten Umstände bei der Bestimmung des Norminhalts zu berücksichtigen.370
g) Es ist letztlich in Betracht zu ziehen, dass die Rechtsprechungsorgane der EMRK die
dynamische und teleologische Interpretation favorisieren.371
Sie berücksichtigen den
aktuellen, d.h. unter Umständen seit Unterzeichnung der EMRK gewandelten Sinn und
Zweck der Vorschriften. Die EMRK wird dabei als „living instrument“372
betrachtet, das im
Lichte der heutigen Lebensverhältnisse zu interpretieren ist, „denn der zunehmend hohe
Standard im Bereich des Menschenrechtsschutzes verlangt eine größere Konsistenz in der
Beurteilung der Verletzung grundlegender Werte der demokratischen Gesellschaften.“373
Ferner muss die Auslegung effektivitätssichernd sein, d.h. den Vorschriften der EMRK soll
größtmögliche Wirksamkeit zukommen; „Die Konvention soll nicht Rechte garantieren, die
theoretisch und illusorisch sind, sondern praktisch und ausübungsmöglich.“374
Aus der
Rechtsprechung der Konventionsorgane ist der Versuch zu sehen, „den Vorschriften der
Konvention das möglichst volle Gewicht und Effekt zu geben, welche mit dem angewendeten
Wortlaut und mit dem Rest des Textes konsistent sind, damit auf diese Weise jedem Teil des
Textes die Bedeutung zukommt.“375
Die restriktive Auslegung der EMRK, die auf den Willen
der Staatsparteien abstellt, würde der Funktion der Konvention nicht gerecht; der Zweck der
EMRK besteht nicht darin, die gegenseitigen Verpflichtungen der Staaten festzulegen, die mit
369
H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 358. 370
K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
Band III/2, München 1994, S. 1660. 371
A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 18ff. 372
Die Bezeichnung stammt aus der Entscheidung im Fall Tyrer v. the United Kingdom, Series A 26 (1978). 373
Entscheidung des ECHR, Selmouni v. France, 1999 – V 149ff, para.101. 374
Airey v. Irland, Series A 32 (1979). 375
C. Ovey, R. White, European Convention on Human Rights, New York 2002, S. 36.
96
Rücksicht auf ihre Souveränität restriktiv auszulegen wären, sondern ein effektives
Schutzinstrument für den Einzelnen zu schaffen.376
Die dynamische Auslegung findet vor allem Anwendung hinsichtlich der relativ alten
normativen Akten. „Sie hat keinen Sinn, wenn der zu interpretierende Text neu ist und verliert
ihre persuasive Kraft, wenn der Text neulich ist.“377
Die polnische Verfassung von 1997
gehört zwar zu den relativ neuen normativen Akten, sie hat aber den Charakter eines „sozialen
Vertrages“, auf dem das Gemeinwesen fundiert ist. Deshalb muss sich die Verfassung an die
sich wandelnde ethisch-politische Wertvorstellungen der Gemeinschaft anpassen. Mit der
fortschreitenden Säkularisierung wird die dynamische Auslegung des Art. 53 Verf. in die
Richtung des Schutzes der von einem religiösen Glauben losgelösten weltanschaulichen und
ethischen Positionen immer mehr an „persuasiver Kraft“ gewinnen.
Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass der Beständigkeitsanspruch der Verfassung
verbunden mit der großen Weite ihrer Regelungen die Anwendung des dynamischen
Interpretationsansatzes rechtfertigt. Durch diese Interpretation gewinnen die
Verfassungsvorschriften an Elastizität. Die Aktualisierung der in ihnen explizit oder implizit
ausgedrückten Werte gibt den Verfassungsvorschriften „soziologische Lebendigkeit und
Vitalität.“378
Deshalb dürfen die Richter „an paralysierenden Techniken und hermeneutischen
Methoden nicht hängen, auf dem Festgelegten nicht beharren und eine im Gestern verankerten
Lektüre, die mit den aktuellen Potenzialitäten der Grundsätze, Normen und Standards nicht
vereinbar ist und eine hemmende Wirkung aufweist, nicht unterstützen.“379
Die ausgeglichene
dynamische Interpretation überwindet den „paralysierenden Formalismus“380
und ist mit dem
Postulat des Fortschritts des Rechts kompatibel, welches die Tradition und Innovation in sich
schließt. „Das Recht ist eine Kombination der Stabilität und Bewegung; der Ordnung und der
Veränderung. Zum einen sucht die Rechtsordnung immer nach Gewissheit und Sicherheit,
zum anderen sucht sie nach ihrer eigenen Legitimierung, indem sie die innerhalb einer
Gesellschaft stattfindende historische, soziale und ideologische Evolution zu begleiten
376
Golder v. United Kingdom, Raport of the Commission, 1 June 1973, Series B 16, para. 40. 377
R. Guastini, Estudios sobre la interpretación juridica, Porrúa 2001, S. 123. 378
J. L. Cea Egaña, La interpretación axiológica de la Constitución, in: Interpretación, integración y
razonamiento jurídicos. Conferencias y ponencias presentadas en el Congreso realizado en Santiago y Viña del
Mar entre el 23 y 25 de mayo de 1991, Santiago de Chile 1992, S. 94; siehe auch: M. Caetano, Direito
constitucional, Volume II. Direito constitucional brasileiro, Rio de Janeiro 1978, S. 11. 379
F. Loñ, A. Morello, Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 51. 380
Ebenda, S. 53.
97
strebt.“381
Die Anwendung der dynamischen Auslegungsmethode führt zur extensiven
Auslegung, die darin besteht, diejenigen Fälle in den Anwendungsbereich der Norm
einzubeziehen, die anscheinend durch diese Norm nicht geregelt werden, die allerdings
vernünftigerweise unter diese Norm eingeschlossen werden können. Die extensive Auslegung
soll eigentlich weder den klaren Wortlaut der Verfassung verkennen, noch gegen ihre
Grundsätze verstoßen;382
sie muss die Aktualisierung des Verfassungsprogramms erlauben,
ohne die Grenzen der interpretatorischen Aufgabe zu überschreiten. Geboten ist weder
absolute Starrheit, noch Fügsamkeit den in einem bestimmten historischen Moment
vorherrschenden politischen Strömungen gegenüber, die zu einer „schweigenden
Verfassungsänderung oder apokryphen Revision“383
führen würde.
Die Gewissensfreiheit verstanden als das Recht auf Handlungsfreiheit in moralischen Fragen
ist durch den Verfassungsgeber hinreichend gedeckt. Es ist festzuhalten, dass obwohl der
Verfassungsgeber die Gewissensfreiheit in der in dieser Arbeit dargestellten Reichweite
explizit nicht normiert hat, hat er doch dieses Grundrecht in einer keimfähigen Form
verankert, die über hinreichende Offenheit verfügt, damit die durch die dynamische
Auslegung gewonnenen Rechtsinhalte in ihren Schutzbereich Eingang finden können. Die
weitere Entwicklung der Grundrechte wird durch den Verfassungsgeber gutgeheißen. Im
Ergebnis wird durch die Anwendung der dynamischen Auslegung zwecks der Entwicklung
der weltlichen Facette der Gewissensfreiheit dem historischen Willen des Gesetzgebers nicht
entgegengetreten. Es wird zu zeigen sein, dass diese These durch teleologische Auslegung der
Gewissensfreiheit bestätigt wird.
Die Anwendung der dynamischen Interpretation der Gewissensfreiheit in der polnischen
Verfassung ist für die dogmatische Herausarbeitung dieses Grundrechts besonders
aussichtsvoll. Dadurch kann der Säkularisierungsprozess der polnischen Gesellschaft
mitberücksichtigt werden, der voraussichtlich die Zunahme der Bedeutung der von einer
Religion abgelösten moralischen Positionen der Individuen führen wird. Da die
Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung wenn auch in einer rudimentären Form, doch
aber verankert ist, würde die Anwendung des dynamischen Ansatzes den textlichen Rahmen
381
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 87. 382
G. Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S. 102. 383
Y. Gómez Sánchez, Derechos y libertades, Madrid 2003, S. 115, siehie auch: C. Gomes, J. Jose, Direito
Constitucional, Coimbra 1993, S. 212.
98
der Verfassung nicht sprengen. Die dynamische Auslegung bedarf allerdings einer starken
axiologischen Untermauerung in den verfassungsrechtlichen Werten. Die Verwurzelung der
Gewissensfreiheit in der Axiologie der Verfassung ist mit Hilfe der systematischen und
funktionalen (teleologischen) Auslegungsmaßstäbe sowie anhand anderer
verfassungsspezifischen Auslegungsmethoden zu ermitteln.
99
Kapitel III
Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach Wortlaut
1. Grundsätze der Auslegung nach Wortlaut und ihre Folgen für die
Auslegung des Gewissensbegriffs
In einem demokratischen Rechtsstaat nimmt die grammatische Auslegung eine privilegierte
Stellung ein, obwohl die Rolle der funktionalen Auslegungsmethode immer größer wird. Der
Vorrang der Auslegung nach Wortlaut ergibt sich aus dem Grundsatz des Rechtsstaates,
wonach der Normadressat sich darauf verlassen können muss, „was in einem Rechtsakt steht
und nicht was der Gesetzgeber zu erreichen beabsichtigte oder wollte.“384
Der Rechtstext ist
ein formaler Ausdruck der Autorität des Gesetzgebers und der demokratischen Legitimität. Er
ist für jedermann zugänglich, welcher die ethnische Sprache spricht, in der der Text verfasst
ist. Eine im Wortlaut verankerte Auslegungsentscheidung bedarf daher keiner zusätzlichen
Begründung.385
Dem Normadressaten ist nicht zuzumuten, Vermutungen anzustellen, was der
Rechtsgeber sagen wollte, oder was er sagen würde, wenn er sich neuer Umstände bewusst
wäre. Deshalb wenn von einer Auslegung nach Wortlaut abgewichen wird, muss sich die
Interpretation im Rahmen einer möglichen Wörterbuchbedeutung des interpretierten
Rechtsbegriffs halten.386
Der Auslegungsprozess ist mit der Anwendung des grammatischen Interpretationskriteriums
zu beginnen, „damit der Wortlaut einer Vorschrift nicht ausdunstet.“387
Der Anhaltspunkt
jedes Interpretationsaktes ist immer die sprachliche Fassung einer Vorschrift, d.h. ihre
semantische und syntaktische Form. Der Interpret betrachtet dabei den Willen des
Rechtsgebers nicht als real vorexistent. Der Wille des Rechtsgebers kann lediglich insoweit
berücksichtigt werden, als sich Anhaltspunkte für die Annahme seines sprachlichen
Ausdrucks finden lassen.388
Darüber hinaus dürfen die Rechtsvorschriften derart nicht
384
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 68. 385
T. Spyra, Granice wykładni prawa: znaczenie językowe tekstu prawnego jako granica wykładni, Kraków
2006, S. 34. 386
L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 143. 387
F. Bastida Freijedo, Teoría general de los derechos fundamentales en la constitución española de 1978,
Madrid 2004, S. 58f. 388
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 211.
100
interpretiert werden, dass im Ergebnis einige Vorschriftelemente überflüssig werden.389
Damit
wird das Verbot der Auslegung per non est beachtet, wonach jeder Bestandteil der Vorschrift
eine normative Bedeutung hat und deswegen kein Fragment der Vorschrift als gegenstandslos
und entbehrlich betrachtet werden darf.390
Aus dieser Auslegungsdirektive ergibt sich, dass
dem verfassungsrechtlichen Begriff des Gewissens eine spezielle, von der Religionsfreiheit
unabhängige Sinndeutung beizumessen ist. Bei der Gleichstellung der Gewissensfreiheit mit
der Religionsfreiheit würde der Gewissensbegriff als superfluum betrachtet.
Weiterhin ist davon auszugehen, dass der Rechtsgeber die in demselben Rechtsakt
vorhandenen Begriffe jedes Mal in demselben Sinn benutzt. In der polnischen Verfassung
befindet sich der Gewissensbegriff noch in der Präambel, wonach sich das polnische Volk aus
gläubigen und nichtgläubigen Staatsbürgern zusammensetzt. Einerseits ist dort von
denjenigen Bürgern die Rede, „die an Gott glauben“, sowie von denen, „welche diesen
Glauben nicht teilen“ und die universellen Werte der Wahrheit, des Guten und des Schönen
aus anderen, nichtreligiösen Quellen ableiten. Andererseits wird zwischen denjenigen
unterschieden, welche Gott als eine Verantwortungsinstanz anerkennen und denjenigen, für
welche das Gewissen die höchste Instanz ihrer moralischen Verantwortung ist. Diese
Gegenüberstellung der religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen in der Präambel
spricht für die Zuschreibung dem Begriff „Gewissen“ eines spezifischen, von dem religiösen
Glauben abgelösten Sinngehalts. Es gibt keinen hinreichenden Grund dafür, den in Art. 53
Verf. befindlichen und in dem religiösen Zusammenhang verflochtenen Begriff des
Gewissens anders auszulegen, als denjenigen in der Präambel, der von dem religiösen
Kontext völlig abgelöst ist.
2. Notwendigkeit der Definierung des Gewissensbegriffs
Der Ausgangspunkt für die Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit findet sich
zunächst im Text der Verfassung, im Begriff „Gewissen“. Da es ohne die Vorstellungen über
389
J. Armagnague, Manual de Derecho Constitucional, Tomo 1. Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996,
S. 32; A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la
jurisprudencia chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y
razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 333; W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i
prawa, Warszawa 1986, S. 444; L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 144; J. Nowacki, Z.
Tabor, Wstęp do prawoznawstwa, Kraków 2001, S. 223; Z. Ziembiński, Logika praktyczna, Warszawa 1994, S.
231. 390
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 106; S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i
prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 82.
101
das Phänomen „Gewissen“ nicht möglich ist, den Gegenstand der Gewissensfreiheit
festzulegen, stellt sich vor dem Interpreten die Frage nach dem Inhalt dieses Begriffs; der
Inhalt und Schutzbereich der Gewissensfreiheit können nur dann zuverlässig umrissen
werden, wenn eine möglichst tiefe Kenntnis des Schutzobjekts besteht.
Der Begriff des Gewissens ist Gegenstand theologischer, philosophischer, im 20. Jahrhundert
auch psychologischer und soziologischer Untersuchung, wobei bisher keine Einigkeit über
das untersuchte Phänomen erzielt worden ist. Gelegentlich wird aus dieser Tatsache der
Schluss gezogen, dass in der Rechtswissensschaft nicht zulässig ist, den Gewissensbegriff zu
definieren, weil „es einen vorjuristischen Gewissensbegriff nicht gibt.“391
Das Gewissen, als „Kernbereich der geistig-sittlichen Person (…) und Personengeheimnis des
Menschen“392
entzieht sich ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grad juristischer
Handhabung, gleichwohl erlaubt die Verankerung der Gewissensfreiheit in der Verfassung
nicht, das Gewissen als definiendum indefinibile zu betrachten. Als Ausgangspunkt wird
vorausgesetzt, dass um vom Gewissen überhaupt sprechen zu können, zumindest einige
notwendige Elemente des Gewissensbegriffs als unumstritten vorhanden sein müssen. Dazu
gehören die moralische Bewertung, das Treffen einer Gewissensentscheidung sowie das
Vorliegen eines minimalen „Quantum“ der Werte, anhand deren moralische Entscheidungen
und Bewertungen konzeptualisiert werden.393
3. Alltagsverständnis des Gewissens als Ausgangspunkt für die Auslegung
des Gewissensbegriffs
Zu Beginn der Auslegung nach Wortlaut ist zu ermitteln, ob der ausgelegte Begriff im
allgemeinsprachlichen Sinn benutzt wird oder ob er vielmehr ein terminus technicus der
Rechtsprache ist.394
Die Beantwortung dieser Frage richtet sich nach dem Grundsatz, dass
wenn ein Rechtsbegriff durch den Gesetzgeber definiert ist (Legaldefinition), ist diese
391
R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 3 392
H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 437. 393
Ch. Grabenwarter, Kommentierung des Art. 9 EMRK in: Internationaler Kommentar zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, Köln 2002, Rn. 33, S. 20; E. Schwierskott, Gwarancja wolności sumienia w
systemach prawnych Polski i Niemiec, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 6, 2003, S. 59; J. Szymanek, Wolność
sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 57. 394
S. M. Seganfreddo, Como interpretar a Lei (A Interpretação do Direito Positivo), Rio de Janeiro 1981, S. 49.
102
Begriffsbestimmung bei der Rechtsauslegung zugrunde zu legen. Im Gegenteil wenn eine
Legaldefinition nicht vorhanden ist, ist dem Rechtsbegriff diejenige Bedeutung zu geben, die
in der Rechtsprechung und Lehre allgemein akzeptiert ist (communis opinio doctorum). Erst
wenn keine herrschende Meinung vorliegt, ist auf den allgemeinen Sprachsinn
zurückzugreifen.395
In diesem Zusammenhang ist im Voraus darauf hinzuweisen, dass die
Ergebnisse der Auslegung nach Wortlaut deswegen unterschiedlich sein können, weil in
manchen Fällen von der Wertungen des Interpreten abhängt, ob hinreichende Gründe
bestehen, um dem zu interpretierenden Rechtsbegriff eine spezifische Bedeutung zu geben,
die von der Standardsprache abweicht.396
In der polnischen Methodenlehre wird von der allgemeinen Vermutung der
Umgangssprache,397
präziser gesagt von der Vermutung der Standardsprache ausgegangen,
die allerdings auf Kritik gestoßen hat. Zieliński 398
steht nämlich auf dem Standpunkt, dass im
Prozess der Interpretation nach Wortlaut eine bestimmte Reihenfolge der Spracharten zu
beachten ist. Es ist nämlich der Vorschriftsprache 399
den Vorrang einzuräumen, dann soll die
juristische Sprache berücksichtigt werden und erst dann wenn die beiden rechtlichen Sprachen
zu keinem interpretatorischen Ergebnis führen, ist auf die Standardsprache zurückzugreifen.
Dies wird mit spezifischen, normativen Charakter der Vorschriftsprache, die sich vom
deskriptiven Charakter der Standardsprache abhebt, sowie mit immer häufigerer Benutzung
durch den Rechtsgeber der Legaldefinitionen begründet. Für die nachrangige Position der
Standardsprache könnte die in der polnischen Methodenlehre vertretene Theorie der
395
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 94, 99. 396
E. Kunstra, Wstęp do nauk o państwie i prawie, Toruń 1997, S. 132. 397
W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 443; L. Morawski, Wstęp
do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 141; L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 89; J. Nowacki,
Z. Tabor, Wstęp do prawoznawstwa, Kraków 2001, S. 223; Z. Ziembiński, Logika praktyczna, Warszawa 1994,
239; vgl. auch im speziellen Bezug auf die Auslegung der Verfassung: J. Armagnague, Manual de Derecho
Constitucional, Tomo 1. Teoría de la Constitución, Buenos Aires 1996, S. 31; E. Grana, C. Alvarez, Principios
de Teoría del Estado y de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 315; siehe auch: H. Nogueira Alcala,
Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos, Santiago de Chile 2006,
S. 34; F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de
Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992,
S. 295. 398
M. Zieliński, Podstawowe zasady współczesnej wykładni prawa, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka
wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 123f. 399
Die polnische Rechtstheorie unterscheidet zwischen der Vorschriftsprache (język prawny), d.h. der Sprache,
in der die Texte der Vorschriften verfasst sind, von der juristischen Sprache, d.h. der Sprache der
Rechtswissenschaft, deren Begriffe in den Rechtsakten nicht vorkommen, werden aber von der Rechtslehre und
von den Rechtspraktikern allgemein benutzt. Mein Übersetzungsvorschlag des Terminus „język prawny” als
„Vorschriftsprache“ und nicht als Rechtsprache wird der Unterscheidung zwischen dem Begriff „Vorschrift“, die
in der polnischen Rechtslehre als textliche, redaktionelle Einheit aufgefasst wird, und der Norm, die als eine aus
der Vorschrift im Wege der Interpretation entnommene Direktive des konkreten Verhaltens verstanden wird,
gerecht.
103
vorgefundenen Begriffe (teoria nazw zastanych) sprechen. Diese Theorie geht von der
Annahme aus, dass die Rechtakte nicht in einem rechtlichen Vakuum geschaffen werden. Die
Rechtstradition verleiht nämlich den Rechtsbegriffen einen bestimmten Sinngehalt. Auch
wenn sie nachträglich in andere Rechtsakte inkorporiert werden, behalten sie diesen
Sinngehalt, es sei denn, dass der Rechtsgeber von ihm ausdrücklich abweicht.
Der Vorschlag, den Vorzug der technischen Sprache einzuräumen, verkennt die Tatsache,
dass die Verabschiedung eines Rechtsaktes das Bestehen einer „ sprachlichen Gemeinschaft
aller durch die normative Aktivität Betroffenen“400
voraussetzt. Jeder Rechtsgeber will das
Verhalten der Rechtsadressaten beeinflussen und um dieses Ziel zu erreichen, muss er den
Normadressaten den Norminhalt effektiv kommunizieren. Für eine effektive Kommunikation
ist allerdings notwendig, dass der Normgeber und die Rechtsadressaten dieselbe Sprache
gebrauchen. Außerdem wäre nicht ethisch, der Rechtsgemeinschaft eine andere Art der
Sprache aufzuerlegen, welche sie nicht kennt,401
es sei denn, dass bestimmte Rechtsbegriffe
vom Gesetzgeber selbst definiert werden (Legaldefinitionen).
Der Vorrang der spezifischen Juristensprache in der Auslegung lässt sich auch mit dem
Grundsatz ignorantia iuris nocet, die Grundlage jeder Rechtsgeltung ist, nicht vereinbaren.
Danach wird von der Rechtsfiktion ausgegangen, dass die Normadressaten die an sie
gerichteten Rechtsätze kennen. Durch die Abweichung von dem Vorrang der Standardsprache
würde den Bürgern eine Schutzmöglichkeit ihrer Interessen durch Berufung auf mangelnde
Klarheit eines Rechtsaktes entzogen. Darüber hinaus könnte die Annahme des Prinzips des
Vorranges der technischen Rechtsprache bei der Auslegung nach Wortlaut zur Legitimierung
einer für die Normadressaten wenig verständigen Art und Weise der Formulierung von
Rechtsakten führen.402
Die Annahme der Vermutung der Standardsprache ist von besonderer
Bedeutung im Fall der Auslegung der Verfassung, die an das ganze Staatsvolk und nicht an
eine Gruppe der Spezialisten gerichtet ist und deshalb für alle Normadressaten verständlich
sein soll.403
400
A. Squella Narducci, Introducción al Derecho, Santiago de Chile 2000, S. 384. 401
A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 557. 402
K. Osajda, Domniemanie języka potocznego, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka wykładni prawa, Warszawa
2005, S. 139f. 403
G. Badeni, Tratado de derecho constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S. 90f, 113.
104
Bezogen auf den Begriff des Gewissens und der Gewissensfreiheit im polnischen
Rechtssystem kann die Theorie der vorgefundenen Begriffe keine Anwendung beanspruchen.
Der Termin „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit“ ist in der polnischen Verfassungsgeschichte
zwar seit Märzverfassung verankert, in der Lehre hatte er aber keinen eindeutigen Sinngehalt.
Darüber hinaus hat sich der Verfassungsgeber in 1997 bei der Regelung der Gewissensfreiheit
für das Begriffspaar „Gewissens- und Religionsfreiheit“ entschieden, was der Bruch mit der
terminologischen Tradition bedeutet. Der Begriff des Gewissens ist somit nicht als ein
rechtstechnischer Begriff wie etwa zivilrechtliche Begriffe „Besitz“ oder „Vermächtnis“ zu
betrachten, sondern ist ihm in Anlehnung an den allgemeinen Sprachgebrauch zu verstehen.
Es ist dabei auf auf die Wörterbuchbedeutung dieses Begriffs zurückzugreifen.404
Die Annahme des allgemeinen Sprachgebrauchs als Ausgangspunkt für die Auslegung des
Gewissensbegriffs bedeutet allerdings nicht, dass der Interpret die Erkenntnisse der einzelnen
Wissenschaftsdisziplinen unberücksichtigt lassen muss. Da die Rechtsprechung der
demokratischen Staaten unter rationalen Begründungszwang steht, ist davon auszugehen, dass
der Begriff des Gewissens auf intersubjektiv vermittelbare Weise rekonstruiert werden soll.
Zu den Argumenten, die den Anspruch auf allgemeine Akzeptanz erheben können, gehören
die gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaft nach dem gegenwärtigen Forschungstand. In
diesem Zusammenhang wird die Berufung des BverfG auf den „allgemeinen
Sprachgebrauch“ deswegen kritisiert, weil dieser Ansatz nicht vermag, eine der möglichen
Bedeutungen des Gewissens vorauszusetzen. Durch die einseitige Annahme des allgemeinen
Sprachgebrauchs wird das Tor für die Auseinandersetzung mit den Erträgen der Wissenschaft
verschlossen.405
Andererseits wird vertreten, dass das Alltagsverständnis des Gewissens
wenig geeignet ist, das Gewissen präzise zu erfassen. Soweit es überhaupt existiert und
feststellbar ist, ist der allgemeine Sprachgebrauch zu „diffus und sinnvariabel“406
, um das
untersuchte Phänomen zu beschreiben. Aus den oben genannten Gründen wird bei der
Interpretation des Gewissensbegriffs von dem Alltagsverständnis des Gewissens nicht
verzichtet, es wird jedoch mit den grundlegenden Erkenntnissen der Philosophie und
Psychologie ergänzt.
404
S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 81. 405
P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: DÖV, 1984, S. 62. 406
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 41f, 69.
105
4. Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates als
Auslegungsdirektive des Gewissensbegriffs
Nach einer Meinung hat der Gesetzgeber die Definierungskompetenz des Gewissens den
Ethikern zu Recht überlassen.407
Damit wird allerdings verkannt, dass dieser Begriff als das
Tatbestandsmerkmal der Gewissensfreiheit „der staatlichen – letzthin
verfassungsgerichtlichen – Definitionsmacht unterworfen“408
sein muss. Bei der Interpretation
des Gewissensbegriffs ist der Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates zu
berücksichtigen, der sich der Verabsolutierung einer Geisteswissenschaft widerspricht.
Gemäß diesem Grundsatz ist nämlich verwehrt, eine bestimmte Gewissenskonzeption der
juristischen Auslegung zugrunde zu legen, die in weltanschaulich relevanten Wissenschaften
verwendet wird.409
Mit anderen Worten: es ist nicht erlaubt, eine isolierte Strömung der
Wissensschaft zum Rang der Auslegungsideologie der Gewissensfreiheit zu erheben. Nach
einer anderen Auffassung sind die Philosophie und Theologie für das Explizieren des
Gewissensbegriffs überhaupt nicht anwendbar; die Grundlage für die Analyse des
Gewissensphänomens sollen vielmehr psychologische Ansätze bilden. Der Grundsatz der
weltanschaulich- religiösen Neutralität rechtfertigt die Umstellung von den philosophischen
und theologischen auf ein ausschließlich empirisches Gewissensverständnis.410
Die Rechtswissenschaft kann jedoch nicht derart betrachtet werden, als ob sie von Einflüssen
anderer Sozialwissenschaften losgelöst wäre. Die Berücksichtigung der Beiträge der
benachbarten Geisteswissenschaften kann das Verständnis der untersuchten Phänomene
407
A. Pyrzyńska, Kilka uwag na temat nadużycia klauzuli sumienia (Art. 39 ustawy o zawodach lekarza i lekarza
dentysty), in: J. Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk, Lege artis. Problemy prawa medycznego, Poznań 2008,
S. 15. 408
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 492. 409
Statt vieler: W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting
decisions of conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for
Church-State Research, Conscientious objection in the EC countries, Proceedings of the meeting Brussels-
Leuven, December 7 -8 1990, Milano, S. 29ff; R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum
Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der Staat, Nr. 25, 1986, S. 251; A. Podlech, Das Grundrecht
der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S. 21; S. Muckel, Art. 4 Glaubens-
und Gewissensfreiheit in: K. H. Friauf, W. Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Berlin 2008, Rn. 57. 410
R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der
Staat, Nr. 25, 1986, S. 252.
106
bereichern und ist daher durchaus gerechtfertigt. Es ist auch nicht einzusehen, warum der
Rückgriff auf Erkenntnisse anderer Disziplinen unterbleiben soll, und warum der Jurist
warten müsste, bis dort ein Konsens über das Gewissensverständnis erzielt ist, wenn
anzunehmen ist, dass die Erreichung eines solchen Konsenses kaum möglich ist.411
Aus dem Grundsatz der Neutralität des Staates ergibt sich auch, dass der Begriff des
Gewissens einheitlich und für alle Bürger gleich auszulegen ist, ohne dass die persönlichen
Anschauungen des Interpreten zu diesem Phänomen oder seine moralischen Überzeugungen
in die Auslegung Eingang finden. Dem Staat steht grundsätzlich nicht zu, eine
Gewissensentscheidung wegen ihres Inhalts nicht als solche anzuerkennen. Daraus folgt, dass
„das Gewissen sich jedes Gegenstandes bemächtigen, alles Verhalten gewissensrelevant
werden kann.412
Aus Gründen der weltanschaulichen Neutralität ist somit irrelevant, ob eine
Gewissensposition typisch oder atypisch, strikt individualistisch oder getragen durch eine
Religion oder Weltanschauung, „rational und vernünftig“ ist.413
Die für das Gewissen
maßgeblichen Gebote können sich zwar auf ein geschlossenes Wertsystem berufen, diese
können jedoch auch außerhalb eines solchen liegen;414
die Gewissensentscheidung kann auf
bewussten oder unbewussten Bindungen, auf einer undogmatischen, individuellen
Überzeugung oder auf weltanschaulichen oder religiösen Grundsätzen beruhen.415
Die
„einschränkungslose Subjektivierung“416
des Gewissens ist die unausweichliche Folge seiner
Säkularisierung.
Der weltanschaulich neutrale Staat schreibt seinen Bürgern nicht vor, was moralisch richtig
oder falsch ist, es sei denn, dass sich um fundamentale, in der Verfassung verankerte Werte
411
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 70; E. Schwierskott, Das Grundrecht der
Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S. 29. 412
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 492. 413
A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i wyznania, Warszawa 1995, S. 12,13; K. Daniel,
Kontrowersje wokół wprowadzenia wartości chrześcijańskich do prawa in: K. Palecki, Dynamika wartości w
prawie, Kraków 1997, S. 162f. 414
K. Daniel, Kontrowersje wokół wprowadzenia wartości chrześcijańskich do prawa in: K. Palecki, Dynamika
wartości w prawie, Kraków 1997, S. 162f; Ch. Starck, Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt , F. Klein,
Ch. Starck, Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 1, Art. 4, Rn. 31, München 1999. 415
J. Kokott in: M. Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 4, München 1992, S. 255, Rn. 19. 416
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 493.
107
handelt, die das Gemeinwesen konstituieren.417
Die grundsätzliche Ablösung des Gewissens
des Einzelnen von den inhaltlichen Richtigkeitsvorstellungen der Anderen ist rechtstechnisch
die Voraussetzung dafür, dass gerade die Gewissenspositionen der Minderheiten durch das
Grundrecht der Gewissensfreiheit geschützt werden.418
5. Autonome und heteronome Gewissenskonzeptionen
Die Gewissenskonzeptionen lassen sich grob auf autonome und heteronome aufteilen. Das
Unterscheidungskriterium ist dabei die Bestimmungsfreiheit des Einzelnen bei der Auswahl
der Werte, nach denen er sein Leben gestaltet. Heteronome Gewissenstheorien betrachten den
Menschen als grundsätzlich unfrei und fremdgesteuert. Kennzeichnend für sie ist die
Auffassung, dass ein Gewissensgebot bzw. -verbot von außen an den Menschen
herangetragen wird. Nach theologischer Sicht vernimmt der Mensch im Gewissen die Stimme
Gottes. Aus der psychologischen und soziologischen Perspektive entsteht das Gewissen im
Prozess der Verinnerlichung durch das Individuum der Werte des Kollektivs, die ihrerseits
das Wertempfinden des Individuums vollständig determinieren. Die autonomen
Gewissenskonzeptionen dagegen wurden in der Philosophie und Ethik herausgearbeitet. In
einem autonomen Sinn ist das Gewissen „eine Art des Mitwissens (conscientia), darum, dass
der Mensch ein moralisches Wesen ist, dass heißt, das Bewusstsein dafür, dass der Mensch als
solcher der letzte Zweck seiner Handlungen ist. Durch dieses Wissen wird der Mensch in die
Lage versetzt, seinen eigenen Willen an einem Maßstab zu bewerten, der nicht von der Natur
oder der Gesellschaft vorgegeben, sondern allein an eigenen Selbstwert, also zweckfrei
orientiert ist.“419
Die autonomen Gewissenskonzeptionen werden ihrerseits in intuitive und normative
unterteilt. Bei den intuitiven Gewissenskonzeptionen ist die Erkenntnis vom Gut und Böse der
objektiven Kritik nicht zugänglich. Daher sind sie im Recht, das Kommunizierbarkeit und
Intersubjektivität voraussetzt, nicht verbrauchbar. Die normativen Konzeptionen gehen von
417
J. Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 114. 418
R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der
Staat, Nr. 25, 1986, S. 252. 419
P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: DÖV, 1984, S. 62.
108
der Geltung eines allgemeinen Gesetzes aus, die Bindung an dieses Gesetz ist aber von
externen Faktoren nicht aufgezwungen, was auf eine heteronome Gewissenskonzeption
hinausliefe. Die Letztentscheidung, ob eine Handlung mit diesem Gesetz vereinbar ist, trifft
immer der Betroffene.
6. Beitrag der Philosophie für die Auslegung des Gewissensbegriffs in
Rechtswissenschaft
Die Übertragung einer bestimmten Gewissenskonzeption aus anderen Sozialwissenschaften,
insbesondere aus dem Bereich der Philosophie würde zwar, wie oben ausgeführt, gegen das
Neutralitätsprinzip verstoßen, dies bedeutet aber nicht, dass philosophische
Anseinandersetzungen mit dem Gewissen für die verfassungsrechtliche Dogmatik der
Gewissensfreiheit unbrauchbar sind. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass sie zur Klärung
des verfassungsrechtlichen Begriffs beitragen können.420
Dieser für die Rechtswissenschaft
nützliche Beitrag kann in einem gemeinsamen Nenner der einzelnen philosophischen
Gewissenskonzeptionen liegen.
Fast allen theologischen und philosophischen Gewissenskonzeptionen ist der Versuch
gemeinsam, eine transzendente Realität oder eine objektive Rechtsordnung als Bezugspunkt
für das Gewissen nachzuweisen. Das Gewissen wird danach als ein Erkenntnisorgan für ein
transzendentes Sollen aufgefasst.421
Tiedemann steht auf den Standpunkt, dass in der Vielfalt der ethischen Systeme der
gemeinsame Nenner zwar gering ist, soll er aber durch die Rechtsprechung berücksichtigt
werden. Zu den Grundsätzen, die nach dem zitierten Autor durch jedes moralische System
akzeptiert werden, gehört der formale Grundsatz der logischen Konsistenz und der materielle
Grundsatz der Goldenen Regel, der in der kantischen Ethik als kategorischer Imperativ seine
Verfeinerung erfahren hat. Wenn auch von einigen Ethikern vertreten wird, dass der
420
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle
Bedeutung, in: DuR, Nr. 11, 1983, S. 364. 421
Ebenda, S. 364; E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 43.
109
kategorische Imperativ für die moralische Qualifizierung des menschlichen Handelns nicht
hinreichend ist, bestreitet niemand, dass dieses Kriterium eine notwendige Bedingung für die
Bezeichnung eines Verhaltens als „moralisch gut“ ist.422
Die Aufnahme des kategorischen Imperativs in den Gewissensbegriff der Verfassung hätte
zur Folge, dass in einem Anerkennungsverfahren des Verweigerungsrechts des Individuums
aus Gewissensgründen festzustellen zulässig wäre, ob der Einzelne die Vornahme der
verweigerten Handlung durch die Anderen als genauso verwerflich wie die eigene Handlung
ansieht also, ob der Grundrechtsträger seine Maxime für die Verallgemeinerung fähig und
akzeptabel hält. Eine solche Frage könnte gerechtfertigt sein, wenn Zweifel hinsichtlich der
Position des Einzelnen bestehen und wenn die gesellschaftsbezogenen Handlungen
Gegenstand der Verweigerung aus Gewissensgründen bilden.423
Eine moralische Haltung, die
dem Verhalten der Mitmenschen gegenüber gleichgültig wäre, kann im Lichte des
kategorischen Imperativs nicht glaubwürdig sein, weil sie keinen
Verallgemeinerungsanspruch erhebt. Darüber hinaus würde sie einen Verdacht wecken, dass
es um ein eigensüchtiges, strategisches oder instrumentales Verhalten geht.424
Der deutsche Gesetzgeber hat das Kriterium des moralischen Universalismus für
Anerkennungsmaßstab des Kriegsdienstverweigerungsrechts erklärt. Gemäß §25
Wehrpflichtgesetz wird als Kriegsdienstverweigerer derjenige angesehen, der „sich aus
Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen Staaten widersetzt.“
Danach muss die Gewissensentscheidung des Kriegsdienstverweigerers einen absoluten
Charakter haben. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss ihr der
Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit innewohnen; „Die Gewissensentscheidung gegen den
Kriegsdienst setzt daher voraus, dass der Wehrpflichtige das Töten von Menschen durch
Menschen nicht nur aus moralischen oder ethischen Erwägungen missbilligt, sondern es
grundsätzlich (...) ohne Einschränkung als sittlich verwerflich empfindet.“425
Rühl hat in
diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass die Rechtsprechung ohne inhaltliche
422
P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: DÖV, 1984, S. 63. 423
T. Kunze, Nochmals. Das Ende der Gewissensfreiheit?, in: NVwZ, 1983, S. 399; H. H. Klein,
Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, K.
Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 494. 424
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von
Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,
Frankfurt am Main Bern, New York 1987, S. 262. 425
Das Urteil des BverwG vom 01,02.1982 - 6 C 126/80.
110
Bewertung der moralischen Qualität der Gewissensentscheidungen nicht auskommen kann
und „die „Absolutheit„ als Kriterium wählt, die sich als kontextentblößte, enthistorisierte und
entpolitisierte Form des moralischen Universalismus interpretieren lässt.“426
Was das Postulat des universalistischen Charakters der Moral des Einzelnen angeht, ist die
deutsche Rechtsprechung aus dem Bereich der Kriegsdienstverweigerung aus
Gewissensgründen besonders lehhreich. Das BverwG hat nämlich erörtert, ob eine ernsthafte
Gewissensentscheidung auch dann angenommen werden kann, wenn der Betroffene zwar den
Kriegsdienst in seiner Person ablehnt, gleichvoll die Ausführung des Kriegsdienstes durch
andere Personen nicht missbilligt. Das BverwG hat zunächst die Forderung aufgestellt, dass
ein Kriegsdienstverweigerer das kriegsbedingte Töten Anderer für ebenso verwerflich halten
muss wie eigene Tötungshandlungen, um das Vorliegen einer für die Entpflichtung
erforderliche Gewissensentscheidung bejahen zu können.427
Nachfolgend hat jedoch das
BverwG diese Forderung abgeschwächt und dargelegt, dass die Achtung und Respektierung
des Kriegsdienstes Anderer nicht notwendig gegen eine Gewissensentscheidung gegen den
Kriegsdienst spricht.428
Insgesamt kann man damit die Ernsthaftigkeit der
Gewissensentscheidung nicht in Frage stellen, wenn der Betroffene die Akzeptierung einer
Rechtspflicht durch Andere billigt. Eine andere Wertung würde dem Toleranzprinzip
widersprechen. Damit steht es einer ernsthaften Gewissensentscheidung nicht entgegen, wenn
der Gewissensträger die Einhaltung einer von ihm als gewissensrelevant empfundenen Pflicht
durch Andere billigt.429
Aus dem Postulat der logischen Konsistenz ergibt sich, dass die Erklärungsinhalte des
Einzelnen darauf untersucht werden können, ob inhaltliche Widersprüche den Schluss
erlauben, dass seine Aussagen unaufrichtig sind.430
426
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von
Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,
Frankfurt am Main Bern, New York 1987, S. 261. 427
BVerfG Urt. v. 01.02.1982, 6 C 126/89, in: NVwZ, 1982, S. 675. 428
BVerfG Urt. v. 11.03.1985, 6 C 9/84, in: NVwZ, 1985, S. 493. 429
J. P. Naujok, Gewissensfreiheit und Steuerpflicht, Berlin, 2003, S. 62. 430
F. v. Zezschewitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in: JZ, 1970, S. 236.
111
7. Ethische Dimension als Spezifikum einer Gewissensentscheidung
Der Mensch, der sein Bedürfnis, frei zu sein, befriedigen will, befindet sich intuitiv auf der
Suche nach Wahrheit bezüglich des Guten. Mit anderen Worten: wenn der Einzelne sich
Fragen betreffs der Lebensgrundsätze, Normen, Gebote und Werte stellt, strebt er nach
Erkenntnis der Wahrheit über die Regeln des guten Handelns. Dies bedeutet seinerseits, dass
er erfahren will, wie man in eine gute Art und Weise frei sein kann.431
Wenn das Individuum
den Diktaten seines Gewissens unbedingt gehorchen will, tut es das, weil er zutiefst davon
überzeugt ist, dass das Gewissen dasjenige Instrument ist, das fähig ist, unser Handeln nicht
gemäß irgendeiner Wahrheit zu leiten, sondern aufgrund des Wissens über unserem
authentischen Guten.432
Der Mensch ist fähig, sich in seinem Gewissen frei und
verantwortlich der Wahrheit über das Gute zu unterwerfen, welche er erkannt und verstanden
hat. Diese Unterwerfung ist aber kein blinder Gehorsam dem Gewissen gegenüber, sondern
eine Subordinierung kraft der inneren Überzeugung, dass das Gewissen ein effizienter Sucher
und Hüter der den Sinn des Lebens berührenden Wahrheit ist. Er errichtet seine Freiheit,
indem er diese Wahrheit verwirklicht.433
Das Gewissen ist somit eine Instanz, welche mit der Sittlichkeit verbunden ist. Während der
Glaube oder die Weltanschauung den Einzelnen lehrt, wie er/sie einen bestimmten
Sachverhalt oder Vorgang zu verstehen hat, unterrichtet ihn das Gewissen, wie er/sie sich in
einer bestimmten Situation „richtig“ zu verhalten hat.434
Das Gewissen gehört der Sphäre der
Vernunft und genauer der Sphäre der praktischen Vernunft, weil es sich um ein Urteil in
Bezug auf moralische Pflichten handelt. Es ist ein Urteil darüber, was in einer konkreten
Situation moralisch geboten oder verboten ist. Das bloße Wissen um das moralisch Gute und
Böse ohne Bezug auf den konkreten Fall, in dem dieses Wissen Anwendung findet, sowie
Verbreitung des moralischen Wissens fällt in den Schutzbereich der Religions- und
Weltanschauungsfreiheit. Das Gewissen wird dagegen in seiner Funktion des Anwenders
einer subjektiv als verpflichtend anerkannten Norm vom Grundrecht der Gewissensfreiheit
431
S. Biały, Wybrane zagadnienia z bioetyki, Olecko 2006, S. 176. 432
Ebenda, S. 179. 433
Ebenda, S. 180. 434
R. Herzog, Art. 4, in: T. Manuz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 125.
112
geschützt. Der Inhalt des Gewissensurteils hängt von dem angenommenen moralischen
System ab.435
Das Gewissen ist eine tiefe Überzeugung vom Recht und Unrecht einer Tat. Es ist „das
subjektive Bewusstsein vom sittlichen Wert oder Unwert des eigenen Verhaltens.“436
Daraus
resultiert, dass sich Gewissensgründe an Kategorien des sittlich Guten und Bösen
orientiertieren.437
Sie können von jeder Weltanschauung hervorgehen, welche fähig ist, ihren
Anhängern moralische Pflichten hinsichtlich des praktischen Verhaltens zu liefern.438
Wenn
auch häufig vorkommt, dass mehrere Verweigerungsgründen im Gewissen des Verweigerers
konvergieren und ein Motivationsgebilde darstellen, in welchem einzelne Elemente nicht
scharf trennbar sind,439
stellt das sittliche Element einen unerlässlichen Bestandteil einer
Gewissensentscheidung dar. Der Einzelne misst sein moralisches Handeln nicht am Kriterium
der Effizienz oder des Erfolges, an Sicherheit oder Anerkennung, sondern allein am Maßstab
von „Gut“ und „Böse“. Dabei sind diejenigen Handlungen als gut angesehen, die bei dem
Einzelnen das Gefühl erwecken, mit sich selbst identisch zu sein. Die Handlungen dagegen
werden für böse gehalten, wenn das Individuum das Gefühl bekommt, von seinem eigenen
Ideal getrennt zu sein.440
Die sittliche Dimension des Gewissens wurde in der deutschen Rechtsprechung
hervorgehoben. Das BverwG versteht das Gewissen als „die eigene Erkenntnis des Erlaubten
und des Verbotenen und die Ansicht, verpflichtet zu sein, dieser Erkenntnis gemäß zu
handeln, somit eine dem Innern ursprünglich vorhandene Überzeugung von Recht und
Unrecht und die sich daraus ergebende Verpflichtung des Betroffenen zu einem bestimmten
Handeln oder Unterlassen.“441
Die Gewissensentscheidung wird dagegen vom BverfG als
435
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho,
1984, S. 44f. 436
BverwGE, 7, 246; 9, 97; R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der
Religionsausübung – Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner
Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 34. 437
BvervGE, 12, 56; BverwGE, 13, 171; 7, 246; 12, 272, Aus der Literatur siehe statt vieler: H. Jarras, B.
Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 4, München 1995, Rn. 41; Ch. Starck,
Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt, F. Klein, Ch. Starck, Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 1,
Art. 4, München 1999, Rn. 61; S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S.
23f. 438
J.O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 239. 439
Ebenda, S. 236. 440
P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: DÖV, 1984, S. 62. 441
BverwGE, 7, 242, 246.
113
„jede ernste sittliche d.h. an den Kategorien von ‚Gut‟ und ‚Böse‟ orientierte Entscheidung,
die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend
erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“442
definiert. Das
konstitutive Merkmal der Gewissensentscheidung ist somit ihre sittliche unbedingte
Verbindlichkeit. Ein Verhalten muss sich für den Einzelnen nicht nur als ethisch
missbilligenswert, sondern darüber hinaus auch als verwerflich darstellen.443
Diese
Begriffsbestimmung hat in der Lehre weite Zustimmung gefunden.444
Einige Autoren haben allerdings den ethischen Moment der Gewissensentscheidung nicht
deutlich hervorgehoben oder überhaupt verkannt; z.B. Frowein445
argumentiert, dass sich
„jede ernsthafte und an grundlegenden Kategorien irgendwelcher Art orientierte
Entscheidung“ eine Gewissensentscheidung darstellen kann. Böckenförde446
vertritt die
Ansicht, dass sich die Gewissensrelevanz einer Frage lediglich nach individueller
Persönlichkeit und Selbstdarstellung des Einzelnen bestimmt. Diese Annahme würde dazu
führen, dass zu einer Gewissensentscheidung eine religiöse, rationale oder politische
Überzeugung werden könnte, ohne sich zum sittlichen Imperativ verdichten zu müssen.
Preuß447
schließt auch politische Überzeugungen zum Schutzbereich der Gewissensfreiheit
ein. Er weist darauf hin, dass dies durch Art. 38 Abs. 1 GG, wonach die Abgeordneten
lediglich an sein Gewissen gebunden sind, positivrechtliche Bestätigung findet. Martínez
Blanco448
begründet die Einbeziehung der politischen Positionen in den Schutzbereich der
442
BverfGE, 12, 45, 55. 443
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 154; G. del Moral, La
objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y
función pública, Madrid 2007, S. 253; BverwG, Urteil von 01.02.1982, 6C 126/80, BVerwG 64, 369(371). 444
Statt vieler: H. Bethge, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, VI, Heidelberg 1989, S. 441; E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen
Rechtssystem, Regensburg, 2001, S. 32; R. Zippelius, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland, Art. 4, R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz Heidelberg
2008, Rn. 34; U. Mager, in: I. von Münch, P. Kunig, Grundgesetzkommentar I, Art. 4, München 2000, Rn. 22;
Ch. Starck, Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt , F. Klein, Ch. Starck, Bonner Grundgesetz,
Kommentar, Band 1, Art. 4, München 1999, Rn. 13. 445
J. Frowein, Art. 9 (Glaubensfreiheit), in: J. Frowein, W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention,
EMRK-Kommentar, Kehl, Strassburg, Arlington 1996, Rn. 3, S. 369. Deshalb hat der zitierte Autor bei der
Kommentierung der Entscheidung der Europäischen Kommission der Menschenrechte (App 8317/78, McFreely
and others v. the United Kingdom DR 20, para. 44) in der sich die IRA Gefangenen unter Berufung auf das
Gewissen weigerten, Gefängniskleidung zu tragen, weil sie politische Gefangene seien, die Ansicht geäußert hat,
dass das Vorliegen der Gewissensentscheidung in diesem Fall „durchaus denkbar ist“. Die Kommission hat diese
Frage nicht geprüft und hat sich zur Feststellung beschränkt, dass aus Art. 9 EMRK kein Recht auf Sonderstatus
im Gefängnis zu entnehmen ist. 446
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVdStRL, Bd. 28, S. 69. 447
U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 39. 448
A. Martínez Blanco, Derecho eclesiástico del Estado. Volumen 2, Madrid 1993, S. 126.
114
Gewissensfreiheit damit, dass sich zum einen philosophische Anschauungen von den
politischen nicht leicht unterscheiden lassen, zum anderen besteht der Wert und Erhabenheit
der Verweigerung aus Gewissensgründen gerade darin, dass der Einzelne nicht nur versucht,
von der verweigerten Rechtspflicht befreit zu werden, sondern auch darin, dass er gemeinsam
mit Anderen für die Abschaffung der als ungerecht empfundenen Rechtsnorm kämpft.
8. Die höchstpersönliche Dimension des Gewissens
Das Gewissen ist ein höchstpersönliches Gut des Individuums,449
das zu seiner Intimsphäre
gehört.450
Es stellt demnach das subjektive Bewusstsein vom sittlichen Wert und Unwert des
eigenen Verhaltens dar, und es ist die innerste und deshalb nicht weiter begründbare
Erfahrung, in der der Mensch (als anderes Ich) seiner Freiheit und seiner Verantwortung
gewiss wird.451
Aus dem höchstpersönlichsten Charakter des Gewissensphänomens wird
gefolgert, dass die Gewissensfreiheit eine Freiheit ist, „die dem Individuum am nächsten steht
und es am meisten betrifft. Es geht um die Freiheit des gewünschten Verhaltens und der
Gedanken, die mit der privaten Sphäre notwendig verbunden sind und die Tiefe jeder Psyche
auf intimste Art berühren.“452
Der Bereich der personalen Vernünftigkeit und des Gewissens ist eine Dimension der
Identität des Einzelnen, ein locus, wo der Mensch seine Beziehung zu den Werten – der
Wahrheit, dem Guten, des Schönen sowie zum Gott herstellt.453
„Das Gewissen bildet mit
einem Individuum die untrennbare Einheit. Die Person ‚existiert„ schlicht als solche mit
seinem Gewissen (es tal con su conciencia). Dies macht den Unterschied zu anderen
Grundrechten, etwa zur Weltanschauungsfreiheit, wo der Einzelne sich einer Religion,
Philosophie, Ideologie oder einem Ideengefüge ‚anschließt„.“454
449
A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i wyznania, Warszawa 1995, S. 37. 450
H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 441. 451
BverwG. VII C 235, 57 452
E. Schwierskott, Das Grunderecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.
33. 453
M. Benyeto, Art. 16. in: O. Villaamil Alzaga, Comentarios a las leyes políticas. Constitución Española de
1978, Band 2, Madrid 1984, S. 334. 454
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,
S. 12.
115
Das Gewissen ist weder ein theoretisches moralisches Wissen, noch ein Organ der Erkenntnis
der objektiven, überzeitlichen Werteordnung wie es in der christlichen Tradition als
syneidesis oder conscientia begriffen wurde. Nach heutigen Auffassungen spielt sich im
Gewissen, „eine Auseinandersetzung des Ich mit sich selbst in der Suche nach seiner
Authentizität“455
ab. Im Gewissen erforscht der Einzelne sich selbst, ob er die moralischen
Entscheidungen sich selbst gegenüber aufrichtig und damit in Wahrhaftigkeit trifft
(warnendes Gewissen vor einer moralischen Wahl) bzw. getroffen hat (richtendes Gewissen).
Er prüft sich selbst, ob seine Entscheidungen seiner aufrichtigen moralischen Überzeugungen
entsprechen. Diese prüfende Selbstbeurteilung hat einen gedanklichen Widerstreit zum
Gegenstand. Dieser Streit kann anhand eines Gerichtshofs vereinfacht dargestellt werden, in
dessen Zentrum ein Ankläger dem Individuum Vorwürfe macht und ein Verteidiger diese
Vorwürfe beruhigen will. In diesem inneren Gespräch werden im Idealfall alle relevanten
Aspekte für die zuverlässige Beurteilung der Wahrhaftigkeit sorgfältig beleuchtet und
offengelegt. Im Gewissen wird somit ein intensiver, innerer Diskurs geführt.456
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass das Gewissen einer der wichtigsten Faktoren ist, die
die Persönlichkeit und Grundhaltung des Menschen gestalten.457
Dies ist darauf
zurückzuführen, dass das Gewissen dem Einzelnen die Bildung der Identität, die Herstellung
der Integrität sowie die Entfaltung der Persönlichkeit ermöglicht.458
Die
Gewissensentscheidung muss daher immer nur auf eigenen Erwägungen beruhen, mag auch
die Anregung von außen kommen. Meinungen und Entscheidungen Anderer können nur
insoweit von Bedeutung sein, als sie geistig verarbeitet und zu eigener Erkenntnis geworden
sind. Wenn jemand etwas ihm Vorgesagtes ohne innere Überzeugtheit und Bindung nur
nachredet, hat er sich nicht in seinem Gewissen entschlossen. Es kommt somit auf eine höchst
persönliche Gewissenslage an. Eine Gewissensentscheidung kann zwar von einer
Organisation, etwa von einer Religionsgemeinschaft oder einem Interessenverband der
Kriegsdienstverweigerer angestoßen werden, dies soll aber nicht irreführen, dass es ein
455
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 298. 456
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 180. 457
A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i wyznania, Warszawa 1995, S. 37. 458
C. Pérez del Valle, Prevaricación judicial y objeción de conciencia, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 310; H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J.
Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S.
437.
116
Gruppengewissen gibt. Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft oder zu einem
Verein ersetzt allein die Gewissensentscheidung nicht. Diese Tatsache stellt auch keinen
Beweis, sondern ein Indiz dafür, dass eine Gewissensentscheidung vorliegt.459
9. Psychologische Beiträge zum Verständnis des Gewissensbegriffs in der
Rechtswissenschaft
Gelegentlich wird vertreten, dass das Gewissen weder rechtliche, noch ethische, sondern
„eine psychologische Kategorie darstellt, welche rechtlich relevant ist.“460
Das Gewissen ist
ein psychologisches Phänomen, durch das die Instanz des Individuums bezeichnet wird, in der
die für ihn verbindlichen Verhaltensnormen seiner gesellschaftlichen Bezugsgruppe oder der
Gesellschaft insgesamt verinnerlicht worden sind. Es hat einen kognitiven Aspekt, der im
Bewusstsein von Normen, das heißt von Pflichten sich selbst oder anderen gegenüber zum
Ausdruck kommt. Weiterhin wirkt das Gewissen affektiv, d.h. es manifestiert sich in einer
gefühlsmäßigen Bindung an die anerkannten Normen mit der Konsequenz schmerzhafter
Empfindungen im Falle ihrer Verletzung durch das Individuum. Schließlich weist das
Gewissen eine sozio-psychische Komponente in Form der Integrierung der internalisierten
Normen zu einem (lebensgeschichtliche Brüche nicht ausschließenden) Bestandteil der
Persönlichkeit auf. Die genannten Elemente ergeben eine konsistente moralische Haltung, von
der aus auf moralisch relevante Ereignisse reagiert wird. Die Normen legen fest, was
moralisch richtig und was falsch ist, während die Ereignisse, auf die diese Normen
angewendet und die Situationen, in denen sie aktualisiert werden, durch das Gewissen selbst
definiert werden.461
Die unterschiedlichen psychologischen Aussagen über das Gewissen gehen von dem
Zusammenhang zwischen dem Gewissen und der Fähigkeit zur Hinwendung zu einer anderen
Person aus. Hieraus resultiert das Verantwortungsbewusstsein für die durch das eigene
459
A. Reich, Magdeburger Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 4, Bad
Honnef 1998, Rn. 1. 460
M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 191f. 461
U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Abs. 1,2, Rn. 38.
117
Verhalten betroffenen Personen sowie eine bestimmte Distanzierung von eigenen Vorteilen
und Interessen. Unter dem Verantwortungsbewusstsein wird eine Bindung des Handelnden zu
den Betroffenen in dem Sinne verstanden, dass er die Folgen seines Verhaltens für die
Betroffenen in gleicher Weise berücksichtigt, wie für sich selbst. Die Personen, zu denen eine
Bindung des Handelnden in diesem Sinne besteht, bilden die Bezugsgruppe seines Gewissens.
Bei der Ermittlung, ob ein Verhalten vom Gewissen bestimmt wird, wird darauf abgestellt, ob
der Einzelne in dem Verantwortungsbewusstsein für Andere handelt.462
Es ist dabei nicht zu
prüfen, ob er die Folgen für sie „richtig“ eingeschätzt und berücksichtigt hat; hierfür ist allein
sein Gewissen maßgebend.
Durch die Betätigung der Gewissensfreiheit erstrebt der Einzelne den Frieden mit den
Wurzeln des Ich.463
Eine Gewissensfrage stellt sich dann, wenn eine Entscheidung in einer
bestimmten Sache für die Konstituierung oder Dekonstituierung der Person von Bedeutung
ist. Gewissensrelevant ist jedes Verhalten, das die „Integrität und Identität der Person
existenziell betrifft.“464
Die Wahrung der persönlichen Identität wird durch die Bindung an
internalisierte Wertvorstellungen hergestellt, die ihrerseits für das individuelle
Selbstverständnis tragende Bedeutung haben.465
Als die durch Gewissensfreiheit geschützten
Rechtsgüter werden die psychische Integrität des Individuums und seine Freiheit betrachtet,
die eigene Lebensgestaltung „eigenverantwortlich an verinnerlichte Wertvorstellungen, deren
Bindungswirkung der bewussten Disposition durch die individuelle Persönlichkeit entrückt
ist, auszurichten.“466
Aus der identitätsschützenden Funktion der Gewissensfreiheit wird gefolgert, dass wenn auch
negative Folgen einer Zuwiderhandlung gegen sein Gewissen nicht nach so objektiven und
sinnlich wahrnehmbaren Kriterien beschrieben werden können, wie es bei der Verletzung von
462
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 42 – 48. 463
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 31; M. J. Falcón y Tella,
Objeción de conciencia y desobediencia civil: similitudes y diferencias, in: Anuario de Derechos Humanos.
Nueva Época, vol. 10, 2009, S. 182. 464
H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 441. 465
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 142, 310; K. Hesse,
Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 158. 466
Ebenda, S. 310. Diese Ansicht ist in der deutschen Literatur unumstritten. Siehe auch u.a.: D. Deiseroth,
Gewissensfreiheit und Rech, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229; R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig,
Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 3; N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in:
AöR, Nr. 90, 1965, S. 257.
118
körperlichen Intergrität der Fall ist, ist die Bedeutung der Gewissensfreiheit mit der Funktion
des Rechts auf körperliche Unversehrtheit vergleichbar. Für die Parallele mit dem Schutz der
körperlichen Integrität spricht die Erwägung, dass der Einzelne die Gewissensinhalte nicht
nach freien Willen erwählt, sondern ihm unbedingt bindend unterliegt, ohne sie frei aufgeben
zu können.467
Nach dem Erkenntnisstand der Psychologie wirkt das Gewissen als Garant der personalen
Identität des Einzelnen über teils bewusste, teils unbewusst bleibende verinnerlichte Normen
gegen Einflüsse, welche dem verinnerlichten Persönlichkeitsbild widerstreben. Daraus ergibt
sich, dass bei der Feststellung einer Gewissensfrage das emotionale Element eine erhebliche
Rolle spielt. In der polnischen Literatur wird das affektive Element des Gewissens von
Łopatka hervorgehoben, der das Gewissen als eine menschliche Disposition, eigene und
fremde Taten zu bewerten sowie die Fähigkeit, die dazugehörigen Gefühle (Zufriedenheit
oder Gewissensbisse) zu erleben, definiert.468
Ähnlich Łyko hebt die emotionale Komponente
des Gewissensbegriffs hervor: Gemäß diesem Autor bestimmt das Gewissen als die höchste
Form des Bewusstseins des Menschen seine ideelle Orientierung. Es stellt eine innerliche
Disposition des Einzelnen dar, eigene psychische Erlebnisse (Gedanken, Gefühle,
Willensakte), das eigene und fremde Verhalten in moralischen Kategorien von Gut und Böse
zu bewerten. Gleichzeitig bildet es eine Fähigkeit, die mit dieser Bewertung
zusammenhängenden Gefühle und Erlebnisse der Billigung (Zufriedenheit) oder
Missbilligung (Gewissensbisse) zu erfahren.469
Für die Rechtspraxis bedeutet dies, dass das
Erfordernis der Verbalisierung von Gewissensgründen behutsam zu handhaben. Bei der
Prüfung dürfen die Anforderungen an eine Gewissensentscheidung weder das kognitive
(rationale) noch das affektive Element einseitig betonen, obwohl der emotionalen Besetzung
von Moralnormen für die Feststellung ihres Vorhandenseins die entscheidende Bedeutung
zukommt.470
467
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 143. 468
A. Łopatka, Jednostka, jej prawa człowieka, Warszawa 2002, S. 114. 469
Z. Łyko, Wolność sumienia i wyznania jako wartość współczesnej cywilizacji i kultury, in: Res Humana, Nr.
3, 2001, S. 34. 470
G. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, Berlin 1978, S. 134; U. Rühl, Das Grundrecht auf
Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle Bedeutung, in: DuR, Nr. 11, 1983, S.
367; G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 85.
119
Je stärker bei der Gewissensentscheidung der gefühlsmäßige Bestandteil im Vordergrund tritt,
desto mehr wird der Schutz der seelischen Integrität als Funktion der Gewissensfreiheit
berücksichtigt. Würden bei der Bestimmung des Schutzbereiches der Gewissensfreiheit
niedrige Anforderungen an affektive Komponente gestellt, würde sich der grundrechtliche
Schutz der Gewissensfreiheit in seiner Funktion dem Schutz der Meinungsäußerung annähern.
Dies könnte z.B. in einem Fall geschehen, wenn ein mündiger, rational denkender Bürger
einen Konflikt zwischen Geboten des positiven Rechts und seinem Gewissen zwar
wahrnimmt, fühlt er sich aber durch die seine Handlungsfreiheit beschränkende
Rechtsordnung in seiner Verantwortung entlastet. In diesem Fall riskiert er nicht, einen
Schaden an seiner psychischen Integrität zu erleiden, deshalb wird er durch das Grundrecht
der Gewissensfreiheit nicht geschützt. Die Äußerungen zur Unvereinbarkeit eigener Standards
mit den geltenden Rechtsnormen lassen sich dagegen als eine Meinungsäußerung einstufen.471
Die dargestellte These weist weitgehende rechtsdogmatische Konsequenzen auf. Zuerst wird
die Eröffnung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit von dem subjektiven Verständnis der
betroffenen Situation durch den Grundrechtsträger abhängig gemacht. Der Vorteil dieser
Auffassung liegt in der Versperrung der Möglichkeit, dass die Entscheidungsorgane das
Vorhandensein einer Gewissensentscheidung nach „objektiven“ Maßstäben bewerten oder
dem Einzelnen den Schutz verweigern, weil seine Gewissensposition im Hintergrund des
vorherrschenden Moralverständnisses „exzentrisch“ wirkt.
Die Abstellung auf das subjektive Grundrechtsverständnis hat auch zur Folge, dass die Fragen
nach dem Sachzusammenhang zwischen dem Beitrag des Verweigerers und dem Erfolg der
verweigerten Handlung unbeantwortet bleiben können. Es wäre etwa irrelevant zu
entscheiden, ob administrative Tätigkeiten im Zusammenhang mit Abtreibung eine durch den
Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfasste Teilnahme an Schwangerschaftsabbrüchen
darstellen. Die grundsätzliche Annahme der Position des Verweigerers entspricht auch dem
Neutralitätsprinzip des Staates und fördert den Pluralismus. Im Fall der sozialen
Unverträglichkeit der Betätigung einer Gewissensentscheidung kommen die
Grundrechtsschranken zum Zuge.
471
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 153.
120
Diese Ansicht ist allerdings umstritten. Viele Autoren stellen zwar für die Feststellung einer
Gewissensentscheidung auf das Kriterium der individuellen Verantwortlichkeit ab, sie
beurteilen aber dieses Kriterium nach objektiven Maßstäben. Dies geschieht vor allem im
Zusammenhang mit der Verweigerung der Abgabenzahlung aus Gewissensgründen wegen
ihrer gewissenswidrigen Verwendung (Steuerzahlung für die militärischen Zwecke,
Krankenkassenbeiträge für die Finanzierung der Schwangerschaftsabbrüche). Die
Ausschließung derartigen Verweigerungen aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit wird
damit begründet, dass die Entscheidung über die Verwendung der erhobenen Mittel außerhalb
des Verantwortungsbereichs des Einzelnen liegt.472
Die Anwendung des objektiven
Kriteriums bei der Festlegung, ob eine Gewissensentscheidung vorliegt, ist auch in der
Rechtsprechung verbreitet. Dies sei am Beispiel der Entscheidungen des spanischen Obersten
Gerichtshofs (Tribunal Supremo)473
zur Verweigerung der Teilnahme an Arbeiten der
Wahlausschüsse illustriert. Das spanische Recht sieht die Pflicht vor, an den Arbeiten der
Wahlausschüsse in den nationalen Wahlen teilzunehmen, dabei die Ablehnung, diese Pflicht
zu erfüllen, strafbar ist. Die Mitarbeit in den Wahlausschüssen wird allerdings von einigen
Mitgliedern der Glaubensrichtung Zeugen Jehovas mit dem Hinweis verweigert, dass die
Teilnahme an den Tätigkeiten dieser Gremien eine politische und daher durch ihren Glauben
verbotene Tätigkeit darstellt. Der spanische Oberste Gerichtshof hat beurteilt, dass um das
Verweigerungsrecht in diesem Fall anzuerkennen, es ist notwendig festzustellen, ob der
Verweigerer der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehört, ob diese
Glaubensrichtung seinen Mitgliedern die Teilnahme am Wahlprozess und insbesondere an
Arbeiten der Wahlausschüsse verbietet und ob die verweigerte Tätigkeit nach objektiven
Maßstäben einen politischen Charakter hat. Die letzte Frage hat der Oberste Gerichtshof mit
dem Argument verneint, dass von den Ausschussmitgliedern Neutralität und Unparteilichkeit
verlangt wird. Diese Entscheidung ist auf Kritik gestoßen: es wurde nämlich darauf
hingewiesen, dass bei der Feststellung einer Gewissensentscheidung auf persönliche
Überzeugungen des Grundrechtsträgers und seine eigene Interpretation der religiösen Lehren
und nicht auf offizielle Doktrin abzustellen ist. Auch die Bewertung, ob die verweigerten
Aktivitäten politischen Charakter haben ist unergiebig, weil nur dem Gewissensträger zu
bestimmen zusteht, welche Tätigkeiten mit seinem Gewissen unvereinbar sind.474
Ähnlich
argumentiert auch die Menschenrechtskommission. Danach werden die gewissensmäßigen
472
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 255f. 473
Urteile des spanischen Obersten Gerichtshofs von 8. Juni 1994, von 27. März 1995 und 17. April 1995. 474
I. M. Sanchis, Objeción de conciencia, I. España, in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floira, La libertad religiosa en
España y Argentina, Madrid 2006, S. 310.
121
Handlungen und Unterlassungen nur dann geschützt, wenn sie unmittelbarer Ausdruck der
Gewissensentscheidung sind. Der Schutz der Gewissensfreiheit wird mit dem Verweis
verneint, dass die verweigerten Rechtspflichten gewissensneutralen Charakter haben.475
Der Anwendung des objektiven Verantwortlichkeitskriteriums ist allerdings nicht
beizupflichten. Für die Beurteilung der Frage, ob ein konkretes Verhalten des Individuums
seine moralische Verantwortlichkeit betrifft, ist vielmehr auf die subjektive Wahrnehmung
des Einzelnen abzustellen. Ein objektiver Maßstab ist wegen der individuellen
Funktionsweise des Gewissens nicht geeignet; das gleiche Verhalten kann bei einem Subjekt
das eigene Verantwortungsbewusstsein tangieren und in der Folge eine Auseinandersetzung
in dem Gewissen auslösen, während es bei einem anderen Individuum keine geringsten
Bedenken erweckt, und zwar unabhängig davon, ob die Mehrheit diese Zuschreibung der
Verantwortung teilt. Wenn durch eine Handlungspflicht ein individueller Gewissenskonflikt
hervorgerufen wird, kann dieser Konflikt seitens des Staates mit dem Hinweis nicht beseitigt
werden, der Einzelne braucht sich nicht in seinem Gewissen zu quälen, weil es sich entgegen
seiner Auffassung nicht als verantwortlich für seine Handlung ansehen muss, da der Staat die
Verantwortung übernommen hat.476
Das Kriterium des subjektiven Verantwortungsbereichs bezieht sich allerdings nur auf den
materiellen Gewissensinhalt. Was dagegen die Bestimmung des Gewissensbegriffs angeht,
sind die Staatsorgane zuständig. Dem Staat steht nämlich die Definitionskompetenz
hinsichtlich des Grundrechtsinhalts, „weil der Staat nur schützen kann, was er definieren
darf.“477
Es kann aber nicht geleugnet werden, dass dem Selbstverständnis des Berechtigten
ein indizierender Aussagewert zukommt.478
Dies erklärt sich damit, dass der Inhalt der
Grundrechte durch das Wirken der Berechtigten mitgestaltet wird. Gerade im Fall der
Gewissensfreiheit kommt es im hohen Maße auf die Selbsteinschätzung des Einzelnen an. Die
Akzeptanz des subjektiven Standpunkts des Einzelnen ist allerdings nicht absolut; die
Beurteilung der Gewissensentscheidungen bei der gerichtlichen Konfliktlösung erfolgt nicht
unabhängig von der moralischen Qualität dieser Entscheidungen. Die gerichtliche
Konfliktentscheidung ist nicht von dem kulturellen Kontext abstrahiert. Würde von dem
475
Z.B. App 10358/83, C. v. United Kingdom, DR 37, S. 147; App. 10678/83, V. v. Netherlands, DR 39, S.
268f. 476
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 191ff. 477
H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 440. 478
Ebenda, S. 440.
122
Inhalt der Gewissensentscheidung bei der Prüfung ihrer Wahrhaftigkeit abgesehen, würde
lediglich das schwer nachprüfbare Kriterium der destruktiven Folgen ihrer Nichtbefolgung für
die Persönlichkeit bleiben. Das inhaltliche Element der Gewissensentscheidung wird etwa bei
der Beantwortung der Frage, ob sie sozialverträglich ist, im Stadium der Güterabwägung
herangezogen.479
In diesem Zusammenhang ist Peters zuzustimmen, der argumentiert, dass
das Selbstverständnis des Grundrechtsberechtigten zumindest als Ausgangspunkt zu
akzeptieren ist, die Mindestanforderungen von außen (etwa die Anforderung der
Universalisierbarkeit eines Gewissensimperativs und ihre logische Konsistenz) heranzutragen
sind.480
10. Die Gewissenskonzeption von Niklas Luhmann und ihre Konsequenzen
für die Rechtsanwendung
Für die Auslegung der Gewissensfreiheit in Deutschland hat die Gewissenskonzeption vom
Soziologen und Rechtswissenschaftler Niklas Luhmann481
eine große Resonanz erfahren.
Seine Konzeption hat einen allgemeinen Charakter und kann für die Untersuchung des
Gewissensbegriffs in jeder das Grundrecht der Gewissensfreiheit gewärleistenden
Rechtsordnung Anwendung finden, deshalb wird sie im Folgenden detailliert dargestellt.
Luhmann nähert sich dem Phänomen des Gewissens, indem er seine Funktion für das
Individuum und die Gesellschaft analysiert. Diese Funktion besteht in Bildung und Erhaltung
der persönlichen Identität. Jeder Mensch ist einem grenzenlosen Potential der
Handlungsweisen ausgesetzt, aus denen er die „Einheit eines sinnvollen persönlichen Daseins
zusammenordnen“482
muss. Er reduziert die Komplexität der möglichen Verhaltensweisen
und zieht die Grenze zwischen innen und außen. Die ausgeschlossenen Verhaltensweisen sind
allerdings potenziell vorhanden, deswegen stellen sie eine ständige Bedrohung für das
Persönlichkeitssystem des Einzelnen dar. Der Mensch braucht somit Kontrollinstanzen, „die
479
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von
Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,
Frankfurt am Main Bern, New York 1987, S. 257f. 480
A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 182. 481
N. Luhmann, Gewissen und Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 257 – 286. 482
Ebenda, S. 264.
123
darüber wachen, dass das Ich die Grenzen seiner Persönlichkeit nicht sprengt.“ Die höchste
Kontrollinstanz in der komplizierten Struktur der Selbsterhaltung ist das Gewissen.
Aus der Individualisierung des Gewissens und dem Entfallen der Bezugssysteme wie etwa
eines überindividuell feststellbaren Sittengesetzes, das das Gewissen zum conscientia
(gemeinsames Wissen) machte, folgert Luhmann, dass das Gewissen kein Wissen mehr ist,
sondern „eine Art Eruption der Eigentlichkeit des Selbst.“483
Dies führt allerdings zum
Ausschluss der ethischen Kategorien von „Gut“ und „Böse“ aus dem Begriffsbereich des
Gewissens. Mit der Beseitigung der imperativischen Dimension und des präskriptiven
Charakters aus dem Begriff des Gewissens verliert er allerdings seine spezifische
Unterscheidungskraft.484
Problematisch im Luhmannschen Konzept des Gewissens sind auch die hohen Forderungen
an die Schädlichkeit der Folgen der Zuwiderhandlung gegen ein Gewissensgebot für den
Betroffenen, damit der Schutz der Gewissensfreiheit eröffnet werden kann. Dazu zählt
Luhmann Tod, Schizophrenie, radikaler Bruch mit der eigenen Vergangenheit:485
„Gewissenserforschung erhält die Fragwürdigkeit der eigenen Identität und führt dagegen in
die Nähe des Todes; denn im Gewissen stellt man das eigene Sein zur Entscheidung. Wird die
gewissenswidrige Handlung (oder Unterlassung) zum unwiderruflichen Bestandteil der
Persönlichkeit – sei es, dass sie geschehen ist, sei es dass sie einen als Zukunft ohne
Alternative anblickt, dann bleibt der eigene Tod als andere Möglichkeit offen. Gewissen kann
nur haben, der sich selbst töten kann.“486
Von ähnlichen, nur weniger radikalen Annahmen ist
das deutsche Bundesverwaltungsgericht ausgegangen, indem es von den
Kriegsdienstverweigerern eine Gewissensentscheidung fordert, nach der sie im Fall des
Militärdienstes „innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden
nehmen“487
müssten. Das Abstellen auf die negativen Folgen der Handlung der
483
N. Luhmann, Gewissen und Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 260; Zustimmend: H. H. Klein,
Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, K.
Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 493. 484
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 120. 485
N. Luhmann, Gewissen und Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 284. 486
Ebenda, S. 269. 487
BverwGE 41, 53 (55).
124
Gewissensentscheidung zuwider findet auch Befürworter in der polnischen Lehre. Es wird
nämlich argumentiert, dass die Überzeugung, welche zu einer Gewissensfrage wird, derart tief
gefestigzt sein muss, dass sie zu den grundsätzlichen Indikatoren der Haltung des Einzelnen
wird. Die Zuwiederhandlug würde zum Konflikt des Gewissens führen und
konsequenterweise „die Entwicklung des Einzelnen beschweren.“488
Bei dem Versuch, einen objektiven Beweis für das Vorhandensein eines Gewissenskonflikts
zu liefern, stellt Luhmann auf die Folgen der Nichtbefolgung eines Gewissensrufes und nicht
auf die Grundlagen einer Gewissensentscheidung ab. Die Praktikabilität dieses Ansatzes d.h.
die Durchführung der Prognose, dass in einem konkreten Fall psychopathologische Folgen
der Missachtung des Gewissensgebots eintreten werden, ist allerdings zweifelhaft. Außerdem
bedeutet die Schwerpunktsetzung auf die Vermeidung psychischer Krankheiten, dass zum
eigentlichen Schutzobjekt der Gewissensfreiheit die ethisch neutrale Identität des Menschen
im Sinne der psychischen Unversehrtheit wird. Damit ist allerdings der Bezug zum
semantischen Gehalt der verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie zum
alltagssprachlichen Gewissensbegriff verlorengegangen.489
Darüber hinaus ist das Eintreten der psychischen Konsequenzen einer Zuwiderhandlung
gegen das Gewissen empirisch nicht abgesichert. Der Suizid oder Dekonstituierung der
Persönlichkeit kommen nur in Extremfällen vor. Der Mensch verfügt vielmehr über
zahlreiche Mechanismen der Verarbeitung des gewissenswidrigen Verhaltens. In den meisten
Fällen beugt sich das Gewissen dem Autoritäts- und Konformitätsdruck.490
Die Bedrohung
der Zerstörung eigener Persönlichkeit, wenn dem Gewissensdiktat nicht gefolgt wird, als
Voraussetzung des grundrechtlichen Schutzes ist daher als zu weitgehend zu würdigen. Sie
führt „zu einer überzogenen Pathologiesierung des Grundrechts, bzw. zu einer Einengung des
Grundrechtsschutzes auf psychisch labile Personen.“491
Es ist zwar nicht auszuschließen, dass
der Berechtigte im Fall der Zuwiderhandlung gegen sein Gewissen einen schweren seelischen
488
L. Kański, Z. Kędzia, Prawo poborowych do służby zastępczej, in: PiP, Nr. 7, 1998, S. 43; zustimmend: B.
Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej Komentarz, Art. 85, S. 451, Rn. 5. 489
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 120f. 490
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle
Bedeutung, in: DuR, Nr. 11, 1983, S. 369; derselbe, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen
Konflikt, S. 15ff. 491
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 191.
125
Schaden nimmt 492
und sein inneres Gleichgewicht verlieren kann, dies darf aber nicht so
verstanden werden, dass der Tatbestand der Gewissensfreiheit nur dann vorliegt, wenn ein
pathologischer Befund zu befürchten ist, bzw. wenn die Persönlichkeit des Einzelnen
zerbricht. Für die Inanspruchnahme der grundrechtlichen Garantie reicht es vielmehr, wenn
eine schwere Gewissensnot zu gewärtigen wäre.493
11. Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung
Nach der erfolgten Säkularisierung und Individualisierung des Gewissens bleibt nur ein
formelles Kriterium der moralischen Ernsthaftigkeit, Intensität und Tiefe, wonach das
Gewissensurteil von anderen Überzeugungen unterschieden werden kann. Da das Gewissen
einen integralen Teil der persönlichen Identität bildet, wirken die Gewissensüberzeugungen so
stark auf die Motivation des Einzelnen aus, dass er oft bereit ist, negative Konsequenzen des
gewissensgemäßen Handelns zu tragen und sogar zu leiden, um seine moralische Identität zu
erhalten.494
Der von dem Einzelnen erfahrene Gewissenszwang muss daher ein beträchtliches Niveau
erreichen. Durch die Gewissensfreiheit werden Gewissensgebote und nicht einfache
Gewissensbedenken geschützt.495
Bloße Skrupel oder Bedenken erreichen noch nicht die
Stufe eines von der Unbedingtheit und existenzieller Identitätskrise geprägten
Gewissenskonflikts. Keine Gewissensgründe sind bloße persönliche Wünsche,496
Unlustgefühle, gefühlsmäßige Vorurteile oder Aufwallungen. Andererseits können
Zweckmäßigkeits- und verstandesmäßige Überlegungen für sich allein als Gewissensgründe
nicht eingestuft werden, wenn sie den Rang des höchsten moralischen Imperativs nicht
492
J. Guzman Lopez, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 25. 493
W. Steinlechner, Kriegsdienstverweigerungsgesetz, Kommentar, § 1, München 1990, Rn. 11; U. Preuß, Art. 4
Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 39. 494
B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State
Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 271 f. 495
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 64; J. Kokkott, Art. 4,
in: M. Sachs, Grundgesetz-Kommentar, München 1992, Rn. 61; E. Schwierskott, Das Grundrecht der
Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S. 39. 496
App. 8741/79 X v. Germany 24DR 137 (1981).
126
erreichen.497
Ihnen fehlt das hinreichende affektive Engagement, oder es ist nur im zu
geringen Maß vorhanden, damit sie für das Selbstverständnis des Individuums von
konstitutiver Bedeutung sein können.498
Weiterhin keine Gewissensgründe sind bloß
politische, wirtschaftliche und familiäre Entscheidungen, aus denen keine sittliche
Verpflichtung resultiert. Allerdings können sich Erwägungen der politischen oder
militärischen Zweckmäßigkeit von einer verstandsmäßigen Reflexion zu einer
Gewissensentscheidung entwickeln.499
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gewissensentscheidungen keine bloßen
Entschlüsse der Stunde oder der Stimmung sind. Sie entspringen vielmehr einer
grundsätzlichen Lebenshaltung. Sie sind „Ausfluss einer grundsätzlichen – wenn auch
wandelbaren – in der gesamten sittlichen Haltung des Menschen verwurzelten Gesinnung und
Überzeugung.“500
In der Lehre wird auch ein Versuch unternommen, die Gewissensposition von den
ideologischen oder weltanschaulichen Standpunkten auszugrenzen. Dies wird mit folgenden
Beispielen veranschaulicht: wenn jemand den Militärdienst aus pazifistischen Gründen
ablehnt, kann er sich auf Weltanschauungsfreiheit berufen. Wenn er dies dagegen aus der
Erwägung tut, dass jeder Krieg moralisch böse ist, eröffnet sich der Schutzbereich der
Gewissensfreiheit. Ähnlich wenn sich ein Vegetarianer weigert, Fleisch zu essen, weil er
meint, dass Fleisch für die Gesundheit schädlich ist und dass Menschen nicht karnivor sind,
ist seine Ablehnung der Betätigungssphäre der Weltanschauungsfreiheit zuzuordnen. Wenn
sich dagegen ein Muslim weigert, das Schweinfleisch in sich zu nehmen, handelt er aus
religiös motivierten Gewissensgründen.501
Auch die mit dem Umweltschutz verbundenen
Handlungen werden dem Bereich der technischen oder politischen Fragen zugerechnet und
folgendermaßen dem Schutzbereich der Weltanschauungsfreiheit subsumiert.502
497
R. Navarro-Valls, J. Martínez Torrón, M. Angel Jusdado, La objeción de conciencia a tratamientos médicos:
derecho comparado y derecho español, in: Persona y Derecho 1988, Nr. 18, S. 166. 498
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 146. 499
J. P. Naujok, Gewissensfreiheit und Steuerpflicht, Berlin 2003, S. 60; J. O. Arujo, La objeción de conciencia
al servicio militar, Madrid 1993, S. 244f. 500
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 136. 501
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de una terapéutica, in: Persona y Derecho 1984,
S. 37f. Es ist zu bemerken, dass der zitierte Autor in diesem Zusammenhang nicht von Weltanschauungsfreiheit,
sondern von weitem Verständnis der Gedankenfreiheit ausgeht, die auch Handlungsfreiheit umfassen soll. 502
Ebenda, S. 46.
127
Die angegebenen Beispiele rufen die Zweifel hervor, ob diese Abgrenzung in der Praxis
überhaupt von Nutzen sein kann. Es scheint nämlich kaum möglich, einer allgemeinen
pazifistischen Position oder der Sorge um eigene Gesundheit moralische Qualität
abzusprechen. Darüber hinaus verkennt der zitierte Autor, dass nicht nur eine Religion,
sondern auch eine Weltanschauung oder Ideologie die Grundalge für eine
Gewissensentscheidung bilden kann. In den Zweifelsfällen ist deshalb vom Selbstverständnis
des Einzelnen auszugehen und derartige Verweigerungsbeispiele dem Schutzbereich der
Gewissensfreiheit zuzuordnen.
12. Situationsbezogenheit der Gewissensentscheidungen
Bei der Qualifizierung der Gewissensentscheidung als moralische Kategorie, ist davon
auszugehen, dass sich die Einzelnen nach Vorgaben verschiedener Moralsysteme richten. In
diesem Zusammenhang ist insbesondere die Prinzipienethik der Situationsethik
gegenüberzustellen. Die moralischen Bewertungen und Entscheidungen der Anhänger der
Situationsethik entstehen nach der Berücksichtigung der eigenartigen Elemente der konkreten
moralischen Frage, d.h. sind fallbezogen, während die Befürworter der Prinzipienethik von
der Formulierung allgemeiner und abstrakter Verhaltensnormen ausgehen, die unter den
Umständen eines bestimmten Falltypes Anwendung finden sollen.503
Eine Gewissensentscheidung wird in einer bestimmten Lage erfahren und durch bestimmte
Situationen ausgelöst. Die Stimme des Gewissens spricht notwendig hic et nunc; sie ist
zugleich sowohl normativ als auch situationsgebunden. Das Urteil des Gewissens in Bezug
auf das konkrete Verhalten kann es zeitlich vorausgehen, simultan mit dessen Verwirklichung
eintreten, oder nachträglich gefällt werden.504
Die Wertperspektive des Menschen kann sich
im Laufe der Zeit ändern, deshalb ist der Wandel der rechtlich beträchtlichen
Gewissensentscheidung durchaus denkbar. Die Figur des venire contra factum proprium kann
grundsätzlich dem Gewissensträger nicht entgegengehalten werden.
503
S. Wronkowska, Z. Ziembiński, Zarys teorii prawa, Poznań 2001, S. 86. 504
A. Arndt, Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung, in: NJW, 1957, S. 362; C. Salinas Araneda,
Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso 2004, S. 92; M. Gascón Abellán, Obediencia
al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 257f; J. Hervada, Libertad de conciencia y error moral
sobre una terapéutica, in: Persona y Derecho, 1984, S. 42f.
128
Die Gewissensentscheidung entbehrt als abstrakte und für künftige Fälle getroffene
Entscheidung der Endgültigkeit. So zeigt sich erst in der konkreten Situation, ob sich der
Betroffene, der vor dem Zwang der Entscheidung gestellt wird, im Sinne seiner etwa im
Wehrdienstverweigerungsverfahren eingenommenen Position verhalten wird. Peces-Barba
weist darauf hin, dass in einigen Ausnahmesituationen angenommen werden kann, dass
bestimmte Personen nicht fähig sind, allgemeine moralische Grundsätze in abstracto zu
entwickeln, weil sie über keine hinreichende moralische Erfahrung verfügen. In diesen Fällen
könnte die situationsgebundene Verweigerung aus Gewissensgründen gerechtfertigt
werden.505
In der spanischen Lehre wird die situative Gewissensentscheidung als
dazwischengekommenes Gewissen (conciencia sobrevenida) genannt. Diese Bezeichnung
trägt der Tatsache Rechnung, dass im Prinzip niemand als Verweigerer zur Welt gebracht
wird, sondern dass die Verweigerung dem Einzelnen in einem bestimmten Lebensmoment
dazwischenkommt. Die Gewissensentscheidung ist „eine religiöse oder philosophische
Position, die an einem bestimmten Tag von einem Individuum angenommen wird und die
früher nicht vorhanden war. In der Tat lässt sich nicht verkennen, dass das persönliche
Gewissen nicht inert und statisch, sondern dynamisch ist und unterliegt einer kontinuierlichen
Entwicklung. Seine Bildung hängt von einer Menge der internen und externen Faktoren
ab.“506
Das BVerfG hat allerdings die situationsgebundenen Gewissensentscheidungen aus dem
Schutz der Gewissensfreiheit ausgegrenzt und den Verfassungsschutz lediglich denjenigen
Kriegsdienstverweigerern zuerkannt, deren Gewissen die Tötungshandlungen grundsätzlich
und ausnahmslos verbietet.507
Der Ausschluss der situationsbedingten
Gewissensentscheidungen dient zwar der „Entpolitisierung“ der Gewissensfreiheit,508
die
Einengung des Schutzbereichs des Grundrechts zum Schutz absoluter
Gewissensentscheidungen bedeutet aber die Verkennung des Begriffs des Gewissens und der
Gewissensentscheidung. „Gewissensentscheidungen sind immer konkrete sittliche
Entscheidungen der Person in und angesichts einer bestimmten Situation und beziehen sich
auf ein Verhalten hier und heute. Sie sind hingegen keine abstrakten Entscheidungen für alle
Zeiten und jenseits der Bedingungen des konkreten Handelns. In der Gewissensentscheidung
505
G. Peces- Barba, Derecho y derechos fundamentales, Madrid 1993, S. 389f. 506
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 310. 507
BverfGE 48, 127. 508
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 130.
129
fließen Normbezogenheit und Situationsbeurteilung zusammen; sie setzt sich aus einer
Integration von Normerkenntnis und Tatsachenbeurteilung zusammen.“509
13. Mindestmaß an Rationalität der Gewissensentscheidung
Was die Bewertung der Rationalität als konstitutive Komponente einer
Gewissensentscheidung angeht, lassen sich zwei gegenseitige Positionen anführen.
Nach einer Ansicht ist für das Wesen der Gewissensentscheidung nicht notwendig, dass der
Betroffene sie rational nach Maßgabe vernünftiger Kriterien inhaltlich begründen kann. Eine
vernunftgemäße Abwägung des Für und Wider kann, muss aber nicht der
Gewissensentscheidung zugrunde liegen.510
Der Grundsatz der strikten religiös-
weltanschaulischen Neutralität fordert, dass der Staat die Vernünftigkeit oder Rationalität
einer Gewissensposition nicht bewertet. Dem Staat ist nämlich verwehrt, in dem Bereich der
Werte zu wühlen und zu beurteilen, ob eine Gewissensentscheidung logisch innerhalb der
Wertestruktur des Einzelnen erscheint oder nicht.511
Die Forderung der Rationalität ist somit
nicht auf die Gewissensentscheidung selbst, sondern auf ihre Mitteilung zu beziehen. Die
Tiefe, Ernsthaftigkeit und Unabdingbarkeit einer Gewissensentscheidung bedarf einer
intersubjektiven nachvollziehbaren Darlegung.512
Nach einer anderen Meinung sollen lediglich diejenigen Überzeugungen durch die
Gewissensfreiheit geschützt werden, welche intersubjektiv und kommunizierbar sind sowie
sich auf fundamentale Grundsätze wie etwa die Achtung des menschlichen Lebens
beziehen.513
Der Berechtigte muss sich mit anstehenden Problemen gedanklich
auseinandergesetzt haben und die dabei in Frage kommenden Gesichtspunkte sorgfältig
gegeneinander abgewogen haben, wobei sich die Anforderungen an die innere
509
Sondervotum von den Richtern Böckenförde und Mahrenholz zum Urteil des BverfG vom 24. April 1985
BverfGE 69, 57 (81). 510
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 21. 511
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo,
Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 249. 512
H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NVwZ, 1991, S. 1034. 513
J. Pawlikowski, Prawo do wyrażania sprzeciwu sumienia przez personel medyczny – problemy etyczno-
prawne, http://www.incet.uj.edu.pl/dzialy.php?l=pl&p=32&i=3&m=22&z=0&n=2&k=5 (30.12.2010)
130
Auseinandersetzung nach der Veranlagung, der Intelligenz und dem Bildungsgrad des
Berechtigten richten.514
Das Handeln nach dem Gewissen bedeutet das Handeln „mit
Kompetenz und Überlegung gemäß bestimmten, rational fundierten und tief gefühlten
Prinzipien“.515
Aus der rationalen Komponente des Gewissens folgt die Diskursfähigkeit der
Gewissensinhalte: „Wer sich gegenüber staatlichem Recht auf sein Gewissen beruft, trägt die
Last der Begründung im rationalen Diskurs.“516
Vom Einzelnen kann somit die Offenheit auf
die Argumentation vom Außen und Bereitschaft, sein Verhalten in ihrem Licht immer wieder
zu untersuchen, erwartet werden.517
Die moderne Gewissenserfahrung hat trotz aller
Zentrierung des Gewissens im Einzelnen, auch einen zwischenmenschlichen Charakter. „Das
„Hier stehe ich und kann nicht anders‟, das sich der kritischen Auseinandersetzung entzieht,
ist unzulässiger Dogmatismus.“518
Das Gemeinsame wird gerade in der Auseinandersetzung
ausgearbeitet; das Austragen von Konflikten und Suche nach akzeptablen Lösungen kann nur
unter Voraussetzung Erfolg haben, dass sich die Beteiligten nicht abschließen und verhärten,
sondern dass sie sich auf das Gemeinsame öffnen. Soweit eine Konfliktlösung vorläufig nicht
möglich ist, „lässt man die zunächst unversöhnlich erscheinenden Standpunkte auf sich
beruhen, ohne sie vorschnell in inappellablen Gewissensentscheiden festzuschreiben und
durchsetzen zu wollen, um den Weg zur Überwindung der Gegensätze in der Zukunft nicht
von vornherein zu versperren.“519
Dem ist dahingehend beizupflichten, dass die Gewissensentscheidung einen gewissen
Mindestgrad der Rationalität und Vertretbarkeit aufweisen muss. Diese Anforderung bezieht
sich nicht nur auf die Art der Darlegung der Gewissensentscheidung, sondern berührt auch
ihren Inhalt. „Wenn die Vernunftschlussfähigkeit gewissen Grad an Defektivität erreicht, ist
die persönliche Autonomie bedeutungslos.“520
514
W. Steinlechner, Kriegsdienstverweigerungsgesetz, Kommentar, § 1, München 1990, Rn. 15. 515
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 45. 516
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 494. 517
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 39. 518
H. Ryffel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, Köln 1987, S. 331. 519
Ebenda, S. 331. 520
D. Lyons, Democracy, Rights and Freedoms, What are they? What Good are they?, New York 2000, S. 75.
131
14. Fazit
Die Ableitung des Rechts auf ethische Selbstverwirklichung aus Art. 53 Abs. 1 Verf. findet
ihre Stütze in der expliziten Verankerung der Gewissensfreiheit. Die Beschränkung des
verfassungsrechtlichen Schutzes auf den religiösen Glauben würde die Erwähnung der
Gewissensfreihit in der angegebenen Vorschrift unnötig machen. Dieses Ergebnis ist
allerdings wegen des Verbotes der Auslegung per non est nicht haltbar. Die Gewissensfreiheit
braucht somit eine autonome Auslegung. Die Erschließung des Inhalts dieser Freiheit erfolgt
durch die Untersuchung ihres Tatbestandsmerkmales, also des Gewissensphänomens. Die
Ausführungen zum Gewissensphänomen haben gezeigt, dass es sich um eine
höchstpersönliche Instanz handelt, welche Ausdruck seiner moralischen Autonomie ist und
damit die Identität des Einzelnen bestimmt. Zwischen dem Gewissen, Identität und
Autonomie des Individuums besteht somit eine enge Beziehung. Darüber hinaus enthält das
Gewissen ein Mindestmaß an Rationalität und Verantwortung gegenüber den Anderen.
Das Gewissen bildet eine von jeglicher Religion unabhängige ethische Kategorie. Durch die
Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung, den Drang nach ihrer Durchführung sowie ihre
emotionale Aufladung wird die Gewissensfreiheit in der Nähe der Religionsfreiheit
angesiedelt; die Übertretung der Gewissensimperative kann für den Einzelnen ähnliche
Identitätskrisen hervorrufen wie der Verstoß gegen religiöse Gebote. Deshalb ist das
Gewissen des Einzelnen ebenso schutzbedürftig und schützenswert wie sein religiöser
Glaube. Die Situierung der Gewissensfreiheit neben der Religionsfreiheit erweist sich als
nicht ungerechtfertigt.
Die Interpretation nach Wortlaut beschränkt sich allerdings nicht auf die isolierte Betrachtung
einzelner Rechtsbegriffe. Ihre Bedeutung muss vielmehr aus dem Kontext der ganzen
Bestimmung herausgelesen werden. Für die Erschließung des Inhalts der Gewissensfreiheit
sind daher die übrigen Absätze des Art. 53 Verf. zu berücksichtigen. Sie beschäftigen sich
ausdrücklich aber nur mit der Ausübungsfreiheit des religiösen Glaubens, was den Schluss
nahelegen kann, dass die Freiheit des Gewissens durch den Verfassungsgeber als innere
Freiheit aufgefasst wurde. Dieser Schluss scheint in Art. 53 Abs. 4 bestätigt zu sein. Danach
kann bei der Religionsunterrichtung die Gewissens- und Religionsfreiheit anderer Personen
nicht berührt werden. Die Verletzung der Gewissens- und Religionsfreiheit im Prozess der
132
Unterrichtung einer Religion besteht vor allem in Herbeiführung einer Zwangssituation, also
in einen Eingriff in die innere Selbstbestimmungssphäre der Schüler. Die Beschränkung der
Gewissensfreiheit auf das forum internum wäre aber mit dem Art. 53 Abs. 3 Verf. nicht
vereinbar. Gemäß dieser Bestimmung haben die Eltern das Recht auf moralische und religiöse
Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren Überzeugungen. Das Erziehungsrecht
der Eltern umfasst ohne Zweifel die Einflussnahme auf Gewissensbildung ihrer Kinder
unabhängig von der religiösen oder weltanschaulichen Provenienz der moralischen
Grundsätze, auf denen die Erziehung basieren soll. Es kann allerdings nicht angenommen
werden, dass der Verfassungsgeber in der inneren Sphäre der Gewissensbildung das weite
elterliche Erziehungsrecht garantiert, während er in der äußeren Sphäre der
Gewissensbetätigung den grundrechtlichen Schutz auf eine Kategorie der Überzeugungen
limitiert (argumentum ad absurdum).
Der Wortlaut des Art. 53 Verf. ist somit hinsichtlich des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit
nicht eindeutig. Die Gewissensausübungsfreiheit geschweige denn das Verweigerungsrecht
aus Gewissensgründen kann mit Hilfe der grammatischen Auslegung weder endgültig bejaht
noch verneint werden. Obwohl die Erwähnung der Gewissensfreiheit in Art. 53 Verf. einen
starken Anhaltspunkt für die Annahme dieses Grundrechts darstellt, lassen sich dem Text der
interpretierten Vorschriften keine endgültigen Schlüsse über ihren Schutzumfang entnehmen.
Aus den Ausführungen über die Rolle des Gewissens im menschlichen Leben lässt sich
jedoch festhalten, dass wenn der Verfassungsgeber die Gewissensfreiheit nicht erwähnt hätte,
wäre im polnischen Grundrechtsystem eine Lücke entstanden, die durch den Rückgriff auf die
Auslegung a simili gedeckt werden müsste. Dies ist aber wegen der ausdrücklichen
Verankerung der Gewissensfreiheit in dem Verfassungstext nicht nötig. Die Erwähnung der
Gewissensfreiheit in der Verfassung stellt den hinreichenden Grund dar, auf die funktionalen
Auslegungsmethoden zu greifen, um den Mangel an Eindeutigkeit der sprachlichen Fassung
der Gewissensfreiheit zu überwinden, ohne dabei auf analogia legis rekurrieren zu müssen.
133
Kapitel IV
Die Gewissensfreiheit im Lichte der funktionalen
Auslegungsmethoden
1. Allgemeines
Die Auslegung nach Wortlaut ist nicht ausreichend, wenn ihre Ergebnisse mit krassem
Widerspruch zur allgemeinen Sinnorientierung des Rechtssystems stehen, welche in anderen
Normen zum Ausdruck kommt.521
Aber auch in jeder Situation, wo der Zweifel auftaucht,
dass das Ergebnis der Auslegung nach Wortlaut nicht adäquat ist, soll auf die systematische
und teleologische Auslegung zurückgegriffen werden.522
Die funktionale und systematische
Auslegungsmethoden bieten zuerst die Möglichkeit, diejenigen Auslegungsergebnisse
auszuschließen, welche keine axiologische Begründung in den dem Gesetzgeber
zugeschriebenen Wertungen finden oder wenn sie in diesen Wertungen „Gegenbegründung“
finden (argumentum ad absurdo).523
Zwischen den beiden Auslegungsmethoden besteht ein
enger Zusammenhang, der sich damit erklärt, dass die Zwecke eines Rechtsaktes lediglich
nach Analyse seiner Bestimmungen in seinem systematischen Gesamtzusammenhang
erschlossen werden können.524
Die enge Verflechtung der beiden Methoden rechtfertigt die
gemeinsame Behandlung ihrer Anwendung für die Auslegung des Grundrechts der
Gewissensfreiheit in einem Kapitel.
2. Systematische Auslegung der Gewissensfreiheit
2.1. Auslegung der Verfassung als axiologisches System
Die Gesamtheit der Verfassungsvorschriften bildet eine systematische Einheit. Das Konzept
der Einheit der Verfassung geht jedoch von der rein formalen Kohärenz hinaus; es setzt eine
Gesamtheit der Vorschriften voraus, die in eine Sinneinheit integriert werden, zueinander im
521
A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 557. 522
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 73. 523
S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 83. 524
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 88.
134
Verhältnis der Interrelation stehen und sich gegenseitig ergänzen.525
In der spanischen Lehre
spricht man in diesem Zusammenhang von der integrierenden Auslegung (interpretación
integradora); danach gestalten sich die Verfassungsnormen gegenseitig 526
und „erhalten ihren
vollen Sinn, indem sie in Übereinstimmung mit der systematischen Auslegungsmethode mit
anderen in einen wertenden Zusammenhang gesetzt werden.“527
Die Verfassung sichert die
Einheit der ganzen Rechtsordnung vor allem mittels der materiellen Werteordnung und nicht
durch die verfahrensrechtlichen Normen der Rechtserzeugung.528
Daraus ergibt sich die Pflicht, sich im Auslegungsprozess jeder Vorschrift „mittels einer
harmonisierenden Lektüre“529
anzunähern. „Eine einzelne Verfassungsbestimmung kann nicht
isoliert betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden. Sie steht in einem
Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung, die eine innere Einheit
darstellt. Aus der Gesamtheit der Verfassung ergeben sich gewisse verfassungsrechtliche
Grundsätze und Grundentscheidungen, denen die einzelnen Verfassungsbestimmungen
untergeordnet sind. (...) Daraus ergibt sich, dass jede Verfassungsbestimmung derart ausgelegt
werden muss, dass sie mit jenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und
Grundentscheidungen des Verfassungsgebers vereinbar ist.”530
„Die Struktur der Verfassung ist eine der wichtigeren Prämissen der Interpretation und hat
große Bedeutung im Prozess ihrer Anwendung.“531
Dies erklärt sich bereits damit, dass der
Gegenstand der Anwendung eines Rechtsaktes nicht Vorschriften, sondern die aus diesen
redaktionellen Einheiten abgeleiteten Normen (Äußerungen des Sollens) sind. Eine Norm
kann dabei aus einer oder mehreren Vorschriften rekonstruiert werden, während im Fall der
Verfassungsnormen gerade die zweite Möglichkeit häufiger vorkommt.532
Die Durchführung
der systematischen Auslegung ist deshalb möglich, weil die Reihenfolge der
Verfassungsvorschriften nicht zufällig ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis der ordnenden
Tätigkeit des Verfassungsgebers. Infolge dieser Tätigkeit entsteht die interne Anordnung der
525
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 115. 526
Y. Gómez Sánches, Derechos y libertades. Madrid 2003, S. 115. 527
Urteil des spanischen Verfassungstribunals von 4.02.1993: STC 6/1993. 528
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 116. 529
F. Loñ, A. Morello, Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 42. 530
BverfGE 1, 14 (32). 531
B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 72. 532
P. Czarny, B. Naleziński, Bezpośrednie stosowanie konstytucji; normy samowykonalne w konstytucji, in: J.
Trzciński, Charakter i struktura norm konstytucji, Warszawa 1997, S. 125.
135
Verfassung, welche das hierarchisierte Ganzne bildet. Das wertende Kriterium einer
Vorschrift ist ihre politische, philosophische oder ideologische Bedeutung.533
Bei der
Harmonisierung der Verfassungsgrundsätze ist allerdings nicht möglich, eine abstrakte
Normhierarchie innerhalb der Verfassung a priori aufzustellen; die normativen
Spannungsverhältnisse sollen vielmehr aus der Perspektive eines konkreten Falles gelöst
werden.
Die Normen der Verfassung werden um die vorherrschende politische Idee herum
konzentriert, welche ihren axiologischen Gehalt bestimmt.534
Die Rechtsordnung ist in diesem
Sinne kohärent, dass das ganze System auf denselben axiologischen Voraussetzungen basiert,
welche sich auf Grundlagen des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems sowie der
Rechtskultur beziehen.535
In den Verfassungswerten ist die ethisch- soziale Rechtfertigung der
Rechtsordnung kondensiert. Sie stellen sowohl den Ausgangs- als auch den Ankunftspunkt
für die Interpretation und Anwendung der Verfassung. Das Verständnis der Verfassung als ein
Rechtsakt, in dem Grundwerte verbürgt werden, sowie die daraus resultierenden Vorgaben für
ihre Auslegung und Anwendung, bilden die einzige Basis, welche die Rechtsordnung in
einem demokratischen Staat substanziell zu legitimieren vermag.536
Die einzelnen Rechtsnormen sind nicht nur nicht widersprüchlich; sie werden auch durch die
Werte harmonisiert, welche die Geltung dieser Normen begründen oder welche im Prozess
der Rechtsanwendung verwirklicht werden sollen. Daraus ergibt sich, dass der
interpretierenden Norm diejenige Bedeutung zuzuschreiben ist, die mit anderen Normen im
höchsten Grade kohärent ist.537
Negativ ausgedrückt: da der Gesetzgeber die einzelnen
Vorschriften in das System derart zu ordnen sucht, dass sie keine Widersprüche und Lücken
haben sollen, können diejenigen Auslegungsergebnisse nicht angenommen werden, die zur
Entstehung der Widersprüche und Lücken führen.538
Alle Verfassungsnormen sollen vielmehr
derart interpretiert werden, dass keine Widersprüche mit anderen Verfassungsnormen
533
M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii
prawa, Toruń 2005, S. 32. 534
G. Badeni, Tratado de derecho constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S. 113. 535
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 110. 536
J. L. Cea Egaña, La interpretación axiológica de la Constitución, in: Interpretación, integración y
razonamiento jurídicos. Conferencias y ponencias presentadas en el Congreso realizado en Santiago y Viña del
Mar entre el 23 y 25 de mayo de 1991, Santiago de Chile 1992, S. 90f. 537
J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1990, S. 82. 538
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 110.
136
entstehen. Dabei soll die Konsonanz mit Grundentscheidungen der Verfassung gefunden
werden.539
Da das Rechtssystem das homogene und harmonische Ganze darstellt, muss die
Auslegungsdirektive beachtet werden, wonach der zu interpretierenden Vorschrift diejenige
Sinndeutung zu bevorzugen ist, die im Verhältnis zu anderen Normen des Subsystems, zu
dem diese Vorschrift gehört, im höchsten Grad harmonisch ist.540
Die systematische
Auslegung fordert, dass der Sinn einer Norm aus dem kontextuellen Zusammenhang mit
anderen Normen des Rechtssystems gewonnen wird. Jede Norm wird in die Rechtsordnung
derart integriert, damit sie dadurch einen Wert, einen Sinn bekommt, der sich an die Einheit
der Rechtsordnung anpasst.541
Im Rahmen der systematischen Auslegung ist weiterhin zwischen der logischen und der
teleologischen Anpassung der ausgelegten Norm an die übrigen Normen des Systems zu
unterscheiden. Der erste Aspekt bezieht sich auf die Harmonisierung der Normen im Hinblick
auf ihren Wortlaut, während die zweite die Übereinstimmung der Ziele der einzelnen
Regelungen vor Augen hat.542
Daraus ergibt sich, dass bei der Interpretation der Grundrechte
der Grundsatz der Einheit der Verfassung als Interpretationszweck zu beachten ist. Die von
der Verfassung vorgegebenen Spannungslagen müssen erkannt werden, die widerstreitenden
Prinzipien und Interessen nach beiden Seiten eingeengt und zur Konkordanz gebracht werden.
Dabei ist diejenige Auslegungsvariante zu wählen, welche die höchste Effektivität aller
Verfassungsnormen sichert.543
In der polnischen Lehre wird vertreten, dass der Ausgleich der
Verfassungswerte und Interessen durch die Einbeziehung in den Auslegungsprozess des
Verhältnismäßigkeitsprinzips verwirklicht werden soll.544
539
K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios de derecho
constitucional panameño, Panamá 1987, S. 964. 540
A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia
chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento
jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 331; F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación
constitucional, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento
jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 294. 541
A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 555. 542
G. Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 582. 543
J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte
Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S. 140f; C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional,
Coimbra 1993, S. 227. 544
M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii
prawa, Toruń 2005, S. 26f.
137
2.2. Systematische Auslegung der Grundrechte in der polnischen Verfassung
Der Abschnitt der Verfassung von 1997 „Freiheiten, Rechte und Pflichten des Menschen und
des Staatbürgers“ befindet sich unmittelbar nach dem Abschnitt „Die Republik,“ der
allgemeine Grundsätze des Staatsystems umfasst, und vor den Abschnitten, welche die
Struktur und Organisation des Staatsapparates regeln. Damit wurde von der in dem polnischen
Konstitutionalismus überkommenen Anordnung abgewichen, nach der die Rechte und
Freiheiten des Einzelnen am Ende der Verfassung situiert waren. Die Stellung des die Rechte
und Freiheiten des Einzelnen normierenden Abschnitts ist Ausdruck der Axiologie der
Verfassung sowie die Akzentuierung des Primats des Menschen vor dem Staat und des
Willens des Verfassungsgebers, den Rechten und Freiheiten einen wirksamen Schutz zu
gewähren.545
Darüber hinaus enthält sie einen wesentlichen Hinweis, wie alle Normen der
Verfassung auszulegen und anzuwenden sind.
Die Stellung des Abschnitts „Die Freiheiten, Rechte und Pflichten des Menschen und des
Staatsbürgers“ in Verbindung mit der Präambel, aus der das Gebot der wirksamen
Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte hervorgeht, bildet ein interpretatorisches
Prinzip der Bevorzugung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen. Nach diesem Prinzip ist
bei der Interpretation der Verfassung diejenige der möglichen Auslegungsrichtungen
anzunehmen, die möglichst weiten Schutzbereich der Grundrechte voraussetzt. Dies geschieht
mit ihrer erweiternden Auslegung, wo auch immer es möglich ist. Das Gebot der erweiternden
Auslegung bezieht sich dabei vor allem auf die bürgerlichen und politischen Rechte.546
Mit
anderen Worten: bei der Interpretation der Verfassung ist von einer Vermutung des möglichst
weiten Schutzbereichs der einzelnen Freiheiten und Rechte auszugehen. Von dieser
Vermutung ist nur dann abzuweichen, wenn die Verfassung dies ausdrücklich vorschreibt.
Garlicki547
spricht in diesem Zusammenhang von einer „entgegenkommenden“
Auslegungspflicht der Grund- und Freiheitsrechte.
545
J. Kuciński, Konstytucyjny ustrój państwowy Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2001, S. 89; P. Sarnecki,
Systematyka konstytucji, in: J. Trzciański, Charakter i struktura norm Konstytucji, Warszawa 1997, S. 34; L.
Garlicki, Wolności, prawa i obowiązki człowieka i obywatela, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej
Polskiej. Komentarz III. Warszawa 2003, S. 1. 546
M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii
prawa, Toruń 2005, S. 39; J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la
jurisprudencia de la Corte Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S. 157. 547
L. Garlicki, Wolności, prawa i obowiązki człowieka i obywatela, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej
Polskiej. Komentarz III. Warszawa 2003, S. 100
138
Darüber hinaus gebietet die systematische Auslegung, dass die Grundrechte nicht isoliert,
sondern im Lichte des Systems der Grundrechte, dessen Zweck die menschliche Person ist,
betrachtet werden.548
Aus der zentralen Stellung der Grundrechte unter den
verfassungsrechtlichen Bestimmungen geht das Gebot hervor, die grundrechtlichen
Verbürgungen gemäß dem Prinzip der Grundrechtseffektivität, das manchmal Prinzip fovor
persona, pro cive oder pro homine genannt wird,549
zu interpretieren. „Die ordentlichen
Gerichte und der Verfassungsgerichtshof sollen sich in seiner Auslegung der
Rechtsvorschriften, insbesondere derjenigen, die sich auf die Freiheit der Bürger beziehen,
nach dem absoluten Primat der menschlichen Person richten.“550
Danach ist insbesondere in
Zweifelsfällen unter verschiedenen Interpretationsvarianten für diejenige zu optieren, „die die
juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am besten entfaltet“551
, d.h. die Grundrechte
im höchsten Grade bevorzugt und sichert. Da sich die Möglichkeiten und Bedingungen der
Aktualisierung der Verfassung geschichtlich wandeln, ist bei der konkreten Falllösung
denjenigen Auslegungsgesichtspunkten der Vorzug zu geben, die in der gegebenen
historischen Lage zu den optimalen Wirksamkeit der Verfassungsnormen verhelfen.552
Durch
die Annahme des Grundsatzes pro persona wird die systematische Auslegungsdirektive mit
der teleologischen Auslegungsmethode eng verflochten. Ihre Anwendung im Bereich der
Grundrechte führt zum maximalen Schutz der Menschenwürde.553
Das Ziel jeder
demokratischen Verfassung liegt in der Einschränkung der staatlichen Gewalt zum Schutz der
Freiheit und Würde des Menschen. Alle verfassungsrechtlichen Einrichtungen entsprechen
diesem Zweck. Daraus ergibt sich, dass die Interpretation der Verfassung derart durchgeführt
werden soll, dass ihre Normen die effektivste Verwirklichung der Freiheit und Würde sowohl
auf der individuellen, als auch auf der sozialen Ebene ermöglichen.554
Der Grundsatz der
Effektivität der Grundrechte findet seine Stütze in der Erwägung, dass die Grundrechte als
Verwirklichungsformen des Schutzes der Menschenwürde Grundlage der Legitimität des
548
G. Caballero Sierra, M. Anzola Gil, Teoría Constitucional, Santa Fe de Bogotá 1995, S. 58. 549
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 376. 550
K. Complak, Uwagi o godności człowieka oraz jej ochrona w świetle nowej konstytucji, in: Przegląd
Sejmowy, Nr. 5(28), 1998, S. 49. 551
BverfGE 6, Nr. 55(72); siehe auch: G. Peces- Barba Martínez, Curso de derechos fundamentales. Teoría
general, Madrid 1995, S. 577. 552
A. Murawska, Konflikt interesów indywidualnego i ogólnego w prawie praw człowieka, in: L. Morawski,
Wykładnia prawa i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 209; K. Hesse, Grundzüge des
Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1993, S. 28; vgl: Beschluss des
Verfassungsgerichtshofs von 25.01.1995, (W 14/94, OTK 1995/1/19). 553
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 383. 554
G. Badeni, Tratado de derecho constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S.108.
139
Staates und der Rechtsordnung bilden.555
Was die Gewissensfreiheit angeht, rechtfertigt der
Grundsatz der Grundrechtseffektivität, dass die Freiheit der Gewissensbetätigung durch den
Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfasst wird.556
Die Konkretisierung des Grundsatzes pro persona ist der Grundsatz favor libertatis oder in
dubio pro libertate sowie der Grundsatz favor debilis.557
Der Grundsatz favor libertatis basiert
„auf der Expansionskraft des Rechts auf Freiheit und auf ihren besonderen
verfassungsrechtlichen Schutz auch in Ausnahmezuständen.“558
Danach sind nicht nur die
Einschränkungen der Grundrechte und Grundfreiheiten restriktiv auszulegen. Diese Regel
lässt sich auch als eine Möglichkeit verstehen, die Grundrechte extensiv auszulegen, sowie
die Analogie in diesem Bereich anzuwenden.559
Darüber hinaus ist mit dem Grundsatz in
dubio pro libertate nicht nur die individuelle Freiheit, sondern auch eine globale Freiheit
gemeint. Danach soll der gleiche Genuss der Freiheitsrechte und ihre Maximierung
verwirklicht werden.560
Dem Grundsatz in dubio pro libertate liegt die Annahme zugrunde, dass der Freiheit als dem
höchsten Ziel der Verfassung der Vorrang im Verhältnis zu anderen Interessen eingeräumt
worden ist.561
Aus diesem Grund wird vertreten, dass sich der Grundsatz in dubio pro
libertate als Auslegungsdirektive nicht aufrechterhalten lässt, sonst würden
Gemeinschaftswerte im Voraus in die Nachrangigkeit versetzt.562
Dem ist entgegenzuhalten,
dass der Grundsatz der Freiheit in der polnischen Verfassung durch seine Verbürgung in der
allgemeinen Freiheitsklausel des Art. 31 Verf. zu einer Auslegungsdirektive erhoben wurde,
555
J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte
Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S. 144; G. Peces- Barba Martínez, Curso de
derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 577. 556
R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der
Staat, Nr. 25, 1986, S. 254. 557
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 377. 558
J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte
Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S. 157. 559
B. Banaszak, Prawa człowieka i obywatela w nowej Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, in: Przegląd
Sejmowy, Nr. 5, 1997, S. 59; M. Rączka, Wykładnia prawa konstytucyjnego in: L. Morawski, Wykładnia prawa
i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 38; L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S.
138. 560
G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 411. 561
F. Zúñiga Urbina, Tendencias contemporáneas en la interpretación constitucional, in: Universidad de Chile,
Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 293. 562
K. Stern, Die Auslegung der Grundrechte, in: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
Band III/2, München 1994, S. 1653.
140
die das Verständnis und Anwendung der Grundrechte intensiv prägt.563
Die Annahme dieses
Grundsatzes rechtfertigt sich somit mit der Teleologie der Verfassung.
Nach dem Grundsatz pro debilis ist bei der Interessenabwägung in einer Konfliktsituation auf
faktische Ungleichheit einer Partei in dem Rechtsverhältnis Rücksicht zu nehmen. Dies ist
insbesondere im Arbeitsverhältnis der Fall.564
Zum anderen ist zu beachten, dass die
Interpretation der Grundrechte nicht nur zum Schutz der Interessen des Einzelnen
durchgeführt werden soll, sondern auch die Ausstrahlungskraft der Grundrechte derart fördern
soll, dass alle Betroffenen, insbesondere die benachteiligten Gruppen zum effektiven Genuss
der Grundrechte kommen.565
Dieser Grundsatz ist von einer erheblichen Bedeutung gerade für
die Auslegung der Gewissensfreiheit, die begriffsnotwendig das Recht der Minderheiten und
Einzelpersonen ist.
2.3. Systematische Auslegung der staatskirchenrechtlichen Verfassungsbestimmungen
Die systematische Auslegung findet Anwendung auch in Bezug auf die
verfassungsrechtlichen Vorschriften, welche die staatskirchenrechtlichen Fragen regeln. Es
sind nämlich bei ihrer Interpretation andere Verfassungsnormen heranzuziehen, die auf den
ersten Blick keine direkten staatskirchenrechtlichen Bezüge aufweisen. Diese
mitzuberücksichtigenden Normen bilden das Normgefüge des weit verstandenen
Staatskirchenrechts sensu largo, indem sie die strikt staatskirchenrechtlichen
Verfassungsregelungen, deren Schutzgegenstand unvollständig ist, präzisieren und
konkretisieren. Dazu gehören: die Klausel der Menschenwürde (Art. 30 Verf.), die Klausel
der allgemeinen Freiheit (Art. 31 Verf.) der Gleichheitssatz (Art. 32 Verf.), Meinungsfreiheit
(Art. 54 Verf.), Versammlungsfreiheit (Art. 57 Verf.), Vereinigungsfreiheit (Art. 59 Verf.).
Die Einbeziehung der genannten Verfassungsvorschriften bei der Auslegung der Gewissens-
und Religionsfreiheit führt zur Erweiterung des Schutzbereichs des Art. 53 Verf. auf die
Sphäre der nichtreligiösen, philosophischen und ethischen Positionen. Die weite Auslegung
der Gewissensfreiheit ist unter anderen mittels der flexiblen Auslegung der
563
Vgl. A. Guedes Sorlano, Libertade religiosa no direito constitucional e internacional, São Paulo 2002, S. 4; G.
Badeni, Tratado de derecho Constitucional, Tomo 1, Buenos Aires 2006, S. 126. 564
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 377. 565
G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 409.
141
„nichtkonfessionellen“ Normen möglich, welche als das Ganze genommen „die
weltanschauliche Situation“ des Einzelnen doch bestimmen.566
3. Teleologische Auslegung der Gewissensfreiheit
3.1. Voraussetzungen der teleologischen Auslegungsmethode
In der polnischen Methodenlehre wird die teleologische Auslegung als eine Sonderart der
funktionalen Interpretation angesehen. Als Funktion der Norm werden die Folgen bezeichnet,
welche durch ihre Anwendung in der sozialen Wirklichkeit eintreten.567
Der funktionale
Kontext der Norm ist dabei vielschichtig und zusammengesetzt. Zu seinen Bestandteilen
gehört nicht nur das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche System, sondern auch die
allgemeine Kultur der Gesellschaft, in der die geltenden Normen und vorherrschenden
Wertungen zum Ausdruck gebracht werden. Weiterhin gehören dazu soziale und politische
Ziele sowie die Zivilisationsphänomene, mit deren Verbindung das menschliche Verhalten
geregelt wird.568
Im Zweifel bezüglich der Bedeutung einer Norm ist diejenige zu wählen, die
sich mit den gesellschaftlichen Wertungen und Regeln im höchsten Grad vereinbaren lässt.
Gemäß der teleologischen Methode wird nach dem objektiven Zweck eines bestimmten
Gesetztes gefragt, allerdings im Rahmen von festen Argumentationsgesichtspunkten, die aus
den anderen canones der Auslegung sowie aus der Bezugnahme auf den Lebensbereich, der
durch die zu interpretierende Norm geregelt werden soll, gewonnen werden.569
Die
teleologische Auslegung muss somit eine Stütze im auszulegenden Text finden. Wenn der
Rechtstext keine durch die anderen Auslegungsmethoden zu ermittelnden Maßstäbe enthält,
wonach der telos des Rechtsaktes zu erschließen ist, hilft die teleologische Auslegung nicht
weiter; sie kann die anderen Methoden nicht ersetzen. Die Aufgabe des Interpreten besteht
darin, diese Maßstäbe herauszuarbeiten, zusammenzulegen, zu bewerten und das von ihm
angenommene Ergebnis als das vernünftigste zu begründen.570
566
J. Szymanek, Klauzule wyznaniowe w Konstytucji RP, Studia z Prawa Wyznaniowego 2005, Band 8, S. 8
einschlißlich der Fußnote 7. 567
W. Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 447. 568
Ebenda, S. 446. 569
Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 203. 570
M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in: P. Winczorek, Teoria i praktyka
wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 189.
142
Über die Bedeutung der teleologischen Auslegungsmethode für das Verfassungsrecht hat sich
der Verfassungsgerichtshof in dem Beschluss von 7. März 1995 wie folgt geäußert: „Bei der
Auslegung der Vorschriften berücksichtigt der Verfassungsgerichtshof – wie andere Gerichte
- ihren sprachlichen, systematischen, sozialen, axiologischen Kontext sowie den Zweck der
Vorschriften. (....) In der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs hat der axiologische
Kontext eine besondere Bedeutung. Während der Verfassungsgerichtshof den systematischen
Kontext in Betracht zieht, ist er verpflichtet, auf diejenigen Verfassungsvorschriften
Aufmerksamkeit zu lenken, die im höheren Grade als andere Vorschriften an Werte
anknüpfen, nach denen sich die Gesellschaft richtet. Aber nicht nur die in den
Verfassungsvorschriften enthaltenen Werte stellen für den Verfassungsgerichtshof einen
Hinweis dar. Die Verfassungsvorschriften bestimmen nicht immer gänzlich diejenigen Werte,
die zum Wegweiser für den Gesetzgeber wurden. Daher ist bei der Auslegung der
Vorschriften auch diejenigen Werte in Betracht zu ziehen, die in den Vorschriften der
Verfassung ausdrücklich nicht ausgesprochen worden sind.“571
Die teleologische Auslegungsmethode ist für die Interpretation der Verfassung von
erheblicher Bedeutung. Die Verfassungsauslegung verlangt oft, auf
außerverfassungsrechtliche Daten und Wertungen zurückzugreifen, „die aus der faktischen
Realität, dem kollektiven Gewissen und aus den aktuellen Forderungen des Gemeinwohls
entnommen werden. Die Verfassung genießt keine Selbstgenügsamkeit. Sie ist kein
hermetisches, perfektes Dokument, das das ganze Verfassungsrecht umfasst.“572
Die
Auslegung der Verfassung soll somit keine technische und formalistische Tätigkeit sein. Der
Interpret soll vielmehr die Grundaspekte der sozialen Wirklichkeit, die Evolution der
Institutionen und Gewohnheiten beobachten und bei Auslegungsentscheidung gebührend
berücksichtigen. Die Bedürfnisse der sozialen Realität sollen insbesondere im Prozess der
richterlichen Auslegung in Betracht gezogen werden.573
Bei der Interpretation eines Rechtsaktes ist somit denjenigen Sinn der Vorschrift zu
erschließen, der mit dem Zeitablauf an den Rechtsakt hineingewachsen ist. Im Fall der
divergierenden Ergebnisse, die von verschiedenen Auslegungsmethoden geliefert werden,
571
W 9/94, OTK 1995/1/20. 572
A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia
chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento
jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 329. 573
Ebenda, S. 229.
143
erlangt die teleologische Auslegungsmethode das spezielle Gewicht;574
unter den aus der
Perspektive des Wortlauts vertretbaren Interpretationsvarianten ist dann diejenige
auszuwählen, die dem Zweck des Rechtsaktes am besten entspricht. Der Zweck des
Rechtsaktes ist selbstredend nicht das von dem Interpreten Vorausgesetzte, oder das von ihm
Erwünschte; er ist vielmehr in dem Text des Rechtsaktes ausdrücklich bestimmt, oder
zumindest lässt sich aus dem Text und seinem „teleologischen Kontext“ mit hinreichender
Präzision herleiten.575
Da in der Verfassung der Entwurf der soziopolitischen Struktur des
Gemeinwesens niedergeschrieben ist, erfordert manchmal ihre Auslegung eine politische
Fundierung, d.h. die Ausrichtung auf die Verwirklichung des Gemeinwohls, der
Rechtssicherheit und des Rechtsstaats. Das politische Element bei der Auslegung der
Verfassung darf allerdings die durch das Recht gesetzten Schranken nicht überschreiten; eine
Rechtsfrage bedarf immer einer Rechtsantwort.576
Für die Notwendigkeit der Einbeziehung der teleologischen Auslegungsmethode bei der
Auslegung der Gewissensfreiheit spricht auch die durch die polnische Rechtslehre
angenommene Fiktion des rationalen Gesetzgebers. Danach wird angenommen, dass der
Gesetzgeber über die vollkommene sprachliche Kompetenz, über das ausgezeichnete logische
Wissen und über die anderen zur Regelung eines Fragments der sozialen Wirklichkeit
notwendigen Kenntnisse (Sachwissen) verfügt. Allerdings wenn es sich im
Interpretationsprozess herausstellt, dass ein Rechtsakt nicht klar oder nicht eindeutig
formuliert ist, ist die Vermutung der sprachlich ausgezeichnet kompetenten Gesetzgebers
widerlegt.577
Die Widerlegung der Vermutung des sprachlich ausgezeichnet kompetenten
Gesetzgebers führt zur Notwendigkeit der Anwendung der teleologischen Auslegung.578
Die
Fiktion des axiologisch rationalen Gesetzgebers ist dagegen unwiderlegbar;579
damit ähnelt
sie der Vermutung iuris ac de iure. Die funktionale Auslegung basiert auf der Voraussetzung
574
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 88. 575
M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in : P. Winczorek, Teoria i praktyka
wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 190. 576
A. Torres Vasquez, Introducción al Derecho, Teoría general del derecho, Bogota 2001, S. 583. 577
Nur wenn bei der Auslegung der Verfassung von der gegenseitigen Voraussetzung des sprachlich
unvollkommenen Verfassungsgebers auszugehen wäre, wie es Burgoa tut, (I. Burgoa, Derecho Constitucional
Mexicano, México 1985, S. 395) müsste angenommen werden, dass die grammatische Auslegungsmethode am
wenigsten zuverlässig ist. 578
A. M. Garcia Barzelatto, Los elementos de interpretación constitucional y su recepción en la jurisprudencia
chilena, in: Universidad de Chile, Universidad Adolfo Ibanez, Interpretación, integración y razonamiento
jurídicos, Santiago de Chile 1992, S. 333. 579
S. Wronkowska, Podstawowe pojęcia prawa i prawoznawstwa, Poznań 2003, S. 89; Z. Ziembiński, Logika
praktyczna, Warszawa 1994, S. 242.
144
des perfekten Gesetzgebers. In diesem Zusammenhang präzisiert der Verfassungsgerichtshof,
dass das Urteil „mit Berufung auf funktionale Auslegung und - genauer gesagt - auf die
Annahmen hinsichtlich des sachlichen Wissens des Rechtsgebers und auf sein kohärentes
Wertungssystem“580
begründet werden kann.
Die Rekonstruierung der axiologischen Wertungen des Gesetzgebers erfolgt unter
Berücksichtigung der Texte der Präambel, wo die ratio legis ausdrücklich formuliert ist, der
offiziellen Begründungen oder Motive der betroffenen Rechtsakte, Vorbereitungsmaterialien
und sogar der politischen Programme der Regierungsgruppe. Außerdem werden die
Wertungen des Gesetzgebers aufgrund der Vermutungen des Interpreten betreffs des Zweckes
von anderen klar und unumstritten formulierten Normen erschlossen.581
Die funktionale
Auslegung kann sich zwar auch auf außerrechtliche axiologische Argumente stützen, es
entsteht aber die Gefahr, dass die Grenze zwischen Interpretation und Rechtssetzung
überschritten werden kann.582
Mag die sprachliche Fassung der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung selbst
unmittelbar zu ihrem Zweck nichts aussagen, steht sie in einem Bedeutungszusammenhang
mit anderen Vorschriften der Verfassung und vor allem mit anderen Grundrechten. Bei der
Auslegung einer Verfassungsvorschrift ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Aufgabe
jeder Verfassung darin besteht, zu dem „tripolaren Spannungsverhältnis“583
zwischen dem
Einzelnen, der Gemeinschaft und dem Dritten Stellung zu nehmen und das Gleichgewicht
zwischen den konkurrierenden Interessen herzustellen. Die polnische Verfassung scheint
dabei eine vermittelnde Position einzunehmen. Die wertende Entscheidung des
Verfassungsgebers fällt beim Individuum zugunsten der Würde und Freiheit, beim Dritten
zugunsten der Gleichheit und bei der Gesellschaft zugunsten einer die beiden anderen Pole
schützenden und fördernden Ordnung. Der Zweck der Unantastbarkeit der Menschenwürde
steht dabei an hervorragender Stelle der Verfassung. Die Freiheit ist ein durchgängiger
Begriff des Grundrechtsteiles, der in verschiedenen Varianten und Stufen gesehen und in
unterschiedlicher Weise geschützt, jedoch als Freiheit entschieden verfochten wird. Der
580
Beschluss des Verfassungsgerichtshofs von 6 Januar 1993, K9/92, OTK 1993, poz. 12. 581
G. Caballero Sierra, M. Anzola Gil, Teoría Constitucional, Santa Fe de Bogotá 1995, S. 54; Z. Ziembiński,
Logika praktyczna, Warszawa 1994, S. 242. 582
L. Leszczyński, Zagadnienia teorii stosowania prawa. Doktryna i tezy orzecznictwa, Kraków 2001, S. 132. 583
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit, Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 65; siehe auch: P. Sobczyk,
Wolność sumienia i religii w art. 53 Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997r., in: Prawo
Kanoniczne, Nr. 3/4, 2001, S. 9f.
145
Schutz von Menschenwürde und Freiheit ist somit ein in der Verfassung proklamiertes
Staatsziel, dessen Verwirklichung einzelne Grundrechte dienen. Die Freiheit und Würde
können dabei als „Fernziele“ der staatlichen Tätigkeit betrachtet werden. Um sie zu erreichen,
stellt die Verfassung die einzelnen Grundrechte zur Verfügung und gibt damit den
„Fernzielen“ mehr Gestalt; durch Bereitstellung der einzelnen Grundrechte wird der Schutz
der Menschenwürde und Freiheit also in „Naheziele“ aufgelöst.584
Daraus ergibt sich, dass die
Grundrechte derart funktional ausgelegt werden müssen, damit sie zur Verwirklichung der
Menschenwürde und Freiheit beitragen. Die Interessen der Dritten werden dagegen durch die
Verankerung des Gleichheitssatzes geschützt. Einer der Grundsätze der
verfassungsrechtlichen Ordnung, der die Interpretation der Grundrechte, darunter das
Grundrecht der Gewissensfreiheit, beeinflussen kann, ist das Gebot der Beachtung des
Völkerrechts. Alle diese Ziele werden in den Verfassungsgrundsätzen niedergelegt, deshalb
ist ihre Auswirkung auf das Verständnis der Gewissensfreiheit zu prüfen. Diese Untersuchung
wird zum Gegenstand des folgenden Abschnitts.
3.2. Die Rolle der Verfassungsgrundsätze bei der Verfassungsauslegung
3.2.1. Allgemeines
Mit den Verfassungsgrundsätzen werden die in den Verfassungsnormen zum Ausdruck
gebrachten Ideen, Werte und Begriffe gemeint, welche die Grundlagen anderer Normen
bilden. Sie charakterisieren den Staat, indem sie auf prinzipielle Werte hinweisen, welche
dieser Staat achten und verwirklichen soll. Sie stellen das Fundament nicht nur der
Rechtsordnung, sondern auch des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems dar,
deshalb sind sie „eine interpretatorische Quelle und Bezugspunkt für
Gerichtsentscheidungen.585
Die Verfassungsgrundsätze sind vor allem von den konkreten Verfassungsvorschriften zu
unterscheiden. Die Verfassungsgrundsätze sind die Verfassungsnormen höheren Ranges, für
welche größerer Grad der Allgemeinheit charakteristisch ist als etwa für die
Kompetenznormen. Sie sind nicht immer ausdrücklich in Form einer Verfassungsvorschrift
584
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 68. 585
M. Kruk, Konstytucyjne zasady podstawowe – ich znaczenie i katalog, in: Sokolewicz Wojciech, Zasady
podstawowe polskiej konstytucji, Wydawnictwo Sejmowe, Warszawa 1998, S. 7.
146
niedergeschrieben. In diesem Fall stellen sie einen Verallgemeinerungsschluss aus mehreren
Verfassungsnormen dar.586
Sie bilden (zusammen mit der Präambel) Ausgangspunkte für die
Auslegung, insofern die zu interpretierenden Vorschriften dem Ziel dienen, den
Programmgehalt der Verfassungsgrundsätze zu verwirklichen. Die Verfassungsgrundsätze
geben den Ton der ganzen Rechtsordnung an.587
Der Katalog der Verfassungsgrundsätze ist
umstritten. Sie genießen allerdings den Vorrang vor den übrigen Verfassungsvorschriften,
„weil gerade in den Verfassungsgrundsätzen die wichtigsten Rechtsinhalte des Staatsystems
artikuliert wurden. Die übrigen Verfassungsbestimmungen erfüllen im Verhältnis zu ihnen
mehr oder weniger eine Hilfsrolle.“588
Die Grundsätze normieren einen idealen Zustand, der
erreicht werden soll, ohne das konkrete Verhalten vorzuschreiben. Im Gegensatz zu den
Regeln, die im vollen und ganzen verwirklicht werden sollen, haben sie einen
richtungweisenden Charakter. Sie enthalten einen Optimierungsbefehl. Die Optimierung setzt
die Gradation der Normerfüllung voraus; die Realisierung einer Grundsatzbestimmung hängt
von den rechtlichen und faktischen Möglichkeiten ab. Da die Art und Weise der
Grundsatzrealisierung nicht objektiv bestimmt ist, eröffnet sich die Möglichkeit der
Alternativen, deren Wahl in einigen Fällen von den ideologischen Konzeptionen des
Interpreten beeinflusst wird.
Die Grundsätze haben die Ausstrahlungswirkung auf die ganze Verfassung. Mit ihrem
axiologischen Gehalt zementieren und legitimieren sie die ganze Rechtsordnung und deshalb
stellen sie Richtlinien für den Interpreten dar und bestimmen zugleich die Grenzen seiner
Tätigkeit. Die Verfassungsgrundsätze vollbringen den normativen Sinngehalt jeder
Verfassungsregel. Sie sind ein Wegweiser und konstanter Bezugspunkt für alle staatlichen
Organe und Behörden bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben, Kompetenzen und Pflichten.589
Die Verfassungsgrundsätze beinhalten „Leitideen“590
der Verfassung, welche in ihrer
besonderen Vorschriften weiterentwickelt werden. Sie müssen „aus den Klammern
genommen werden.“ Dies geschieht vor allem im Prozeß der Auslegung der Verfassung und
des ganzen Rechts sowie „im Prozess der Formulierung des Inhalts des ganzen Rechtssystems
586
P. Sarnecki, Podstawowe założenia nowej konstytucji RP, in: J. Karnaś, Konstytucja Rzeczypospolitej
Polskiej. Spór o kształt ustroju państwa, Kraków 1999, S. 15. 587
M. Pavcnik, Interpretation and Understanding of the Constitution, in : P. Winczorek, Teoria i praktyka
wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 186. 588
B. Banszak, A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 33. 589
Z. Witkowski, in: derselbe, Prawo konstytucyjne, Toruń 2002, S. 65. 590
Ebenda, S. 65.
147
in dem Staat.“591
Im Bezug auf die konkreten Verfassungsvorschriften haben die
Verfassungsgrundsätze den normativen Wert; sie sind von Bedeutung für die Bestimmung der
bürgerlichen Rechte und Pflichten. Wenn die konkreten Verfassungsvorschriften nicht
eindeutig sind, ist auf die Verfassungsgrundsätze zurückzugreifen und in deren Lichte eine
Auslegungsvariante zu wählen.592
Wenn alternative Auslegungsergebnisse einer Norm
vorliegen, ist diejenige zu wählen, die mit den Rechtsgrundsätzen harmonisiert, sowie keine
Lücken entstehen lässt.593
„Die Allgemeinheit, Abstraktheit sowie Expansionsfähigkeit der Grundsätze erlauben dem
Interpreten in vielen Fällen den strikten Legalismus zu überwinden und in dem System nach
einer gerechteren Lösung zu suchen. (…) Dieselben Grundsätze fungieren auch als letzte
(máxima) Schranken für die Auslegung, indem sie voluntaristische Subjektivität, persönliches
Empfinden oder politische Zweckmäßigkeit neutralisieren und durch die Auferlegung einer
Pflicht, seine Entscheidungen zu begründen, den Spielraum des Normanwenders
reduzieren.“594
3.2.2. Die Bedeutung der Klausel der Menschenwürde für die Auslegung der
Gewissensfreiheit
Die polnische Verfassung bestimmt in Art. 30, dass die angeborene Würde des Menschen
unveräußerlich und unverletzlich ist. Sie bildet die Quelle der Freiheiten und Rechte des
Menschen und des Staatsbürgers. Ihre Achtung und Schutz ist Verpflichtung der öffentlichen
Gewalt. Der Verfassungsgeber hat mit dieser Aussage „überpositivistische also auch der
Verfassung gegenüber übergeordnete Rolle der Menschenwürde“595
und vorstaatliche Geltung
der Menschenrechte anerkannt. Dabei wurde der Bezug auf die Konzeptionen des
Naturrechts596
in seinem „allgemein-humanistischen und nichtkonfessionellen Verständnis“597
591
Z. Witkowski, in: derselbe, Prawo konstytucyjne, Toruń 2002, S. 65. 592
P. Sarnecki, Podstawowe założenia nowej konstytucji RP, in: J. Karnaś, Konstytucja Rzeczypospolitej
Polskiej. Spór o kształt ustroju państwa, Kraków 1999, S. 15. 593
E. Kunstra, Wstęp do nauk o państwie i prawie, Toruń 1997, S. 132. 594
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 86. 595
L. Garlicki, Art. 30, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz III. Warszawa 2003, S.
1, 4. 596
B. Banaszak, Prawa człowieka i obywatela w nowej Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, in: Przegląd
Sejmowy, Nr. 5, 1997, S. 60. 597
M. Gulczyński, Konstytucjonalizacja nowego ładu społecznego w Polsce, in: W. Sokolewicz, Zasady
podstawowe polskiej konstytucji, Warszawa 1998, S. 245.
148
hergestellt. Die „anerkennende“ Formulierung der Grundrechte in der Verfassung liefert
offenkundig keinen Beweis dafür, dass es ein Naturrecht gibt; sie bezeugt nur, dass die
naturrechtlichen Prämissen einen Teil der Ideologie des Verfassungsgebers darstellen.598
Der
Verfassungsgeber geht von der Konzeption der Menschenrechte aus, welche die historische
und moralische Entwicklung insbesondere in Europa und Amerika aufgezeigt hat. Danach
sind Menschenrechte moralische, universelle, abstrakte und fundamentale individuelle
Rechte, die gegenüber dem positiven Recht Priorität besitzen.599
Die Menschenrechte haben
ursprünglich moralischen Charakter und für ihre rechtliche Geltung bedürfen sie einer
Inkorporation in die Rechtsordnung. In Art. 30 Verf. wurde die Intention des
Verfassungsgebers zum Ausdruck gebracht, die Menschenrechte in ihrer moralischen
Dimension in die Grundrechte zu transformieren. Mit dieser Transformation wird der Staat
zum Zurechnungspunkt der grundrechtlichen Pflichten. Bezogen auf die Grundrechte hat die
Transformation eine konstituierende Funktion; als Normen des positiven Rechts können die
Grundrechte, anders als Menschenrechte, nicht vorstaatlich sein.600
Durch die Feststellung, dass die Menschenwürde Quelle der Rechte und Freiheiten des
Einzelnen ist, wird Art. 30 Verf. zu einer Bestimmung, in welcher der Anspruch des positiven
Rechts auf menschenrechtliche und in diesem Sinne moralische Richtigkeit ausgesprochen
wird. Mit diesem Anspruch wird ein Zusammenhang zwischen Recht und Moral gestiftet.601
Mit der Transformation der Menschenrechte in das positive Recht wird ihnen rechtlicher
Geltungsgrund hinzugefügt, ohne dass ihr moralischer Geltungsgrund zugrundegeht. Deshalb
bleibt im Falle einer fehlerhaften oder defizitären Transformation einer menschenrechtlichen
Norm in die Rechtsordnung sowie im Fall einer restriktiven Auslegungspraxis eines
Grundrechts Kritik aus der menschenrechtlichen Perspektive möglich.
Die Menschenwürde bezeichnet „eine Sphäre der Persönlichkeit, die sich im Wertgefühl des
Menschen und der Erwartung der Achtung seitens Anderer“602
konkretisiert. Dieses
Wertgefühl wird sowohl durch die innere, d.h. mit der Persönlichkeit des konkreten
598
Es lässt sich allerdings die These Sarneckis nicht begründen, dass in der Verfassung an das katholische
Verständnis des Naturrechts angeknüpft wurde; P. Sarnecki, Idee przewodnie Konstytucji Rzeczpospolitej
Polskiej z 2 kwietnia 1997, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 5, 1997, S. 13. 599
M. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2006, S. 85. 600
Ebenda, S. 87ff. 601
Dabei ist zu merken, dass auch der Positivist eine positivrechtlich geschaffene Verbindung zwischen Recht
und Moral bejahen kann, ohne seinen Standpunkt verlassen zu müssen, deswegen bleibt der Streit um
Rechtsbegriff zwischen Positivismus und anderen Theorien offen. 602
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Warszawa 2009, S. 169, Rn. 2.
149
Individuums zusammenhängenden als auch durch die äußeren (historischen, kulturellen,
religiösen) Faktoren bestimmt. Der Begriff der Menschenwürde unterliegt somit den
zeitlichen Änderungen. Das heutige Verständnis der Menschenwürde hat sich aus
verschiedenen geschichtlichen Situationen mit ihren spezifischen Bedrohungen des Wohls der
Menschen herauskristallisiert. Heutzutage liegt es durch diese geschichtliche Erfahrung
erhärtet in den einzelnen Grundrechtsgehalten konkretisiert vor.603
Zur Erklärung der Bedeutung von Menschenwürde wurden verschiedene Konzeptionen
entwickelt. Aus der Sicht der christlichen Theologie wird die Menschenwürde mit Schöpfung
des Menschen als Abbild Gottes und seiner Erlösung von Christus begründet. Aus der
philosophischen Perspektive wird dagegen die Grundlage der Menschenwürde in
menschlicher Vernunft und Freiheit angesehen. Einen engen Zusammenhang zwischen der
Menschenwürde als Quelle der Rechte und Freiheiten des Individuums und dem Grundrecht
der Gewissensfreiheit hat allerdings ihre ethische Dimension. Danach wird die Fähigkeit des
Menschen, freie Entscheidungen zu treffen und für seine Handlungen Verantwortung zu
übernehmen als Wesensmerkmal des Menschenwürdebegriffs angesehen.604
Für die Auslegung der Menschenwürdeklausel in den modernen Verfassungen hat sich die
kantische Auffassung der Menschenwürde als besonders ergiebig erwiesen.605
Die
Verfassungsstaaten der westlichen Ausprägung werden durch die Kernaussagen seiner
praktischen Philosophie immerhin beeinflusst. Die Formel Kants: „[D]er Mensch (...) existiert
als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder
jenen Willen“606
ist zum universellen ethischen Prinzip geworden. Aus dieser Formel folgert
Kant die Idee der Würde des Menschen: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen
Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als
Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, das hat eine Würde.“607
Der Kern der Menschenwürde ist somit die Subjektstellung und Autonomie des Einzelnen, die
aus der Ausstattung des Menschen mit dem Verstand und Willen herzuleiten ist. Daraus ergibt
603
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 119. 604
M. Makarska, Przestepstwa przeciwko wolności sumienia i wyznania w Kodeksie karnym z 1997, Lublin
2005, S. 14. 605
Eine indirekte Bezugnahme aud die kantische Konzeption der Menschenwürde kann K. Complak, Uwagi o
godności człowieka oraz jej ochrona w świetle nowej Konstytucji, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 5(28), 1998, S. 41
entnommen werden. 606
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1999, S. 59. 607
Ebenda, S. 68.
150
sich, dass jeder Einzelne die Freiheit der Selbstbestimmung genießt. Die Selbstbestimmung
des Einzelnen verwirklicht sich in der Freiheit, sein eigenes Wertsystem zu bilden und danach
zu leben.608
Dies kommt u. a. durch die dem Menschen immanente Suche nach und Erfahren
von transzendenten Werten zum Ausdruck. Auf diese Suche nimmt auch die Präambel zur
polnischen Verfassung Bezug; dort ist nämlich von Bürgern die Rede, welche die universellen
Werte des Guten, des Wahren und des Schönen entweder den religiösen oder anderen Quellen
entnehmen. Zum anderen verwirklicht sich die Menschenwürde durch die Übernahme der
(innerlichen und äußerlichen) Verantwortung für die Einhaltung eigenes Wertesystems.609
Die Bereitstellung des Freiraumes der realen moralischen Selbstbestimmung und
Selbstverwirklichung erfolgt durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Es schützt nämlich
diejenigen Aspekte der menschlichen Existenz, die an der Menschenwürde am nächsten
angesiedelt sind und den Einzelnen als Person definieren. Es schützt denjenigen Bereich, in
dem sich der Mensch in seiner Einzigkeit und Einmaligkeit vermittels der die menschliche
Natur widerspiegelnden Fähigkeiten – der Intelligenz und des Willens – selbst entdeckt und
sich in seiner sich selbst beherrschenden Identität verwirklicht. „In diesem Bereich der
höchstpersönlichen und einzigen Rationalität, in diesem Bereich des eigenen und
unveräußerlichen Gewissens besitzt der Mensch seinen freien Willen und Selbstherrschaft.
Und gerade in diesem Bereich, wo der Mensch spezifisch personale Handlungen vornimmt
und sie durch sein Verhalten in die Welt der Anderen und der Gesellschaft projiziert, kann er
einen am schwersten wiegenden und radikalsten Schaden erleiden, weil gerade hier das
Wesen des persönlichen Seins ins Spiel kommt.“610
Daraus ist sichtbar, dass das Gewissen des
Menschen den Wesensgehalt der Menschenwürdegarantie ausmacht. Gerade durch sein
Gewissen erfährt der Einzelne, dass er mit Menschenwürde ausgestattet ist.611
Die Verbindung der Würde mit der menschlichen Vernunft und Gewissen wird insbesondere
durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte deutlich gemacht. Art. 1 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat den folgenden Inhalt: „Alle Menschen sind
frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt
608
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 224. 609
L. Garlicki, Art. 30, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz III, Warszawa 2003, S. 7
f. 610
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de una terapéutica, in: Persona y Derecho 1984,
S. 31f. 611
J. Buxadé Villalba, La objeción de conciencia en la función pública, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 185.
151
und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Den engen Zusammenhang
zwischen der Menschenwürdegarantie und dem Grundrecht der Glaubens- und
Gewissensfreiheit hat auch der BverfG anerkannt: „Das Grundgesetz sieht die freie
menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an. So hat es folgerecht
in Art. 4 Abs. 1 die Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die
autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht, als ‚unverletzlich‟ anerkannt.“612
Die Menschenwürde als Quelle der Rechte und Freiheiten des Einzelnen determiniert somit
ihre Auslegungs- und Verwirklichungsweise durch den Staat;613
die Klausel der
Menschenwürde und die durch diese Klausel geschützten Werte werden zum Rang einer
Interpretationsdirektive der einzelnen Grundrechte erhoben. Dies bedeutet, dass im Fall der
Konkurrenz verschiedener Interpretationsvarianten einer Vorschrift diejenige zu wählen ist,
welche die in der Klausel der Menschenwürde verankerten Werte im höchsten Grade
berücksichtigt.614
Das Herleiten der Rechte und Freiheiten der Menschen aus seiner Würde
und nicht aus dem positiven Recht ist ein Merkmal der sog. „starken“ Form der
Menschenwürdeklausel.615
Aus der starken Formulierung der Menschenwürdeklausel in der
polnischen Verfassung kann sich das weite Möglichkeitsspektrum für die Auslegung der
übrigen Grundrechte ergeben; die Klausel der Menschenwürde kann nämlich ein Tor für die
erweiternde Auslegung der Freiheitsrechte bilden.616
Durch die Verankerung der
Menschenwürde in der polnischen Verfassung wird eine Rechtsfertigungsgrundlage auch für
die Gewissensfreiheit geschaffen.617
Die Gewissensfreiheit, wie alle durch die Verfassung gewährleisteten Grundrechte, hat ihren
Ursprung in der Menschenwürde.618
Sie ist die „verfassungskräftige Ausgestaltung des
Grundrechts der Menschenwürde (…), da diese Würde Ausdruck der Personalität des
612
BverfGE 12, 53; siehe auch: BverfGE 48, 127, 163. 613
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Warszawa 2009, S. 169, Rn. 3. 614
A. Murawska, Konflikt interesów indywidualnego i ogólnego w prawie praw człowieka, in: L. Morawski,
Wykładnia prawa i inne problemy filozofii prawa, Toruń 2005, S. 206. 615
J. Krukowski, Godność człowieka podstawą konstytucyjnego katalogu praw i wolności jednostki, in:
L.Wiśniewski, Podstawowe prawa jednostki i ich sądowa ochrona Warszawa 1997, S. 46f. 616
M. Korycka, Zasada proporcjonalności – refleksje na gruncie aksjologicznych podstaw Konstytucji z 1997
roku i orzecznictwa Trybunału Konstytucyjnego, in: L. Morawski, Wykładnia prawa i inne problemy filozofii
prawa, Toruń 2005, S. 46. 617
P. Sarnecki, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Art. 53, Warszawa 2003, S.
2. 618
E. Waszkiewicz, Prawo do wolności sumienia i wyznania – aspekty międzynarodowe i rozwiązania prawne w
III RP, in: A. Florczak, B. Bolechow, Prawa i wolności I i II generacji, Toruń 2006, S. 215.
152
Menschen, seiner gewissensbegründeten‚ unvergleichbaren Einmaligkeit ist.“619
Die
Ableitung der Gewissensfreiheit aus der Klausel der Menschenwürde, die immer möglichst
weit auszulegen ist, stellt nach Szymanek620
„ein entscheidendes Argument“ für die
wohlwollende Interpretation des Art. 53 Verf. als Freiheit in der religiös- weltanschaulichen
und moralischen Sphäre dar.
Dem Staat obliegt, die Menschenwürde anzuerkennen und zu schützen, „also, jedem
Einzelnen den sozialen, kulturellen und rechtlichen Rahmen der Selbstverwirklichung zu
sichern, damit er über reale Möglichkeit verfügt, gemäß seinem Willen und dem aus ihm
ausfliesenden Wertesystem zu handeln.“621
Der Staat, der sich verpflichtet hat, die
Unantastbarkeit der Menschenwürde zu achten und zu schützen, bezieht seine Legitimität
nicht nur aus dem Grundsatz der Volkssouveränität, sondern auch aus dieser
Pflichtübernahme. Der Staat kann deshalb weder auf den Rechtsgehorsam seiner Bürger, noch
auf Anerkennung ihrer Freiheit, nach ihrem Gewissen zu handeln, verzichten, ohne sich selbst
preiszugeben.622
Die Verwirklichung der Menschenwürde ist somit als „zentrales Kriterium,
bzw. letzter Bezugspunkt der demokratischen Ordnung“623
anzusehen.
Darüber hinaus wird die Auslegung der Grundrechte durch den oben erwähnten Bezug der
Verfassung auf Naturrecht beeinflusst; die Interpretation der Grundrechte aus der Perspektive
des Naturrechts geht davon aus, dass der Katalog der in der Verfassung aufgezählten
Grundrechte den offenen Charakter hat. Die Anerkennung der Naturgrundrechte durch die
Verfassung ist nicht abschließend.624
Dieser Standpunkt wird von dem
Verfassungsgerichtshof vertreten; indem er aus der Menschenwürdeklausel die Schutzpflicht
derjenigen Grundrechte ableitet, „die aus welchen Gründen auch immer in den
Spezialvorschriften der Verfassung nicht konkretisiert worden sind.“625
Für die Auslegung der
Gewissensfreiheit kann diese Feststellung dahingehend von Bedeutung sein, dass wenn
angenommen werden müsste, dass der Schutzbereich des Art. 53 Verf. auf die Ausübung
eines religiösen Glaubens beschränkt ist, könnte die Gewissensbetätigungsfreiheit im
619
A. Arndt, Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung , in: NJW, 1957, S. 361. 620
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 59. 621
L. Garlicki, Art. 30, in: derselbe, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz III, Warszawa 2003, S.
8. 622
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 484. 623
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 119. 624
R. Guastini, Estudios sobre la interpretación jurídica, Porrúa 2001, S. 125f. 625
Urteil des Verfassungsgerichtshofs von 25. Februar 2002; SK 29/01, OTK – A 2002, Nr. 1 poz. 5.
153
weltanschaulichen Bereich als implizit garantiertes Grundrecht aus der Klausel der
Menschenwürde hergeleitet werden.
Die Anerkennung der Dichotomie: das Individuum – die Gemeinschaft mit der gleichzeitigen
Gewährleistung der Unverletzlichkeit des Bereiches der Autonomie des Einzelnen vermittels
des Schutzes der Menschenwürde macht die Begegnung der beiden normativen Ordnungen,
des Rechts und der Moral, „die unterschiedliche Pfade beschreiten,“626
möglich. Die
Verankerung der Menschenwürde schafft somit eine notwendige Grundlage für dasjenige
Verständnis der Gewissensfreiheit, dass von der grundsätzlichen Verträglichkeit der
kollidierenden Geltungsansprüche des Rechts und der Moral ausgeht, wenn auch die genaue
Bestimmung des Schutzbereichs und Schranken der Gewissensfreiheit weiterer Klärung
bedarf. Die Gewährung und Achtung der Gewissensfreiheit, einschließlich der Freiheit der
Gewissensbetätigung, durch den Staat ist eine der gewichtigen Verwirklichungsformen des
Schutzes von Menschenwürde. Der Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit wird
durch das Staatsbild der Verfassung gestützt, in dem der Würde und Selbstbestimmung des
Einzelnen und der verantwortlichen Gesellschaft aller Menschen zentrale Bedeutung
zukommt.627
Deshalb entfaltet der Grundsatz der Menschenwürde als Grundlage der
Rechtsordnung im Ausnahmefall der Verweigerung aus Gewissensgründen eine
Verdrängungswirkung dem Grundsatz der formalen Demokratie gegenüber.628
Durch den
Schutz der Menschenwürde in Art. 30 Verf. wird der Schutz der Gewissensfreiheit
„bestätigt.“629
Das Verständnis der Gewissensfreiheit als eine Verwirklichungsform des Schutzes der
Menschenwürde wirkt sich auch auf die Bestimmung ihres Schutzbereichs aus, indem es
fordert, die subjektive Haltung des Einzelnen in Bezug auf seinen moralischen
Verantwortungsbereich bei der Würdigung seiner Gewissensentscheidung zu berücksichtigen.
Die Menschenwürde verstanden als Bewusstsein des Selbstwertes des Individuums sowie als
Gefühl der Selbstachtung „nimmt Einfluss auf das Gefühl des Lebenssinnes sowie auf das von
dem Einzelnen angenommene Wertsystem.“630
Diese Auffassung der Menschenwürde
626
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 302. 627
R. Herzog, Die Freiheit des Gewissens und der Gewissensverwirklichung, DVBl 84, 1969, S. 719. 628
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,
S. 13. 629
E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001, S.
74. 630
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Warszawa 2009, S. 173, Rn. 10.
154
entspricht dem Verständnis dieses Begriffes in Ethik. Ossowska argumentiert in diesem
Zusammenhang, dass derjenige die Würde hat, „der die bestimmten von ihm anerkannten
Werte zu verteidigen vermag, mit deren Verteidigung sein Selbstwertgefühl verbunden ist.“631
Daraus ergibt sich, dass das Selbstverständnis der Beeinträchtigung der Menschenwürde
durch den Betroffenen von den Staatsorganen in Betracht zu ziehen ist. Die Stellungnahme
des Einzelnen hat zwar bei der Beurteilung der Menschenwürde keine entscheidende
Bedeutung und kann mit den objektiven Maßstäben konfrontiert werden, sie soll aber durch
die Staatsorgane berücksichtigt werden.632
Darüber hinaus weist der Grundsatz der Menschenwürde verfahrensrechtliche Auswirkungen
auf: in einem eventuellen Anerkennungsverfahren des Verweigerungsrechts aus
Gewissensgrünen ist nämlich von der Vermutung der Glaubwürdigkeit des Einzelnen
auszugehen. Dies wird damit begründet, dass wenn jemand seine Aufrichtigkeit beweisen
müsste, weil ihm sonst die Vermutung des Gegenteils rechtlos machen würde, würde er zum
bloßen Objekt des Verfahrens herabgesetzt, was gegen seine Menschenwürde verstoßen
würde. Der Einzelne müsste vor den staatlichen Behörden seine ganze Intimsphäre aufdecken,
um sich als aufrichtiger Mensch auszuweisen. Letztem Ende liegt nicht in seiner Hand, ob
seine Erklärung als überzeugend angesehen wird.633
Schließlich ist die Klausel der Menschenwürde für die Interpretation der Einschränkungen der
Gewissensfreiheit zum Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer von Bedeutung. Die
Gewissensposition des Einzelnen ist schützenswert, solange er die Anderen als bloßes
Instrument zur Verwirklichung seines Rechts nicht benutzt. Dem Gewissensträger ist
verwehrt, seine Gewissensentscheidung den Anderen aufzuerlegen, um damit seiner
moralischen Pflicht nachzukommen.634
Die Gewissensfreiheit des Einzelnen findet seine
Grenze in der Gewissensfreiheit des Anderen.
631
M. Ossowska, Normy moralne. Próba systematyzacji, Warszawa 2009, S. 59. 632
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Warszawa 2009, S. 173, Rn. 10. 633
F. v. Zezschewitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in: JZ, 1970, S. 239. 634
J. Guzmán López, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 27; J. P. Rodriguez, La
obediencia al Derecho, in: G. Peces-Barba, E. Fernandez, R. de Asis, Curso de teoría del derecho, Barcelona,
Madrid 1999, S. 374.
155
3.2.3. Grundsatz der Freiheit des Einzelnen
Ein anderer Verfassungsgrundsatz, der für die Auslegung der Gewissensfreiheit Anwendung
findet, ist der Grundsatz des freiheitlichen Status des Einzelnen.635
Der Grundsatz der Freiheit
wird nicht nur der allgemeinen Freiheitsklausel (Art. 31 Verf.), sondern auch einer Reihe
anderer Verfassungsvorschriften entnommen: dazu gehört Art. 5 Verf., wonach der Staat
verpflichtet ist, die Rechte und Freiheiten der Bürger zu gewährleisten, die Klausel der
Menschenwürde (Art. 30 Verf.), sowie der ganze Katalog der Rechte und Freiheiten.636
Der
Grundsatz der Freiheit erfüllt sowhol die Rolle des Grundsatzes des Staatssystems, des
leitenden Grundsatzes der Rechte und Freiheiten des Einzelnen, als auch die Funktion des
subjektiven Rechts.637
Bei der Beantwortung der Frage, ob die Gewissensfreiheit im weiteren
Sinne verstanden werden kann, d.h. ob sie das allgemeine Verweigerungsrecht aus
Gewissensgründen umfasst, das im Fall seiner Inanspruchnahme von dem Einzelnen die
Pflicht des Staates hervorruft, die Nichterfüllung der verweigerten Rechtspflicht nicht bloß zu
sanktionieren, sondern die kollidierenden Interessen als Problem der Güterabwägung unter
Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu thematisieren, wird der Interpret vor der Wahl
einer Konzeption der Freiheit in dem Staat gestellt.
Gemäß der in ihren theoretischen Grundlagen auf Hobbess zurückgehenden Konzeption der
Freiheit verfügt der Untertan über die Freiheit nur in dem Bereich, der von dem Souverän
nicht geregelt wurde. Der Gesetzgeber darf die Zahl der Rechtspflichten nach seinem freien
Ermessen vergrößern, obwohl er nach der Konstitutionalisierung der spezifischen
Freiheitsbereiche darauf aufmerksam sein müsste, dass er den Wesensgehalt der in der
Verfassung garantierten Freiheitsräume nicht antastet. Es handelt sich hier um das
Verständnis der Freiheit als eine Ausnahmesituation, d.h. als eine Sphäre der Immunität des
Individuums, die strikt eingegrenzt ist, und außerhalb deren der Gesetzgeber frei agieren darf,
ohne dass er die Gefahr läuft, dass er die Rechte des Einzelnen verletzt.
Das liberal-demokratische System basiert allerdings auf dem Grundsatz des Primats der
menschlichen Freiheit, die nicht als eine Ausnahmesituation, sondern als eine Regelsituation
635
Formulierung entnommen: P. Sarnecki, Podstawowe założenia nowej konstytucji RP, in: J. Karnaś,
Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Spór o kształt ustroju państwa, Kraków 1999, S. 19. 636
P. Sarnecki, Podstawowe założenia nowej konstytucji RP, in: J. Karnaś, Konstytucja Rzeczypospolitej
Polskiej. Spór o kształt ustroju państwa, Kraków 1999, S. 19. 637
D. Dudek, Zasady ustroju III Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2009, S. 105.
156
aufgefasst wird. Gemäß Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789
besteht die Freiheit darin, alles tun zu dürfen, was einem Anderen nicht schadet. Art. 5
derselben Erklärung enthält dagegen die allgemeine Beschränkung der gesetzgeberischen
Tätigkeit: danach darf der Gesetzgeber nur diejenigen Handlungen verbieten, die der
Gesellschaft schaden. Daraus ergibt sich, dass die Rechtsgebote und Verbote als eine
notwendige Einschränkung der menschlichen Freiheit angesehen werden. Nach dieser
Freiheitskonzeption wird der Rechtschutz nicht nur einzelnen verfassungsrechtlichen
Modalitäten der Freiheitsausübung, sondern allen Ausdrucksformen des freien Willens
zuerkannt.638
Der Gesetzgeber trägt die „Beweislast“639
, dass die erlassenen Rechtsakte den
sozialen Interessen dienen; seine legislatorische Kompetenz ist somit nicht schrankenlos. Es
geht hier nicht um die Garantie der eingegrenzten Freiheitsbereiche wie Meinungs- oder
Vereinigungsfreiheit, sondern vielmehr um den Schutz der Freiheit als ein allgemeines
Prinzip, dessen Einschränkung nur zum Schutz anderer Rechte und Güter zulässig ist.
Die liberale Konzeption der Freiheit der Aufklärung, die der Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte von 1789 zugrundeliegt, wurde in Art. 31. Abs. 1 der polnischen Verfassung
aufgenommen.640
Danach steht die menschliche Freiheit unter dem Rechtsschutz. Geschützt
werden dabei alle Ausdrücke des freien Willens des Einzelnen, vorausgesetzt dass die
Ausübung der Freiheit Anderen nicht zum Schaden gereicht. Die Gewehrleistung der Freiheit
beschränkt sich somit nicht auf den Schutz der in der Verfassung ausdrücklich verbürgten
Freiheitsrechte.641
Obwohl die Verfassung die Freiheit positivrechtlich nicht definiert, ist
anzunehmen, dass sie ein fundamentales und natürliches (primäres im Verhältnis zum
positiven Rechts) Attribut des menschlichen Daseins bildet, der eine Möglichkeit der
autonomen und authentischen Verfügung über sich selbst, der Wahl und Verwirklichung der
Werte sowie des zwangsfreien Handelns umfasst.642
Als allgemeiner Rechtsgrundsatz stellt
die Freiheitsklausel des Art. 31 Abs. 1 Verf. ein beträchtliches Argument für die Annahme
des allgemeinen Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen dar. Dies bedeutet selbstredend
638
L. Wiśniewski, Zakres ochrony prawnej wolności człowieka i warunki jej dopuszczalnych ograniczeń w
praktyce, in: L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, Warszawa 2006, S. 21. 639
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 179, Rn. 16. 640
L. Wiśniewski, Zakres ochrony prawnej wolności człowieka i warunki jej dopuszczalnych ograniczeń w
praktyce, in: L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, Warszawa 2006, S. 24;
derselbe, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, in: K. Działocha, Podstawoe problemy
stosowania konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, Raport wstępny, Warszawa 2004, S. 96. 641
L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, in: K. Działocha, Podstawoe
problemy stosowania konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, Raport wstępny, Warszawa 2004, S. 97f.. 642
D. Dudek, Zasady ustroju III Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2009, S. 105.
157
nicht, dass jede verweigerte Rechtspflicht zur Aufhebung der Sanktion führen kann. Das
Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen tritt vielmehr als eine Freiheit prima facie in
Erscheinung, die im Prozess der Güterabwägung wegen kollidierenden Rechtsinteressen
eingeschränkt werden kann.
3.2.4. Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung der Grundrechte
Einer der Verfassungsgrundsätze, der für die Auslegung des Grundrechts der
Gewissensfreiheit relevant ist, ist der Grundsatz der Beachtung des die Republik Polen
bindenden Völkerrechts (Art. 9 Verf.).643
Danach sollen die Rechtsanwender das maximale
Bemühen unternehmen, um die völkerrechtlichen Normen mit der Verfassung zu
harmonisieren, damit die Verantwortung des Staates wegen Nichterfüllung der internationalen
Pflichten vermieden werden kann.644
Die Auslegung der Verfassung in Übereinstimmung mit
dem Völkerrecht wird auch damit begründet, dass alle bürgerlichen Menschenrechte immer
häufiger als Normen ius cogens anerkannt werden, die den Staat auch ohne seine Zustimmung
binden.645
Daraus ergibt sich, dass bei der Auslegung der Gewissensfreiheit in der polnischen
Verfassung die rechtsdogmatischen Entwicklungstendenzen dieses Grundrechts auf der
völkerrechtlichen Ebene einzubeziehen sind.
Die Regelungsweise der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung, wonach sie mit der
Freiheit der Religion eng verknüpft wurde, ist auch für ihre Normierung in den
völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte typisch. Die Regelung der
Glaubens- und Religionsfreiheit in der polnischen Verfassung wird allerdings den
völkerrechtlichen Standards nicht gerecht: während sich der Schutz der Glaubensfreiheit in
der polnischen Verfassung zumindest nach ihrem Wortlaut auf nichtreligiöse Überzeugungen
nicht erstreckt, garantieren die völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen ausdrücklich die
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Die völkerrechtliche Formel „Gedanken-,
Gewissens- und Religionsfreiheit“ ist dabei so umfassend, dass die Gefahr eines engen oder
begrenzten Verständnisses dieser Freiheiten ausgeschlossen ist. Der weite Begriff hat zum
Zweck, ein möglichst weites Spektrum der menschlichen Gedanken, Anschauungen,
Verhalten und Handlungen umzufassen, „also alles, was die menschliche Aktivität in der
643
L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 145. 644
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 136. 645
L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Toruń 2006, S. 126.
158
moralischen, philosophischen und – ganz allgemein gesagt – weltanschaulichen Sphäre
betrifft.“646
Die wörtliche Betrachtung der Verfassungsvorschriften würde daher zu einer Auslegung
führen, die sich mit den völkerrechtlichen Standards des Schutzes der Gewissensfreiheit nicht
vereinbaren lässt.647
Da der Verfassungsgeber die Gedankenfreiheit von den völkerrechtlichen
Regelungen nicht übernommen hat und den weiten Bekenntnisbegriff, der sich auf jede
Weltanschauung bezieht, mit dem engeren Begriff „Religionsfreiheit“ ersetzt hat, ist bei der
Annahme seiner Rationalität, also der bewussten Anwendung der Sprache, davon auszugehen,
dass er das weite Konzept der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Freiheit im
weltanschaulichen Bereich648
zum Schutz der Religion de iure verengt hat. Art. 53 Abs. 2
Verf. wird danach als Legaldefinition der Religionsfreiheit verstanden.649
Art. 9 Verf. bestimmt allerdings, dass die Republik Polen das für sie bindendes Völkerrecht
befolgen soll. Deshalb würde der Schutz der Ausübungsfreiheit des Gewissens und der
Weltanschauung in das polnische Rechtssystem durch das Völkerrecht den Eingang finden,
vorausgesetzt, dass der in den menschenrechtlichen Abkommen befindliche Begriff
„Weltanschauungsfreiheit“ (freedom of belief, liberté de convictions) weit augelegt werden
könnte. Die weite Interpretation der Gewissensfreiheit resultiert somit aus der Bindung Polens
an die völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte.650
Um diese These zu
bestätigen, ist allerdings notwendig zu prüfen, inwieweit die Gewissensfreiheit durch die
internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte anerkannt wird. Die
Gewissensfreiheit ist in den sämtlichen relevanten internationalen Instrumenten zum Schutz
der Religions- und Glaubensfreiheit geregelt.651
Die nachstehende Prüfung wird allerdings auf
die Europäische Menschenrechtskonvention beschränkt, die für Polen besondere Bedeutung
hat.
646
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 41
ff. 647
M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 260; M. Pietrzak, Demokratyczne, świeckie państwo
prawa, Warszawa 1999, S. 269 ff. 648
J. Szymanek, Wolność sumienia i wyznania w Konstytucji RP, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 2(73), 2006, S. 49. 649
Ebenda, S. 52. 650
L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne. Zarys wykładu, Warszawa 2008, S. 110. 651
Art.18 AEMR, Art. 18 Abs. 1 I PbpR, Art. 9 Abs. 1 EMRK, Art. 12 Abs. 1 AMRK, Art. 8 ACRMV.
159
Die rechtsprechenden Organe der EMRK haben das Verweigerungsrecht aus
Gewissensgründen außer der Verweigerung des religiösen Eides652
ausdrücklich verneint. Im
Bezug auf die Wehrdienstverweigerung653
beruft sich die Europäische Kommission für
Menschenrechte auf Art. 4 Abs. 3 (b) EMRK, der bestimmt, dass der Wehrdienst und der
Ersatzdienst, falls das Recht auf Wehrdienstverweigerung in einem Konventionsstaat
anerkannt ist, aus dem Umfang des Begriffs der verbotenen Zwangsarbeit ausgeschlossen ist.
Daraus wird geschlossen, dass diese Bestimmung als lex specialis im Verhältnis zu Art. 9
EMRK anzusehen ist. Seinem Wortlaut ist zu entnehmen, dass den Konventionsstaaten zum
freien Ermessen überlassen wurde, ob sie das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus
Gewissensgründen anerkennen. Darüber hinaus darf keine Bestimmung der Konvention
dahingehend ausgelegt werden, dass ein Widerspruch zwischen den einzelnen Vorschriften
entsteht oder eine der Bestimmungen überflüssig wird. Demzufoge wurde das Recht auf
Wehrdienstverweigerung in der EMRK nicht aufgenommen. Diese enge grammatische
Interpretation der einschlägigen Vorschriften der EMRK ist allerdings in der Lehre mit der
Annahme der dynamischen Konventionsauslegung und mit dem Verweis auf Standards der
modernen demokratischen Staaten auf vehemente Kritik gestoßen.654
Der Bejahung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen in anderen Lebensbereichen
steht der durch die Konventionsorgane angenommene Ansatz der Eingrenzung des
Schutzbereichs der Gewissens- und Religionsfreiheit durch die Art der kollidierenden
Rechtspflichten entgegen. Danach kann sich der Einzelne auf Art. 9 EMRK nicht berufen, um
von Befolgung der allgemeinen und für Alle geltenden Pflichten loszukommen. Mit anderen
Worten niemand darf die Erfüllung der allgemeinen gesetzlichen Pflichten verweigern,
welche keine religiösen und weltanschaulichen Implikationen aufweisen. Diese
652
Buscarini and others v. San Marino, App. 24645/94. 653
Z. B. App. No 10640/83, A v. die Schweiz DR 38, S. 219; App. No 20972/92, Raninen v. Finnland DR 84-A,
S. 17, 30; App No 7705/76 X v. Deutschland DR 9, S. 196, 199; Z. B X v. Federal Republic of Germany, App.
7705 / 77, DR. 9, 196; A. v. Switzerland, DR 38,. 219; J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio
militar, Madrid 1993, S. 76; K. Warchałowski, Prawo do wolności myśli sumienia i religii w Europejskiej
Konwencji Praw Człowieka i Podstawowych Wolności, Lublin 2004, S.90. 654
R. Ergec, Les dimensions europennes de l‟objection de conscience, in: European Consortium for Church-
State Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 12; F. G. Jacobs, R. C. White, The
European Convention on Human Rights, Oxford 1996, S. 217; M. Shaw, Freedom of thought, conscience and
religion, in: R. Von Macdonald, F. Matscher, H. Petzold, The European System for the Protection of Human
Rights, Boston, London 1993, S. 457; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española,
Madrid 1993, S. 159f.
160
Argumentation betrifft vor allem die Verweigerung der Steuerzahlung für militärische
Zwecke.655
Die Gewährleistung der Ausübungsfreiheit des Gewissens wird dagegen in der Lehre
angenommen, indem die Begriffe „belief“ und „practice“ weit interpretiert werden. Der
Begriff „freedom of conscience“ bezieht sich zwar auf das forum internum der geschützten
Freiheit, der Begriff „to manifest a religion or belief“ weist aber darauf hin, dass das Recht
auf Ausübung der Gewissensentscheidungen durch völkerrechtliche
Menschenrechtsabkommen geschützt wird, vorausgesetzt dass der Begriff „belief“
dahingehend zu verstehen ist, dass er auch eine gewissensmäßige Überzeugung -
„conscientious belief“656
mitumfasst. Die Auslegung des Art. 9 EMRK ist dadurch erschwert,
dass die Entstehungsgeschichte der EMRK keinen hinreichenden Aufschluss über den Inhalt
der Gewissens- und Religionsfreiheit gibt.657
Auch die Rechtsprechungsorgane der EMRK
haben keine deutliche Abgrenzung zwischen Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
vorgenommen.658
Es steht allerdings fest, dass der Begriff „belief“ vor allem die
nichtreligiösen Überzeugungen umfasst, welche im Leben des Einzelnen die vergleichbare
Position wie die formalen Religionen einnehmen.659
Er umfasst somit nicht nur religiöse,
sondern auch philosophische, politische und moralische Überzeugungen.660
Für die weite
Auslegung des Begriffs „belief“ spricht die Tatsache, dass sich die Verfasser von EMRK
davon enthalten haben, die Begriffe „religion“ und „belief“ zu definieren, um dadurch eine
beschränkte und subjektive Deutung zu vermeiden sowie die künftige Fortentwicklung der
Religions- und Gewissensfreiheit dem gesellschaftlichen Wandeln entsprechend zu
ermöglichen.661
Der Aufnahme der Gewissensentscheidungen in den Begriff „belief“ ist beizupflichten. Zum
einen ist der Begriff hinreichend aufnahmefähig, um unbekannte und nichtkonventionelle
sowie strikt individualistische Überzeugungen umzufassen. Zum anderen werden nur
655
Z.B. App. 10358/83, DR 37, 142. Ähnlich argumentiert die Kommission im Fall der Verweigerung, für die
Altersversorgung aus anthroposophischen Gründen Beiträge zu zahlen; App. 1497/62, YB 5 (1962), S. 286. 656
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 64. 657
C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 40,
50. 658
M. Evans, Religious liberty and international law in Europe, Cambridge 1997, S. 208. 659
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 131. 660
J. F. Renucci, Art. 9 of the European Convention on Human Rights. Freedom of Thought, Conscience and
Religion, Strasbourg 2005, S. 12. 661
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 34.
161
diejenigen Überzeugungen geschützt, welche bestimmte Tiefe und Ernsthaftigkeit aufweisen.
Gerade die letzte Voraussetzung entspricht dem Charakter der Gewissensentscheidung; die
Anschauungen, welche diese Schwelle nicht überschreiten, werden dagegen aus dem
Schutzbereich des Art. 9 EMRK ausgeschlossen.
Fraglich ist allerding der Umfang der Ausübung einer Gewissensentscheidung durch
„practice“. Der Wortlaut des Art. 9 EMRK bezüglich der Ausübung der Religion und
Weltanschauung durch „practice“ ist nicht klar. In der deutschen Fassung heißt hier: „durch
Ausübung... auszuüben.“ Diese Übersetzung der Originaltexte („to manifest his religion or
belief... in practice“, bzw. „...la liberté de manifester sa religion au sa conviction... par les
practiques“ ) ist tautologisch. Auch schweizerische und österreichische Übersetzung gibt den
vollen Inhalt dieser Bestimmung nicht wieder. Dort wird das Wort „practice“ durch
„Andacht“ wiedergegeben. Diese Übersetzung ist allerdings zu eng, weil die Andachten schon
durch den Begriff „Gottesdienst“ erfasst sind. In den polnischen Übersetzungen wird das
Wort „freedom of religion“ mit dem Begriff „Bekenntnisfreiheit“ wiedergegegen, was die in
der polnischen Tradition eingebürgte weite Interpretation dieses Begriffs nahelegt. Dies wird
mit der Übersetzung der Ausübungsform „practice“ mit „Praktizieren“ bestätigt.
In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, ob der Begriff „practice“ nur die
traditionellen, vor allem kultischen, religiösen Tätigkeiten umfasst, oder ob er auch auf die
Umsetzung religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen in die Tat, darunter auch auf die
Lebensführung nach Maßgaben des individuellen Gewissens ausgedehnt werden kann. Wenn
diesem Begriff überhaupt ein eigener Schutzbereich zukommen soll, ist der zweiten
Alternative beizupflichten. Der Begriff „practice“ ist somit eine Art Sammelbegriff, der
diejenigen Ausübungsformen erfasst, die zwar nicht ausdrücklich in den Wortlaut von Art. 9
EMRK aufgenommen werden konnten, die aber nach dem Schutzzweck der garantierten
Rechte in den Schutzbereich des Art. 9 EMRK einbezogen sein sollen, also das
Sichtbarmachen der religiösen, weltanschaulichen und ethischen Überzeugungen im täglichen
Leben und ihre Betätigung.662
Es kann somit angenommen werden, dass auch
Gewissensausübungsfreiheit durch den Begriff „practice“ in den Konventionstext Eingang
gefunden hat.663
662
A. Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der
Kirchen, Köln, Berlin, Bonn, München 1997, S. 19f. 663
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 121.
162
Dieser Gedanke ist ebenfalls in der polnischen Lehre im Bezug auf die Auslegung des in Art.
53 Abs. 2 Verf. befindlichen Begriffs „Praktizieren“ einer Religion zu verzeichnen. Danach
wird der Begriff „eine Religion praktizieren“ nicht nur auf die mit der üblichen
Äußerungsformen einer Religion (etwa Fasten oder Tragen religiöser Kleidung) beschränkt,
sondern auf das Handeln gemäß den Glaubenssätzen erstreckt.664
Pietrzak formuliert die
These, dass sich aus der Glaubensfreiheit neben kultischen Handlungen auch das Recht des
Einzelnen ergibt, sein gesamtes Verhalten auf die Lehren seines Glaubens auszurichten und
seiner inneren Glaubensüberzeugungen gemäß zu handeln, sowie die Freiheit von dem
Zwang, unvereinbar mit dem eigenen Glauben zu handeln. Der Schutzbereich der
Glaubensfreiheit soll somit die gesamte religiös oder weltanschaulich motivierte
Lebensführung umfassen.665
Die weite Auslegung des Begriffs „Praktizieren“ wird allerdings
nicht einheitlich bejaht; gelegentlich wird er nämlich eng aufgefasst und auf übliche mit
Religionsausübung verbundene Tätigkeiten (Pilgerfahrten, Prozessionen, Fasten etc.)
begrenzt.666
Bei der extensiver Interpretation des Begriffs „practice“ besteht die Gefahr, dass der
Schutzbereich der Gewissensfreiheit konturenlos wird. Deshalb wird die Meinung vertreten,
dass das Vorliegen einer religiösen oder weltanschaulichen Ausübung nur bei einem
Verhalten angenommen werden kann, das in einem offensichtlichen Bezug zu einer religiösen
Überzeugung steht.667
Es ist selbstredend nicht relevant, welcher Verhaltenstyp als eine
Manifestierung der Gewissensfreiheit einzustufen ist, um allerdings den
ausfüllungsbedürftigen Begriff „practice“ nicht missbräuchlich zu interpretieren, sollen
lediglich diejenigen Verhaltensweisen durch seinen Schutzbereich geschützt werden, die eine
enge Verbindung mit dem Glauben oder der Weltanschauung des Einzelnen aufweist.668
Um
als eine Ausübungsform der Glaubensfreiheit anerkannt zu werden, muss die betroffene
Handlung ein unmittelbarer Ausdruck des Glaubens oder Weltanschauung sein. Ein Verhalten
muss also für einen außerstehenden Dritten als Ausübung einer Religion oder
Weltanschauung erkennbar sein.669
664
A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 65. 665
M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w RP (regulacje prawne i praktyka), in: B. Oliwa-Radziłkowska,
Obywatel – Jego wolności i prawa, Warszawa 1998, S. 157. 666
H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Sandomierz 2003, S. 191. 667
O. Kimminich, Religionsfreiheit als Menschenrecht, Mainz 1990, S. 103. 668
R. Ergec, Les dimensions europennes de l‟objection de conscience, in: European Consortium for Church-
State Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 8. 669
K. Raid, A practitioner‟s guide to the European Convention of Human Rights, London 1998, S. 345.
163
Dieser Ansatz hat auch Anhänger in dem polnischen Schrifttum gewonnen: Gemäß Garlicki
beziehen sich die Praktiken auf ein „im Rahmen einer konfessionellen Gruppe gewöhnlich
unternommenes Verhalten, durch welches religiöse Überzeugungen der Gruppe zum
Ausdruck kommen, und welches manchmal auch ein Element der nationalen Tradition
darstellt.“670
Ihm haben auch Konventionsrechtsprechungsorgane gefolgt. Bahnbrechend war
dabei die Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte im Fall
Arrowsmith v. the UK. In dieser Entscheidung hat die Kommission eine Formel
angenommen, welche in der nachfolgenden Rechtsprechung mehrmals wiederholt wurde und
gilt als eine der interpretatorischen Hauptfeststellungen betreffs des Art. 9 EMRK: „Art. 9
schützt hauptsächlich die innere Sphäre des persönlichen Glaubens und religiösen Kredos,
also den Bereich, der manchmal forum internum genannt wird. Zusätzlich schützt er
Handlungen, die eng mit diesen Haltungen verbunden sind, wie der Kultus oder die Andacht,
welche Aspekte der Praktizierung einer Religion oder eines Glaubens in einer allgemein
anerkannten Form sind.“671
Mit dieser Einengung der Ausübungsfreiheit sucht die
Kommission der Gefahr vorzubeugen, dass sich die Glaubensfreiheit zum Recht auf
allgemeine Handlungsfreiheit aus religiösen Motiven entstellt.672
Die zitierte Behauptung der Kommission hat auch weitreichende Konsequenzen für die
Auslegung der Reichweite der Gewissensfreiheit: „Der Halbsatz: ‚Handlungen, die mit diesen
Haltungen eng verbunden sind...‟ bezieht sich wahrscheinlich auf den letzten Halbsatz des
Art. 9 Abs. 1 EMRK d.h. auf die Freiheit der Ausübung einer Religion oder einer
Weltanschauung, während der Halbsatz: ‚die Sphäre der Weltanschauungen und religiöser
Glauben d.h. der Bereich, der manchmal forum internum genannt wird‟ den ersten Teil des
Abs. 1 dieser Bestimmung, also die Gedanken,- Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die
Freiheit, eine Religion oder einen Glauben zu wechseln, zusammenfasst. Dies bedeutet, dass
nach der Ansicht der Kommission (...) nur interne Freiheit des Gewissens garantiert wird.“673
670
L. Garlicki, Konwencja o Ochronie Praw Człowieka i Podstawowych Wolności, Tom I. Komentarz do
artykułów 1 -18., Warszawa 2010, S. Art. 9. Rn. 30, S. 569. 671
Arrowsmith v. the UK, App. 7050/75, 19 DR 5. 672
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 69. 673
B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State
Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 263; derselbe, Freedom of religion in
western Europe, in: M. Jonneke, M. Naber, Freedom of religion: a precious human right, Assen 2000, S. 20f.
164
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Hervorhebung der inneren Sphäre des Glaubens
weder dem Selbstverständnis der Religionen entspricht, noch den Erfahrungen derjenigen
gerecht wird, die sich wegen einer Gewissensentscheidung zu einem bestimmten Verhalten
verpflichtet fühlen. Die Gegenüberstellung der inneren und äußeren Sphäre der Gewissens-
und Religionsfreiheit ist lebensfremd, wenn auch der Wortlaut des Art. 9 EMRK derartige
Unterscheidung nahelegt: Es fällt nämlich schwer, die beiden Sphären des Schutzbereiches
von Gewissens- und Religionsfreiheit abzugrenzen und es bleibt nicht geklärt, inwieweit das
forum internum tangiert werden kann, wenn eine Ausübung der Gewissens- und
Religionsfreiheit beschränkt wird. Der Zwang zum Verhalten, dessen Vornahme das
Individuum als Verstoß gegen seine Gewissensgrundsätze ansieht, kann mit dem Zwang zur
Preisgabe der Gewissensposition gleichgesetzt werden.674
Weiterhin diente die Arrowsmith-Entscheidung zur Ausarbeitung des sog.
Notwendigkeitstestes (necessity test).675
Danach werden die Beschwerdeführer gefordert,
darzulegen, dass eine Handlung einen notwendigen oder unerlässlichen Bestandteil der
Ausübung ihrer Religion oder Weltanschauung darstellt.676
Die Handlungen, die gemäß
Grundsätzen einer Religion nur erlaubt oder „fakultativ“ sind, fallen unter dem Schutzbereich
des Art. 9 EMRK nicht. Die Anwendung des Notwendigkeitstests kann jedoch zur
Benachteiligung der Träger individualistischer Glauben und Weltanschauungen führen. Den
Einzelgängern könnte nämlich schwerer als den Mitgliedern der traditionellen oder gekannten
Glaubensrichtungen zu beweisen sein, dass ein bestimmtes Verhalten durch ihren Glauben
oder ihre moralische Überzeugung als pflichtig geboten wird. Dasselbe betrifft auch
Religionen ohne hierarchische Strukturen oder religiöse und philosophische Strömungen, die
auf Entwicklung der persönlichen Systeme und nicht auf Festhalten an bestimmten
Wahrheitsinhalten den Schwerpunkt legen. Der Notwendigkeitstest kann auch diejenigen
benachteiligen, die zwar einer religiösen Gruppierung angehören, stehen aber bezüglich
bestimmter Glaubensinhalte in Opposition zu der Hauptströmung. Gerade eine solche
Fallkonstellation scheint heutzutage häufig vorzukommen.677
674
C. Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 76f. 675
Begriff entnommen dem Werk: C. Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human
Rights, New York 2001, S. 115. 676
Z.B. X v. U.K., App. 5442/72, DR 1, 41, (1974), 42. 677
B. P. Vermeulen, Freedom of religion in Western Europe: Past and Present, in: M. Jonneke, M. Naber,
Freedom of religion: a precious human right, Assen 2000, S. 24.
165
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Verweigerer aus Gewissensgründen, für die
i.d.R. überdurchschnittliche, wenn nicht rigoristische, moralische Sensibilität und Haltungen
charakteristisch sind, durch Art. 9 EMRK nicht geschützt werden. Eine Alternative für den
Notwendigkeitstest, welche die Merkmale des Gewissensphänomens und spezifische
Zwangslage der Verweigerer aus Gewissensgründen im größeren Maß berücksichtigen würde,
könnte das Abstellen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Behauptungen
der Beschwerdeführer sein, es sei denn dass sie offenkundig unbegründet und unvernünftig
sind („obviously unfounded and unreasonable“).678
Die rechtsprechenden Organe der EMRK stellen noch ein zusätzliches Kriterium der
Eingrenzung des Schutzbereichs der Glaubensfreiheit auf. Danach werden nur diejenigen
Handlungen durch Art. 9 EMRK geschützt, „die Aspekte der Ausübung einer Religion oder
Weltanschauung in einer allgemein anerkannten Form sind.“679
Diese Auslegung des
Begriffes „practice“ wirkt sich auf das Konzept der Religion und Weltanschauung in der
Rechtsprechung der Konventionsorgane aus. „Dies bedeutet grundsätzlich, dass die
Bestimmungen des Art. 9 EMRK nur das schützen, was aus der herkömmlichen Perspektive
als Religion oder Weltanschauung gilt. Der Ausgangspunkt ist dabei das von dem
herrschenden Standpunkt zur Frage, was Religion oder Weltanschauung ist, heraus
interpretierte Erscheinungsbild einer Religionsäußerung.“680
Aus diesem Grund wird den
Konventionsorganen eine ungenügende Rücksichtnahme auf fremde religiöse Traditionen
vorgeworfen.681
Derartige Betrachtungsweise des Rechts auf Ausübung einer Religion oder
einer Weltanschauung kann Gefahr für wenig gekannte Minderheiten mit sich bringen, dass
ein Verhalten als Ausübung einer Religion oder Weltanschauung nur unter Voraussetzung
angesehen werden kann, dass es gewisse Ähnlichkeiten zu den gekannten Verhaltensmustern
der gekannten geistigen Bewegungen aufweist.682
Da Art. 9 EMRK nur wenigen Aufschluss hinsichtlich des objektiven Schutzbereichs der
Gewissensfreiheit gibt, besteht die Gefahr, dass der Europäische Gerichtshof für
678
Valsamis v. Greece, App. 21787/93, Ser. A 2312, 1996 – VI, para. 18. 679
Z.B. App. 10358/83, C v. The U. K., DR. 37 (1985). 680
B. P. Vermeulen, Freedom of religion in western Europe: past and present, in: M. Jonneke, M. Naber,
Freedom of religion: a precious human right, Assen 2000, S. 23. 681
C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 125. 682
P. van Dijk, G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, Boston
1990, S. 550.
166
Menschenrechte bei der Entscheidungsfindung in den kontroversen Fragen der
Gewissensfreiheit durch traditionelle Vorstellungen über die Konzepte der Religion und der
Weltanschauung dahingehend determiniert werden kann, dass er nicht bereit sein wird, den
individuellen Glaubens- und Gewissenspositionen den gebührenden Rechtsschutz
einzuräumen.683
Darüber hinaus kann die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs (trotz der Reform
des Protokolls 11.) dazu führen, dass viele der Beschwerden auf der Ebene der
Zulässigkeitsprüfung zurückgewiesen werden müssen, ohne mit der nötigen Gründlichkeit
erörtert zu werden. Dies geschieht häufig durch die wörtliche Wiederholung der
Argumentation der früheren Entscheidungen, ohne gebührende Überprüfung der subtilen
Unterschiede in den Sachverhalten oder der Stichhaltigkeit der wiederholten Argumente
sowohl in Bezug auf die früheren Entscheidungen als auch hinsichtlich der zu entscheidenden
Beschwerden. Diese Tendenz kann sich besonders kontraproduktiv für die Entwicklung der
Auslegung der Gewissensfreiheit erweisen.684
Zum Schluss ergibt sich, dass wenn davon ausgegangen wird, dass die Gewissensfreiheit
insofern über die Ausübung der Religion und der Weltanschauung hinausgeht, dass mit
diesem Recht auch persönliche Gewissensentscheidungen geschützt werden, die nicht durch
einen religiösen Glauben oder eine weltanschauliches Überzeugung motiviert sind,685
muss
angenommen werden, dass dieses Recht nach Interpretation der Konventionsorgane durch
EMRK nicht garantiert wird.
Die Reichweite des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit ist dagegen ein streitiges Thema im
Schrifttum. Bereits aus dem Aufbau des Art. 9 EMRK werden auseinandergehende Schlüsse
zum Schutzbereich der Gewissensfreiheit gezogen:
Nach einer Ansicht findet die Einengung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit zum forum
internum im Wortlaut des Art. 9 EMRK eine Stütze. Der erste Teil des Art. 9 EMRK
beinhaltet „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, ohne Weltanschauungsfreiheit
(„belief“) zu erwähnen. Hingegen regelt der zweite Teil des Art. 9 EMRK die Religions- und
683
C. Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 18. 684
Ebenda, S. 16. 685
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 159.
167
Weltanschauungsausübungsfreiheit, ohne auf Gedanken- und Gewissensfreiheit Bezug zu
nehmen. Darüber hinaus wird Gedanken- und Gewissensfreiheit in der Einschränkungsklausel
des Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht erwähnt; die Möglichkeit der Grundrechtseinschränkungen
wird nur im Hinblick auf Weltanschauung- und Religionsausübungsfreiheit vorgesehen.
Daraus wird gefolgert, dass wenn die Gewissensfreiheit das Recht enthielte, nach den
Diktaten des Gewissens handeln zu können, würde diese Freiheit in diesem Sinne
unbeschränkt sein, dass jede gesetzliche Bestimmung zum Gegenstand der Verweigerung aus
Gewissensgründen werden könnte. Unbeschränkte Gewissensfreiheit in forum externum
würde die Abschaffung der Rechtsordnung als System der allgemeinbindenden
Verhaltensregeln zur Folge haben, deswegen ist sie unvorstellbar.686
Nach der gegenteiligen Auffassung weist die allgemeine praktische Ausrichtung des Art. 9
EMRK darauf hin, dass er die Verweigerung aus Gewissensgründen umfasst.687
Insbesondere
der Wortlaut des Halbabsatzes 2 („this right includes...“) macht deutlich, dass durch
Halbabsatz 2 nur ein Teilaspekt der durch den Halbabsatz 1 garantierten Rechte
herausgegriffen und präzisiert wurde. Der Halbabsatz 1 gewährt bereits die einzelnen Rechte
vollständig, d.h. einschließlich des Rechts auf ihre Betätigung und Ausübung.688
Dagegen
garantiert der Halbabsatz 2 das Recht, die sämtlichen durch den Halbabsatz 1 garantierten
Rechte in der Außensphäre zu betätigen;689
die Aufzählung der einzelnen Ausübungsformen
stellt lediglich eine Konkretisierung der Religions- und Gewissensfreiheit dar und es ist ihr
lediglich deklaratorische Bedeutung beizumessen.690
Weiterhin wird vertreten, dass die Kommission implizit davon ausgegangen ist, dass die
Gewissensbetätigungsfreiheit durch Art. 9 EMRK umfasst wird.691
Dabei wird auf die
686
B. P. Vermeulen, Freedom of religion in western Europe, in: M. Jonneke, M. Naber, Freedom of religion: a
precious human right, Assen 2000, S. 20; C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on
Human Rights, New York 2001, S. 52; M. Evans, Religious Liberty and International Law in Europe,
Cambridge 1997, S. 284f; P. van Dijk , G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on
Human Rights, Boston 1990, S. 542ff. 687
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 55. 688
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 158. 689
J. Frowein, W. Peukert, EMRK – Die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK –Kommentar, Art. 9,
Kehl – Strassburg – Arlington 1996, Rn. 5, 10. 690
J. P. Naujok, Gewissensfreiheit und Steuerrecht, Berlin 2003, S. 45; N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens-
und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 158ff. 691
H. Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, Art. 9, Frankfurt am Main 1968, S.
132, Rn. 4.
168
Entscheidungen hingewiesen, in denen die Beschwerden mit Berufung auf die Schranken des
Art. 9 EMRK und nicht mit der Begründung, dass sich die Gewissensfreiheit außer dem
Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 EMRK befindet, zurückgewiesen wurden.692
Die erwähnten
Beschwerden betraffen gerade die Verweigerung, den gesetzlichen Pflichten nachzukommen.
Der Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit durch EMRK und andere
völkerrechtliche Menschenrechtsabkommen ergibt sich auch aus der Abgrenzung ihres
Schutzbereichs und Funktion vom Schutzbereich und Funktion der Gedankenfreiheit.
Während die durch Gedankenfreiheit geschützten Denkvorgänge der inneren Sphäre der
menschlichen Aktivität gehören, drängt das Gewissen den Einzelnen zur Vornahme einer
bestimmten Handlung, durch welche die internalisierten Verhaltensnormen zur Anwendung
kommen.693
Die Gedanken können zwar das Individuum zur Handlung bewegen, dies ist
jedoch nicht zwangsläufig der Fall. Die Gedankenfreiheit stellt folglich vor allem das forum
internum der Meinungsfreiheit dar und ist mit forum internum der Gewissensfreiheit nicht
gleichzusetzen, obwohl die Gewissensfreiheit das Recht auf freie Gestaltung der Gedanken
voraussetzt.694
Das entscheidende Argument gegen eine enge Auslegung liegt somit im
Begriff des Gewissens selbst. Wenn die Gewissensfreiheit auf das forum internum beschränkt
wird, fällt sie mit der Gedankenfreiheit zusammen. Konsequenterweise würde dem
Tatbestandsmerkmal „Gewissen“ seine eigene Bedeutung genommen.695
Die Einengung des
Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf das forum internum im völkerrechtlichen
Menschenrechtsabkommen liefe auf Reduzierung dieses Rechts auf einen Spezialfall der
Gedankenfreiheit hinaus.
Mit der Bejahung des Schutzes des forum externum der Gewissensfreiheit erhebt sich die
Frage, wie weit dieser Schutz greift, Es bestehen zwei Auffassungen zum Umfang der
Ausübungsfreiheit einer Gewissensentscheidung, welche an das Verhältnis des durch das
Gewissen des Einzelnen geforderten Verhaltens mit seinem Glauben oder Weltanschauung
ansetzen.
692
Z.B. App. 6753/74, DR 2, 118; App.6084/73, DR 3, 62; App. 2988/66, Yb 10, S. 472, 476. 693
B. Kaufmann, Das Problem des Glaubens- und Überzeugungsfreiheit im Völkerrecht, Zürich 1989, S. 14. 694
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 104, 124ff. 695
Ch. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote, T. Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar,
Tübingen 2006, S. 829.
169
Nach einer engen Interpretation soll nur diejenige Handlung durch Gewissensfreiheit
geschützt werden, welche eine „wirkliche Ausübung“696
(„actual practice“) einer
Gewissensentscheidung darstellt; die bestimmte Handlung muss durch das Gewissen direkt
geboten oder verboten werden. Eine Ausübungsform muss von einem allumfassenden
religiösen oder weltanschaulichen System, welches den Normenstandard für das Gewissen
bildet, ableitbar sein und von ihm vorbestimmt werden. Darüber hinaus muss eine Handlung,
um als Ausübungsform der Gewissensfreiheit anerkannt werden zu können, Ausdruck der
kohärenten Ansichten zu den weltanschaulichen Grundfragen sein.697
Wegen der sozialen
Dimension einer Weltanschauung oder Religion sind diejenigen Handlungen aus dem
Schutzbereich der Gewissensfreiheit ausgeschlossen, die keine Ausübungsform einer
identifizierbaren Weltanschauung oder Religion, sondern lediglich Ausdruck eines strikt
individualistischen Wertesystems darstellen.698
Z.B die individualistische, persönliche
Gewissensentscheidung, die bedrohten Tierarten zu schützen, erfüllt dieses Kriterium nicht.
Es sind hier keine vorbestimmten Ausübungsformen ersichtlich, welche aus einem
allgemeineren, allumfassenden Glaubenssystem hervorgehen; es ist nämlich nicht möglich,
die ökologische Position als eine allumfassende und kohärente Weltanschauung einzustufen.
Die dargestellte Auffassung trägt der Tatsache Rechnung, dass Religion den Prototyp für die
Weltanschauung („belief“) bildet. Die Religionen charakterisieren sich u.a. mit
identifizierbaren Lehren, aus denen direkte Gebote und Verbote bestimmter Handlungen
abgeleitet werden können. Z.B. aus einem religiösen Glauben geht das Verbot hervor, bei der
Abtreibung als Arzt oder Krankenschwester teilzunehmen. Allerdings ist zweifelhaft, dass aus
derjenigen religiösen Lehre, das Gebot, weitere Maßnahmen gegen die Abtreibung zu
ergreifen (etwa die Unterlassung, Beiträge zu zahlen, aus denen Schwangerschaftsabbrüche
finanziert werden699
), herausinterpretiert werden kann. Die nichtreligiöse Überzeugung muss
somit eine vergleichbare Rolle zur Religion im Leben des Einzelnen einnehmen; die Relevanz
konkreter Ge- und Verbote im Leben des Anhängers einer Weltanschauung muss dem
Gewicht der religiösen Grundsätze im Leben des Gläubigen entsprechen. Diese Forderung
wird z.B. von Pazifismus als allgemeines Glaubenssystem erfüllt, von dem ein vorbestimmtes
696
Ch. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote, T. Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar,
Tübingen 2006, S. 133 ff. 697
So definieren die Konventionsorgane eine Weltanschauung; siehe z.B: App. 8741/79 X v. Germany 24DR
137 (1981); App.7050/75 Arrowsmith v. UK 3 EHRR 218 (1978); App. 8317/78 McFeely v. UK EHRR 161
(1981). 698
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,
S. 14. 699
App.20747/92 Boussel v. France 16EHRR CD 49 (1993).
170
Verbot der Waffenanwendung eindeutig hervorgeht. Im Gegenteil kann die
Ersatzdienstverweigerung als eine vom Pazifismus zwingend geforderte Handlungsdirektive
nicht bewertet werden. Viele Befürworter der pazifistischen Lehren sehen nämlich keinen
Konflikt zwischen der Leistung des nichtmilitärischen Ersatzdienstes und den Grundsätzen
dieser Weltanschauung. Aus dem engeren Auslegungsansatz des Schutzbereichs von
Gewissensausübungsfreiheit ergibt sich jedoch eine Möglichkeit der Befreiung vom
Ersatzdienst, wenn diese Weigerung eine durch das bestimmte Glaubenssystem gebotene
Ausübungsform einzustufen ist, die ein Ausfluss des generellen Verbotes der Assoziierung
mit allen in irgendeiner Weise mit dem Militär verbundenen Tätigkeitstypen bildet. Die
Anwendung des engen Auslegungsansatzes in der Rechtsprechung führt zur Differenzierung
zwischen religiösen Ersatzdienstverweigerern und denjenigen, welche die Verweigerung von
individuellen, weltanschaulichen und ethischen Standards herleiten.700
Nach dem weiteren Ansatz der Gewissensausübungsfreiheit würden auch Handlungen
geschützt, die nicht eine „wirkliche Ausübung“ der Gewissensentscheidung bilden und von
einem allumfassenden Glaubenssystem nicht unmittelbar geboten werden, sondern von dem
Glauben oder Weltanschauung nur motiviert sind. Z. B. ein Pazifist hätte Anspruch auf
Arbeitslosengeld trotz der Verweigerung aus Gewissensgründen, eine Anstellung in einem
Rüstungssektor anzunehmen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Motivation als geschützte
Ausübungsform bewertet werden kann. Es ist vielmehr notwendig, an den jeweiligen Glauben
anzusetzen, um zu bestimmen, welche Bedeutung die betroffene Handlung für die
Aufrechterhaltung des Glaubens hat und welche Motive die wirkliche Antriebskraft der
Handlung bildet.701
Wenn der Schutz der Gewissensbetätigungsfreiheit durch Art. 9 EMRK bejaht wird, stellt sich
unweigerlich die Problematik ihrer Schranken. Der Schrankenvorbehalt des Art. 9 Abs. 2
EMRK bezieht sich nach seinem Wortlaut nur auf die Ausübung der Religion und
Weltanschauung. Dies legt den Schluss nahe, dass die Gewissensfreiheit nach EMRK als ein
schrankenloses Grundrecht gewährleistet wird.702
Da aber die Gewissensfreiheit die
unbegrenzte Geltung nicht beanspruchen kann, wird die „entsprechende“, „ergänzende oder
berichtigende“ Anwendung der Einschränkungsklausel des Art. 9 Abs. 2 EMRK
700
App. 10410/83 N v. Sweden 40DR 203 (1984); App.402/90 Brinkhof v. Netherlands (1993). 701
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 134, 178. 702
H. Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, Art. 9, Frankfurt am Main 1968, S.
132, Rn. 6.
171
vorgeschlagen.703
Mag der Wortlaut diesem Ansatz entgegenstehen, verhindert gerade die
sprachliche Fassung der Schrankenklausel die „dogmatisch saubere“ Lösung der
Schrankenproblematik. Die entsprechende Anwendung der Schrankenklausel des Art. 9 Abs.
2 EMRK auf die Gewissensfreiheit wird zum einen mit der Struktur der Art. 8 – 11 EMRK
gerechtfertigt, wonach die Schranken der Absätze 2 auf alle in den Absätzen 1 garantierten
Rechte bezogen werden. Zum anderen spricht für diese Lösung die Tatsache, dass in der Zeit
der Arbeiten an der Konvention die eigenständige Zielrichtung und Funktion der
Gewissensfreiheit nicht erkannt waren.704
Darüber hinaus ist auf Arrowsmth Fall
hinzuweisen, wo die Menschenrechtekommission die Einschränkungsklausel des Abs. 2 auf
die Gewissensfreiheit ausdrücklich ausgedehnt hat: „Die Kommission ist der Ansicht, dass
sich die Einschränkung der in Art. 9 Abs. 1 garantierten Gedanken- und Gewissensfreiheit des
Beschwerdeführers aus derselben Gründen begründen lässt, die oben in Bezug auf Art. 10
angegeben worden sind. Hinsichtlich des Art. 9 ist dies wegen der Interessen der öffentlichen
Sicherheit, für den Schutz der Ordnung und der Rechte Anderer gerechtfertigt.“705
Die entsprechende Anwendung der Schranken des Art. 9 Abs. 2 EMRK könnte zwar mit dem
Wortlaut des Art. 9 EMRK dahingehend vereinbart werden, dass der Begriff „belief“ so weit
interpretiert wird, dass er die Gewissensposition umfasst. Gegen diese Lösung spricht aber,
dass eine Differenzierung zwischen der Weltanschauung und der Gewissensentscheidung
nicht mehr möglich wäre. Religions- und Weltanschauungsfreiheit einerseits und
Gewissensfreiheit andererseits wären wieder in einem einheitlichen Recht zusammengefasst,
was angesichts der Verselbständigung der letzteren einen Rückschritt darstellen würde.706
Zum Schluss ergibt sich, dass die Einbeziehung des Verfassungsgrundsatzes der Befolgung
des die Republik Polen bindenden Völkerrechts bei der weiten Auslegung der
Gewissensfreiheit nicht weiterhilft. Während in der Rechtsprechung der Konventionsorgane
das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen nur in einem sehr engen Abschnitt
anerkannt wurde, gehen die Meinungen im Schriftttum zum Schutz des forum externum der
Gewissensfreiheit auseinander. Es lassen sich aber gewichtige Gründe finden, die den weiten
Schutz dieses Grundrechts vornähmlich wegen der weiten Auslegung der Begriffe „belief“
703
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 161. 704
Ebenda, S. 161. 705
App. 6084/73, DR 3, 62. 706
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 161.
172
und „practice“ sowie durch entsprechende Anwendung der Schrankenklausel des Art. 9 Abs.
2 EMRK auf die Gewissensfreiheit annehmen lassen.
3.2.5. Die Gewissensfreiheit und Gleichheitssatz
Art. 83 Verf. bestimmt die Pflicht des jedermann, das Recht der Republik Polen zu beachten.
Es handelt sich dabei um eine „grundsätzliche und überkommene Bürgerpflicht“ 707
, die einen
allgemeinen Charakter hat und deren Umfang und Inhalt vom Umfang und Inhalt der durch
den Staat auferlegten Rechtspflichten bestimmt wird. Die Anerkennung des allgemeinen
Grundrechts der Gewissensfreiheit könnte mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht
vereinbar sein, weil es dem Einzelnen ermöglicht, sich einer rechtlichen Pflicht aus
Gewissensgründen zu entziehen und dadurch gegenüber anderen Mitbürgern eine bevorzugte
Rechtsposition zu erlangen.
Der Gleichheitssatz ist aber nur dann verletzt, wenn es keinen vernünftigen, sachlich
einleuchtenden Grund für die Ungleichbehandlung gibt. Nach einer Meinung stellt die
Gewissensentscheidung das genügende Kriterium dar, wonach die differenzierende
Behandlung der Verweigerer gerechtfertigt ist, „weil dem einen das Gewissen schlägt und ihn
vor einem Bösen des vorgeschriebenen Tuns warnt, dem andern aber nicht schlägt oder das
Tun als frei von Gewissensbedenken oder es sogar als Gewissenspflicht erscheinen lässt“.708
Die soziale Funktion der Gewissensfreiheit besteht somit darin, das Gleiche gleich, das
Ungleiche, nach seiner Eigenart entsprechend ungleich zu behandeln. Die bloße Qualität der
Verweigerung aus Gewissensgründen als Grundrecht stellt ohne Zweifel die hinreichende
objektive und rationale Rechtsfertigung der unterschiedlichen Behandlung der Verweigerer
dar. Die Auferlegung gleicher Pflichten den Menschen, deren Gewissen verschieden oder gar
entgegengesetzt reagiert, würde zwar eine formale Gleichheit herstellen, aus der materiellen
Sicht wäre sie aber gleichheitswidrig.709
Die Einräumung der Gewissensklausel kann somit
als Mittel der Entgegenwirkung der Diskriminierung angesehen werden.710
Darüber hinaus ist
die Aufbürdung den Verweigerern aus Gewissensgründen einer Ersatzpflicht aus der
Perspektive des Gleichheitssatzes nicht notwendig. Die Sonderregelung der Möglichkeit des
707
J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej oraz komentarz do Konstytucji R P z 1997 roku, Wrocław 1998, S. 147;
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 415, Rn. 2. 708
A. Arndt, Umwelt und Recht, in: NJW, 1966, S. 2206. 709
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 237. 710
J. Daniska, Wolność sumienia na Słowacji, in: Międzynarodowy Przegląd Polityczny, Nr. 1, 2006, S. 234.
173
Ersatzdienstes im Fall der Wehrdienstverweigerung lässt sich als allgemeiner
Ausgleichgedanke auf andere Fälle der Gewissensfreiheit nicht übertragen.711
Seine
Einführung dient nicht der Genugtuung den Erfordernissen der Gleichheit, sondern hat zum
Zweck, die Verweigerer vor sozialer Ächtung zu bewahren und damit die Gewissensfreiheit
zu schützen.712
Nach einer anderen Meinung ist der von einer Rechtspflicht befreite Gewissensträger
gegenüber anderen Mitbürgern bevorzugt. Die Entbindung von einer Rechtspflicht, auf die
das Grundrecht der Gewissensfreiheit unter Umständen einen Anspruch verleiht, wird vom
Gemeinwesen stets mindestens mit einer Durchbrechung des Grundsatzes der
staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit, dessen Legitimationsfunktion für den demokratischen
Rechtsstaat im Vergleich zu derjenigen der Gewissensfreiheit nicht geringer zu gewichten ist,
bezahlt.713
„Um eine ungleiche Belastung der Einzelnen zu vermeiden, die dem
Gleichheitssatz widersprechen würde, ist daher Einführung eines Belastungsausgleichs
zulässig und immer dann geboten, wenn es sich um typische Gewissenskonflikte handelt, bei
denen eine zu keinem Gewissenskonflikt führende Ersatzbelastung möglich ist.“714
Die
Schwere des Ausgleichs muss dabei der Schwere der verweigerten Rechtspflicht möglichst
genau entsprechen, damit für den Verweigerer per saldo weder Nachteile noch Vorteile
entstehen. Darüber hinaus eliminiert der Belastungsausgleich den Grundrechtsmissbrauch und
erleichtert die Feststellung, ob eine echte Gewissensentscheidung vorliegt.715
Angesichts dieser Meinungsverschiedenheit scheint der Mittelweg richtig zu sein. Es lässt
sich nicht leugnen, dass wer Rechtspflichten nur einem Gewissensgebot zuwider erfüllen
kann, ein ungleich größeres Opfer als derjenige bringen müsste, der nicht in einen
Gewissenskonflikt gestürzt wird. In diesem Fall wäre er wegen seines Gewissens
benachteiligt. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit stellt deshalb die Gleichheitslage
711
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, in: DuR, Nr. 11, 1983, S.
274. 712
A. Arndt, Umwelt und Recht, in: NJW, 1966, S. 2206. 713
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 500. 714
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 66; siehe auch: E. W. Böckenförde, Das
Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 61; B. P. Vermeulen, Conscientious objection in
Dutch law, in: European Consortium for Church – State Research, Conscientious objection in the EU countries,
Milano 1992, S. 269. 715
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 66; J. Martínez Torrón, Las objeciones de
conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y función
pública, Madrid 2007, S. 119; I. C. Ibán, L. P. Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 161;
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 237.
174
zwischen den Einzelnen und den Dritten wieder her. Diese Gleichheitslage würde allerdings
wieder gestört, wenn der Einzelne von einer Rechtspflicht völlig befreit würde, ohne dass
geprüft wird, ob es ihm möglich ist, diese Pflicht in anderer Weise zu erfüllen. In diesem
Zusammenhang erfüllt die Gewissensfreiheit die Aufgabe, die bestehende generelle Bindung
der Rechtsnorm von ihrem gewissenswidrigen Gegenstand der Verpflichtung auf
gewissenskonforme bzw. gewissensneutrale Gegenstände zu übertragen
(„Verlagerungsfunktion“716
der Gewissensfreiheit). Nur wenn feststeht, dass jede Form der
Pflichterfüllung gewissenswidrig ist, ist die Gleichgewichtslage erst dort erreicht, wo kein
Gewissenskonflikt mehr auftritt. In diesem Fall wird die Verlagerungsfunktion der
Gewissensfreiheit durch ihre „Entlastungsfunktion“717
ersetzt.
Dieser Rechtsgedanke liegt einer Entscheidung der EMRK718
zugrunde. Der BF, der sich als
Pazifist bezeichnete, verlangte die Befreiung sowohl vom Militärdienst als auch vom
waffenfreien Ersatzdienst. Nach dem einschlägigen schwedischen Recht war eine Befreiung
nur möglich, wenn der Betroffene einer Glaubensgemeinschaft angehörte, die von ihren
Mitgliedern eine totale Verweigerung, also die Verweigerung sowohl des Wehr- als auch des
Ersatzdienstes gebietet. In der Praxis wurde die Freistellung nur den Zeugen Jehovas
eingeräumt. Der BF sah sich wegen der Anknüpfung der Inansrpruchnahme des Rechts auf
Totalbefreiung an Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgruppe diskriminiert. Die
Kommission hat jedoch die Beschwerde mit dem Argument zurückgewiesen, dass die
Situation der Zeugen Jehovas mit anderen Pazifisten nicht vergleichbar ist. Im Hinblick auf
Art. 14 EMRK hat die Kommission geprüft, ob es eine objektive und vernünftige
Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung von Zeugen Jehovas vorliegt. Dabei hat
sie betont, dass in Fragen der Ausnahmen vom Wehr- und Ersatzdienst eine grundsätzliche
Gleichbehandlung der Bürger stattfinden soll. Die restriktive Behandlung von Befreiungen ist
somit verständlich. Während die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen
Jehovas ein starkes Indiz für die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung gegen die Wehr-
und Ersatzdienst verschafft, ist im Fall der Einzelpersonen, die keiner Regligionsgemeinschaft
angehören, ein so starker Anhaltspunkt, nicht ersichtlich. Deshalb wurde die Zugehörigkeit zu
einer Religionsgruppe als zulässiges und vernünftiges Kriterium für die Anerkennung der
Totalverweigerung gebilligt.
716
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 164. 717
Ebenda, S. 164. 718
X. V. Sweden, DR 40, 203.
175
Die Entscheidung ist allerdings auf Kritik gestoßen. Das pauschale Abstellen auf die
Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft wird kaum dem individuellen Charakter der
Gewissensentscheidung gerecht. Den Einzelnen, die keiner Religionsgruppe angehören, wird
keine Chance gegeben, die Ernsthaftigkeit ihrer Gewissensentscheidungen, auf die es letztlich
ankommt, unter Beweis zu stellen. Andererseits wird die pazifistische Anschauung durch die
Pflicht, Ersatzdienst zu leisten, nicht verletzt.719
Die Aufrechterhaltung des Ersatzdienstes im
Fall des Pazifisten kann als Beispiel auf die oben erwähnte Verlagerungsfunktion der
Gewissensfreiheit gelten, während die Befreiung des Mitglieds der Glaubensgemeinschaft
Zeugen Jehovas, deren Lehre die Verweigerungspflicht ebenfalls auf den Ersatzdienst
ausdehnt, ein Beispiel für deren Entlastungsfunktion darstellt. Die Erfüllung des
Ersatzdienstes von einem Pazifisten ist mit keiner Aufopferung seines Gewissens verbunden
und deshalb bietet keinen Anlass zur Annahme der Ungleichbehandlung. Die Entscheidung
der Kommission ist somit als gerechtfertigt anzusehen.
Aus dem Gleichheitssatz ergibt sich auch die Verpflichtung des Staates, dem sich auf sein
Gewissen berufenden Einzelnen Handlungsalternativen womöglich zu stellen.720
Der
Gleichheitssatz kommt aber auch zum Zuge bei der Bestimmung der Lästigkeit einer
eventuellen Alternativenpflicht, indem er fordert, dass das von einem gewissenswidrigen
Verhalten befreite Individuum in gleicher Weise für die Lasten des Gemeinwesens
herangezogen wird. Die Alternative bewegt sich zwischen der Gewissensfreiheit und dem
Gleichheitssatz. „Ist die Alternative ungleichgewichtig zugunsten des einzelnen, so wird die
Gleichheit verletzt; ist sie ungleichgewichtig zuungunsten des Individuums, so wird die
Gewissensfreiheit verletzt; denn hier würde erneut ein mittelbarer Zwang gesetzt, der in die
Konflikterwägungen des Einzelnen als entscheidender Faktor eingeht, den Konflikt
wesentlich verschärfen könnte, und letztlich die Übertretung des Gewissensgebots ratsam
oder die Hinnahme des staatlichen Begehrens als kleineres Übel erscheinen ließe.“721
Die
übermäßige Ansetzung der Handlungsalternative durch den Gesetzgeber kann somit darauf
ausgerichtet sein, den Einzelnen von seiner Gewissenshaltung abzubringen. Sie würde daher
einen unzulässigen Eingriff in das forum internum der Gewissensfreiheit darstellen. Das
entscheidende Argument in diesem Zusammenhang ist aber, dass die Gewissensfreiheit seinen
719
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 344f. 720
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 62. 721
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 165.
176
Status als Grundrecht und Grundfreiheit verliert, wenn der Einzelne einen Preis für ihre
Inanspruchnahme zahlen muss. „Grundrechte haben keinen Preis und dürfen auch keinem
haben.“722
Die Aufrechterhaltung des „Opfergedankens“ als Mittel der Glaubhaftmachung der
Ernsthaftigkeit des Gewissensträgers hätte zur Folge, dass zu einer eventuellen sozialen
Sanktion eine rechtliche Diskriminierung hinzukommen würde.723
Im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz muss noch auf die Frage eingegangen werden,
ob hinreichende Gründe bestehen, um bei der Anerkennung des grundrechtlichen Schutzes
der Gewissensfreiheit zwischen den Angehörigen der Glaubensgemeinschaften einerseits und
den Anhängern einer Weltanschauung sowie den nichtvereinten Individuen andererseits zu
differenzieren. Die Einräumung der größeren Schutzintensität den religiösen
Gewissensträgern wird gelegentlich in der Lehre bejaht. Navarro Valls argumentiert, dass
diese Tendenz in der Gesetzgebung und Rechtsprechung rechtsvergleichend zu verzeichnen
ist. Weiterhin weist er auf eine gewisse Renaissance der religiösen Bewegungen hin, was die
Staaten zum größeren Schutz der Religion veranlasst. Er fügt hinzu, dass der Schutz der
vereinzelten Gewissensträger im Verhältnis zum Schutz der etablierten Gruppen größere
Gefahr der Pulverisierung der Rechtsordnung mit sich bringt. Weiterhin kann das religiöse
Gewissen in einer dahinterstehenden Kollektivität eine Stütze und Glaubwürdigkeit finden. Es
soll auch berücksichtigt werden, dass sich die Gewissensfreiheit parallel zur Religionsfreiheit
entwickelt hat; das religiöse Gewissen stellt somit die hervorragendste Form der
Gewissensfreiheit dar. Seine Privilegierung entspricht gemäß dem zitierten Autor der
Billigkeit, wenn nicht der strikten Gerechtigkeit.724
Die Tendenz, den Verweigerern aus religiösen Gründen den weitergehenden Schutz im
Vergleich zu den Individuen zuzuerkennen, die ihre Gewissensentscheidungen aufgrund
nichtreligiöser Weltanschauungen bilden, ist auch für die polnische Rechtsprechung zur
Wehrdienstverweigerung charakteristisch. Was den Entscheidungsgegenstand angeht, ist
diese Rechtsprechung nach Einführung der Berufsarmee in Polen nicht mehr aktuell, sie kann
jedoch ihre Bedeutung im Hinblick auf die Differenzierung der Verweigerungsfälle aus
722
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von
Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,
Frankfurt am Main Bern, New York 1987, S. 22ff. 723
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 166. 724
R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del Estado español, Pamplona 1993,
S. 488ff.
177
religiösen und weltanschaulichen Gewissensgründen für die Lösung anderer
Verweigerungsfälle von Bedeutung sein. In der Rechtsprechung des Obersten
Verwaltungsgerichtshofs wurde auf das Kriterium der Angehörigkeit zu einer pazifistischen
Glaubensgemeinschaft abgestellt, was im Ergebnis zur deutlichen Benachteiligung der
Anhänger der Mehrheitskirchen und der Weltanschauungen führte. Der Oberste
Verwaltungsgerichtshof hat für die Anerkennung als Wehrdienstverweigerer gefordert, dass
das Bestehen faktischer Widersprüche zwischen individuellen Verhaltensgrundsätzen und der
Wehrpflicht nachgewiesen werden soll. Danach reicht nicht aus, sich auf generelle
Grundsätze des Vegetarianismus und Pazifismus zu berufen.725
Auch die Erklärung des
Antragstellers, dass er im Geiste des Friedens und des Respekts für den Menschen erzogen
wurde, wurde vom Obersten Verwaltungsgerichtshof als ungenügend angesehen, um einen
echten Gewissenskonflikt glaubhaft zu machen.726
Der Verweigerer aus weltanschaulichen
Gründen war somit trotz eindeutigem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften des
Wehrgesetzes, das sowohl auf religiöse als auch auf moralische Gewissensgründe abstellt,
benachteiligt.
Was den Gleichheitssatz angeht, argumentiert der Oberste Verwaltungsgerichtshof, dass seine
Achtung fordert, dieselben Rechtskriterien den Personen gegenüber anzuwenden, die sich in
einer analogen faktischen und rechtlichen Situation befinden. Allerdings befinden sich die
Anhänger verschiedener Kirchen in einer unterschiedlichen Situation hinsichtlich der
Erfüllung der sich aus Lehren der einschlägigen Religionsgemeinschaften ergebenden
Voraussetzungen der Befreiung vom Wehrdienst und diese unterschiedliche Stellung wurde
ihnen nicht vorgeschrieben, sondern stellt ein Resultat der Wahl (des Willensaktes) dar.
Während sich die Doktrin der römisch-katholischen Kirche dem Wehrdienst nicht widersetzt,
weist die Lehre der Glaubensrichtung Zeugen Jehovas eindeutige pazifistische und
antimilitärische Züge auf. Deshalb befinden sich die Mitglieder der beiden
Religionsgemeinschaften nicht in derselben Situation hinsichtlich der Anwendung von
Vorschriften der Art. 189-199 Wehrdienstgesetz.727
725
NSA SA/Kr 1931/94, 1994. 11. 08. 726
ONSA 1991/3 – 4/95. 727
NSA SA/Wr 998/92, 1992.11.17.
178
Diese Betrachtungsweise des Obersten Verwaltungsgerichtshofs trifft zwar als allgemeine
Bemerkung zu, das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft sollte aber
nicht zum Automatismus im Anerkennungsverfahren führen. Es ist vielmehr davon
auszugehen, dass das Phänomen des Gewissens individualistisch ist und ihre
„Kollektivisierug“ die Diskriminierung der nichtvereinten Einzelnen verursachen würde. Der
Gleichheitssatz würde verletzt, wenn im Einzelfall bei vergleichbarer Ernsthaftigkeit der
Gewissensentscheidung eines Verweigerers an den Ursprung seiner moralischen Position
angeknüpft würde. Die Verfassung geht von der prinzipiellen Gleichstellung der religiösen
und weltanschaulichen Überzeugungen aus, deswegen können die religiösen Verweigerer im
Vergleich zu den Verweigerern aus den weltanschaulichen Gründen nicht bevorzugt
werden.728
Die Zugehörigkeit zu einer Konfession kann nur ein Indiz (aber nicht eine
Voraussetzung) für Anerkennung oder Zurückweisung des Verweigerungsrechts aus
Gewissensgründen darstellen.729
4. Die rechtsvergleichende Auslegung der Gewissensfreiheit
4.1. Voraussetzungen der rechtsvergleichenden Auslegung
Die Vergleichung als wissenschaftliche Methode besteht in Aussonderung der identischen,
ähnlichen und unterschiedlichen Eigenschaften von mindestens zwei vergleichbaren
Gegenständen.730
Der Gegenstand der rechtsvergleichenden Analyse können daher nur
diejenigen Rechtsvorschriften bilden, welche zu einer gemeinsamen, homogenen und im
Hinblick auf den Zweck der Vergleichung relevanten Kategorie gehören.731
Der sich der
rechtsvergleichenden Auslegungsmethode bedienende Interpret zieht zwecks der Feststellung
der Sinndeutung einer Norm in einem Rechtssystem die Sinndeutung gleichrangiger
Vorschriften heran, welche zu einem anderen verwandten Rechtssystem gehören.732
Die in
den Verfassungen demokratischer Staaten verankerten grundrechtlichen Bestimmungen sind
dahingehend verwandt, dass sie auf gemeinsamen Wertvorstellungen beruhen und
728
I. C. Ibán, L. P. Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 162. 729
J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 115. 730
R. Ludwikowski, Prawo konstytucyjne porównawcze, Toruń 2000, S. 19. 731
R. Tokarczyk, Komparatystyka prawnicza, Kraków 2000, S. 37. 732
J. Krukowski, Wstęp do nauki o państwie i prawie, Lublin 2004, S. 146f.
179
gemeinsame Kerngehalte haben, wenn auch die Regelung der Randbereiche in den einzelnen
Staaten Unterschiede aufweist. Diese Verwandtschaft erklärt sich damit, dass den westlichen
Demokratiestaaten dasselbe Konzept der Freiheit zugrundeliegt. Die Freiheit kann nämlich
nur aus Gründen des sozialen Zusammenlebens eingeschränkt werden.733
Deshalb ist üblich,
dass die der Lehre und der höchstrichterlichen Rechtsprechung fremder Staaten entnommenen
Auslegungsergebnisse zwecks der Ausarbeitung der einzelnen Interpretationsvarianten der
heimischen Vorschriften herangezogen werden. Die rechtsvergleichende Methode trägt dazu
bei, den nationalen Problemhorizont durch ausländische Erfahrungen und dort bereits
vorhandene oder parallel geführte Diskussionen über das zu lösende Problem zu erweitern.734
Rechtsvergleichende interpretatorische Beiträge können vor allem in denjenigen
Rechtsgebieten fruchtbar gemacht werden, wo die einheimischen Erfahrungen der
Rechtsprechung und die rechtswissenschaftliche Diskussion gering ist.735
Die Benutzung des
rechtsvergleichenden Materials setzt dabei einen großen Grad der Offenheit seitens der
Rechtsanwender voraus; in einem geschlossenen Kulturmodell liegt der Aspekt der
Vergleichung nicht vor. Es geht dort nämlich um das Bemühen, die Spuren jeder
Einflussnahme in der täuschenden Überzeugung zu verwischen, dass es möglich ist, dass eine
Kultur imstande ist, ihre Lebenskraft nur von sich selbst zu schöpfen. Das Fehlen einer
offenen Haltung führt zu einer Gefahr der Versteinerung und Dogmatismus der Rechtslehre
und Rechtsanwendung innerhalb eines Rechtssystems. Im Gegenteil sichert die Offenheit auf
ausländische Entwicklungstendenzen des Rechts das hohe Niveau des Rechts und seine
größere Akzeptanz durch Rechtsadressaten.736
Die ausländischen Ergebnisse dürfen freilich
nicht mit der Absicht angebracht werden, klare nationale Rechtsnormen auszuhöhlen; die
Beachtung des eindeutigen Gesetzes ist das Fundament jeder Rechtsordnung. Heutzutage wird
jedoch der Gesetzgeber zum rechtsvergleichenden Eklektiker, deshalb ist außer den
überkommenen Auslegungsmethoden auch auf die rechtsvergleichende Methode bei der
Interpretation der nationalen Vorschriften zurückzugreifen. In erster Linie dient sie der
733
J. Martínez Torrón, Ley del jurado y objeción de conciencia, in: Revista Española de Derecho Constitucional,
Jahr 16, Nr. 48, 1996, S. 132. 734
B. Banaszak, Porównawcze prawo konstytucyjne współczesnych państw demokratycznych, Warszawa 2007,
S. 30; D. P. Kommers, The Value of Comparative Constitutional Law, 9 John Marshal Journal of Practice and
Procedure, in: V. C. Jackson, M. Tushnet, Comparative Constitutional Law, New York 1999, S. 146 ff; K. P.
Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtvergleichung, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch
der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 1, Heidelberg 2004, S. 636f; F. Ossenbühl, Grundsätze der
Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa,
Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 615; H. Nogueira Alcala, Lineamientos de
interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos, Santiago de Chile 2006, S. 91ff. 735
J. Martinez Torrón, Ley del jurado y objeción de conciencia, in: Revista Española de Derecho Constitucional,
Jahr 16, Nr. 48, 1996, S. 130. 736
R. Tokarczyk, Komparatystyka prawnicza, Kraków 2000, S. 34f.
180
Bestätigung und Unterstützung eines Ergebnisses, das schon mit Hilfe der traditionellen
Auslegungsmittel gefunden wurde737
und vertretbar erscheint. Darüber hinaus liefert sie den
Stoff, um eine kritische Auseinandersetzung mit den einheimischen Lösungen zu
ermöglichen. Sie kann auch zur Ausarbeitung der Veränderungen der nationalen
Gesetzgebung beitragen.738
Bei der Anwendung der rechtsvergleichenden Methode sollen folgende Schritte eingehalten
werden: 1) die Bestimmung des Forschungsgegenstands, 2) der Vergleich der Eigenschaften,
welche die untersuchte Norm oder Institution in den verschiedenen Ländern aufweist; dabei
soll sich die Untersuchung auf Wesenseigenschaften begrenzen. Dieses Verfahren erleichtert,
gemeinsame Elemente der betroffenen Institution herauszuschälen. Es führt zwar zur
Verengung des Forschungsgegenstandes, ohne dessen Fragmentierung herbeizuführen. 3) die
objektive, d.h. freie von den ideologischen Voraussetzungen Interpretation der
Vergleichsergebnisse.739
Wegen der oben dargestellten Vorteile der rechtsvergleichenden Auslegungsmethode ist dem
Standpunkt Häberles beizupflichten, wonach sie in der heutigen Grundrechtslehre mindestens
einen „fünften“, wenn nicht vorderen Platz einnehmen soll.740
„Der nationale Richter ist nicht
nur berechtigt, sich mit den Auffassungen anderer Rechtsordnungen und Gerichte in seinem
Urteil auseinanderzusetzen; er darf – im Rahmen der Anwendung seines eigenen Rechts und
selbstverständlich immer unter Abwägung aller bei der Auslegung und Rechtsfortbildung zu
berücksichtigenden Gesichtspunkte – auch dem Argument Gewicht beilegen, dass die in
Betracht kommende Lösung der Harmonisierung des europäischen Rechts diene. Und mit
diesem Argument kann er gegebenenfalls, nämlich als Ergebnis der Gesamtabwägung, die
737
H. Kötz, K. Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Tübingen
1996, S. 17. 738
B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 11f; F. Loñ, A. Morello, Lecturas de la Constitución,
Buenos Aires 2003, S. 48f. 739
B. Banaszak, Porównawcze prawo konstytucyjne współczesnych państw demokratycznych, Warszawa 2007,
S. 41ff. 740
P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsauslegung im Verfassungsstaat – Zugleich zur
Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 916. Nach einer anderen Meinung soll die
Rechtsvergleichende Methode nicht kanonisiert werden, sondern lediglich als eine Auslegungshilfe und nicht als
„fünfte“ Auslegungsmethode betrachtet werden: K. P. Sommermann, Funktionen und Methoden der
Grundrechtvergleichung, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa,
Band 1, Heidelberg 2004, S. 654. Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Rechtsauslegung unterstreicht
auch R. Tokarczyk, Komparatystyka prawnicza, Kraków 2000, S. 210f.
181
Lösungen der anderen Rechtsordnungen übernehmen. Bei fortschreitendem europäischen
Integrationsprozess sollte er diese Argumentation immer häufiger verwenden.“741
Besonders empfehlenswert ist die Anwendung der rechtsvergleichenden Methode im Bereich
der Grundrechte. Dies erklärt sich mit ihrer „strukturellen Vergleichbarkeit.“742
Häberle
begründet die Heranziehung der rechtsvergleichenden Methode in diesem Gebiet mit der
Universalisierung der Menschenrechte, aus der sich die Notwendigkeit ergibt, die
völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte in den Interpretationsprozess
der nationalen Verfassungen einzubeziehen. Er weist dabei auf die Praxis des EuGH hin, der
die Grundrechte als „allgemeine Rechtsgrundsätze“ gerade im Wege der „wertenden
Rechtsvergleichung“ gewinnt.743
Allerdings müssen in der Verfassungstheorie die als
juristische Disziplin aufgefasst wird und deren Gegenstand Texte und Kultur ist, auch
kulturelle Kontexte berücksichtigt werden. Die Individualität eines Verfassungsstaates darf im
Wege der rechtsvergleichenden Interpretation nicht entkräftet werden, ansonsten würde die
Pluralität der Gefahr ausgesetzt, zur Uniformität reduziert zu werden.744
Die Anwendung der
rechtsvergleichenden Auslegungsmethode soll somit nicht dazu führen, dass die kulturell
fassbare Individualität des einzelnen Verfassungsstaates interpretatorisch nicht einebnet, die
Vielfalt des Verfassungsstaates drohte sonst im Wege des Vergleiches zur Uniformität zu
verarmen. Trotz Textähnlichkeiten dürfen die sich aus dem kulturellen Kontext der
verglichenen Verfassungen ergebenden Unterschiede nicht verkannt werden. Die rezipierten
Inhalte müssen in den Kontext des aufnehmenden Verfassungsstaates umgedacht werden. Der
Rezeptionsvorgang ist daher ein schöpferischer und produktiver Prozess, in dem für
„Automatik“ der Übertragung ausländischer Problemlösungen kein Platz ist.745
Angesichts der geringfügigen Erfahrungen der polnischen Rechtsprechung zur
Gewissensfreiheit sowie der marginalen, geführten im Schatten der Religionsfreiheit,
rechtswissenschaftlichen Diskussion zu diesem Thema erweist sich die Heranziehung der
741
W. Odersky, Harmonisierende Auslegung und europäische Rechtskultur, in: ZEuP, 1994, S. 1, 2. 742
K. P. Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtvergleichung, in: D. Merten, H. J. Papier,
Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 1, Heidelberg 2004, S. 638. 743
P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat– Zugleich zur
Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 916f. 744
P. Häberle, Métodos y principiom de la interpretación constitucional. Un catálogo de problemas, in: E. Ferrer
Mac-Gregor, Derecho Procesal Constitucional, Ciudad de México, Porrua 2005, S. 2744f. 745
B. Banaszak, Porównawcze prawo konstytucyjne współczesnych państw demokratycznych, Warszawa 2007,
S. 28f; P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsauslegung im Verfassungsstaat – Zugleich zur
Rechtsvergleichung als “fünfte” Auslegungsmethode, in: JZ, 1989, S. 918.
182
rechtsvergleichenden Ausführungen und Analyse ihrer Verbrauchbarkeit für die Erschließung
des Potentials der polnischen Verfassung hinsichtlich des Schutzes der Gewissensfreiheit als
unentbehrlich. Die Gewissensfreiheit kann als Grundrecht in statu nascendi bezeichnet
werden, was etwa die unten angegebenen Beispiele einiger lateinamerikanischen
Verfassungen beweisen, deshalb ist besonders sachgerecht, die Errungenschaften auf diesem
Gebiet derjenigen Länder einzubeziehen, wo die Erfahrungen mit diesem Grundrecht viel
reicher als die polnischen sind und wo bestimmte rechtsdogmatische Probleme bereits
überwunden sind. Im Folgenden werden alternative Regelungsformen der Gewissensfreiheit
in den modernen Verfassungen anhand der Modellbeispiele dargestellt und die mit ihnen
verbundenen rechtlichen Konsequenzen für den Schutz der Gewissensfreiheit geschildert.
4. 2. Modelle der Regelung der Gewissensfreiheit
4.2.1. Keine ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit in der Verfassung
Als Beispielmodell für diese Regelungsweise sei auf die Verfassungsregelungen der Republik
Argentinien (a) und des Königreichs Spanien (b) eingegangen.
a) Argentinien
Das Spezifikum der Grundrechtsregelung in der argentinischen Verfassung besteht darin, dass
die einzelnen Grundrechte in Form einer listenmäßigen Aufzählung normiert werden. Die
Aufzählung der verbürgten Grundrechte beginnt in Art. 14 mit der Bestimmung, dass alle
Staatseinwohner die geschützten Grundrechte nach Maßgabe der ihren Gebrauch
reglementierenden Gesetze genießen. Unter den aufgezählten Grundrechten befindet sich das
Recht auf freie Ausübung der Religion.746
Die Gewissensfreiheit und das Verweigerungsrecht
werden dabei nicht ausdrücklich gewährt. Nichtsdestoweniger wird in der Lehre vertreten,
dass die Gewissensfreiheit aus den die allgemeine Freiheitsgarantie verbürgenden Art. 19 der
argentinischen Verfassung hergeleitet werden kann,747
der den folgenden Inhalt hat: „Über die
Privathandlungen eines Jeden, wenn sie in keiner Weise die öffentliche Ordnung oder
Sittlichkeit verletzen, noch die Rechte von Dritten beeinträchtigen, hat nur Gott zu urteilen:
746
“Todos los habitantes de la Nación gozan de los siguientes derechos conforme a las leyes que reglamenten su
ejercicio; (...)de profesar libremente su culto... “. Die Übersetzung ins Deutsche:
http://www.verfassungen.net/ar/verf94-i.htm (27.04.2011) 747
J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. Sanchez, J. Navarro Floria, La libertad
religiosa en España y Argentina, Madrid 2003, S. 315; G. G. Pinese, P. S. Corbalán, Constitución de la Nación
Argentina comentada, Buenos Aires 2007, S. 48.
183
sie sind der Autorität der Behörden nicht unterworfen. Kein Bewohner der Nation wird
gezwungen, etwas zu tun, was das Gesetz nicht gebietet, noch das zu unterlassen, was vom
Gesetze nicht verboten ist.“748
Nach einer anderen Meinung wird die Glaubensfreiheit als
Obergrundrecht verstanden, das sowohl Religions- als auch Weltanschauungsfreiheit
einschließlich der Freiheit der ethischen Selbstverwirklichung umfasst. Aus der
Glaubensfreiheit wird das Recht abgeleitet, zum Verhalten gegen sein Gewissen nicht
verpflichtet zu werden, unabhängig davon, ob die Gewissenshaltung aus einem religiösen
Glauben oder einer moralischen Überzeugung stammt.749
Trotz mangelnder verfassungsrechtlicher Regelung des Verweigerungsrechts aus
Gewissensgründen ist dieses Recht in Argentinien durch einfache Gesetzgebung und
Rechtsprechung weit anerkannt. Zum Beispiel das Recht auf Wehrdienstverweigerung eines
Katholiken wurde noch vor der Einführung des freiwilligen Wehrdienstes in 1994 durch den
Höchsten Gerichtshof (Corte Suprema) bejaht.750
Das allgemeine
Wehrdienstverweigerungsrecht wurde nachher durch das Gesetz 24.429 für den Fall der
Sonderrekrutierung vorgesehen. Auch das Recht auf Verweigerung einer medizinischen
Behandlung ist im Fall der bewussten Erwachsenen großzügig anerkannt (sogar im Fall einer
Mutter, die Sorgepflicht im Verhältnis zu ihren kleinen Kindern hat). Dieses Reht steht aber
den Minderjährigen nicht zu, unabhängig davon, ob der Betroffene oder seine Eltern die
Verweigerung erklärt haben. Weiterhin wird das Recht auf Verweigerung aus
Gewissensgründen den Mitgliedern des medizinischen Personals auf der Ebene der einzelnen
Provinzen weitgehend eingeräumt, Durch den Beschluss des Ministeriums für Bildung und
Justiz wurde den Schülern das Recht eingeräumt, sich von der Begrüßung der Nationalflagge
und vom Singen der Nationalhymne aus religiösen Gründen zu enthalten.751
Das Recht auf
Verweigerung der Teilnahmepflicht an Wahlen wurde allerdings mit dem Verweis abgelehnt,
dass die Konflikte zwischen den verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten nicht derart
748
“Las acciones privadas de los hombres que de ningún modo ofendan al orden y a la moral pública, ni
perjudiquen a un tercero, están sólo reservadas a Dios, y exentas de la autoridad de los magistrados. Ningún
habitante de la Nación será obligado a hacer lo que no manda la ley, ni privado de lo que ella no prohíbe.” 749
M. Martínez Crespo, Constitución de la Nación Argentina: anotada con doctrina nacional y jurisprudencia
nacional y extranjera, Córdoba 2007 S. 85. 750
Entscheidung im Rechtstreit “Portillo” von 1989, wie erwähnt in: J. Navarro Floria, Objeción de Conciencia,
II. Argentina, in: I. Sánchez, J. Navarro Floria, La libertad religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 316. 751
J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. Sánchez, J. Navarro Floria, La libertad
religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 323.
184
gelöst werden können, dass die Wirkung einer Norm gänzlich vereitelt wird. Der Konflikt ist
vielmehr mit der Abgabe eines Stimmzettels in blanco zu lösen.752
b) Spanien
Art. 16 Abs. 1 der Verfassung des Königreichs Spanien lautet: „Die Freiheit des
ideologischen Bekenntnisses, der Religion und des Kultes wird dem Einzelnen und den
Gemeinschaften gewährleistet; sie wird in ihren Ausdrucksformen lediglich durch die vom
Gesetz geschützte Notwendigkeit der Wahrung der öffentlichen Ordnung begrenzt.“753
Dem
Verfassungstribunal wurde zuerst zur Entscheidung vorgelegt, ob die Verweigerung des
Militärdienstes aus Gewissensgründen anzuerkennen ist, wenn, wie es damals in Spanien der
Fall war, kein Gesetz vorhanden war, das die Modalitäten der Inanspruchnahme dieses Rechts
regeln würde. Das Verfassungstribunal hat diese Frage mit der Begründung bejaht, dass das
Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen der allgemeinen weltanschaulichen Freiheit zu
entnehmen ist: „Die Verweigerung aus Gewissensgründen stellt die Spezifizierung der
Gewissensfreiheit dar, die nicht nur das Recht voraussetzt, eigenes Gewissen zu bilden,
sondern auch das Recht beinhaltet, in Übereinstimmung mit Imperativen des Gewissens zu
handeln.“754
Die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Verweigerungsrechts kann von der
Tätigkeit des Gesetzgebers nicht abhängig gemacht werden, weil „die Verfassungsgrundsätze
und die Grundrechte keine bloße Programmsätze sind, sondern bilden die unmittelbare Quelle
der Rechte und Pflichten der Einzelnen.“755
Die Erfüllung des in Art. 30 Abs. 2 der
spanischen Verfassung an den Gesetzgeber gerichteten Regelungsauftrags hat lediglich einen
regulativen Charakter und soll die volle Anwendbarkeit und Effektivität des
Wehrdienstverweigerungsrechts ermöglichen.
Von dieser weiten Auslegung der Gewissensfreiheit ist auch der spanische Gesetzgeber bei
der Verabschiedung des Wehrdienstverweigerungsgesetzes756
aus dem Jahr 1984
ausgegangen. In seiner Präambel erklärt das erwähnte Gesetz das Folgende: „Die
Anerkennung in der Verfassung der Freiheit des ideologischen Bekenntnisses, der Religion
752
J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. Sánchez, J. Navarro Floria, La libertad
religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 324. 753
Se garantiza la libertad ideológica, religiosa y de culto de los individuos y las comunidades sin más
limitación, en sus manifestaciones, que la necesaria para el mantenimiento del orden público protegido por la
ley.Die Übersetzung ins Deutsche;
http://www.boe.es/aeboe/consultas/enlaces/documentos/ConstitucionALEMAN.pdf (17.05.2011). 754
Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs: STC 15/1982 von 23. April 1982. 755
Ebenda. 756
La Ley 48/1984 vom 26. 12. 1984.
185
sowie des Kultus impliziert außer dem Schutz des Rechts des Einzelnen, eine
Weltanschauung (ideología) oder Religion zu haben, die der Einzelne frei gewählt hat, das
Recht, sein persönliches Verhalten an die eigene Überzeugungen anzupassen, soweit dadurch
kein gesellschaftliches Gut beeinträchtigt wird.“
Drei Jahre nach der Entscheidung zum Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen befasste
sich das Verfassungstribunal mit der Frage, ob das Gesetz, das die Abtreibung in bestimmten
Fällen straflos machte, verfassungswidrig ist, weil es kein Verweigerungsrecht des
medizinischen Personals, an den Schwangerschaftsabbrüchen teilzunehmen, vorsah. Ähnlich
wie in der Entscheidung zur Wehrdienstverweigerung hat das Verfassungstribunal die
Verweigerung aus Gewissensgründen als Spezialfall der Gewissensfreiheit unmittelbar aus
dem Art. 16 der spanischen Verfassung hergeleitet: „(...) sowohl die Lehre als auch die
Rechtvergleichung behaupten die Verbindung zwischen der Verweigerung aus
Gewissensgründen und der Gewissensfreiheit. Für die Lehre stellt die Verweigerung aus
Gewissensgründen eine Konkretisierung der Gewissensfreiheit dar, welche nicht nur das
Recht voraussetzt, das eigene Gewissen zu bilden, sondern auch das Recht beinhaltet, gemäß
seinen Imperativen zu handeln. (...) Da die Gewissensfreiheit die Konkretisierung der in Art.
16 unserer Verfassung garantierten ideologischen Freiheit darstellt, kann angenommen
werden, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen ein in der spanischen
verfassungsrechtlichen Ordnung explizit und implizit anerkanntes Recht ist.“757
Im Bezug auf
den Beschwerdegegenstand hat das Verfassungstribunal wie folgt entschieden: „Was das
Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen angeht, steht fest, dass dieses Recht existiert und
kann geltend gemacht werden, unabhängig davon, ob seine gesetzliche Regelung vorhanden
ist oder nicht. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist ein Bestandteil des in Art. 16 Abs.
1 verankerten Grundrechts der Weltanschauung- und Religionsfreiheit. Wie aus
verschiedenen Anlässen dieses Tribunal bereits darauf hingewiesen hat, ist die Verfassung
unmittelbar anwendbar, insbesondere im Bereich der Grundrechte.“758
Die zitierten Entscheidungen des spanischen Verfassungstribunals können dahingehend
interpretiert werden, dass das Tribunal die Verweigerung aus Gewissensgründen als
Konkretisierung der Gewissensfreiheit und als allgemeines Grundrecht anerkannt hat. Danach
757
Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals: STC 53/1985 von 7.03.1985. 758
Ebenda.
186
wäre eine Vermutung anzustellen, dass derjenige, der gemäß seinem Gewissen handelt,
handelt prima facie rechtsmäßig. Die Konfliktlösung soll im Wege der Abwägung zwischen
den ins Spiel kommenden Verfassungsgütern gefunden werden.759
Gemäß der von Escobar
Roca durchgeführten Analyse der spanischen Lehre wurde diese Ansicht von Mehrheit der
spanischen Autoren gutgeheißen.760
Bereits vor der zitierten Entscheidung zur Verweigerung der Abtreibung lässt sich allerdings
die gegenteilige Tendenz in der Rechtsprechung des Verfassungstribunals beobachten. In der
Entscheidung 19/1985,761
welche die Verweigerung der Adventisten samstags zu arbeiten,
betraf, hat das Verfassungstribunal festgestellt, dass die Beschwerdeführer zwar das Recht
genießen, ihre Verweigerung öffentlich und privat zu verteidigen, sie haben aber kein Recht,
sich gemäß ihrer Überzeugungen im Arbeitsbereich zu verhalten. Die Weigerung, die Arbeit
samstags zu verrichten, kann somit nach allgemeinem Arbeitsrecht sanktioniert werden.
In der Entscheidung 160/1987762
hat das Verfassungstribunal diese Doktrin fortgesetzt: „Die
Verweigerung aus Gewissensgründen vom allgemeinen Charakter, d.h. das Recht, von der
Erfüllung der Verfassungs- oder Gesetzespflichten befreit zu werden, weil die Erfüllung
dieser Pflichten gegen die eigenen Überzeugungen verstößt, ist nicht anerkannt und es ist
unvorstellbar, dass es in unserer oder in irgendwelcher Rechtsordnung anerkannt werden
kann. Dies würde nämlich die Negation der Idee des Staates bedeuten.“ Das Tribunal hat zwar
den Zusammenhang zwischen dem Recht auf Wehrdienstverweigerung und der Freiheit des
weltanschaulichen Bekenntnisses bestätigt und es als ihre „logische Folge“ angesehen, es hat
aber seinen Grundrechtsstatus mit der Begründung verneint, dass es sich hier um ein
759
Dieselben Schlüsse hat Sanchís in Bezug auf ähnliches Urteil des spanischen Verfassungstribunals gezogen,
wo das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen gegen die Abtreibung trotz mangelnden gesetzlichen
Regelung direkt aus der Glaubensfreiheit abgeleitet wurde; I. M. Sanchis, L‟objection de conscience en
Espagne, in: European Consortium for Church and State Research, Consciencious objection in the EU countries,
Milano 1992, S. 92. 760
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 185ff; siehe auch:
M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 256, 301; I. M. Sanchis,
L‟objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church and State Research, Consciencious
objection in the EU countries, Milano 1992, S. 91; J. Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el
derecho internacional y comparado, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid
2007, S. 116; L. Prieto Sanchís, Desobediencia civil y objeción de conciencia, in: Sancho Gargallo, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 25; M. J. Ciaurriz, Objeción de conciencia y estado democrático,
in: Instituto de Investigaciones Jurídicas, Derecho fundamental de libertad religiosa, México 1994, S. 80; A.
Martínez Blanco, Derecho eclesiástico del Estado. Volumen 2, Madrid 1993, S. 151. 761
STC 1985/19 von 13.02.1985. 762
Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofes, STC 160/1987 von 27.10. 1987.
187
Ausnahmerecht handelt, das darin besteht, unter bestimmten Voraussetzungen von der
Wehrpflicht befreit zu werden. „Es geht somit um das durch die Höchste Norm (Norma
Suprema) in Art. 30. Abs. 2. anerkannte verfassungsrechtliche Recht, das konsequenterweise
durch die Verfassungsbeschwerde (Art. 53 Abs. 2) geschützt wird, aber dessen Verhältnis
zum Art. 16 (ideologische Freiheit) weder ermächtigt noch erlaubt, es als Grundrecht zu
qualifizieren. Dem steht die Erwägung entgegen, dass seinen Kern oder Inhalt – in diesem
Fall seine konkrete Zielrichtung – das Recht darstellt, von der allgemeinen Pflicht, den
Militärdienst zu leisten, als befreit erklärt zu werden (und nicht schlicht das Recht, diesen
Dienst nicht zu leisten), wenn der Militärdienst durch den Ersatzdienst ersetzt wird. (...) Ohne
diese verfassungsrechtliche Anerkennung kann dieses Recht nicht ausgeübt werden, nicht
einmal unter dem Schutz des Rechts auf ideologische Freiheit und auf Gewissensfreiheit (Art.
16), das von selbst nicht ausreichend wäre, die Bürger von den Verfassungspflichten zu
befreien, ohne in das Risiko der Relativierung der Rechtsbefehle einzugehen. Gerade seine
Natur als Ausnahmerecht charakterisiert es als das autonome verfassungsrechtliche Recht
(derecho constitucional autónomo) aber nicht als Grundrecht.“763
Auch im Urteil 161/1987764
hat das spanische Verfassungstribunal festgestellt, dass wenn es
sich im Fall des Rechts auf Wehrdienstverweigerung um eine direkte Anwendung der
Religions- und Weltanschauungsfreiheit handeln würde, hätte der Verfassungsgeber den
Schutz dieses Rechts durch Verfassungsbeschwerde nicht ausdrücklich vorgeschrieben. Um
den Verletzungen des Rechts auf Wehrdienstverweigerung entgegenzuwirken, würde
ausreichend sein, die Verfassungsbeschwerde in Anlehnung an Art. 16 der spanischen
Verfassung einzulegen. Darüber hinaus würde die ausdrückliche Gewehrleistung des Rechts
auf Wehrdienstverweigerung in Art. 30 Abs. 2 der spanischen Verfassung, zum unnötigen
superfluum.
In Bezug auf die Forderung des Einzelnen, seine Steuerpflicht wegen seiner
Gewissensposition zu modifizierten, hat das spanische Verfassungstribunal folgendes
festgestellt: „Es ist nicht möglich, sich auf das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen als
eine Ausnahme von der in Art. 31 der spanischen Verfassung vorgesehenen allgemeinen
763
Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofes, STC 160/1987 von 27.10. 1987. 764
Ebenda. Diese Interpretationslinie wurde durch die Entscheidung STC 321/1994 von 28.11.1994 bekräftigt.
188
Pflicht zu berufen. Eine solche Forderung entbehrt einer verfassungsrechtlichen Grundlage.
Darüber hinaus ist sie durch die steuerrechtlichen Regelungen nicht vorgesehen (…). Es ist
nicht möglich, sich auf die Weltanschauungsfreiheit des Art. 16 der spanischen Verfassung zu
stützen, um entweder die Befreiung von der Erfüllung der allgemeinen Pflicht, zu den
öffentlichen Ausgaben beizutragen (Art. 31 Abs. 1 der spanischen Verfassung) oder die
Auferlegung der alternativen Formen dieser Pflicht wie der Beschwerdeführer vor den
Organen der Steuerverwaltung behauptet hat, zu verlangen.“765
Aus der dargestellten Rechtsprechung ist sichtbar, dass das spanische Verfassungstribunal die
weite Auslegung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit einschneidend eingeengt und
die Bestimmung deren Schutzbereichs praktisch dem Gesetzgeber zugewiesen.766
Das
Verfassungsribunal hat dabei das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen als ein
Sonderrecht profiliert. Seine enge Verbindung mit der allgemeinen Gewissensfreiheit wird
mit Schaffung der Rechtsfigur eines autonomen Verfassungsrechts zumindest gelockert, wenn
nicht gänzlich unterbrochen. Souto Paz hat diese Rechtsprechung wie folgt kommentiert: „das
Verfassungstribunal hat ein wichtiges Umschwenken in der Auslegung der Verweigerung aus
Gewissensgründen vollzogen. Diese Rechtsfigur hat die Qualität des durch Art. 16. Abs. 1
geschützten Grundrechts verloren, und hat sich in das autonome Verfassungsrecht (derecho
constitucional autónomo) umgewandelt, das nur aus Art. 30 Abs. 2 Verf. abgeleitet wird.“767
4.2.2. Anerkennung des allgemeinen Rechts auf Gewissensfreiheit bei gleichzeitigem
Verbot der Verweigerung aus Gewissensgründen
Diese Regelungsweise sei illustriert am Beispiel des Art. 61 der Verfassung der Republik
Venezuela, der folgenden Inhalt hat: „Jede Person hat das Recht auf Gewissensfreiheit und
auf ihre Betätigung, es sei denn, dass ihre Ausübung seine Persönlichkeit beeinträchtigt oder
eine Straftat darstellt. Die Verweigerung aus Gewissensgründen kann nicht geltend gemacht
werden, um der Befolgung des Rechts zu entgehen oder die Anderen in der Befolgung des
765
Die Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals, ATC 71/1993 von 01.03.1993. 766
J. Martínez Torrón, Ley del jurado y objeción de conciencia, in: Revista Española de Derecho Constitucional,
Jahr 16, Nr. 48, 1996, S. 137. 767
J. A. Souto Paz, Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,
S. 125.
189
Rechts oder in Ausübung ihrer Rechte zu verhindern.“768
Ähnliche Regelung im Bezug auf
Religionsfreiheit enthält Art. 59.769
Bemerkenswert ist der ausdrückliche Ausschluss der
Gewissensbetätigung in denjenigen Fällen, wo eine Gefahr besteht, dass die „Persönlichkeit“
des Betroffenen einen Schaden erleiden kann. In diesem Zusammenhang ist insbesondere an
die Verweigerung der medizinischen Behandlung zu denken. Die in der venezuelanischen
Verfassung vorgesehenen Schranken der Gewissensfreiheit haben zum Teil einen
paternalistischen Charakter, die dem Postulat der individuellen Selbstbestimmung nicht
gerecht werden.
Eine andere Variante dieser Regelungsweise ist die ausdrückliche Anerkennung des
Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen mit einem Gesetzesvorbehalt.
Als Beispiel für derartige Regelung kann Art. 37 der Verfassung der Republik Paraguay sein,
der wie folgt lautet: „Das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen aus ethischen und
religiösen Gründen wird für diejenigen Fälle anerkannt, für welche die Verfassung und das
Gesetz dies zulassen.“770
Die Verfassung regelt das Wehrdienstverweigerungsrecht im Art.
129. Dabei ist erwähnenswert, dass danach der Zivildienst nicht lästiger als Militärdienst sein
kann.
Das dargestellte Regelungsmodell der Gewissensfreiheit charakterisiert sich damit, dass
wegen des verfassungsrechtlich vorgesehenen Gesetzesvorbehalts die Entscheidung über den
tatsächlichen Schutzumfang der Gewissensfreiheit dem Gesetzgeber überlassen worden ist.
Die individuelle Gewissensfreiheit ist damit wesentlich verkürzt, wenn nicht völlig beseitigt.
4.2.3. Die eindeutige Verknüpfung der Gewissensfreiheit mit Religionsfreiheit
Wie bereits im Zusammenhang mit der polnischen Verfassung dargelegt wurde, bereitet die
enge Verflechtung der Gewissensfreiheit mit ihrem „Muttergrundrecht“ erhebliche
interpretatorische Probleme hinsichtlich ihrer Verselbstständigung und Reichweite. Im
Folgenden wird gezeigt, dass das Profil der Gewissensfreiheit in diesem Fall von der
angenommenen Auslegungsvariante abhängt. Als Beispiel für die restriktive Auslegung der
768
“Toda persona tiene derecho a la libertad de conciencia y a manifestarla, salvo que su práctica afecte su
personalidad o constituya delito. La objeción de conciencia no puede invocarse para eludir el cumplimiento de la
ley o impedir a otros su cumplimiento o el ejercicio de sus derechos.” 769
Vgl. Auch Art. 69 der Verfassung Nicaraguas. 770
“Se reconoce la objeción de conciencia por razones éticas o religiosas para los casos en que esta Constitución
y la Ley la admitan.”.
190
Gewissensfreiheit seien die Interpretationstendenzen der entsprechenden
Verfassungsvorschriften der Föderativen Republik Brasilien (a) skizziert. Die Möglichkeit der
dynamischen Auslegung der Gewissensfreiheit trotz ihrer Verankerung im Kontext der
Glaubensfreiheit sei dagegen anhand der Rechtsprechung zur Gewissensfreiheit in der
Verfassung der Republik Peru (b) aufgezeigt.
a) Brasilien
Art. 5 VI der Verfassung der Föderativen Republik Brasilien hat den folgenden Inhalt: „Die
Gewissens- und Glaubensfreiheit ist unverletzlich; die freie Ausübung religiöser Kulte sowie,
nach Maßgabe des Gesetzes, der Schutz von Kultstätten und Liturgien, ist gewährleistet“771
Art. 5 VIII schließt das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen aus dem Schutzbereich
der Religionsfreiheit explizit aus: „Niemand darf Einbußen an Rechten aus Gründen
religiösen Glaubens oder philosophischer oder politischer Überzeugungen erleiden, es sei
denn, diese werden dazu benutzt, sich allgemein auferlegten gesetzlichen Verpflichtungen zu
entziehen und der Erfüllung einer gesetzlich vorgesehenen Ersatzleistung zu entgehen.“772
Die
enge Verknüpfung der Gewissensfreiheit mit der Religionsfreiheit in der brasilianischen
Verfassung spiegelt sich in den Kommentierungen der betroffenen Vorschriften in der Lehre
wieder: die Gewissensfreiheit wird nämlich mit dem forum internum der Religionsfreiheit,
einschließlich ihrer negativen Facette (die Freiheit des Nichtglaubens) gleichgesetzt.773
Manchmal wird sie gerade als das Recht der Nichtgläubigen profiliert: „(…) Ein freies
Gewissen kann sich selbst in dem Sinne bestimmen, dass es keinen Glauben hat. Aus der
Gewissensfreiheit geht somit der Rechtsschutz der Atheisten und Agnostiker hervor.“774
Was die Verweigerung aus Gewissensgründen betrifft, kann diese Rechtsfigur als
allgemeines, aus Gewissensfreiheit fließendes Recht des Einzelnen nicht anerkannt werden.
„Dies geschieht aus demselben Grund, woraus niemandem erlaubt ist, das Gesetz wegen
seiner Unkenntnis zu verletzen.“775
Die partielle Anerkennung der Verweigerung aus
771
“e inviolavel a libertade de consciencia e de crenca, sendo assegurado o livre exercicio dos cultos religiosos e
garantida, na forma da lei, a proteccão aos locais de culto e a suas liturgias.” Die Übersetzung ins Deutsche:
http://www.verfassungen.net/br/verf88-i.htm (27.04.2011). 772
“ninguém sera privado de dieritos por motivo de crenca religiosa ou de conviccão filosofica ou política, salvo
se as invocar para eximir-se de obrigacão legal a todos imposta e recusar-se a cumprir prestacão alternativa,
fixada em lei.” Die Übersetzung ins Deutsche: http://www.verfassungen.net/br/verf88-i.htm (27.04.2011) 773
U. Lammego Bulos, Constutuicão Federal anotada, Säo Paolo 2005, S. 142. 774
C. Ribeiro Bastos, Curso de Direito Constitucional, São Paulo 1990 S. 190; vgl. A. Guedes Sorlano, Libertade
religiosa no direito constitucional e internacional, Säo Paulo 2002, S. 12. 775
R. Barcellos de Magalhaes, Comentarios a Constituicão Federal de 1988, Volume 1, Rio de Janeiro 1993, S.
27.
191
Gewissensgründen wird zwar für möglich gehalten, ihre Einschließung in die Rechtsordnung
sowie ihr Schutzumfang werden aber von der Entscheidung des Gesetzgebers abhängig
gemacht.776
Es wird zwar gelegentlich vertreten, dass das Verweigerungsrecht aus
Gewissensgründen trotz der restriktiven Regelung der Gewissensfreiheit in der brasilianischen
Verfassung durch Art. 5 VIII doch umfasst wird. Diese Meinung wird allerdings nicht näher
begründet.777
b) Peru
In der Verfassung der Republik Peru wird die Gewissensfreiheit in Art. 2 Nr. 3 erwähnt: „Jede
Person hat das Recht auf Freiheit des Gewissens und der Religion in einer individuellen und
kollektiven Form. Es gibt keine Verfolgung wegen der Anschauungen (ideas) oder Glauben.
Es gibt kein Meinungsdelikt. Die öffentliche Ausübung aller Konfessionen ist frei, soweit sie
gegen die Moral nicht verstößt und die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt.“778
Obwohl
in der zitierten Vorschrift nur von Ausübungsfreiheit „aller Konfessionen“ die Rede ist, leitet
das peruanische Verfassungstribunal die Betätigungsfreiheit des Gewissens unmittelbar aus
der Gewissensfreiheit ab. Das Tribunal argumentiert dabei, dass die Einschränkung der
Gewissensfreiheit zur inneren Freiheit zu inakzeptablen Konsequenzen führen würde: „Wozu
würde das Recht dienen, sich in der Bildung der Ideen selbst zu bestimmen, wenn es dann
nicht möglich wäre, in Übereinstimmung mit den Entwürfen (designios) dieses Gewissens zu
handeln, oder das Handeln zu unterlassen? Das Nichterlauben dem Einzelnen, nach Diktaten
seines Gewissens zu handeln, hätte zur Folge, dass dem Recht, dieses Gewissen zu bilden,
keine Bedeutung zukäme. Es wäre ein perverses Paradoxon, dem Einzelnen zu gestatten,
seine Überzeugungen zu entfalten, damit er sie später betrügen oder abtöten müsste, was
konsequenterweise seine Psyche beeinflussen würde und sich auf seine Menschenwürde
auswirken würde.“779
776
A. de Moraes, Constituicão do Brasil interpretada e legislasão constitucional, 2005, S. 221. 777
U. Lammego Bulos, Constutuicão Federal anotada, São Paolo 2005, S. 144. 778
“Cada uno tiene derecho: 3. A la libertad de conciencia y de religión en forma individual y asociada. No hay
persecución por razón de ideas o creencias. No hay delito de opinión. El ejercicio público de todas las
confesiones es libre, siempre que no ofenda la moral ni altere el orden público.” 779
Das Urteil des peruanischen Verfassungstribunals von 19.08.2002, EXP Nr. 0895-2001, abgedruckt in:
Bermudez Tapia, La Constitución a través de las sentencias del Tribunal Constitucional: Interpretación artículo
por artículo de nuestra Norma Fundamenal realizada por el „Supremo Interprete“, S. 34ff.
192
Dieser Entscheidung ist wegen des numerus apertus der Grundrechte in der peruanischen
Verfassung das besondere Gewicht für die rechtvergleichende Auslegung beizumessen. Art. 3
der peruanischen Verfassung enthält die folgende Klausel: „Die Aufzählung der in diesem
Kapitel verbürgten Rechte schließt weder die übrigen Rechte nicht aus, welche die
Verfassung gewährleistet, noch andere, die einen analogen Charakter haben, oder diejenigen,
die in der Menschenwürde, im Grundsatz der Volkssouveränität, im Grundsatz des
demokratischen Rechtsstaates oder im Grundsatz der republikanischen Regierungsform ihre
Grundlage haben.“780
Das peruanische Verfassungstribunal hat sich allerdings in seiner
Entscheidung zur Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen auf die zitierte
Verfassungsklausel nicht berufen. Es fand nicht notwendig, die Gewissensbetätigungsfreiheit
bzw. das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen etwa mit Hifle des Grundsatzes der
Menschenwürde zu untermauern. Im Gegenteil vertritt das Tribunal die Meinung, dass für die
Ableitung dieses Rechts hinreichend ist, sich auf die allgemeine Gewissensfreiheit des Art. 2
Nr. 3 der peruanischen Verfassung zu berufen. Diese durch das Verfassungstribunal auch in
anderen Entscheidungen benutzte Auslegungstechnik wird im Schrifttum die Theorie des
impliziten Grundrechtsgehalts (teoría del contenido implicito de los derechos fundamentales)
genannt. Danach werden die impliziten Rechte im Schutzbereich der geschriebenen Rechte
deswegen umfasst, „weil dies zur Erweiterung des durch die Rechtsordnung bereits
bestimmten Schutzbereiches führt und auch deswegen, weil diese neuen Ausübungsformen
der bereits anerkannten Rechte rechtliche Kohärenz herstellen. Der Inhalt der Vorschrift wird
dabei nicht durchbrochen, um damit ihr etwas anderes vorschreiben zu lassen, von dem, was
sie bereits bestimmt.“781
Das peruanische Verfassungstribunal hat in der zitierten Entscheidung den
Anwendungsbereich der Lehre von der impliziten Grundrechtsinhalts von dem
Anwendungsbereich der Numerus - apertus - Klausel (genannt durch das Tribunal auch
Doktrin der nicht aufgezählten Rechte (doctrina de derechos no enumerados) oder Doktrin
780
La enumeracion de los derechos establecidos en este capítulo no excluye los demás que la Constitución
garantiza, ni otros de naturaleza analoga o que se fundan en la dignidad del hombre, o en los principios de la
soberania del pueblo, del Estado democrático de derecho y de la forma republicana de gobierno.” 781
S. Mosquero Molenos, El derecho de libertad de conciencia y de religión en el ordenamiento jurídico
peruano, Lima 2005, S.170f.
193
der ungeschriebenen Rechte (doctrina de derechos no escritos) abgegrenzt. Danach ist auf die
Klausel des Art. 3 zurückzugreifen, wenn neue mit der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen,
technologischen und kulturellen Entwicklung zusammenhängende Bedürfnisse auftauchen,
welche nicht nur Anerkennung neuer in der engen Verbindung mit der Menschenwürde
stehenden Rechte erfordern, sondern auch deren Ausstattung mit derselben Schutzgarantien
notwendig machen, welche die geschriebenen Rechte genießen. Die Lehre vom impliziten
Grundrechtsgehalt findet dagegen Anwendung, wenn möglich ist, aus einem verbürgten Recht
das andere zu identifizieren, welches sowohl als Teil des ersten konzipiert werden als auch als
selbständiges, autonomes Recht gestaltet werden kann. Diese „neuen Inhalte“ werden aus den
geschriebenen Rechten herausinterpretiert und „als Folge der fortschreitenden normativen
Entwicklung, der herrschenden sozialen Wertungen, des Einflusses der Lehre und –
selbstredend – der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung“ akzeptiert. Der offene Charakter
der Grundrechte steht nicht entgegen, neue Ausübungsmodalitäten eines Grundrechts
anzunehmen, die bei ihrer Entstehung nicht berücksichtigt worden sind. Das
Verfassungstribunal steht auf den Standpunkt, dass die neuen Ausübungsformen der in der
Verfassung verankerten Rechte „im Rahmen des rational Möglichen“ zu finden sind, welche
die Achtung der Menschenwürde verstärken. Dieses Verfahren würde den übermäßigen
Rückgriff auf Numerus-apertus-Klausel verhindern und vorbeugen, ihren Zweck zu
entstellen. Das Tribunal rechtfertigt seine Vorgehensweise mit der lapidaren Feststellung,
dass die Wirklichkeit in unzähligen Situationen die Vorstellungskraft des Gesetzgebers
übersteigt. Im Bezug auf die Gewissensfreiheit präzisiert das peruanische
Verfassungstribunal, dass sie kein allgemeines Verweigerungsrecht garantiert. Das
Verweigerungsrecht ist vielmehr als ein Ausnahmerecht konzipiert, das fallweise behandelt
werden soll. Im Gegenteil „stünde man vor dem unmittelbaren und inakzeptablen Risiko, die
Rechtsbefehle zu relativieren. Deswegen garantiert die Gewissensfreiheit ipso facto kein
unmittelbares allgemeines Recht, sich der Erfüllung einer Rechtspflicht zu entziehen. Die
Befreiung sollte vielmehr im konkreten Fall nach der Abwägung der kollidierenden Interessen
und unter der Voraussetzung der Glaubwürdigkeit des Verweigerers erklärt werden.“782
782
Das Urteil des peruanischen Verfassungstribunals von 19.08.2002, EXP Nr. 0895-2001, abgedruckt in:
Bermudez Tapia, La Constitución a través de las sentencias del Tribunal Constitucional: Interpretación artículo
por artículo de nuestra Norma Fundamenal realizada por el „Supremo Interprete“, S. 349.
194
4.2.4. Ausdrückliche Anerkennung der Gewissensfreiheit als das von der
Glaubensfreiheit verselbstständigte Grundrecht
Eine modern und innovativ wirkende Regelung, welche den Säkularisierungstendenzen
Rechnung trägt, hat die Gewissensfreiheit in der Verfassung der Republik Kolumbien von
1991 erfahren. Die Gewissensfreiheit ist dort als ein separates, vom jeglichen Zusammenhang
mit der Religionsfreiheit befreites Grundrecht in einer separaten Verfassungsbestimmung
geregelt: Art. 18 der kolumbianischen Verfassung hat den folgenden Inhalt: „Die Freiheit des
Gewissens wird gewährleistet. Niemand darf wegen seiner Überzeugungen oder seines
Glaubens beunruhigt werden, zu ihrer Offenbarung gezwungen werden, oder gegen sein
Gewissen zu handeln, genötigt werden.“783
Die Religionsfreiheit wird dagegen in Art. 19 wie
folgt formuliert: „Die Kultusfreiheit wird gewährleistet. Jede Person hat das Recht, ihre
Religion frei auszuüben und sie individuell oder gemeinsam zu verbreiten. Alle religiösen
Bekenntnisse und Kirchen sind vor dem Recht gleichermaßen frei.“784
In der Lehre wurde diese Regelung als Zeichen der Anerkennung, dass sich die
Schutzbereiche der Religions- und Gewissensfreiheit nicht decken und dass die Religion und
die nichtreligiösen Überzeugungen gleichermaßen geschützt werden, positiv gewürdigt.785
Der Interpret kann somit davon ausgehen, dass derartige in der Nähe der
Weltanschauungsfreiheit angesiedelte Normierung der Gewissensfreiheit mit dem weiten
Schutzbereich ausgestattet ist, der das Verweigerungsrecht, eine Rechtspflicht aus
Gewissensgründen zu erfüllen, umfasst. Gleichwohl wirkt überraschend, dass das
kolumbianische Verfassungsgericht die Gewissensfreiheit so restriktiv ausgelegt hat, dass es
daraus (sogar!) kein Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, geschweige
anderer Formen der Verweigerung aus Gewissensgründen herleitet: „Die Garantie der
Gewissensfreiheit schließt die positivrechtliche Verbürgung des
Wehrdienstverweigerungsrechts aus Gewissensgründen nicht zwingend ein. Diese Figur, die
in anderen Rechtsordnungen den Einzelnen ermöglicht, die Erfüllung einer Pflicht, wie die
Erwähnte zu verweigern, wenn die betroffene Tätigkeit die Verwirklichung eines Verhaltens
bedeutet, das gegen die intimen Überzeugungen verstößt, wurde durch die kolumbianische
783
„Se garantiza la libertad de conciencia. Nadie será molestado por razón de sus convicciones o creencias ni
compelido a revelarlas ni obligado a actuar contra su conciencia.” 784
„Se garantiza la libertad de cultos. Toda persona tiene derecho a profesar libremente su religión y a difundirla
de forma individual o colectiva. Todas las confesiones religiosas e iglesias son igualmente libres ante la ley.” 785
M. J. Cepeda, Los derechos fundamentales en la constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 163.
195
Verfassung als ein befreiendes Rechtsmittel von der betroffenen Pflicht nicht
aufgenommen.“786
Es ist noch zu sehen, ob diese Rechtsprechung in der Zukunft beibehalten
wird.
4.2.5. Fazit
Die rechtsvergleichende Betrachtung zeigt zunächst, dass der Schutzumfang der
Gewissensfreiheit nicht ausschließlich von ihrer verfassungsrechtlichen Regelungsweise
abhängt. Aus den skizzierten Beispielen wird vielmehr deutlich, dass bei der Rekonstruierung
des Schutzumfangs der Gewissensfreiheit die entscheidende Rolle der verfassungsrechtlichen
Rechtsprechung und Lehre zukommt. Die Regelungen der Gewissensfreiheit als das separate,
von Glaubensfreiheit verselbstständigte Grundrecht in einigen lateinamerikanischen
Verfassungen aus der 90er Jahren des 20. Jahrhunderts bezeugen die allmähliche Tendenz zur
Emanzipierung der Gewissensfreiheit aus ihren religiösen Zusammenhängen. Ihre
Anerkennung setzt sich allerdings nur ansatzweise durch, was die zahlreichen Beispiele für
ihre restriktive Auslegung zeigen. Die Gewissensfreiheit kann daher als Grundrecht in statu
nascendi bezeichnet werden, dessen Verselbständigung von der Glaubensfreiheit noch nicht
eindeutig erfolgt ist und dessen Schutzbereich sich noch nicht herauskristallisiert hat.
5. Berücksichtigung der sozialen Folgen einer Auslegungsentscheidung
Schließlich ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig, in dem Interpretationsprozess die
Folgenerwägungen der vorgeschlagenen Interpretationsalternative anzustellen. Dabei ist
zuerst zu berücksichtigen, dass ein Auslegungsergebnis, mag es nur für einen Einzelfall
gedacht sein, das Potenzial haben kann, sowohl die künftige Praxis, als auch die
Gesetzgebungstätigkeit zu beeinflussen. Aus diesem Grund muss es sich in die ganze
Rechtsordnung einfügen können.787
„Die Entscheidung zwischen den einzelnen
Gesichtspunkten, falls sie zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, wird weiter durch
präjudizielle oder gedachte Vergleichsfälle gesteuert. Bei der Regelhaftigkeit des Rechts muss
786
Urteil des kolumbianischen Verfassungsgerichts, C- 511 von 1994, zitiert nach: Lozano, Constitución política
de Colombia acompañada de extractos de las sentencias de la Corte Constitucional, S. 31. 787
F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der
Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I., Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 617; W.
Lang, J. Wróblewski, S. Zawadzki, Teoria państwa i prawa, Warszawa 1986, S. 447; G. Peces- Barba Martínez,
Curso de derechos fundamentales. Teoría general, Madrid 1995, S. 579.
196
sich jede einzelne Fallentscheidung den Präjudizien und gedachten zukünftigen Fällen
standhalten. Das Auslegungsergebnis muss also verallgemeinerbar sein. Hierin liegt zugleich
eine Schranke für den Interpreten und eine Garantie für die Voraussehbarkeit der
Entscheidung.“788
Morawski hat diese Interpretationsdirektive wie folgt formuliert: „Bei der
Interpretation einer Norm sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen, zu welchen eine
bestimmte Auslegung führt, in Betracht zu ziehen und diejenige Auslegungsvariante zu
wählen, die zu den günstigsten Konsequenzen führt.“789
Sagüés dagegen bezeichnet die
Notwendigkeit der Berücksichtigung der sozialen Folgen der möglichen
Auslegungsergebnisse als eine voraussehende Interpretation (interpretación previsora).
Danach ist im Fall der vertretbaren Auslegungsalternativen diejenige zu wählen, die nach
Abwägung aller positiven Folgen und Risiken am nützlichsten erscheint.790
Die Betrachtung
der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der praktischen Umsetzung eines
Auslegungsergebnisses bildet einen sicheren Maßstab, wonach die Rationalität der Resultate
der interpretatorischen Arbeit sowie ihre Kohärenz mit dem System, in das die ausgelegte
Norm integriert ist, verifiziert werden kann.791
Hinsichtlich der Würdingung der Folgen der Gewährleistung der
Gewissensbetätigungsfreiheit einschließlich des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen
durch die Rechtsordnung lassen sich zwei Ansätze unterschieden: der legalistische Ansatz und
der Ansatz des Interessengleichgewichts.792
Nach dem legalistischen Ansatz ist die Betätigung der Gewissensfreiheit lediglich im Bereich
des rechtlich Erlaubten vorstellbar. Die Verweigerung aus Gewissensgründen wird zum
subjektiven Recht lediglich in den durch den Gesetzgeber vorgesehenen Fällen; jeder Konflikt
zwischen dem Gewissen und der geltenden Rechtsnorm ist immer zugunsten der letzteren zu
lösen, es sei denn, dass das Gesetz eine Verweigerungsform ausdrücklich anerkennt. Die
Glaubens- und Gewissensfreiheit würde lediglich gegen diejenigen Gesetze schützen, die
ausdrücklich gegen eine Religion oder Weltanschauung gerichtet sind. Dagegen im Fall eines
788
Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 203. 789
L. Morawski, Wstęp do prawoznawstwa, Toruń 1997, S. 147. 790
N. P. Sagüés, Manual de derecho constitucional, Buenos Aires 2007, S. 40f. 791
F. Loñ, A. Morello, Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 44; H. Nogueira Alcala, Lineamientos
de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos, Santiago de Chile 2006, S. 152 ff. 792
J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 107f.
197
neutrales Gesetzes, welchem legitime, weltliche Ziele zugrunde liegen, braucht die
Anerkennung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen einer interpositio legislatoris;
es kann nur dann geltend gemacht werden, wenn eine solche Möglichkeit vom Gesetzgeber
ausdrücklich eingeräumt wird. Darüber hinaus könnte sich der Einzelne auf die
Gewissensfreiheit in den gesetzlich nicht geregelten Fällen berufen, wenn die Erfüllung der
verweigerten Rechtspflicht den Wesensgehalt der Gewissensfreiheit verletzt würde.793
Der legalistische Interpretationsansatz wird damit begründet, dass das Gewissen und Recht ex
definitione unvereinbar sind. Im Gewissen trifft sich der Einzelne mit sich selbst, auf der
Ebene der Rechtsordnung trifft sich er dagegen mit den Anderen. Während sich das Gewissen
im Rahmen des Autonomen und Kategorischen bewegt, ist die Rechtsordnung in ihren
Antipoden, d.h. im Bereich des Heteronomen und Umsichtigen (prudencial) situiert. Da das
Recht und das Gewissen „verschiedene Sprachen sprechen“, ist jeder Versuch deren
Vereinbarung zum Scheitern verurteilt.794 Darüber hinaus würde die Anerkennung einer
allgemeinen Gewissensfreiheit durch die Rechtsordnung auf „die Fundamentierung ihrer
eigenen Vernichtung“795
hinauslaufen. Da das Eintreten einer Verweigerung unvorhersehbar
ist und das Gewissen des Einzelnen nicht immer rational ist, würde die Gegenlösung
Rechtsunsicherheit und Pulverisierung des Rechts herbeiführen.
Die Angst vor der Anarchie oder, wie dies das spanische Verfassungstribunal ausgedrückt hat,
die Befürchtung der „Negation der Idee des Staates“796
ist allerdings unbegründet. Die
Bejahung der Interpretation, dass die Gewissensfreiheit das allgemeine Verweigerungsrecht
aus Gewissensgründen enthält, bedeutet nicht, dass der Staat angesichts der Verletzungen von
geschützten Rechtsgütern eine wehrlose und passive Haltung einnehmen muss. Die
Anerkennung des allgemeinen Verweigerungsrechts bringt mit sich lediglich eine Pflicht, die
im bestimmten Fall kollidierenden Verfassungsgüter abzuwägen. Es obliegt den Gerichten zu
prüfen, ob die aus der verweigerten Rechtspflicht stammende Einschränkung der
individuellen Freiheit trotz Geltendmachung durch den Einzelnen eines ernsten
Gewissenskonflikts hinreichend begründet ist
793
J. A. Souto Paz, Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,
S. 129. 794
Ebenda, S. 127. 795
A. Martínez Blanco, Derecho eclesiástico del Estado. Volumen 2, Madrid 1993, S. 129. 796
Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs STC 161/1987.
198
Diese Idee liegt dem Ansatz des Interessenausgleichs zugrunde. Dort wird der Schwerpunkt
auf den höchstmöglichen Schutz der Gewissensfreiheit und nicht auf Unberührtheit des
Gesetzes gelegt. In diesem Sinne wird die Verweigerung aus Gewissensgründen von den
„rechtspositivistischen Vorurteilen“797
befreit. Sie ist nicht als eine tolerierte Ausnahme vom
allgemeingültigen Gesetz, sondern als integraler Bestandteil des Rechtssystems, als
verfassungsrechtlicher Wert an sich, angesehen. Dies hat zur Folge, dass an die Verweigerung
aus Gewissensgründen nicht mit Misstrauen herangegangen wird, als ob sie ein kniffliger
Umgehungsversuch einer Rechtspflicht wäre. Sie erscheint vielmehr als eine
Verwirklichungsform des schützenswerten Interesses des Einzelnen, das unter Umständen mit
anderen Rechtswerten in Konflikt gerät.
Darüber hinaus geht der legalistische Ansatz davon aus, dass die neutralen Gesetze
grundsätzlich außerstande sind, das Gewissen des Einzelnen zu tangieren. Damit wird aber
verkannt, dass die „neutralen“ Gesetze neutral lediglich in dem Sinne sind, dass sie ein
weltliches Ziel zu erreichen suchen. Allerdings liegt jedem Rechtssatz ein ethisches
Fundament, eine ethische Rechtsfertigung zugrunde, wenn auch sie nicht immer auf den
ersten Blick sichtbar ist. Das Recht als solches ist ein Instrument, mit dessen Hilfe sich das
Gemeinwesen anhand der durch die Mehrheit anerkannten Werte organisiert. Diese Werte
weisen vornehmlich den ethischen Charakter auf und aus diesem Grund gehen sie der
Rechtsordnung vor. Die apriorische Ausschließung der Möglichkeit einer Verweigerung aus
Gewissensgründen führt somit zur Diskriminierung der Minderheiten, welche die allgemein
anerkannten und der Rechtsordnung zugrundeliegenden religiösen und weltanschaulichen
Werte nicht teilen.
Weiterhin geht die Voraussetzung, dass dem Recht automatischer Vorrang der
Gewissensfreiheit gegenüber zukommen soll, von der irrigen Annahme aus, dass die
Gewissensfreiheit ein lediglich privates Interesse schützt, während die durch die verweigerte
Norm geschützten Interessen öffentlichen Charakter haben, was ihren generellen Vorzug
797
J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 108.
199
rechtfertigen soll. Selbst wenn aus der Perspektive des Einzelnen die Gewissensfreiheit
vornehmlich das individuelle Interesse schützt, verleiht ihm die bloße Verbürgung als
Grundrecht den Status des öffentlichen Interesses des höchsten Ranges. Hinzu kommt, dass
das öffentliche Interesse, dessen Verwirklichung das verweigerte Gesetz dient, häufig nicht
verlangt, dass das Gesetz in den 100 von Hundert Fällen befolgt wird.798
Die Einräumung
einer Ausnahmeregelung zugunsten der Verweigerer aus Gewissensgründen bedeutet nicht
zwangsläufig die Vereitelung des Regelungszweckes des verweigerten Rechtsaktes.
Das Argument, dass die Anerkennung der Betätigung der Gewissensfreiheit auf die Negation
der Rechtsordnung oder Herbeiführung der Anarchie hinauslaufen würde, ist im Hinblick auf
die Figur des zivilen Ungehorsams, aber nicht bezüglich der Verweigerung aus
Gewissensgründen haltbar. Die Gewissensfreiheit hat schon deshalb keine anarchistischen
Züge, weil der Grundrechtsträger keine generelle Abschaffung der abgelehnten Rechtspflicht
herbeiführen möchte. Während der Verweigerer aus Gewissensgründen lediglich eine
Befreiung von einer allgemeinbindenden Norm sucht, strebt der Einzelne, der auf den zivilen
Ungehorsam zurückgreift, nach der Aufhebung einer als unmoralisch oder schädlich
angesehenen Norm oder Politik. Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist somit eine
isolierte, private, defensive Handlung, während der zivile Ungehorsam eine kollektive,
offensive, auf Herbeiführung eines rechtlichen oder politischen Wandels ausgerichtete
Handlung ist. Der Verweigerer aus Gewissensgründen sucht lediglich „Frieden mit den
Wurzeln des eigenen Seins“.799
Er strebt grundsätzlich nach keiner Publizität und unternimmt
keinen Versuch der Einflussnahme auf den politischen Willensbildungsprozess.
Auch das Argument der möglichen „Pulverisierung“ der Rechtsordnung durch die
Anerkennung des allgemeinen Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen trifft nicht zu:
Der Ansatz des Interessenausgleichs geht nicht vom automatischen Vorrang der
Gewissensfreiheit aus. Es ist vielmehr die im konkreten Fall in Konflikt geratenen Interessen
798
J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 110. 799
M. J. Falcón y Tela, La desobediencia civil, Madrid, Barcelona 2000, S. 82.
200
sorgfältig zu ermitteln und abzuwägen. Außer der Interessensabwägung ad casum ist auch in
Betracht zu ziehen, dass der Gewissensfreiheit Schranken gesetzt sind.800
Als letztes Argument gegen den legalistischen Regelungsansatz der Gewissensfreiheit sei hier
auf soziologische Erkenntnisse rekurriert. Die Verweigerer haben häufig
überdurchschnittliche Moralstandards und möchten loyale Bürger sein. In diesem
Zusammenhang hat der Oberste Verwaltungsgerichtshof bemerkt, dass zu den moralischen
Grundsätzen, welche die Inanspruchnahme des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen
rechtfertigen, die allgemein akzeptierten Standards der Moral nicht ausreichend sind. Sie
charakterisieren sich vielmehr mit dem moralischen Rigorismus. Darüber hinaus sollen sie ein
Element der definierbaren Weltanschauung bilden und müssen durch die Lebenshaltung des
Berechtigten beglaubigt werden.801
Angesichts dessen ist die Erzwingung der Erfüllung der
verweigerten Rechtspflicht ohne den gewichtigen Grund aus rechtspolitischen Gründen
wahrscheinlich nicht die beste Lösung.802
Nicht zu befürchten ist auch die Inflation der Gewissensfreiheit. Der Mensch pflegt doch
nicht tagtäglich von einem Gewissenskonflikt in den anderen zu stürzen. Das lässt sich
einerseits damit begründen, dass ein Anlass zur Mobilisierung des Gewissens selten besteht;
nur ausnahmsweise sieht sich der Mensch vor der Frage gestellt, ob ein von ihm gefordertes
Verhalten die Identität seiner Persönlichkeit bedroht. Andererseits sind die Gewissenskräfte
nicht unerschöpflich; das Gewissen geht häufig den Konfrontationen aus dem Weg und gibt
dem Anpassungsdruck nach, ohne den Schaden zu nehmen.803
Es tritt als Gebotsinstanz, als
Rufer, erst dort in Aktion, wo die Persönlichkeit als solche in ihrer Identität kritisch bedroht
ist. In dieser Situation sagt der Einzelne zu sich „Ein solcher, der dies tut, kann ich nicht
sein;“804
es reagiert in einem außerordentlichen Konfliktfall, nicht im Normalfall. Darüber
hinaus ist in Betracht zu ziehen, dass wenn auch der Mensch Schöpfer und Entdecker von
800
J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional z comparado, in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 111. 801
NSA SA/Wr 14/91, 1991.02.11. 802
J. Martinez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 107f. 803
H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NvWZ, 1991, S. 1037; H. H. Klein,
Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, K.
Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 494; H. Ryffel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, Köln 1987, S.
322. 804
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 69.
201
Werten ist, ist die Mehrzahl seiner Wertvorstellungen in einem Kulturkreis, in dem er lebt,
seit Jahrhunderten eingewurzelt. Die durch das Gemeinwesen geteilten Werte sind
Gegenstand des intersubjektiven Verständnisses und der kulturellen Sozialisation. Daraus
ergibt sich, dass der Einzelne im Prinzip kein Wertsystem für sich wählt, sondern wächst in
ihm hinein, wenn auch dieses Hineinwachsen in die sozial anerkannten Wertvorstellungen
und Verhaltensmuster den Einzelnen und den Gruppen nicht völlig verhindert, die
Einzelwerte autonom zu wählen oder sogar das ganze Wertsystem der Gemeinschaft in Frage
zu stellen.805
Das Argument der massenhaften Berufung auf die Gewissensfreiheit als Bedrohung einer
Staatspolitik, etwa der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte ist nicht haltbar. Die
Gewissensfreiheit ist begriffsnotwendig ein Grundrecht der Minderheiten. Wird eine
Minderheit zur sozialen Mehrheit, gewinnt sie genügende politische Macht, um die
erwünschte Politik auf demokratische Wege durchzusetzen. Für die Mehrheit ist das
Grundrecht der Gewissensfreiheit funktionslos.806
Die eventuelle massenhafte
Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit könnte zwar die Verwirklichung einiger Staatsziele
gefährden, solche Zielkonflikte können aber lediglich vom (unter Umständen
verfassungsändernden) Gesetzgeber gelöst werden. Keinesfalls dürfte sich ein Gericht die
Kompetenz anmaßen, die Grundrechtsgarantie des Einzelnen leer laufen zu lassen, nur weil
zu viele Individuen das Grundrecht ausüben.807
Außerdem soll die Interpretation der
Verfassung von der Normallage ausgehen. Dazu gehört nicht nur die Tatsache, dass die Zahl
der aus Gewissensgründen in Konflikt mit einer Rechtsnorm geratenden Personen
erfahrungsgemäß gering ist, sondern auch die staatsbürgerliche Loyalität der
Grundrechtsträger, die darauf verzichten würden, Gewissensfreiheit als eine politische Waffe
zu gebrauchen. Die Interpretation der Verfassung wäre korrumpiert, wenn man den Wegfall
der Normallage in den Auslegungsprozess vorbeugend einbauen möchte. Zur Struktur des
Freiheitsstaates gehört, „dass er von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren
kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen.“808
805
P. Winczorek, Konstytucja i wartości, in: J. Trzciński, Charakter i struktura norm konstytucji, Warszawa
1997, S. 41. 806
P. Tiedemann, Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S. 70. 807
C. Eiselstein, Das „forum externum“ der Gewissensfreiheit – ein Weg in die Sackgasse, in: DÖV, 1984, S.
797. 808
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 80.
202
Die Notwendigkeit, die Betätigungsfreiheit der Gewissensentscheidungen zu gewährleisten,
wird schließlich mit der „gesetzgeberischen Invasion“809
d.h. mit der Tatsache begründet, dass
immer mehr Rechtsakte erlassen verden, die immer eindringlicher in die Privatsphäre des
Einzelnen eingreifen und damit mit seinen moralischen Überzeugungen kollidieren. Mit dem
immer dichteren Regelungsnetz, das alle Bereiche des privaten und sozialen Lebens normiert,
taucht das Bedürfnis auf, den Bereich der Privatautonomie von den staatlichen Eingriffen zu
schützen.
Die Anerkennung der Gewissensfreiheit bedeutet allerdings nicht nur „eine hypothetische
Lockerung der geltenden Rechtsnormen der Achtung des Menschen in seiner menschlichen
Individualität willen, sondern bringt vor allem eine positive Bereicherung der Rechtsordnung
mit sich. Durch die Garantierung der Gewissensfreiheit wird das Recht humanisiert, dem
Staat wird nicht gestattet, seine Ideologie den Bürgern aufzuerlegen, der Schutz wird nicht
lediglich den Minderheiten garantiert, sondern vor allem auf einen Einzelnen erstreckt, es
wird auch den von einer dominierenden Axiologie abweichenden Wertvorstellungen
Rechnung getragen, um von formalen Legalität zur materiellen Gerechtigkeit
überzugehen.“810
Für die Anerkennung der Gewissensfreiheit spricht daher die Aufgabe der modernen
Rechtsordnung, die Einstimmigkeit der Unterscheidenden, concordia discordantium und
sogar die Einstimmigkeit der Widerspruche, welche in der modernen Gesellschaft
vorkommen, herzustellen. Dieses Ziel kann nicht durch eine schlichte „Amputation der
verfassungsrechtlich eröffneten Potenzialitäten“811
, sondern vor allem durch die Annahme der
ergänzenden, kumulativen, kompensierenden und kombinierenden Losungen erreicht werden.
Dies führt zur Weiterentwicklung der Verfassungsgrundsatze. Jede Gesellschaft vermag,
bestimmten Maß an Konflikt an sich zu nehmen, ohne dass die Ordnung zunichte gebracht
wird. Damit wird der Pluralismus als Manifestationsform der Freiheit garantiert. Der
Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen liegt die Annahme zugrunde, dass der
Verweigerer kein Einzelgänger, oder ein asozialer Individualist ist, der lediglich eigene
Interessen vor Augen hat. Seine Gewissensentscheidung ist vielmehr auf das gemeinsame
809
J. A. Souto Paz, Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,
S. 128. 810
V. Reina, A. Reina, Lecciones de derecho eclesiástico español, Barcelona 1983, S. 415 f. 811
M. J. Ciaurriz, Objeción de conciencia y estado democrático, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas,
Derecho fundamental de libertad religiosa, México 1994, S. 85.
203
Wohl gerichtet. Nach seiner Auffassung ist die generelle Anwendung der verweigerten Norm
fur die Gesellschaft schädlich oder zumindest vereitelt die Erreichung eines gemeinsam
geteilten Wertes. Der Verweigerer, der allgemeinen Einschätzung zuwider, ist kein
unsolidarisches Individuum. Er bietet vielmehr eine positive Alternative den in der
verweigerten Norm enthaltenen Werten gegenüber. Er versucht ein durch die Mehrheit
übernommenes und im Gesetz zum Ausdruck gebrachtes Lebensmodell durch ein alternatives
Modell zu ersetzen, das, seines Erachtens nach, zu einem gerechteren und ethisch
wertvolleren Zusammenleben führen wird. Aus dieser Perspektive führt die Anerkennung der
Verweigerung aus Gewissensgründen zur Bereicherung der Rechtsordnung.812
6. Fazit
Es ist somit „eine inhaltliche Emanzipation”813
der Gewissensfreiheit zu konstatieren. Dieser
Fortbildungsprozess ist als eine normale Begleiterscheinung einer Verfassung anzusehen, die
begriffsnotwendig (durch Verfassungsauslegung) um ständige Aktualisierung bemüht sein
muss. Wenn auch die sprachliche Formulierung der Gewissensfreiheit in der polnischen
Verfassung keine eindeutigen Schlüsse zu ihrer Reichweite ziehen lässt, ist anzunehmen, dass
es hinreichend starke axiologische Gründe gibt, welche die Erstreckung ihres Schutzbereiches
auf die Sphäre der Gewissensbetätigung gebieten. Die Anerkennung der Ausübungsfreiheit
der Gewissensentscheidungen leistet einen unersetzbaren Beitrag zur Verwirklichung der
Menschenwürde und der individuellen Freiheit. Bei der Ausgestaltung der konkreten
Ausübungsvoraussetzungen der Gewissensfreiheit sind die Forderungen des Gleichheitssatzes
zu berücksichtigen. Dieser Grundsatz steht allerdings der Anerkennung des
Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen prinzipiell nicht im Wege. Was dagegen die
Rechtsprechung und Lehre auf der völkerrechtlichen Ebene und in den anderen Ländern
angeht, ist keine eindeutige Entwicklungstendenz zur Anerkennung der Gewissensfreiheit zu
verzeichnen. Das rechtsvergleichende Argument für die weite Auslegung dieses Grundrechts
wirkt daher nicht stark. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass mit zunehmendem
sozialem Bedarf an Anerkennung der Gewissensausübungsfreiheit die einschlägigen Postulate
der Lehre eine größere Resonanz in der Rechtsprechung finden werden. Zur Zeit schreitet die
Verselbständigung der Gewissensfreiheit nur ansatzweise fort.
812
A. Martínez Blanco, Derecho eclesiástico del Estado. Volumen 2, Madrid 1993, S. 129f. 813
H. Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat, Nr. 24, 1985, S. 370.
204
Kapitel V
Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der
Grundrechtstheorien
1. Die Rolle der einzelnen Grundrechtstheorien als Hilfsmittel im Prozess
der Auslegung der Gewissensfreiheit
Die den Norminhalt der grundrechtlichen Gewährleistungen konkretisierende Interpretation
findet in Wortfassung, Sprachsinn und Regelungszusammenhang keinen hinreichenden
Anhaltspunkt. Sie wird vielmehr „bewusst oder unbewusst von einer bestimmten
Grundrechtstheorie geleitet und bestimmt.“814
Wegen des „klauselartigen“ Charakters vieler
Verfassungsbestimmungen öffnet sich die Verfassung – gemäß dem Willen des
Verfassungsgebers – in die Richtung der Grundsätze und Werte, welche außerhalb des
geschriebenen Verfassungstextes situiert sind. Diese außerverfassungsrechtliche Werte und
Grundsätze erfüllen die Aufgabe, die Verfassungsvorschriften axiologisch zu präzisieren.
Allgemeine Rechtsgrundsätze, universelle Standards der Demokratie oder Elemente des
Verfassungsnaturrechts werden in das positive Recht „eingesaugt“, weil nur mit deren Hilfe
die Bedeutung der geschriebenen Verfassungsgrundsätze ermittelt werden kann.815
Aus
diesem Grund wird zwecks der Bestimmung des Inhalts einer grundrechtlichen Regelung
sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Lehre auf verschiedene Grundrechtstheorien
fallbezogen und je nach den einzelnen Grundrechtsbestimmungen wechselnd zurückgegriffen.
Der Anknüpfungspunkt für die Grundrechtstheorien ist oft die Suche, Probleme zu lösen, die
mit der veränderten politischen und gesellschaftlichen Lage neu oder mit veränderter
Akzentuierung an die Verfassung herangetragen werden.
Dieses Verfahren ist möglich, weil die polnische Verfassung ideologisch nicht neutral ist, sie
ist vielmehr „multidimensional und hat viele Faden. Man kann sogar sagen, dass sie
axiologisch inkohärent ist. Ohne in die Einzelheiten einzugehen, lassen sich in ihrem Text
national-christliche, christlich-demokratische, liberale und sozialdemokratische Faden
814
E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,
Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 116. 815
L. Garlicki, Normy konstytucyjne relatywnie niezmieniane, in: J. Trzciński, Charakter i struktura norm
konstytucji, Warszawa 1997, S. 153.
205
vorfinden. Dies war und ist im größeren Maße Ursache für ihre Kritik seitens der
ideologischen Integristen verschiedener Strömungen, welche der Verfassung eine einzige
ideologische Färbung zu geben versuchten (welche sie für liebeswürdig halten).“816
Auch die
einzelnen in der Lehre ausgearbeiteten Interpretationstheorien der Grundrechte (wie z.B.
liberale, institutionelle, sozialstaatliche, demokratisch-funktionale), weisen die Tendenz auf,
einzelne Aspekte oder Funktionen der Grundrechte zu verabsolutieren. Aus diesem Grund
sind sie bei der Verfassungsinterpretation lediglich als eventuelle Teilelemente einer
Gesamttheorie zu würdigen, welche der konkreten Verfassung zugrundeliegt. In der
pluralistischen Verfassung können sich hinter einer Theorie stehende Interessen nicht alleine
durchsetzen. Es geht vielmehr um eine flexible Kombination der einzelnen Theorien im
Prozess der „pragmatischen Integration von Theorienelementen“817
, damit „die Ideologie der
Verfassung“818
bzw. eine der Verfassung entsprechende Theorie der Grundrechte
rekonstruiert werden kann. Diese Theorie ist vor allem anhand des Verfassungstextes zu
erschließen, wie aber oben ausgeführt wurde, ihr können auch außertextliche Elemente
gehören. Die rekonstruierte Grundrechtstheorie soll die in der Verfassung normierte
Gesamtheit der Verhältnisse zwischen den Organen der öffentlichen Gewalt, den Einzelnen
und der Gesellschaft in den Blick nehmen.819
Die Einbeziehung einer Grundrechtstheorie in
den Prozess der Grundrechtsauslegung ist somit als keine Zubereitung der zu
interpretierenden Norm mit ideologischen Zutaten zu verstehen, die mit der „sachkundigen“
Anwendung der juristischen Auslegungsmittel vermeidbar wäre. Der Rückgriff auf
Grundrechtstheorien stützt sich vielmehr auf den lapidaren und fragmentarischen Charakter
der Verfassungsbestimmungen. Nichtsdestoweniger muss bei der Interpretation der
Verfassung vorgebeugt werden, dass sich die Anschauungen des Interpreten in die Auslegung
hineinschleichen und damit die Normativität der Verfassung in Frage gestellt wird.
Aus den oben genannten Gründen wird im vorliegenden Kapitel bei der Auslegung der
Gewissensfreiheit keiner bestimmten Grundrechtstheorie einseitig gefolgt. Es wird vielmehr
versucht, die in der Verfassung verankerte Konzeption der Grundrechte zu erschließen und
darauf die Auslegung der Gewissensfreiheit aufzubauen. Es wird dabei nicht verkannt, dass
die Teilelemente der einzelnen Grundrechtstheorien in den Verfassungsvorschriften,
816
P. Winczorek, Pięć lat konstytucji, in: Res Publica Nowa, Nr. 3, 2002, S. 86. 817
P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, in: JZ, 1989, S. 918. 818
Begriff entliehen von: G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 65ff,
71ff und passim, der von der Rekonstruierung der Ideologie des Grundgesetzes spricht. 819
F. Bastida Freijedo, Teoría general de los derechos fundamentales en la constitución española de 1978,
Madrid 2004, S. 77.
206
insbesondere in den Verfassungsgrundsätzen ihren Niederschlag gefunden haben. Ihre
Einbeziehung erfolgt somit implizit bei der Prüfung der einzelnen Aspekte der
Grundrechtsauslegung. Die ausdrückliche Aufmerksamkeit wird der Auslegung der
Gewissensfreiheit unter dem Blickwinkel der demokratisch-funktionalen, der liberalen, der
institutionellen und der Wertegrundrechtstheorie gewidmet. Dies erklärt sich damit, dass diese
Theorien für die Untersuchung des Potenzials der Gewissensfreiheit zusätzliche Impulse
geben, welche sich nur indirekt aus dem Verfassungstext ergeben. In der polnischen Lehre ist
zwar nicht üblich, einzelne Grundrechte im Lichte der verschiedenen Grundrechtstheorien zu
betrachten, die Analyse der Gewissensfreiheit in diesem Hinblick ist aber vom Vorteil, weil
damit Hinweise für die Konkretisierung deren Gewehrleistungsinhalts gewonnen werden
können.
2. Die Gewissensfreiheit im Lichte der demokratisch-funktionalen
Grundrechtstheorie
2.1. Ausgangspunkt
Die demokratisch–funktionale Grundrechtstheorie geht davon aus, dass Verhältnisse zwischen
dem Staat und dem Einzelnen nicht als Relationen der voneinander unabhängigen Subjekte
angesehen werden sollen, weil der Staat auf die Aktivität der Bürger verlassen ist. Diese
Annahme liegt der Auffassung der Grundrechte zugrunde, wonach sie vor allem als
konstituierende Faktoren des demokratischen Prozesses anzusehen sind. Die Grundrechte
werden in der Verfassung verankert, um diese Prozesse zu ermöglichen und zu sichern. Die
Funktion der Förderung der demokratischen Prozesse legitimiert die Grundrechte und
bestimmt ihren Inhalt.820
Die Grundrechte sind somit nicht nur Instrumente der
Einschränkung der staatlichen Gewalt, sondern auch wichtige Mechanismen der
Willensbildung des Staates und der politischen Aktivität der Einzelnen. Sie gewährleisten
nicht nur die Freiheit von dem Staat, sondern auch die Freiheit „zum“ Staat.
Daraus ergibt sich, dass der volle Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung der
Gewissensfreiheit in ihrer Regelungszusammenhang mit dem in Art. 2 Verf. normierten
Demokratieprinzip ermittelt und interpretiert werden soll. Die auf die Gewissensfreiheit
820
E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,
Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 133.
207
gestützte Verweigerung, eine allgemeine Rechtspflicht zu erfüllen, scheint jedoch auf den
ersten Blick mit dem Prinzip des demokratischen Rechtsstaates nicht vereinbar zu sein.
Insbesondere wenn die Demokratie eng d.h. lediglich prozedural verstanden wäre, würde die
demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie für die Gewissensfreiheit keine Stütze leisten;
die eventuelle Nichtgarantierung dieses Rechts gereicht doch der demokratischen
Entscheidungsbildung zu keinem Schaden. Die demokratische Ordnung könnte sogar als
Abgrenzungskriterium des Schutzgegenstands der Gewissensfreiheit angesehen werden, weil
sich das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen mit dem Mehrheitswillen
nicht zu vereinbaren lässt. Im Gegenteil seine Anerkennung würde auf Missachtung des
demokratischen Prozesses im Hinblick auf seine Resultate hinauslaufen.821
Im Sinne des
demokratischen Prinzips der Mitwirkung aller an den für alle verbindlichen Entscheidungen
wäre konsequent, jeden Einzelnen ohne Ausnahme diesen Entscheidungen zu unterwerfen.
Der demokratische Staat kann nicht erlauben, dass das Individuum, z.B. als Steuerverweigerer
aus Gewissensgründen, Ergebnisse des Willensbildungsprozesses teilhaft bestimmt, indem er
etwa die Höhe des Budgets für militärische Ausgaben beeinflusst. Aus diesem Grund werden
die Vorschläge, einen gesonderten Fund für friedliche Zwecke zu schafften, aus dem
Gesichtspunkt des Demokratieprinzips für nicht akzeptabel gehalten.822
Die These von der Unvereinbarkeit des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen mit dem
Demokratieprinzip beruht auf der engen Auffassung der Demokratie, wonach sie mit den
konkreten Mechanismen der politischen Willensbildung gleichgesetzt wird. Der Begriff der
Demokratie ist allerdings umstritten; sein Inhalt hängt von der Schwerpunktsetzung einzelner
Autoren auf einzelne Begriffselemente ab, er lässt sich aber auf seine prozedurale Dimension
nicht zurückführen. Für einige ist die Demokratie ein Synonym für Grund- und
Freiheitsrechte. Die Anderen akzentuieren die staatsorganisatorische Facette der Demokratie
und deshalb begreifen sie als eine Form des Staatssystems, in dem der Mehrheitswille als
Quelle der politischen Entscheidungen anerkannt ist. Noch Andere betonen den prozessualen
Aspekt der Demokratie und fassen sie als eine Funktionierungsmethode der Gesellschaft auf,
die mit bestimmten Entscheidungsverfahren gleichgesetzt wird. In diesem Zusammenhang
weist Banaszak zu Recht darauf hin, dass alle drei Elemente der Demokratie miteinander
821
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 197. 822
B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State
Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 268f.
208
untrennbar verknüpft sind und keiner von ihnen den Vorrang genießen soll. Das Fehlen eines
der genannten Elemente bedeutet, dass in dem Staat keine Demokratie vorhanden ist.823
Der Begriff der Demokratie ist somit vielschichtig; neben der prozeduralen Komponente
charakterisiert sich daher die Demokratie auch mit dem materiellen Moment. Die Demokratie
ist dabei kein Selbstzweck, sondern stellt eine Staatsform dar, die der optimalen
Verwirklichung der Menschenwürde dient. Da die Menschenwürde der höchste Wert der
Verfassung ist, bildet ihrer Schutz und Achtung das zentrale Kriterium und den letzten
Bezugspunkt demokratischer Ordnung. „Demokratie ist nicht nur eine Organisationsform der
Gewalt, sondern auch eine soziale Ordnung, die auf die Realisierung der ganzen
Persönlichkeit des Einzelnen ausgerichtet ist.“824
Die Ergebnisse der demokratischen
Verständigung (prozedurale Ebene) sind nur insofern legitim, als sie zur Verwirklichung
dieses Wertes beitragen (materielle Ebene der Demokratie).825
Neben der Quantität der
Verständigung fungiert auch die Qualität der Ergebnisse der Verständigung als Kriterium
demokratischer Ordnung. Die Beachtung des Pluralismus und unter Umständen sogar ihre
Förderung hat zum Endzweck und raison d‘etre das individuelle Gewissen und die
Verwirklichung der authentischen Freiheit des Einzelnen.826
Der freiheitlich demokratische
Staat bezieht seine Legitimation nicht nur aus dem demokratischen Prinzip der Mitwirkung,
sondern auch, wenn nicht primär, aus dem liberalen Prinzip der Gewährleistung und
Sicherung individueller Freiheit, „das das demokratische Prinzip relativiert und in seiner
Tragweite begrenzt.“827
Mit der Gewährleistung der Menschenwürde und der
Gewissensfreiheit hat sich der Staat für einen Staatstypus entschieden, „der von der Freiheit
des Bürgers ausgeht und auf seiner Gewissensentscheidung aufbaut.“828
Die Anerkennung des
Grundrechts der Gewissensfreiheit von dem Verfassungsgeber widerspricht somit dem
Grundsatz des Mehrheitswillens nicht; sie geht vielmehr mit der veränderten Einstellung zum
Rechtsgehorsam einher, der nicht mehr als unhintergehbar und absolut, sondern als relativ
und bedingt angesehen wird.
823
B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 270, Rn. 209. 824
Das Urteil des argentinischen Corte Suprema in Rechtstreit „Portillo“, 312: 496 (1989), zitiert nach: F. Loñ,
A. Morello, Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 408. 825
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 133. 826
A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la
fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 40. 827
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 57. 828
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 16.
209
Der Interpret, der sich an Maßstäben der demokratischen Ordnung orientiert, soll sich die
Vielschichtigkeit des Demokratiebegriffes vor Augen führen und diejenigen
Auslegungsvarianten der Grundrechte bevorzugen, welche die Entfaltung der einzelnen
Ebenen der Demokratie fördern, wie etwa: Pluralismus, Schutz der Minderheiten,
Stabilisierung der Demokratie durch Unterstützung des sozialen Diskurses und bürgerlicher
Partizipation oder die Freiheit zum Dissens.829
Bezogen auf das Grundrecht der
Gewissensfreiheit kann der Kontext der durch die Verfassung vorgegebenen freiheitlich-
demokratischen Staatsform für die Aufklärung seines Tatbestandsmerkmals, also des Begriffs
des Gewissens hilfreich sein. Nach diesem Ansatz tritt die Forderung, dass der
Grundrechtsträger auf zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikation offen ist, im
Vordergrund. Mit der Bereitschaft der Verantwortung vor dem Gemeinwesen verlässt das
Gewissen die Sphäre der „autistischen Verschlossenheit“830
des Subjektiven und wird
wiederum zu conscientia, d.h. zum auf den Anderen hin offenen Wissen. Damit aber die
Gewissensposition im zwischenmenschlichen Zusammenleben berücksichtigt werden kann,
muss sie rational mitteilbar sein. Aus diesem kommunikativen und gesellschaftsorientierten
Gewissensverständnis ergibt sich, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit besonders
geeignet ist, einen wesentlichen Beitrag zur Konsolidierung der demokratischen Ordnung zu
leisten. Im Folgenden werden seine Potentialitäten für die Stabilisierung der Demokratie im
Einzelnen behandelt.
2.2. Gewissensfreiheit als geistige Grundlage der demokratischen Ordnung
Die geistige Auseinandersetzung und die politische Willensbildung haben ihre Wurzeln in
Gewissensentscheidungen des Einzelnen. Deshalb gewinnt die Gewissensfreiheit über die
Sicherung des status negativus hinaus eine „konstitutive Funktion“831
für die demokratische
Ordnung. Der „innere Zusammenhang zwischen Demokratie und Gewissensfreiheit beruht
darauf, dass das freie Gewissen immer auch ein souveränes sein muss, mit der Folge, dass
Gewissensfreiheit als Grundrecht des status negativus immer die Tendenz hat, in ein aktives
Staatsbürgerrecht des status activus umzuschlagen. (…) So ist vor allen anderen
829
G. J. Bidart Campos, Teoría General de los derechos humanos, México 1989, S. 412. 830
R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 9. 831
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 16.
210
Grundrechten das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen, nicht Grenze, sondern Grund
des Staates zu sein.“832
Das Gewissen und seine Freiheit liegen der Demokratie „sowohl historisch als auch dem
Sinne nach zugrunde, da die Demokratie zumindest tendenziell – auch in sittlicher Hinsicht –
auf Akzeptanz, Zustimmung und Mitwirkung ihrer Bürger angewiesen ist.“833
2.3. Legitimationsfördernde Funktion der Gewissensfreiheit in der Demokratie
Der demokratische Verfassungsstaat gewinnt seine Legitimation, indem die Gewissensfreiheit
von der Mehrheit als Grenze des Rechtszwangs anerkannt wird.834
„Ohne solche Freiheit kann
es die spezifisch rechtstaatlich–demokratische Legitimation des Gemeinwesens überhaupt
nicht geben.“835
Nogueira Alcala stellt in diesem Zusammenhang eine rhetorische Frage:
„Was würde dem Staat Legitimation verleihen, wenn er nicht dem Einzelnen erlauben würde,
sich selbst zu sein? Was für ein Recht würde der Staat gewährleisten, der den fundamentalen
Wesensgehalt der Persönlichkeit nicht garantiert? Wo sonst würde die
Weltanschauungsfreiheit, Religionsfreiheit, Unterrichtungsfreiheit sowie Meinungs- und
Informationsfreiheit ihren Ursprung finden?“836
Aus dem Blickwinkel der demokratischen Rechtsordnung liegt die wesentliche
Rechtsfertigung des Rechts nicht nur in seiner Ordnungsfunktion, sondern auch in seiner
Akzeptanz von den Normadressaten, d.h. in seiner Eignung, vor dem Gewissen aller oder
wenigstens der Mehrheit der Rechtsgenossen standzuhalten.837
Zu ihrer Legitimation bedürfen
jedoch Demokratie und Mehrheitsprinzip des Schutzmechanismus und Toleranz gegenüber
jenen, welche diese Akzeptanz aus Gewissensgründen nicht leisten können. Die Funktion
dieses Schutzinstruments wird durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit insbesondere in
denjenigen Fällen erfüllt, wo sich die Minderheit aus Gewissensgründen, d.h. aus Gründen
der Mitverantwortung einer Entscheidung der Mehrheit widersetzt. Ohne die der Demokratie
832
H. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, S. 31 f. 833
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 92. 834
D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 230. 835
R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 8. 836
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,
S. 12. Um die Bedeutung dieser Aussage im vollen und ganzen zu verstehen, ist zu berücksichtigen, dass der
zitierte Autor die Gewissensfreiheit über das forum internum hinaus als das Recht der Gewissensbetätigung
versteht. 837
R. Zippellius, Rechtsphilosophie, München 2007, S. 36.
211
immanente Toleranz würde die auf dem Einverständnis der Beherrschten beruhende
Legitimität der Rechtsordnung in bloße Legalität übergehen. Die Anerkennung des
Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen ergibt sich somit begriffsnotwendig aus dem
Demokratiekonzept, wonach die regierende Mehrheit die Rechte der Minderheit zu achten
hat. Die kleinste Minderheit ist dabei das mit den Menschenrechten ausgestattete
Individuum.838
2.4. Förderung des Pluralismus durch Gewissensfreiheit
Weiterhin setzt die Demokratie das Vorhandensein des weit verstandenen Pluralismus voraus,
der sich auf alle für den Menschen wichtigen Lebensbereiche (z.B. Kultur, Kunst, Religion)
erstreckt. Dem Staat obliegt somit das Vorliegen vom Pluralismus nicht nur zu garantieren,
sondern auch seine Entwicklung zu unterstützen.839
Diese Aufgabe kann zum Teil durch die
Gewehrleistung des Grundrechts der Gewissensfreiheit wahrgenommen werden. Dies wird
dann erreicht, wenn die Gewissensfreiheit unabhängig von den Gewissensinhalten geschützt
wird. Wie bei der Meinungsfreiheit bedingt der Staat den Schutz der freien
Meinungsäußerung vom Inhalt der Äußerung nicht, soll er auch im Fall der Gewissensfreiheit
ähnlich vorgehen. Der Schutzgegenstand beider Grundrechte ist individuelle Autonomie, ohne
die der demokratische Pluralismus kaum möglich wäre.840
Die Bewahrung der pluralistischen Gesellschaft wird neben dem Schutz der Identität und
Selbstbestimmung des Einzelnen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als ratio
legis der Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Entscheidung Kokkinakis v. Greece841
ausdrücklich anerkannt: „Die Gewissen-, Gedanken- und Religionsfreiheit ist eine der
Grundlagen der ‚demokratischen Gesellschaft‟ im Sinne der Konvention. Diese Freiheit in
ihrer religiösen Dimension ist eines der fundamentalen Elemente, welche die Identität der
Gläubigen und ihre Lebenskonzeption ausmachen. Sie ist aber auch ein hochgeschätzter Wert
für die Atheisten, Agnostiker und Nichtbetroffenen. Der mit der demokratischen Gesellschaft
untrennbar verbundene Pluralismus, der über die Jahrhunderte teuer gewonnen ist, hängt von
838
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,
S. 13. 839
B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 279, Rn. 217. 840
A. Torres Gutierrez, La libertad de pensamiento, conciencia y religion (Art. 9 CEDH), in: J. Garcia Roca, P.
Santolaya, La Europa de los Derechos. El convenio Europeo de Derechos Humanos, Madrid 2005, S. 512; J.
Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: G. Sancho,
Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 107f. 841
App.No.14307/88, 17 EHRR S. 397.
212
ihr ab.“ Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der zitierten
Entscheidung sowohl auf individuelle als auch auf soziale Rechtfertigung der
Glaubensfreiheit Bezug nimmt, scheint der Schwerpunkt auf den sozialen Aspekt gelegt zu
werden. Diese These findet ihre Bestätigung in der Behauptung, dass Gewissens- und
Glaubensfreiheit die Grundlage der demokratischen Gesellschaft darstellt, sowie in den hohen
Stellwert, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Pluralismus beimisst.842
Es ist nicht somit nicht zu verkennen, dass Art. 9 EMRK im Kontext der allgemeinen
Axiologie der Konvention zu betrachten ist, die nicht nur an die Gewehrleistung individueller
Rechte, sondern auch an Sicherstellung der demokratischen Gesellschaft orientiert ist.843
2.5. Die Gewissensfreiheit als das Recht auf Mitverantwortung für das Gemeinwesen
Die Funktion der Gewissensfreiheit ist zunächst, dem Einzelnen einen Bereich ethischer
Selbstbestimmung zu gewähren. Darüber hinaus schützt das Grundrecht die
Verantwortungsfähigkeit des Bürgers in einem demokratischen Gemeinwesen.844
Das Prinzip
der Verantwortung wirkt positiv durch die Beteiligung an der politischen Willensbildung und
negativ – durch die Möglichkeit, einen durch die Mehrheit hergestellten Gewissenszwang
abzuwehren. Indem das Gewissen von der Mehrheit als Grenze des Rechtszwanges anerkannt
wird, gewinnt die Demokratie Legitimität.845
Die Gewissensfreiheit ist somit eine „existenzielle Grundkonstituante“846
für die
demokratische Rechtsordnung. Dies lässt sich mit der Tatsache erklären, dass „wenn die
Mehrzahl der Staatsbürger unkritisch den herrschenden politischen Kräften vertraut, Gesetze
und Befehle ohne Rücksicht auf ihren Inhalt befolgt und nicht in der Lage ist, sich trotz der
Beeinflussung durch Massenkommunikationsmittel eine eigene Meinung zu bilden, läßt sie
sich nach Belieben manipulieren, wodurch jede Wahlen und Abstimmungen jede politische
Bedeutung verlieren. Somit steht und fällt eine Demokratie mit der Bereitschaft ihrer Bürger
auf Mitverantwortung. Daher gefährdet eine Demokratie, welche das Gewissen nicht schützt,
842
H. Cullen, The emerging scope of freedom of conscience, in: European Law Review. Human Rights Survey,
1997, S. 34. 843
L. Garlicki, Konwencja o Ochronie Praw Człowieka i Podstawowych Wolności, Art. 9, S. 553, Rn. 6 844
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 42. 845
D. Franke, Gewissensfreiheit und Demokratie, Aktuelle Probleme der Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 114,
1989, S. 17. 846
P. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtssprechung, in: DÖV, 1984, S. 61.
213
sich selbst.“847
Aus der demokratisch-funktionalen Perspektive hat die Gewissensfreiheit zum
Zweck, blinde Befolgung des Rechts ohne Rücksicht auf seinen Inhalt vorzubeugen. Sie ist
deshalb in erster Linie das Recht zur bürgerlichen Mitverantwortung und nicht das
Abwehrrecht von staatlichen Eingriffen. In diesem Sinne kann die Gewissensfreiheit als „ein
Testgrundrecht für den Zustand von Staat und Gesellschaft“848
bezeichnet werden.
Dass sich das so respektierte Gewissen tatsächlich von der Demokratie zur Verantwortung
nehmen lässt, ist eigentlich eine Hoffnung, die sich nicht immer erfüllt. Die Rechtsordnung
kann nur die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Einzelne die seinem Gewissen
entgegengebrachte Achtung mit Loyalität erwidert, kann dies aber nicht erzwingen oder zur
Voraussetzung der Gewährleistung der Gewissensfreiheit machen. „Ohne das Vertrauen in die
Bereitschaft der Bürger, den Staat zu tragen, ist Demokratie nicht möglich; ein Weg, solche
Bereitschaft zu erzeugen, ist die Achtung des Staates vor dem Gewissen.“849
Die Auffassung der Gewissensfreiheit als das Recht zur Mitverantwortung wurde in der
deutschen Literatur von Ekkehard Stein entwickelt. Zum Ausganspunkt dieser Theorie werden
psychologische Erkenntnisse (Psychoanalyse und Ganzheitspsychologie) zum Gewissen.
Danach gibt es einen Zusammenhang zwischen der Gewissensbildung des Einzelnen und
seiner Fähigkeit der Hinwendung zum Anderen, der darin besteht, dass die Liebesbeziehung
des Kindes zu seinen Eltern in Übernahme und Verinnerlichung ihrer moralischen Werte
resultiert. Der in der Beziehung zu den Eltern beginnende Prozess „führt über die
Identifizierung mit einem geliebten Menschen hinaus zum Verantwortungsbewusstsein
gegenüber immer umfassenden Gruppen.“850
Das Verantwortungsbewusstsein erstreckt sich
im Laufe der moralischen (individuellen und kollektiven) Entwicklung auf immer breitere
Menschenkreise bis auf die ganze Menschheit und sogar auf andere Lebewesen. Die Tiefe
dieses Verantwortungsgefühls steht jedoch mit seiner Weite im umgekehrten Verhältnis.851
847
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 50. 848
H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der
Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 436. 849
D. Franke, Gewissensfreiheit und Demokratie, Aktuelle Probleme der Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 114,
1989, S. 17; D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 223. 850
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 44. 851
Ebenda, S. 44f.
214
Aus dieser Erkenntnis folgt die Auffassung des Gewissens als „Folge der Hinwendung zum
Du“852
und als „Ausdruck der Bindung der Menschen an andere Menschen.“853
Diese
Auslegung führt ihrerseits zur Annahme des Beweggrundes einer Handlung zum
entscheidenden Kriterium dafür, ob sie durch das Gewissen bestimmt wird oder nicht: „Ein
Verhalten ist dann und nur dann vom Gewissen bestimmt, wenn es nicht durch ein Streben
nach persönlichem Vorteil, sondern durch das Bewusstsein der Verantwortung für die von
dem Verhalten betroffenen Personen oder Gruppen motiviert wird.“854
Dabei wird unter der
Verantwortung eine Haltung verstanden, wonach die Folgen einer Handlung für die
Betroffenen in gleicher Weise wie für sich selbst berücksichtigt werden.855
Der Bereich der
Gewissensfreiheit geht dabei nicht weiter als die Bezugsgruppe des
Verantwortungsbewusstseins.856
In seinem Konzept der Verantwortung legt Stein den Schwerpunkt auf die Identifizierung des
Einzelnen mit seiner Bezugsgruppe; die Abstandnahme des Individuums vom Gemeinwesen
steht dagegen im Hintergrund. Diese Voraussetzung hat zur Folge, dass Gewissensfreiheit in
erster Linie „keine Freiheit von“, sondern „die Freiheit zur Mitverantwortung“857
ist.
Gleichwohl steht dem Einzelnen das Recht zu, seine Mitwirkung an einer Handlung zu
verweigern und „sich insoweit aus der Allgemeinheit durch Passivität auszuschließen, um
nicht mitschuldig zu werden an einer Aktion, die er vor seinem Gewissen nicht verantworten
kann.“858
Um diesen distanzierenden Sinn der Gewissensfreiheit zu begründen, bedient sich Stein der
Formulierung „Verantwortung vor“. Adressat dieser Verantwortung ist danach ein Gewissen,
das er zuvor bloß als Verantwortungsbewusstsein „für“ bestimmt hat. In diesem
Zusammenhang hat Eckertz zu Recht bemerkt, dass eine Abstandnahme nur dann möglich ist,
wenn die Instanz vor der ein Subjekt verantwortlich ist, von derjenigen unterschieden wird,
852
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 34. 853
Ebenda, S. 43. 854
Ebenda, S. 45; Der egoistische Moment wird als „Entstellung“ der Figur der Verweigerung als
Gewissensgründen auch von López Guzmán angesehen: J. Lopéz Guzmán, Objeción de conciencia farmacéutica,
Barcelona 1997, S. 51. 855
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 45f. 856
Ebenda, S. 57. 857
Ebenda, S. 50f. 858
Ebenda, S. 59.
215
für die er verantwortlich ist. Die beiden Aspekte der Verantwortung zu konfundieren, vermag
nicht die Freiheit des Einzelnen zu begründen.859
2.6. Die Stiftung des öffentlichen Diskurses im Bereich des Ethischen
Die Aufgabe des demokratischen Willensbildungsprozesses besteht in Artikulierung und
Bewältigung der innerhalb der Gesellschaft erscheinenden Spannungsverhältnisse und
Dissense. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem zur Geltung gebrachten Willen der
Mehrheit und den Anschauungen der Minderheiten lassen sich dabei in zwei Kategorien
einteilen, nämlich in die der distributiven und die der ethischen Dissense.860
Die distributiven
Dissense betreffen die Frage der Verteilung der durch das Gemeinwesen hergestellten Güter,
wobei der Begriff von Gütern weit aufgefasst wird und umfasst nicht nur Güter materieller
Art, sondern auch Handlungsspielräume, Bildungs- und Entfaltungschancen,
Partizipationsrechte u.a.m.. Die distributiven Dissense entstehen somit infolge der
widerstreitenden Interessen.
Bei den ethischen Dissensen handelt es sich dagegen nicht um widerstreitende Interessen,
sondern um widersprüchliche Erkenntnisse über das Gute und das Böse. Diese
Wahrheitsbehauptungen in Fragen des moralisch Richtigen sind nicht Resultat einer
politischen Übereinkunft; sie sind vielmehr für den einzelnen Menschen vorgegeben und von
ihrem Willen unabhängig. Das Problem der Gewissensfreiheit liegt gerade darin, dass die
Aufstellung objektiver Kriterien in Fragen der Moral bisher gescheitert ist. Gelänge es,
objektive Maßstäbe der Sittlichkeit zu finden, entfiele die Frage nach Vorrang der
Gemeinschaftsnorm oder Gewissensnorm; das Problem der Gewissensfreiheit würde sich
dann überhaupt nicht stellen. Es verbliebe nur individuelle und kollektive Anerkennung der
objektiven Wahrheit und die Regulierung abweichenden Verhaltens als kriminell oder
krankhaft.861
Die ethischen Dissense gehören dem Bereich der sozialen Faktizität. Sie treten hervor, wenn
eine Norm, deren Geltung in einer Gesellschaft bis dahin nicht bezweifelt wurde oder als eine
859
R. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit. Zum Verständnis von Gewissen, Staat und Religion, in: Der
Staat, Nr. 25, S. 258f. 860
P. Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, in: Der Staat, Nr. 26, 1987, S. 372f. 861
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 27.
216
„unumstößliche Selbstverständlichkeit“862
angesehen wurde, nun in Frage gestellt wird. Dies
geschieht z.B. durch die Konfrontation eines Kulturkreises mit den in einer anderen Kultur zu
verzeichnenden Verhaltensmustern. Dieser Erschütterung der in einem Kulturkreis
befindlichen Evidenzen folgt getreu das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Daraus ergibt sich,
dass die geschützten Gehalte der Gewissensfreiheit nicht feststehen. Der Schutz dieses
Grundrechts greift vielmehr immer dann ein, wo neue Wert- und Verhaltensmuster in
bewusste Konkurrenz mit alten Evidenzen treten und wo sie sich noch nicht in selbstständige
Freiheitsbereiche ausgegliedert haben.863
Die demokratische Ordnung charakterisiert sich daher mit Vorsicht und Skepsis „objektiven“
und absoluten Wahrheitsansprüchen gegenüber. Sie ist darauf angewiesen, alleine im Weg der
Meinungskonfrontationen vieler gleichberechtigter Diskurspartner plausible und
konsensfähige Problemlösungen zu suchen. Die Richtigkeit und die Legitimität der staatlichen
Ordnung beurteilt sich nach der Qualität der Verständigung, die alle Betroffenen in ihrer
Einzigartigkeit zum Zug kommen lässt.864
Die echte Konsensbildung geschieht von mehreren
verschiedenen Positionen aus. Sie darf sich nicht an Homogenität ausrichten und mit
Harmonie zufriedengeben, „sondern lebt in der Spannung vom Kompromiss und Konflikt.“865
Gerade durch die Einbeziehung und die Auseinandersetzung mit oppositionellen
Standpunkten gewinnt das Gemeinwesen die größte Stabilität.866
Die Gewissensfreiheit bildet
dabei ein Institut, das aus der Perspektive von moralischen Einzelstandpunkten das
demokratische Infragestellen des Mehrheitswillens sichert und fördert. Diese Infragestellung
bietet die Angelegenheit, nach besseren Rechtslösungen und Politiken zu suchen. Auftretende
Gewissenskonflikte sind Indikatoren dafür, dass bestimmte Normen mit Zustimmung oder
zumindest Duldung eines Teils der Gesellschaft nicht rechnen können. Dieser Umstand muss
in dem Gemeinwesen Kräfte freisetzen, in dem Diskurs mit denjenigen, deren Gewissen mit
der geltenden Ordnung kollidiert, über alternative Rechtslösungen und Politiken
nachzudenken.
Da sich das Gewissen des Einzelnen unter Umständen im sehr hohen Ausmaß gegen den
Mehrheitswillen stellen kann, stellt die Diskussion über moralische Fragen sehr hohe
862
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 35. 863
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 35; A. Podlech, Das
Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S.26. 864
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 121. 865
Ebenda, S. 127. 866
Ebenda, S. 144.
217
Qualitätsanforderungen an den praktischen Diskurs. Sie verlangt von den Diskursteilnehmern
nicht nur Offenheit für irgendwelche andere Positionen, sondern auch Bereitschaft, die
herrschende Rechtsordnung auch in grundlegenden Punkten in Frage zu stellen. Mit der
Sicherung der Möglichkeit der Diskussion über Gewissensfragen zeigt die Staatsordnung
deshalb ein hohes Maß an Mut und demokratischer Reife.867
Es können dabei verschiedene Ebenen des Dialoges unterschieden werden: Zuerst kann das
Gewissensphänomen selbst als Forum eines Dialoges oder Auseinandersetzung beschrieben
werden. Auch der Prozess der Gewissensbildung vollzieht sich in der dialogischen Umwelt
der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Offenheit des Einzelnen auf den Diskurs kann
jedoch im Zeitpunkt der Erlangung zu einer Gewissensentscheidung oder der
Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit wegen geringer oder sogar keiner
Kompromissbereitschaft der Gewissensentscheidung des Betroffenen zu Ende kommen.
Auf der Ebene der Rechtsanwendung ändert sich daher die Situation des Einzelnen und das
Dialogthema. Zur moralischen Richtigkeit eines Verhaltens als Dialoggegenstand tritt die
Frage der Zumutbarkeit vom Zwang. „Der einzelne tritt unter diesen Bedingungen nicht
freiwillig in einen Dialog ein, er wird in der Regel nicht die Erwartung haben, inhaltlich zu
überzeugen, und geringe Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen. Der Staat kann ihm aber
dennoch ermöglichen und zumuten, sich gegenüber der Rechtsordnung (noch einmal) zu
erklären und sich den Standpunkt der Rechtsordnung erklären zu lassen.“868
Der Staat kann
den Einzelnen zur Äußerung seiner Position zwar nicht zwingen, er eröffnet aber den
Schutzbereich der Gewissensfreiheit nur dann, wenn der Einzelne seine Überzeugung mit
relativer Schlüssigkeit und Plausibilität darlegt. Die Anerkennung der Verweigerung aus
Gewissensgründen setzt somit ein Mindestmaß an Kommunikation voraus.869
Der ungestörte Diskurs setzt aber voraus, dass die Dissidenten aus Gewissensgründen von der
verweigerten allgemein geltenden Rechtspflicht dispensiert werden. Der Einzelne, der sich
auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit beruft, handelt nicht nur im privaten, sondern vor
allem im öffentlichen Interesse, wenn er für seinen gewissensmäßigen Standpunkt politische
Mehrheiten zu überzeugen versucht und zugleich seine Überzeugung im öffentlichen Diskurs
867
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 151. 868
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 290. 869
R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 8f., in: VVDStRL, Bd. 28.
218
der Kritik und Überprüfung aussetzt. Die Inanspruchnahme des Grundrechts der
Gewissensfreiheit wird deshalb als Ausübung eines „öffentlichen Amtes“870
angesehen. Um
die Freistellung von allgemeinen Pflichten mit dem Demokratieprinzip vereinbaren zu
können, wird von dem Verweigerer „ein öffentliches, Zivilcourage erforderndes
Engagement“871
als eine „Gegenleistung“ verlangt; die Freistellung von der Erfüllung einer
Rechtspflicht verdient nur derjenige, der mit allen legalen Mitteln zur Veränderung der
Mehrheiten zwecks Verwirklichung seiner Gewissensüberzeugung anstrebt.872
„Wer sich
weigert, den Dialog zu führen, kann auch nicht den Dispens von allgemein auferlegten
Pflichten in Anspruch nehmen.“873
Dies bedeutet z. B. für den Fall der
Kriegsdienstverweigerung, dass von dem Antragsteller ein Engagement gegen Rüstung und
Militarismus als Indiz für das Vorliegen einer entsprechenden Gewissensentscheidung
gefordert werden soll. Von einem Verweigerer der Mitwirkung an der Abtreibung könnte
nach diesem Ansatz erwartet werden, dass er sich für den Schutz des ungeborenen Lebens
öffentlich einsetzt.
Durch Auferlegung solcher Voraussetzungen der Grundrechtsausübung wird ein
Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen dem Staat und Bürgern hergestellt; die Wirksamkeit der
Grundrechtsausübung wird von Erbringung einer „Leistung“ seitens des Berechtigten
abhängig gemacht. Damit wird allerdings verkannt, dass Grundrechte einen unbedingten
Charakter haben. Durch die Verbindung ihrer Inanspruchnahme mit der Forderung vom
Einzelnen einer „Gegenleistung“ wird die Natur der Grundrechte als angeborene und
unveräußerliche Freiheitsbereiche entstellt. Aus diesem Grund kann dieser Forderung nicht
gefolgt werden.
Die Bejahung des Beitrages der Gewissensfreiheit zur Förderung des politischen Diskurses
setzt ihre Einstufung als ein Kommunikationsgrundrecht voraus. Danach gewährleistet die
Gewissensfreiheit, die Selbstbeurteilung im Gewissen frei zu führen und die daraus
resultierenden Gewissensentscheidungen zu verbreiten, sowie danach zu leben. Im Kontext
der demokratischen Entscheidungsfindung ist der Schutz der Gewissensbetätigung besonders
relevant. Durch die Möglichkeit, gewissensgemäße Positionen zu äußern, zu verbreiten und
nach ihnen zu leben, werden sie auch für die rechtliche und politische Diskussion zugänglich.
870
P. Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, in: Der Staat, Nr. 26, 1987, S. 391. 871
Ebenda, S. 393. 872
Ebenda, S. 391, 393. 873
Ebenda, S. 393.
219
Jedem Einzelnen steht dabei das Recht zu, seine moralischen Überzeugungen gezielt in die
rechtliche und politische Diskussion einzubringen.874
Der Verweigerer aus Gewissensgründen
beteiligt sich am demokratischen Prozess, indem er die ethischen Dissense in der Gesellschaft
offenlegt und den öffentlichen Diskurs stiftet.875
Er optiert für die Demokratie, wenn er seine
Position öffentlich macht. Er lädt damit seine Mitbürger zu dem politischen Diskurs über
Gerechtigkeit und zur eventuellen Rechtsänderung ein, welche die Mehrheit akzeptieren
kann.876
Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass die Gewissensfreiheit das Potenzial aufweist,
„dem Mehrheitswillen und damit dem demokratischen Gemeinwesen vitale Impulse für seine
Weiterentwicklung zu geben. Die Auseinandersetzung mit Gewissensfragen kann nämlich die
Gewissensaktivität Anderer anregen und zur allgemeinen Reflexion den Ansporn geben.
Bestehende Regeln können dadurch hinterfragt werden und ihr Entwicklungsbedarf kann
erkannt werden.877
Die aus den Gewissensentscheidungen der Einzelnen hervorgehenden
Impulse für die Weiterentwicklung des Gemeinwesens erlauben der Rechtsordnung, sich
ständig an die sich ändernde Umwelt anzupassen. Dadurch leistet die Gewissensfreiheit einen
Beitrag zur Stabilität des Systems im Ganzen.878
Dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit ein taugliches Instrument zur öffentlichen Debatte
werden kann, welche zu einer Rechtsänderung führt, zeigt der Fall der Verweigerung der
Hunderten von der Medizin- und Biologiestudierenden in Deutschland, an den für den
Studienabschluss erforderlichen Experimenten an Tieren teilzunehmen. Obwohl fast alle
Versuche der Studierenden, die Freistellung von den gewissenswidrigen Übungen gerichtlich
zu erlangen, gescheitert haben, haben einige Universitäten – nicht zuletzt wegen der immer
zahlreicheren Proteste der Studenten und zunehmenden Drucks seitens der Öffentlichkeit –
die Experimente an lebenden Tieren durch andere Methoden teilweise ersetzt. Die
Auseinandersetzungen mit diesem Thema haben zu einem Angebot der tierversuchsfreien
Praktika, zu einem Rückgang des Verbrauchs von tierischen Organpräparaten und zur
874
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 149. 875
G. Quinn, Conscientious objection in labour relations (civil service and liberal professions), in: Council of
Europe, Freedom of conscience, 1993, S. 109, 120. 876
K. Mansilla Tores, E. L. Villarán, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el
Perú, Lima 2000, S. 26. 877
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz Zürich 2008, S. 151. 878
Ebenda, S. 154.
220
Einführung alternativer Lernmethoden (Computersimulationen, Filme, Arbeiten an Kadavern)
geführt.879
Die weitgehenden Konsequenzen der Auffassung der Gewissensfreiheit als Instrument der
politischen Willensbildung lassen sich auch am Beispiel der Wehrdienstverweigerung
veranschaulichen. Stein erwägt in diesem Zusammenhang ein hypothetisches Problem der
radikalen Abnahme der Verteidigungsbereitschaft in der deutschen Gesellschaft und fragt, ob
eine solche Befürchtung die Beschränkung der Gewissensfreiheit zu rechtfertigen vermag.
Dabei weist er auf die Tatsache hin, dass die Herabsetzung der Verteidigungsbereitschaft von
der Mehrzahl der Verweigerer bewusst in Kauf genommen wird; die Wehrdienstverweigerer
sehen gerade in einer Abrüstung die einzige Möglichkeit zum Abbau der Gefahr eines die
ganze Menschheit auslöschenden Atomkriegs. „Um zu erreichen, dass endgültig mit der
Abrüstung ernst gemacht wird, soll durch die Wehrdienstverweigerung der Staat zur
einseitigen Abrüstung gezwungen werden.“880
Dieses politische Konzept darf aber in der
Demokratie nicht nur toleriert werden, solange es keine Chance hat, sich durchzusetzen. Die
Chance der Minderheit unter Beachtung der demokratischen Spielregeln zur Mehrheit zu
werden, ist nicht als eine Gefahr zu bekämpfen. Sie ist vielmehr als integraler, konstitutiver
Bestandteil demokratischer Staatsform verfassungsrechtlich abgesichert.881
Der Staat ist dem
Recht unterworfen und verpflichtet, das geltende Recht anzuwenden. „Dem Staat wohnt keine
Legitimation inne, die Rechtsordnung zu bewahren, indem er selbst diese Ordnung verletzt.
Ein solches Verhalten würde zu contradictio in terminis. Dies ist bestimmt das Risiko und der
Preis der Demokratie, ein anderes Verfahren ist durch das Verfassungsrecht allerdings nicht
vorgesehen.“882
2.7. Gewissensfreiheit als Katalysator des moralischen Vorschritts des Gemeinwesens
Zum Ausgangspunkt wird hier die Annahme, dass die Gewissensfreiheit dem zivilen
Ungehorsam ähnelt, weil die Individuen, die sich auf diese Rechtsfiguren berufen, eine
Rechtsänderung abzielen. Der Unterschied zwischen beiden Konstellationen liegt nur in den
879
K. Brandhuber, Kein Gewissen an deutschen Hochschulen?, in: NJW, 1990, S. 726; F. Filmer, Das Gewissen
als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 295. 880
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 63. 881
Ebenda, S. 63; E. de la Fuente Rubio, Democracia y desobediencia civil. Objeción de conciencia, in: Revista
de la Facultad de Derecho, Curso 1993-1994, Madrid 1995, S. 100. 882
I. Elósegui, La objeción de conciencia en un estado democrático de derecho y una sociedad plural: el
principio de igualdad en el acceso a la función pública, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y función pública,
Madrid 2007, S. 201.
221
Handlungsweisen der Einzelnen. Auch der Verweigerer setzt sich für die öffentliche Freiheit
ein, obwohl er individuell handelt und sein Handeln auf der individuellen Freiheit fußt. Die
Verweigerung aus Gewissensgründen soll gerade als eine individuelle Haltung verstanden
werden, welche danach strebt, eine Lösung für eine sozial relevante Angelegenheit
bereitzustellen. Wie im Ansatz Steins überschreitet die Verweigerung aus Gewissensgründen
das individuelle Interesse und plädiert für eine Transformation der sozialen Werte. Sie ist ein
Ausdruck des Engagements des Einzelnen in die Belange des Gemeinwesens. Gerade dieser
letzte Aspekt rechtfertigt die Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen als ein
Grundrecht.883
Wenn dagegen der Verweigerer durch seine Tätigkeit keine gemeinsamen
Interessen verteidigen will, verliert die Anerkennung dieser Rechtsfigur ihren politischen Sinn
und moralische Rechtsfertigung; die individuelle Freiheit soll nämlich von dem Gemeinwohl
und den demokratischen Grundsätzen niemals getrennt werden.884
Die Integrierung des Verweigerers in das Gemeinwesen und die enge Verknüpfung der
Gewissensfreiheit mit dem Demokratieprinzip führt zur Begrenzung der anerkennungsfähigen
Verweigerungsgründe auf die universellen moralischen Grundsätze. Sie sollen dabei
keinesfalls als Mittel zum persönlichen Nutzen gebraucht werden.885
Darüber hinaus können
nur diejenigen Rechtsnormen ablehnet werden, die gegen die moralischen Grundsätze des
Gemeinwesens verstoßen oder die nicht mehr gültigen (obsoleten) Werte zu verwirklichen
versuchen. Das Beispiel für eine solche anerkennungsfähige Verweigerungsmodalität istt das
Recht auf Wehrdienstverweigerung an; Kriegsdienstverweigerer lehnen nämlich den
Kriegsdienst als eine Form des Patriotismus ab und wollen ihn durch friedliche Formen der
Zusammenarbeit für die Entwicklung seines Landes ersetzen. Da Patriotismus ein durch das
Gemeinwesen hochgeschätzter Wert ist, soll die auf ihn basierte Verweigerung durch
zuständige Behörden anerkannt werden.886
883
K. Mansilla Tores, E. L. Villarán, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el
Perú, Lima 2000, S. 83. 884
Ebenda, S. 29. 885
K. Mansilla Tores, E. L. Villarán, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el
Perú, Lima 2000, S. 18. Nach gegenteiliger Auffassung hat die Verweigerung aus Gewissensgründen den
individualistischen und unsolidarischen Charakter. Daraus wird geschlossen, dass sich der Versuch, durch die
Verweigerung politische Änderungen herbeizuführen, mit dieser Rechtsfigur nicht vereinbart lässtt.. Siehe dazu:
A. Martínez Blanco, Derecho eclésiastico del Estado, Band 2, Madrid 1993, S. 126, die Anmerkung in der
Fussnote. 886
K. Mansilla Tores, E. L. Villarán, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el
Perú, Lima 2000, S. 48.
222
Die Gewissensfreiheit verleiht somit dem Einzelnen nicht nur ein Refugium staatsfreier
Innerlichkeit, sondern auch sichert die Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens. Sie
ergänzt den institutionalisierten Prozess demokratischer Willensbildung durch den freien
öffentlichen Diskurs über ethische Grundlagen der Politik und thematisiert moralische Fragen,
die in der politischen Domain zu kurz gekommen sind. Bereits der innerliche Diskurs im
Gewissen des Einzelnen kann als Teil des moralischen Diskurses begriffen werden, der
seinerseits den politischen Diskurs in dem Sinne ergänzt, dass er „auf Fehlentwicklungen und
moralische Defizite im Recht sowie nicht verarbeitete Spannungen im politischen System
aufmerksam macht.“887
Die Verweigerung aus Gewissensgründen, wenn auch sie exzentrisch
für die Mehrheit erscheinen mag, stellt „eine Injektion der Moral in das demokratische
System dar und trägt dazu bei, dass sich die Gesellschaft im größeren Maße an Gewissen und
nicht nur an Maßstäben der Nützlichkeit richtet.“888
Durch eindringliches Einbringen der
Gewissenspositionen in die demokratische Willensbildung können die Einzelnen bewirken,
dass neben der oberflächlichen Tagespolitik eine grundsätzliche Diskussion im Bereich
„moralischen Nährbodens der Gesellschaft“889
geführt wird, auf dem letztlich die gesamte
Rechtsordnung fußt. Das Gewissen erfüllt im demokratischen Staat die Rolle der „Warnung
vor jeder Willkür, jeder Eigengesetzlichkeit des Rechts, vor jedem überspitzten Formalismus
des Gesetzes, jeder Unmenschlichkeit im Namen des Gesetzesbefehls“890
2.8. Die Würdigung der demokratisch-funktionalen Auslegungstheorie der
Gewissensfreiheit
Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass eine der wichtigsten Potenzialitäten der
Demokratie ihre Fähigkeit ist, das friedliche Zusammenleben in einer multikulturellen
Gesellschaft zu ermöglichen. Der demokratische Staat stützt sich aber nicht nur auf dem
Mehrheitskonsens; er muss auch imstande sein, bestimmte, aus dem Gewissen des Einzelnen
fließende Formen des Dissenses zu integrieren und anzuerkennen. In diesem Prozess erfüllt
das Grundrecht der Gewissensfreiheit die Rolle eines Mechanismus, mit dessen Hilfe
Konflikte zwischen der Mehrheit und Minderheiten im Rahmen der demokratischen Ordnung
887
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 152; siehe auch: D. Franke,
Gewissensfreiheit und Demokratie, Aktuelle Probleme der Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 114, 1989, S. 18; D.
Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 230. 888
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 259. 889
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 152. 890
Ebenda, S. 152.
223
abgebaut werden können.891
Die Achtung der Gewissensfreiheit stellt dabei eine der
wichtigsten Einschränkung der politischen Gewalt dar.
Im Unterschied zu anderen Grundrechten, welche die persönliche Interessen und Vorteile des
Einzelnen zum Schutzgegenstand haben, schützt die Gewissensfreiheit nach dem
demokratisch-funktionalen Ansatz vor allem die Orientierung des Individuums an Werten, am
Wohl der Mitmenschen und am öffentlichen Interesse. Der Schwerpunkt wird nicht auf das
gewissensgemäße Handeln, sondern auf dessen Wirkungen im Bereich der politischen
Willensbildung gesetzt.892
Die Gewissensfreiheit wird damit auf seinen kommunikativen
Aspekt reduziert. Das Streben des Einzelnen nach moralischer Selbstbestimmung und
Selbstverantwortung des eigenen Handelns wird durch das Streben nach gesellschaftlicher
Mitverantwortung und Mitbestimmung ersetzt. Der Schutz des Einzelnen von
Gewissenskonflikten sowie Bewahrung seiner Identität wird dagegen in den Hintergrund
gestellt. Der grundrechtliche Schutzbereich der Gewissensfreiheit und ihre abwehrrechtliche
Funktion sind nach diesem Ansatz daher weitgehend verkannt.893
Der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie muss noch entgegengehalten werden, dass
das Gewissen als „Mitwissen“ um „Gut“ und „Böse“ schon für sich schutzbedürftig und
schützenswert ist, nicht erst dann, als die Gewissensentscheidung die Form der diskursiven
Aktion annimmt.894
Es ist nämlich nicht ersichtlich, warum eine ausschließlich um der Ruhe
des eigenen Gewissens willen getroffene Gewissensentscheidung in den Schutzbereich des
Grundrechts der Gewissensfreiheit nicht fallen sollte. Sie sollte vielmehr zumindest solange
geschützt werden, als dadurch andere Interessensphären nicht nachteilig berührt werden.895
Die demokratisch- funktionale Grundrechtstheorie erweist sich daher für die Abgrenzung des
Schutzbereichs der Gewissensfreiheit als unzulänglich.
Damit wird allerdings nicht gesagt, dass die Fokussierung des Grundrechtsschutzes der
Gewissensfreiheit auf die moralische Selbstbestimmung des Einzelnen und Bewahrung seiner
891
A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la
fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 40. 892
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 156. 893
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 195. 894
H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der
Gewissensfreiheit (eText) (2001), http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf
(20.08.2010) 895
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, T. Stein, Berlin 1989, S. 492, Fußnote 80.
224
Identität die politische Komponente der Gewissensbetätigung ausschließen soll. Das
menschliche Gewissen lässt sich doch in „eine beziehungslose Privatheit und
Selbstbezogenheit“896
nicht verbannen; eine Verweigerung aus Gewissensgründen, welche
auch politische Zielsetzung hat, fällt aus diesem Grund aus dem grundrechtlichen
Schutzbereich nicht heraus. Die Verbindung der Gewissensbetätigung mit politischem
Engagement entstellt ihre Natur nicht. Die Auswirkungen der Gewissensfreiheit auf politische
Prozesse und ihre fördernde Funktion für die Aufrechterhaltung des demokratischen Systems
ist allerdings als eine für das Gemeinwesen günstige Nebenfolge ihrer Inanspruchnahme und
nicht als ihre Voraussetzung zu betrachten.
Eine andere Folge der Auslegung der Gewissensfreiheit im Lichte der demokratisch-
funktionalen Grundrechtstheorie ist ihre Klassifizierung als Kommunikationsgrundrecht.
Daraus ergibt sich das Erfordernis, dass das sich auf die Gewissensfreiheit berufendes
Individuum seinen moralischen Standpunkt rational begründet. Diese Forderung ist
weitgehender als Voraussetzung formaler Widerspruchsfreiheit, deren Zweck in der negativen
Begriffsbestimmung der Gewissensentscheidung besteht, indem aus ihrer Definition
unlogische Gedankenführungen oder bloß gefühlsmäßige Haltungen ausgeschlossen werden.
Schließlich verlangt die demokratisch – funktionale Auffassung der Gewissensfreiheit, dass
sich der Dissident auf Handlungsnormen beruft, von denen er zugleich wollen muss, dass sie
ein allgemeines Gesetz werden. Für die Inanspruchnahme des grundrechtlichen Schutzes
genügt nicht, dass der Einzelne eine von der beanstandeten Rechtsnorm abweichende sittliche
Norm subjektiv für unbedingt verbindlich hält und sich von dem Konflikt mit
Andersdenkenden dadurch entzieht, dass er zu ihrem Verhalten standpunktlos bleibt. Es wird
vielmehr darauf abgestellt, dass das Gewissen conscientia, d.h. ein gemeinsames, mitteilbares
Wissen vom Guten und Bösen ist. Die Gewissensfreiheit berechtigt zur autistischen
Verschlossenheit nicht. Die Verweigerung aus Gewissensgründen weist somit eine „doppelte
Valenz“ auf: zum einen bedeutet sie die Ablehnung einer konkreten Norm bei gleichzeitiger
Ausübung eines Glaubens oder Weltanschauung (negative Valenz). Zum anderen beinhaltet
sie einen Vorschlag, andere, alternative Werte auf der gesellschaftlichen Ebene zu
verwirklichen (positive Valenz), was einen Beitrag zur Verbesserung der Rechtsordnung
darstellt.897
896
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 162. 897
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 40.
225
Wie oben bereits erwähnt wurde, ist die Annahme dieser positiven Valenz der
Gewissensfreiheit nicht unproblematisch. Nach der demokratisch-funktionalen
Grundrechtstheorie werden die Grundrechtsbetätigungen nach Maßgabe bewertet, inwieweit
sie zur Verwirklichung und Konsolidierung der demokratischen Ordnung beitragen.898
Damit
wird jedoch verkennt, dass inhaltliche Bewertung des grundrechtlich geschützten Verhaltens
dem Staat grundsätzlich verwehrt ist. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit ist allerdings das
Abwehrrecht, bei dem sich vor allem um Aus- und Abgrenzung der Kompetenzbereiche der
Einzelnen/Gesellschaft und des Staates handelt. Das Konzept der Grundrechte als (vor allem)
Abwehrrechte setzt das Verständnis der Freiheit als Freiheit schlechthin und nicht als Freiheit
zu bestimmten Zielen oder zur Verwirklichung bestimmter Werte voraus. Ob, aus welchen
Gründen, und zu welchen Zwecken der Einzelne von seiner Freiheit Gebrauch macht, muss –
im Rahmen der allgemein festgelegten Verträglichkeitsgrenzen der Freiheit – ihm überlassen
werden. Diese Entscheidungen sind der rechtlichen Bewertung entzogen. Dabei wird nicht
verkannt, dass die Gewissensfreiheit (wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit) für die
Demokratie von schlechthin konstituierender Bedeutung ist. Diese Funktion kann aber nicht
zum Ausgangspunkt deren Inhaltsbestimmung und Festlegung ihrer Grenzen werden. „Die
freiheitliche Demokratie ist darauf angelegt, sich aus Freiheit und Freiwilligkeit ihrer Bürger,
d.h. der Spontaneität ihres täglichen Plebiszits zu konstituieren und dass eben deshalb die
staatliche Rechtsordnung nicht mehr tun kann und darf, als die Chance für das
Zustandekommen dieses Plebiszits offenzuhalten.“899
Die demokratisch-funktionale Auffassung der Grundrechte steht somit im Widerspruch zu
dem in der Verfassung verankerten freiheitlichen Verständnis der Grundrechte, wonach sich
die Gewährleistungen der Freiheit nicht auf „wertvolle“ (unter dem Gesichtspunkt der
Demokratie) Freiheitsbetätigung beschränken. „Die verfassungsrechtlich geschützten
Rechtsgüter sind nur Schranken der Freiheit, nicht positivrechtlich verpflichtende
Anleitungen für Betätigung der Freiheit.“900
Darüber hinaus muss der Demokratie zugrunde
liegende politische (bürgerliche) Freiheit nicht unbedingt mit der individuellen Freiheit im
898
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York
1987, S. 249; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. H. Papier, Handbuch
der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 624; F.
Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 112. 899
E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie.
Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 121. 900
Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der
Bundesrepublik Deutschland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 218.
226
Privatbereich einhergehen.901
Damit die individuelle Freiheit geschützt wird, müssen in dem
Staat andere, der Demokratie nicht inhärente Schutzmechanismen geschaffen werden.902
2.9. Skeptische Meinungen gegenüber demokratisch-funktionalen Auslegung der
Gewissensfreiheit
Wenn der Gewissensfreiheit eine Funktion der Förderung des öffentlichen
Kommunikationsprozesses zugeschrieben wird und sie als Instrument der Infragestellung von
Mehrheitsentscheidungen angesehen wird, ist ihre eigenständige Funktion nicht ersichtlich,
d.h. es steht nicht fest, was das Grundrecht der Gewissensfreiheit neben anderen
Grundrechten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit für den demokratischen Prozess
leisten kann. Der Zusammenhang zwischen der Gewissensfreiheit und dem Grundsatz der
Volkssouveränität ist auch deswegen fragwürdig, dass der Grundrechtsschutz in den
modernen Verfassungen nicht auf Mitglieder des Staatsvolkes beschränkt, sondern für jeden
Einzelnen unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit eröffnet ist. Darüber hinaus lässt sich
die Verbindlichkeit von Mehrheitsentscheidungen im Einzelfall mit Hinweis auf kollidierende
Gewissensentscheidungen nicht durchbrechen, ohne dass der Grundsatz der formalen
Bürgergleichheit ausgehöhlt wird.903
Der Zusammenhang zwischen dem Grundrecht der Gewissensfreiheit und der Demokratie
kann auch damit bestritten werden, dass es sich aus der historischen Perspektive kein
Parallelismus zwischen der Anerkennung von Gewissensfreiheit und der Entwicklung der
Demokratie nachweisen lässt. Es ist nämlich nicht möglich, die Gewissensfreiheit einer
konkreten Staatsform zuzuordnen. Das Modell des auf dem ethischen Minimum beruhenden
Staates, der die Gewissensfreiheit schützt, schließt zwar die demokratische
Entscheidungsbildung nicht aus, es fordert sie aber nicht. Das demokratische System schafft
wegen des ihm immanenten Pluralismus günstige Voraussetzungen für den Schutz der
Gewissensfreiheit, es ist allerdings für diesen Schutz nicht unerlässlich. Auch der Einzelne
betrachtet seine moralischen Überzeugungen nicht als Gegenstand demokratischer Debatte,
901
Z. Stawrowski, Moralność i demokracja, in: R. Legutko, J. Kleczkowski, Oblicza demokracji, Kraków 2002,
S. 176. 902
M. Kumiński, Wolnść i demokracja, in: R. Legutko, J. Kleczkowski, Oblicza demokracji, Kraków 2002, S.
60. 903
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 169.
227
sondern als einen Normenkomplex, der ihm gegeben und aufgegeben ist.904
Im Hinblick auf
den Zweck vom Grundrecht der Gewissensfreiheit, der darin besteht, zur Menschenwürde und
Freiheit des Einzelnen beizutragen, ist irrelevant, ob die Demokratie dieses Grundrechts
bedarf, um die Mitarbeit der Mehrheit der Bürger zu sichern. Außerdem ergibt sich aus der
dargestellten Analyse der fördernden Rolle der Gewissensfreiheit hinsichtlich der
demokratischen Prozesse das Bestreben, diese Funktionen der Gewissensfreiheit in ihre
primäre Zwecke umzudeuten. Von dem Verständnis der Gewissenfreiheit als Freiheit zur
Mitverantwortung besteht lediglich ein Schritt, das Grundrecht „in eine Grundpflicht
umzupolen.“905
2.10. Schlussfolgerung
Die Hervorhebung durch die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie der positiven
Auswirkungen der Ausübung der Gewissensfreiheit auf die Gestalt und Funktionieren der
Demokratie macht diese Theorie für die Auslegung des Grundrechts hilfsreich und
berücksichtigungswert. Durch ihre Einbeziehung wird die Interpretation der Gewissensfreiheit
um die soziale Dimension bereichert. In dieser Hinsicht entspricht sie dem Verfassungsbild
des Einzelnen als das in die Gesellschaft eingebundene Subjekt. Wegen der
Funktionalisierung der menschlichen Freiheit im Dienste der Interessen des Gemeinwesens
entspricht sie jedoch dem Verfassungsbild des Individuums und seinem Verhältnis zum Staat
nur zum Teil. Wegen der Einseitigkeit der Perspektive genügt die demokratisch-funktionale
Grundrechtstheorie nicht, um das Phänomen des Gewissens zu beschreiben und den
Schutzbereich der Gewissensfreiheit zu bestimmen. Sie bedarf somit der Ergänzung durch
andere Grundrechtstheorien, vornämlich durch die liberale, welche dem verfassungsrechtlich
garantierten freiheitlich – individualistischen Status des Einzelnen Rechnung trägt.
904
Z. Stawrowski, Moralność i demokracja, in: R. Legutko, J. Kleczkowski, Oblicza demokracji, Kraków 2002,
S. 176. 905
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 148.
228
3. Die Auslegung der Gewissensfreiheit nach der liberalen
Grundrechtstheorie
Die liberale Grundrechtstheorie geht von der Betrachtung des Individuums als Träger der
grundsätzlich unbeschränkten Freiheit aus. Die individuelle Freiheit stellt dabei einen Wert an
sich und nicht im Hinblick auf die Erreichung eines bestimmten Zieles dar.906
Die
Befürworter der liberalen Grundrechtstheorie postulieren die möglichst maximale
Ausdehnung der persönlichen Autonomie, die grundsätzlich die kollektiven Interessen
überwiegen soll.907
Die Grundrechte dienen danch dem Zweck, „die Freiheitssphäre des
Einzelnen von den Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen; sie sind Abwehrrechte des
Bürgers gegen den Staat.“908
Sie garantieren „wichtige Bereiche der individuellen und
gesellschaftlichen Freiheit, die nach der geschichtlichen Erfahrung der Bedrohung durch die
Staatsmacht besonders ausgesetzt sind.“909
Der Staat hat dabei keine Pflicht, reale
Möglichkeiten der Inanspruchnahme der Grundrechte zu schaffen.910
In Bezug auf die polnische Verfassung wird vertreten, dass das dort niedergeschriebene
Konzept der Grundrechte grundsätzlich auf der liberalen Theorie zur Position des Einzelnen
dem Staat gegenüber basiert. Die Grundintention der Verfassung ist nämlich die Verbürgung
der klassischen Freiheitsrechte und damit des verstärkten Schutzes der menschlichen Freiheit
als Reaktion auf die Freiheitsverletzungen in der Zeit der Volksrepublik Polen.911
Die
Aussage der Verfassung, dass die Rechte und Freiheiten des Einzelnen ihre Quelle in der
Menschenwürde haben, weist auf ihren vorstaatlichen Charakter hin. Das liberale
Menschenbild findet seine Bestätigung gerade in dem Schutz der Menschenwürde, der das
Recht auf Selbstbestimmung (auch im ethischen Sinne) und Selbstverantwortung des
Einzelnen immanent ist. Darüber hinaus bestimmt Art. 31 Abs. 1 und 2 Verf., dass die
Freiheit des Einzelnen besonderen Schutz der Verfassung genießt. In dieser Vorschrift wird
906
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 194; E. W.
Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie, Studie zur
Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1974, S.120; F. Filmer, Das Gewissen als
Argument im Recht, Berlin 2000, S. 112. 907
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 194. 908
BverfGE 7, 198 (204). 909
E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,
Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 119. 910
B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności
obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 49. 911
P. Sobczyk, Wolność sumienia i religii w art. 53 Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia
1997r., in: Prawo Kanoniczne, Nr. 3/4, 2001, S. 211.
229
der grundlegende Wert der menschlichen Freiheit zum Ausdruck gebracht. Die
Einschränkung der Freiheitsrechte ist konsequenterweise nur begrenzt möglich und zwar
soweit, wenn sie ausdrücklich zugelassen ist. Infolgedessen, um dem Grundsatz der Einheit
der Verfassung gerecht zu werden, sind die einzelnen Grundrechte als Instrumente
auszulegen, welche vor allem der Maximierung der Freiheit des Individuums dienen.
Im Rahmen der liberalen Grundrechtstheorie wird die Gewissensfreiheit, wie andere
Grundrechte, als klassisches Abwehrrecht konzipiert. Daraus ergibt sich, dass dessen
Schutzbereich möglichst weit auszudehnen ist. Geschützt sein soll insbesondere das
Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen. Der Freiheitsbereich der Gewissensfreiheit wird
der Aktualisierungskompetenz des Einzelnen überlassen und der staatlichen Reglementierung
grundsätzlich entzogen. Die Interpretation der Gewissens- und Glaubensfreiheit als
Grundrecht des status negativus, das „Raum für die aktive Betätigung der
Glaubensüberzeugung“912
garantiert, findet ihre rechtsvergleichende Bestätigung in der
Rechtsprechung des BverfG. Das Anliegen, die Unversehrtheit des Gewissens des Einzelnen
so weit wie möglich zu sichern, entspricht der Staatsauffassung des liberal-demokratischen
Rechtsstaates. Danach ist der Staat des Menschen willen da, um seine Menschenwürde,
Freiheit und Eigentum zu schützen. Das Gewissen als das innerste Zentrum der Persönlichkeit
und ihre Freiheit ist dem Staat vorgegeben, deshalb muss sie vom Staat geachtet und
geschützt werden.913
4. Die institutionelle Grundrechtstheorie
4.1. Voraussetzungen der institutionellen Grundrechtstheorie
Bereits aus dem positiven Aspekt der menschlichen Freiheit fließt die staatliche Pflicht, dem
Einzelnen einen „Raum“ zu schaffen, in dem ihm möglich wäre, seine Freiheit in
verschiedenen Bereichen (kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, weltanschaulichen,
ethischen u.a.m.) zu verwirklichen.914
Da Grundrechte besondere Ausprägungen der
menschlichen Freiheit bilden, sind die öffentlichen Gewalten verpflichtet, institutionelle
Möglichkeiten für ihre praktische Inanspruchnahme bereitzustellen. Aus diesem Grund
912
BverfGE 41, 49; 52, 241. 913
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 54. 914
H. Skorowski, Problematyka praw człowieka, Warszawa 1999, S. 126.
230
werden die Organe der öffentlichen Gewalt als „verpflichtete Subjekte“ in Bezug auf
Grundrechte bezeichnet.915
Diesem Bedürfnis trägt die institutionelle Grundrechtstheorie Rechnung. Danach werden die
Grundrechte vor allem als objektive Grundsätze aufgefasst, welche einzelne Bereiche der
menschlichen Aktivität regeln. Die in diesen Grundsätzen enthaltenen Postulate und
Direktiven werden durch normative Lösungen vom institutionellen Charakter verwirklicht.916
Eine solche Betrachtung der Grundrechte hat zur Folge, dass der unterverfassungsrechtliche
Normenkomplex die Richtung, Inhalt und Garantien der menschlichen Freiheit bestimmt.917
Das Gesetz erfüllt nach diesem Ansatz nicht nur die Rolle der Einschränkung der
Grundrechte, sondern auch ist ein Mittel ihrer Verwirklichung. Die Grundrechte sind deshalb
nicht nur subjektive Rechte des Einzelnen; sie sind auch objektive Werte, welche bestimmte
politische, soziale, kulturelle Institutionen verbürgen.918
Die institutionelle Grundrechtstheorie hat sich für die Erschließung des Inhalts der
Gewissensfreiheit besonders fruchtbar erwiesen. Ihre Verwertung in diesem Bereich spiegelt
sich vor allem in der Forderung wider, dass der Staat dem Einzelnen Handlungsalternativen
bereitstellt, damit der Einzelne den Konflikt zwischen der Rechtsnorm und Gewissensnorm
schonend für ihn und reibungslos für das Gemeinwesen bewältigen kann. Bevor allerdings auf
die Problematik der Handlungsalternativen eingegangen wird, ist den Auslegungsversuch der
Gewissensfreiheit nach Niklas Luhmann darzustellen. Dieser Ansatz charakterisiert sich mit
der Orientierung an praktischen Lösungen der scheinbar unlösbaren normativen Konflikte
zwischen dem Recht und dem Gewissen. Darüber hinaus hat er eine große Resonanz in der
Literatur erhalten und die Auslegung der Gewissensfreiheit im deutschsprachigen Raum
weitgehend mitgeprägt. Er könnte auch für die Interpretation der Gewissensfreiheit in der
polnischen Verfassung durchaus brauchbar sein.
915
J. Kuciński, Konstytucyjny ustrój państwowy Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2001, S. 93. 916
B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności
obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 50. 917
E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,
Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 1532. 918
B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności
obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 51.
231
4.2. Gewissensfreiheit als Mechanismus der Stabilisierung des sozialen Systems nach
Niklas Luhmann
Luhmann geht an das Grundrecht der Gewissensfreiheit vor allem aus der Perspektive der
Gesellschaftsinteressen heran; d.h. sie wird vornähmlich als eine soziale Institution aufgefasst.
Zum Ausgangspunkt dieser Theorie wird die Annahme, dass jeder Einzelne mit der Vielzahl
der frei übernommenen oder aufgezwungenen sozialen Rollen ausgestattet ist, mit deren
Erfüllung gewisse Erwartungen seitens der Gesellschaft verbunden sind. Da Nichterfüllung
der Rollen zu Dysfunktionen des sozialen Systems führen könnte, braucht die differenzierte
Sozialordnung die Persönlichkeiten mit hohem Identifizierungsvermögen. Um das System der
sozialen Rollenverflechtungen nicht zu gefährden und der Distanzierung des Einzelnen von
der Gesellschaft entgegenzuwirken, müssen bestimmte Mechanismen der Entlastung des
individuellen Gewissens geschaffen werden, falls es dem Einzelnen eine Verhaltensnorm
gebietet, die den sozialen Erwartungen zuwiderläuft.919
Die Entlastung des Interessenkonflikts zwischen dem Individuum und der Gesellschaft kann
im Regelfall dadurch hergestellt werden, dass der Einzelne an seinem Gewissen vorbeigeleitet
wird, ohne ihm die Möglichkeit der Gewissenssteuerung in Krisensituationen zu nehmen. Der
Abbau von Anlässen zur Gewissensorientierung geschieht durch Bereitstellung von
Handlungsalternativen, durch Institutionalisierung „unpersönlicher“ Handlungsweisen und
erst an der letzten Stelle durch Vermeidung von Zwangssituationen mit Hilfe des Grundrechts
der Gewissensfreiheit.920
Die Funktion der Gewissensfreiheit besteht somit nicht darin, die
Orientierung des Einzelnen nach seinem Gewissen zu ermöglichen, sondern vielmehr darin,
die Gewissensentscheidungen zu ersparen.921
Erst wenn zumutbare Alternativen fehlen, ist der
Einzelne von der verweigerten Rechtspflicht zu befreien. Die Berechtigung zur
Gewissensbetätigung kommt somit als ultima ratio in Frage, dabei erstreckt sich der
grundrechtliche Schutz nur auf das gewissensgemäße Unterlassen. Der Ausschluss des
gewissensgemäßen Handelns aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit wird damit
919
N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 273; zustimmend: L. Prieto
Sanchis, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59, 1984, S. 54f. 920
N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 273. 921
Ebenda, S. 273.
232
begründet, dass „die Sozialordnung sich auf ein rechtswidriges Unterlassen, auf einen Ausfall
von Leistungen, besser einstellen kann, als auf ein aggressives rechtswidriges Tun.“922
Im Fall
des gewissensgeleiteten Unterlassens muss sich die Gesellschaft den Ausfall einer Leistung
kompensieren. Im Fall der gewissensgebotenen Handlung muss dagegen der Einzelne nach
alternativen Ausweichmöglichkeiten suchen: „Die Folgen muss tragen, wer über die
Alternativen verfügt.“923
Weiterhin unterscheidet Luhmann zwischen gewählten und
aufgezwungenen sozialen Rollen: Im ersten Fall schützt das Grundrecht der Gewissensfreiheit
vor Zwangsdurchsetzung der höchstpersönlichen, unvertretbaren Leistungen. Die finanziellen
Folgen im Privatrechtbereich sind allerdings von dem Einzelnen in Form der
Erfüllungsinteresse zu tragen. Im Fall der erzwungenen soziallen Rollen ist der Einzelne von
deren Erfüllung freizustellen.924
Der Sinn des Luhmannschen Ansatzes liegt darin, die Stabilisierung der Gesellschaft als
reibungslos funktionierendes System zu gewährleisten.925
Diese Betrachtungsweise steht mit
der Aufgabe der Verfassung im Einklang, das Gleichgewicht zwischen Interessen des
Einzelnen, der Dritten und der Gesellschaft herzustellen. Die Bereitstellung der gesetzlichen
Handlungsalternativen ist sowohl aus der staatlichen Perspektive von großem Nutzen, weil sie
zum reibungslosen Funktionieren der Gesellschaft beiträgt, als auch aus dem Gesichtspunkt
des Einzelnen, weil er von den Gewissenskonflikten geschont ist. Dem wurde
entgegengehalten, dass dieser Ansatz nur scheinbar auf die Person des Einzelnen d.h. auf
Gewährleistung seiner moralischen Selbstbestimmung und Bewahrung seiner Identität zielt.926
Luhmann berücksichtigt nicht hinreichend, dass sich die verfassungsrechtliche Garantie der
Gewissensfreiheit vornämlich an dem Einzelnen und nicht an der Gesellschaft orientiert. Die
Reduzierung der Gewissensfreiheit zum Regulierungsintstrument der sozialen Spannungen
und die Betrachtung ihrer Funktionen für die Erhaltung der sozialen Ordnung findet daher in
der Verfassung keine normative Stütze.927
Die systemstabilisierende Funktion der
922
N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 282f. 923
Ebenda, S. 283. 924
Ebenda, S. 282. 925
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York
1987, S. 18. 926
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 144; U. Rühl, Das Grundrecht
auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle Bedeutung, in: DuR, Nr. 11, 1983,
S. 373; G. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, Berlin 1978, S. 252ff. 927
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York
1987, S. 19f.
233
Gewissensfreiheit ist allerdings durchaus legitim. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen, den
Individuen die Gewissenskonflikte zu schonen, vereiteln den Zweck der Gewissensfreiheit
nicht, zum Schutz der Menschenwürde und Freiheit des Einzelnen beizutragen. Die
funktionale Auslegung entspricht vielmehr im vollen und ganzen dem Auftrag der
Verfassung, das Gleichgewicht der Interessen zwischen den Einzelnen, den Gruppen und dem
Staat herzustellen, Entscheidend ist dabei, das der Rückgriff auf Gewissensfreiheit nach
Ansatz Luhmanns in Krisesituationen, also wenn keine Alternativen zur Verfügung stehen,
nicht ausgeschlossen ist. Der Betrachung der Berufung auf die Gewissensfreiheit als ultima
ratio ist wegen der speziellen Auswirkungen ihrer Ausübung auf die Rechtsordnung (die
Befreiung von einer Rechtspflicht) sowie aus Gründen der sozialen Verträglichkeit ihrer
Inanspruchnahme zuzustimmen.
4.3. Die Pflicht des Gesetzgebers, Gewissenskonflikte zu vermeiden
Die Bejahung der Pflicht des Gesetzgebers, die Konflikte zwischen der Rechtsordnung und
dem individuellen Gewissen durch Bereitstellung der gewissensschonenden
Handlungsalternativen zu entschärfen, wäre nur mit Annahme derjenigen Interpretation der
Gewissensfreiheit möglich, wonach die primäre Rolle dieses Grundrechts nicht in dem Schutz
von Gewissensentscheidungen durch Ermöglichung ihrer Verwirklichung, sondern in
Vermeidung von Entstehung der Gewissenskonflikte besteht. Wenn aber die Prämissen einer
solchen funktionalen Interpretation der Gewissensfreiheit abgelehnt werden, kann der
individuelle Anspruch auf Bereitstellung einer Handlungsalternative nicht begründet
werden.928
Deshalb ist an dieser Stelle nochmal hervorzuheben, dass die Gewissensfreiheit
nicht nur ein subjektives Recht, sondern auch eine objektive Wertentscheidung der
Verfassung ist, „die für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien für Gesetzgebung,
Verwaltung und Rechtsprechung gibt.929
Dieser Rechtsgedanke lässt sich bereits ansatzweise
im polnischen Schrifttum aus der Zeit der Volksrepublik Polen finden; danach kann aus dem
Bürgerrecht, eine Weltanschauung frei zu wählen und auszuüben, die staatliche Pflicht
abgeleitet werden, eine wirkliche Möglichkeit der Verwirklichung individueller
Überzeugungen sicherzustellen. Dabei wurde auf das marxistische Postulat der Gleichstellung
928
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York
1987, S. 21. 929
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 100.
234
aller Weltanschauungen und ihrer Ausübungsformen Bezug genommen.930
Auch unter
Geltung der Verfassung von 1997 wurde die Ansicht geäußert, dass die Grundrechte nicht nur
subjektive Rechte des Einzelnen sind, sondern auch Richtlinien für die Tätigkeit des ganzen
Systems der öffentlichen Gewalten, „insbesondere des Gesetzgebers“931
aufstellen.
Aus der dargestellten objektivrechtlichen Facette der Gewissensfreiheit ergibt sich für den
Gesetzgeber die Pflicht, Konflikte zwischen dem Gesetz und dem Gewissen möglichst zu
vermeiden und gegebenenfalls zu entschärfen. Der Gesetzgeber kann dieser Pflicht zunächst
dadurch nachkommen, dass er sich in seiner Regelungstätigkeit auf das ethische Minimum
d.h. auf die Normierung der ethischen Grundlagen des Gemeinwesens beschränkt. Wenn der
Gesetzgeber für notwendig hält, in einem Bereich bestimmte moralische Standards
aufzustellen, soll er an den Durchschnittsmenschen anknüpfen. Darüber hinaus ist in den
moralisch kontroversen oder nicht eindeutig bewerteten Bereichen vollständiger Ausschluss
der gesetzgeberischen Tätigkeit bzw. gesetzgeberische Zurückhaltung geboten oder zumindest
empfehlenswert.932
Dies gilt vor allem in denjenigen Situationen, wenn soziologisch bewiesen
wurde, dass die Auferlegung einer umstrittenen Pflicht in den zahlenmäßig beträchtlichen
Sektoren der Gesellschaft Gewissenskonflikte hervorrufen würde. Die beste Behandlung der
Gewissensfreiheit besteht ohne Zweifel in Vermeidung der Gewissenskonflikte; die Mehrzahl
der potenziellen Verweigerungsfälle aus Gewissensgründen lässt sich auf diese Art und Weise
präventiv lösen.933
Um diesen Zweck zu erreichen, stehen dem Gesetzgeber verschiedene technische
Mechanismen zur Verfügung. Die Behörden können die rechtlich relevanten, d.h. durch die
Rechtsordnung anerkannten Konflikte zwischen Recht und Moral mit Hilfe der durch das
Recht vorgesehenen Entscheidungsspielräume, mittels der dynamischen normativen
Auslegung und Analogie sowie durch Anwendung der Vorschriften, welche auf Grundsätze
des sozialen Lebens verweisen, lösen.934
Als Bespiel für die Rechtsnormen, die grundsätzlich
anderen Zwecken dienen, im Einzelfall aber geeignet sind, den Einzelnen von dem
Gewissenskonflikt zu schonen, werden im Schrifttum die Vorschriften über Ausschluss eines
930
J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa 1971, S. 17. 931
J. Kuciński, Konstytucyjny ustrój państwowy Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2001, S. 92f. 932
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 100f. 933
M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 242. 934
W. Lang, Prawo i moralność, Warszawa 1989, S. 263.
235
Richters aus dem gerichtlichen Verfahren, falls Zweifel an seiner Unparteilichkeit besteht,
angegeben. Es sind nämlich die Fälle vorstellbar, in denen die Gewissensgründe des Richters
seine Unparteilichkeit insoweit beeinträchtigen, dass der Ausschluss des Betroffenen aus dem
Verfahren durchaus geboten ist und mit Hilfe von diesbezüglichen Regelungen erreicht
werden kann.935
Im Fall der Verweigerung aus Gewissensgründen eines Richters ist ein
Sonderfall des Mangels an Objektivität zu bejahen, weil sie den Richter zu einer Handlung
contra legem bewegen kann. Die Ausschließung des Richters in dieser Situation ist somit mit
dem Grundsatz des Rechtsstaates durchaus gerechtfertigt.
Wenn die durch die Erfüllung der verweigerten Rechtspflicht zu erreichenden Resultate oder
Zustände als sozial so wertvoll angesehen werden, dass der Staat von ihrer Auferlegung nicht
verzichten kann, soll der Gesetzgeber zumindest erwägen, ob die angestrebten Ziele durch
positive Förderungsmaßnahmen der bestimmten Verhalten erreicht werden können, ohne dass
das erwünschte Verhalten zu einer Rechtspflicht zu machen. Darüber hinaus können mehrere
Erfüllungsmodalitäten derselben Rechtspflicht oder zwei verschiedene Rechtspflichten als
gleichwertige Alternativen dem Einzelnen zur Wahl gestellt werden.
Dieser Lösungsweg ist zum einen aus der Perspektive der Gewissensfreiheit empfehlenswert,
weil dem Einzelnen die Konflikte verschont werden. Für die Bereitstellung der
Handlungsalternativen spricht, dass sie den Genuss realer und nicht nur rechtlich-abstrakten
Freiheit ermöglichen. Die Verantwortung des Staates, die notwendigen sozialen
Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Grundrechte zu schaffen und zu sichern, ergibt
sich aus dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit. Deshalb ist anzunehmen, dass „wo immer
sich ein Weg finden lässt, zugleich dem Recht und dem Gewissen des Einzelnen Genüge zu
tun, muss dieser Weg gewählt werden.“936
Die Vermeidung der Gewissenskonflikte ist aber
auch aus den rechtstechnischen Gründen gerechtfertigt, weil das Recht kein genügend
geeignetes Instrument ist, um über moralische Fragen zu entscheiden.937
Darüber hinaus
erspart die Vermeidung der Gewissenskonflikte dem Einzelnen, sich in das
Anerkennungsverfahren einlassen zu müssen und die Gewissensfreiheit nur auf Kosten
935
R. Ásis Roig, Juez y objeción de conciencia, in: Sistema, 1993, S. 113. 936
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 52. 937
M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 240; J. Raz, Autorytet
prawa, Warszawa 2000, S. 289.
236
anderer Rechte, etwa des Rechts auf Privatleben in Anspruch zu nehmen. Aus der
prozessrechtlichen Sicht entfällt nämlich die Notwendigkeit, in die Intimsphäre des
Individuums einzugreifen, um das Vorliegen der Gewissensentscheidung glaubhaft zu
machen. Die Tauglichkeit der Gewissensfreiheit als subjektives Recht für den Schutz der
individuellen Interessen wird gerade mit dem Hinweis darauf bezweifelt, dass im
Anerkennungsverfahren in die Privatsphäre des Einzelnen so weitgehend eingegriffen wird,
dass sein Gewissen nur mit gleichzeitiger Verletzung anderer Aspekte seiner Autonomie,
Selbstachtung und Würde geschützt wird, wenn auch der Eingriff aus der Initiative des
Einzelnen erfolgt.938
4.4. Die Gewissensschonenden Handlungsalternativen
Einige Autoren gehen davon aus, dass der Gewissensfreiheit eine an dem Gesetzgeber
gerichtete Pflicht zu entnehmen ist, für den Einzelnen gewissenskonforme Alternativen
bereitzustellen, falls sich eine Rechtsnorm mit seinem Gewissen nicht vereinbaren lässt,939
es
sei denn, „dass es Alternativlösungen nicht gibt oder die möglichen Alternativlösungen für die
staatlich verfasste Gesellschaft nicht tragbar sind.“940
Die gewissensschonenden Alternativen
sollen sicherstellen, dass von der Gewissensfreiheit ohne Stigmatisierung und
Diskriminierung Gebrauch gemacht wird.941
Die Gewissensfreiheit entfaltet ihre
Schutzfunktion aber erst dann, wenn eine unausweichliche Zwangslage besteht, in der
staatliche Ge- oder Verbote in einem unlösbaren Widerspruch zu einem individuell
zwingenden Gewissensgebot stehen. Solange alternative Verhaltensmöglichkeiten bereit
liegen, die mit dem Gewissensgebot nicht kollidieren, ist die Gewissensfreiheit noch nicht
verletzt.942
938
J. Raz, Autorytet prawa, Warszawa 2000, S. 290. 939
Ch. Grabenwarter, Kommentierung des Art. 9 EMRK in: Internationaler Kommentar zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, Köln 2002, Rn. 39, S. 23; U. Battis, Anmerkung zu BverwG, Urt. v. 21.06.2005, in:
DVBL, 2005, S. 1457; M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 218; H. H. Klein,
Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl Doehring, K.
Heilbronner, G. Ress, T. Stein, Berlin 1989, S. 493. 940
A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S.
35; N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 283ff; E. W. Böckenförde,
Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRl, Bd. 28, S. 71, 77; H. Nogueira Alcala, Derechos
fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008, S. 13; M. Hilti, Die
Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 49; G. U. Freihalter, Die Gewissensfreiheit. Aspekte eines
Grundrechts, Berlin 1973, S. 199; G. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, Berlin 1978, S. 253. 941
D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229. 942
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 157.
237
Die Pflicht des Gesetzgebers, gewissenskonforme Alternativen zu schaffen, ist der
programmatischen Schicht der Gewissensfreiheit zuzurechnen. Der Anspruch auf
Bereitstellung einer möglichen Handlungsalternative ergibt sich aus dem Charakter des
Grundrechts als objektive wertentscheidende Grundsatznorm.943
Kommt der Gesetzgeber
seiner Pflicht nicht oder nur unzureichend nach, kann die Bereitstellung einer Alternative
grundsätzlich auch als subjektiver Anspruch vor Gericht einklagbar werden, vorausgesetzt
dass eine Alternative verfügbar und durch die Gemeinschaft tragbar ist.944
Die Notwendigkeit, eine gewissenschonende Alternative zu schaffen, lässt sich mit der
Unzulänglichkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips für die Einschränkung der
Gewissensfreiheit begründen: das Gewissen verträgt es nämlich nicht, dass es mit
Gemeinschaftsinteressen oder Rechten Anderer abgewogen wird und zugunsten der letzteren
eine Relativierung erfährt. „Es gibt hier also nur ein Entweder – Oder, nicht ein abwägendes
Sowohl – Als – Auch.“945
Die Eigenart des autonomen Gewissens macht die Milderung des
Gewissenskonfliktes durch heteronome Beschränkung seiner Betätigung nicht möglich; „Das
Gewissen, soll es irgendwie im Abwägungsverfahren auf einen gemeinwohlverträglichen
Stand gebracht werden, ist kein Gewissen mehr.“946
Nach einer anderen Meinung kann nicht von der Pflicht, sondern eventuell von der staatlichen
Befugnis in diesem Bereich gesprochen werden.947
Rupp argumentiert in diesem
Zusammenhang, dass die Pflicht, eine gewissensschonende Alternative anzubieten nur dann
zu bejahen ist, wenn das für alle verbindliche Gesetz eine Ausnahme zulässt oder
Generalklausel und ausfüllungsbedürftige Begriffe enthält, also wenn die Möglichkeit einer
„gewissensfreundliche d.h. gewissensschonende Alternativen gewährenden Auslegung oder
943
BverwGE 105, 73 (77f.). 944
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 220. Im deutschen Schrifttum ist diese Frage
allerdings umstritten; ausdrücklich für ein gerichtlich durchsetzbares subjektives Recht spricht sich G. U.
Freihalter aus, Die Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 200. Ablehnend dagegen M.
Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 281f. Teilweise wird
argumentiert, die Gewissensfreiheit müsse sich auch dann durchsetzen, wenn durch die Inanspruchnahme der
Gewissensfreiheit die sozialen Folgen nicht zu ertragen wären. Die sozialen Kosten der Inanspruchnahme der
Gewissensfreiheit seien von der Gesellschaft zu tragen. Siehe: U. K. Preuß, Art. 4 GG, in: E. Denninger, W.
Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland,
Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt 1989, Abs. 1, 2, Rn. 45. Die letztgenannte Ansicht ist im
Kontext der polnischen Verfassung wegen der Einschränkungsmöglichkeit der Gewissensfreiheit nicht
annehmbar. 945
H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NvWZ, 1991, S. 1037. 946
Ebenda, S. 1036. 947
U. K. Preuß, Art. 4 GG, in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt 1989, S.
38.
238
entsprechenden Rechtsvollzugs“ besteht.948
Darüber hinaus muss sich die ins Spiel kommende
Handlungsalternative mit den durch dieses Gesetz geschützten Rechtsgütern vereinbaren
lassen und für alle Betroffenen zumutbar sein. Ist eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt,
muss der Einzelne eine durch das Gesetz festgesetzte Sanktion hinnehmen. Dies sollte
allerdings in einer Rechtsordnung, die auf dem Prinzip der Toleranz und Achtung der
Persönlichkeit basiert, selten geschehen.
Dieser Meinung ist mit dem Hinweis darauf beizupflichten, dass die Ableitung aus der
Gewissensfreiheit einer allgemeinen Pflicht des Staates, eine Handlungsalternative
anzubieten, nicht möglich ist. Dies erklärt sich zuerst damit, dass die Gewissensfreiheit kein
Surrogat für einen aus der Sicht von Minderheiten verfehlt verlaufenen politischen
Willensbildungsprozess darstellt.949
Darüber hinaus könnte der Gesetzgeber als Hauptadressat
einer solchen Pflicht weder alle potenziellen Gewissenskonflikte vorhersehen noch im
Rahmen der ihm allein möglichen abstrakt-generellen Betrachtungsweise einschätzen, ob
denkbare Alternativen für den Einzelnen zumutbar sind.950
Wenn auch sich nicht leugnen
lässt, dass die Bereitstellung der gewissensschonenden Handlungsalternativen durchaus
erwünscht ist, muss berücksichtigt werden, dass die Gewissensfreiheit als Grundrecht mit
einem weitgehend unbestimmten Tatbestand ist und daher sich durch den Gesetzgeber nur
beschränkt gestalten lässt. Die Antworten auf individuelle Inanspruchnahmen der
Gewissensfreiheit, welche dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen, sind eher knapp.
Außerdem ist die Verfassung unmittelbar anwendbares Recht, deshalb braucht der
Gesetzgeber einen konkreten Typ der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht zu regeln,
damit sich der Einzelne auf den Grundrechtsschutz berufen kann. Wegen der Singularität der
Anwendungsfälle der Gewissensfreiheit soll in der Mehrzahl der Fälle bei der Handhabung
dieses Grundrechts die entscheidende Rolle der Rechtsprechung zukommen. Der
Rechtsprechung obliegt, die gesetzlich nicht geregelten Tatbestände der Gewissensfreiheit zu
identifizieren, die Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Grundrechts festzustellen sowie
die notwendige Abwägung mit den kollidierenden Rechtsgütern vorzunehmen. Die
gesetzliche Regelung der Verweigerung aus Gewissensgründen könnte den Richtern zwar
mehr Sicherheit geben, sie ist aber nur in den Fällen der sozial relativ verbreiteten
948
H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NvWZ, 1991, S. 1037. 949
U. K. Preuß, Art. 4 GG, in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt 1989, Rn.
49. 950
S. Muckel, Die Grenzen der Gewissensfreiheit, in: NJW, 2000, S. 690; M. Herdegen, Gewissensfreiheit und
Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 282.
239
Modalitäten möglich. In diesem Zusammenhang ist auch in Betracht zu ziehen, dass die
Tätigkeit des Gesetzgebers immer später kommt, d.h. die gesetzlichen Maßnahmen werden
erst dann vorgenommen, nachdem sich viele konkrete Verweigerungsfälle vollzogen haben.951
Die Inanspruchnahme des grundrechtlichen Schutzes kann somit von der gesetzgeberischen
Aktivität nicht abhängig gemacht werden.
Der Grundrechtsträger hat folglich keinen Anspruch auf Bereitstellung einer
gewissenskonformen Handlungsalternative durch den Staat. Ihm obliegt vielmehr – falls ihm
das Ausweichen des Konflikts nicht zumutbar ist, selbst die Alternativen anzubieten oder vom
Staat konkrete rechtliche Handlungsmöglichkeiten zu verlangen, weil weder dem Gesetzgeber
noch dem Rechtsanwender die Entstehung der individuellen Konfliktsituation vorhersehbar
ist. In dieser Situation obliegt dem Bürger, darzulegen, welche Alternativen er in seiner
Situation sieht und gegebenenfalls, dass die ihm zur Verfügung stehenden Alternativen wegen
der mit ihnen verbundenen Lasten für ihn unzumutbar sind. Hat der Grundrechtsträger ihm
zumutbare Auswege und Alternativen nicht benutzt, fällt sein Verhalten aus dem
Schutzbereich der Gewissensfreiheit heraus. Wenn jemand eine Rechtspflicht nicht erfüllt,
ohne die zumutbaren Bemühungen anzustellen, den Gewissenskonflikt zu vermeiden, ist in
seinem Verhalten – im Blick auf die Sanktionen – weder rechtfertigt noch entschuldigt. Die
Gewissensfreiheit ermächtigt zur Selbstdispensierung von Rechtspflichten nicht.952
Die Notwendigkeit der Bereitstellung einer gleichwertigen Handlungsalternative wird nach
diesem Ansatz aus dem Demokratieprinzip abgeleitet, in dessen Zentrum die Idee der Egalität
steht. Das Demokratieprinzip wirkt sich auf die Auslegung des Gleichheitssatzes so strikt aus,
dass die Befreiung des Einzelnen von einer allgemeinen Rechtspflicht ohne gleichwertiger
Alternative als Ausdruck des Elitismus angesehen wird und zwar unabhängig vom Grund
dieser Befreiung. Jegliche Sonderregelungen der allgemeinen Rechtspflicht sollen der
Allgemeinheit und nicht nur dem Bevorzugten dienen.953
Es bleibt allerdings zu erwägen, ob
die Schwere einer Handlungsalternative der Lästigkeit der verweigerten Rechtspflicht genau
entsprechen muss oder ob es gerechtfertigt ist, dass die Schwere der Handlungsalternative
951
M. J. Ciáurriz, Objeción de conciencia y estado democrático, Instituto de Investigaciones Jurídicas, Derecho
fundamental de libertad religiosa, México 1994, S. 69; J. Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el
derecho internacional y comparado, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S.
116. 952
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 240f. 953
C. Silva Costa, A interpretacão constitucional e os direitos e garantías fundamentais na constituicão de 1988,
Rio de Janeiro 1992, S. 160.
240
diejenige der Hauptpflicht übersteigt. Die Lehre ist in dieser Hinsicht geteilt und stellt keine
einzige Lösung bereit. Nach Luhmann soll im Bezug auf Ersatz oder Ausweichhandlungen
dem Einzelnen hohe Opferbereitschaft zugemutet werden: „Man sollte sich gerade hier vor
den Verirrungen des Mitleids hüten.“954
Dieser Ansicht hat sich Böckenförde angeschlossen;
er fordert einen Preis für die Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit, der in Form von einer
„lästigen Alternative“ zu bezahlen ist.955
Gemäß Zippelius soll der Einzelne bereit sein, „auch
erhebliche Nachteile“ in Kauf zu nehmen.956
Die Vereinbarkeit der Kompensierung der
Befreiung von einer Rechtspflicht durch die Auferlegung einer lästigen Alternative mit der
Verfassung wird damit gerechtfertigt, dass in vielen Fällen notwendig ist, dem
Gleichheitsprinzip der Genüge zu tun. Die Lästigkeit der Alternative ist auch ein Indiz für die
Ernsthaftigkeit des Verweigerers.957
In diesem Zusammenhang wird argumentiert, dass die
Gewissensfreiheit allein die Pflicht zur Schaffung der Handlungsalternativen nicht zu
begründen vermag. Sie ist vielmehr dem Gleichheitssatz zu entnehmen.958
Die Forderung einer lästigen Handlungsalternative kann allerdings nur in denjenigen Fällen
zum Zuge kommen, wo die Feststellung der Ernsthaftigkeit des Verweigerers überhaupt
notwendig ist. In anderen Fällen ist die Einführung einer relativ gleichen Alternative
ausreichend. Die gleiche Alternative erfüllt allerdings ihre Aufgabe nur dann, wenn
gewährleistet bleibt, dass die Zielsetzung der primären Pflicht grundsätzlich nicht vereitelt
wird, sollen viele Verpflichteten ihre Erfüllung aus anderen als Gewissensgründen
verweigern. Es muss doch in Betracht gezogen werden, dass wenn das Indiz der
Ernsthaftigkeit einer Gewissensentscheidung in Form einer lästigen Alternative entfällt,
werden die alternativen Rechtspflichten dem Einzelnen faktisch zur freien Wahl gestellt.959
Der Forderung einer „lästigen Alternative“ wird entgegengehalten, dass Grundrechte keinen
Preis haben und die Verkopplung ihrer Inanspruchnahme mit der Erfüllung einer lästigen
954
N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1965, S. 283. 955
E. H. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 71. 956
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 52. 957
W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting decisions of
conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for Church-State
Research, Conscientious objection in the EC countries, December 7-8 1990, Milano 1992, S. 32, 39; B. P.
Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State Research,
Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 269. 958
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 102. 959
B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State
Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 269.
241
Alternative den freiheitlichen Charakter der Gewissensfreiheit verkennt.960
Die allgemeine
Bemerkung, dass Grundrechte keinen Preis haben, kann allerdings wegen des spezifischen
Charakters der Gewissensfreiheit, deren Inanspruchnahme mit Befreiung von einer
gesetzlichen Pflicht einhergeht, auf dieses Grundrecht nicht übertragen werden.
Außerdem wird vertreten, dass die Auferlegung einer lästigen Alternative nicht nur gegen die
Gewissensfreiheit, sondern auch gegen den Grundsatz der Gleichheit verstößt. Sie wäre im
Verhältnis zu den Interesen des Einzelnen unverhältnismäßig.961
Diese Argumentation findet
ihre Bestätigung in der Rechtsprechung des UNO- Menschenrechtsausschusses. Der
Ausschuss hat im Zusammenhang mit der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen
bereits mehrmals die Ansicht geäußert, dass die längere Dauer des Zivildienstes mit dem
Argument nicht gerechtfertigt werden kann, dass dadurch die Ernsthaftigkeit der
Überzeugungen des Beschwerdeführers überprüft werden muss. Die eventuelle längere Dauer
des Zivildienstes darf weder Strafcharakter haben noch diskriminierend sein.962
Der Grundrechtsschutz kann allerdings nicht mit der Bereitstellung von einer
gewissensschonenden Alternative enden. Wenn der Grundrechtsträger die angebotene
Handlungsalternative aus Gewissensgründen ablehnt, kann ihm der Grundrechtsschutz nicht
abgesprochen werden. Eine gegensätzliche Lösung würde auf die Richtigkeitskontrolle der
Gewissensentscheidung hinauslaufen. Wenn keine Alternative durch den Staat angeboten
werden kann oder wenn sie von dem Einzelnen aus Gewissensgründen abgelehnt werden
muss, ist der Fall durch Abwägung der kollidierenden Interessen zu lösen. Die Gewährung
des Grundrechtsschutzes auch im Fall, wenn keine zugängliche oder zumutbare
Handlungsalternative vorliegt, rechtfertigt sich damit, dass Gewissensfreiheit nicht als
Ausnahmerecht den Rechtspflichten gegenüber angesehen werden kann, weil Grundrechte
schlechthin nicht als „Ausnahmerechte“ zu verstehen sind.963
960
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, in: DuR, Nr. 11, 1983, S.
275. 961
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 219. 962
Communication No 689/1996, Maille v. France; Communication No 690 and 691/1996, Venier and Nicolas
v. France; Communication No. 666/1995, A. v. France. 963
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 139.
242
5. Die Wertetheorie
Zum Ausgangspunkt der Wertetheorie wird die Annahme, dass sich der Staat vornehmlich
darum kümmert, die Gesellschaft zu integrieren und damit eine kulturelle Gemeinschaft auf
der Basis des für die ganze Gesellschaft gemeinsamen Wertsystems zu schaffen. Diese
Aufgabe wird u.a. durch die integrierende Auslegung der Verfassung bewerkstelligt. Wegen
ihres politischen Charakters ergibt sich nämlich das Postulat, dass ihre Interpretation nach
einer Integrationswirkung streben soll, d.h. es sollen diejenigen Lösungen angenommen
werden, welche die politische und soziale Integration fördern sowie zur Stärkung der
politischen Einheit innerhalb des Staates beitragen.964
Mit anderen Worten: Unter vielen
möglichen Interpretationsalternativen sind diejenigen Maßstäbe zu bevorzugen, welche die
„existierende politische und soziale Integration in der pluralistischen Gesellschaft unter einem
ideologisch multiplen, die Mehrheit und die Minderheiten integrierenden Dach
verwirklichen.“965
Nach diesem Ansatz stellen die Grundrechte nicht nur subjektive Rechte
des Individuums, sondern auch von den Anschauungen des Individuums unabhängige Werte
dar.966
In der polnischen Lehre wird vertreten, dass sich die integrierende Funktion der Verfassung
von 1997 auf ihren „Geist des Kompromisses“ zurückzuführen lässt, der implizit den
übergeordneten Wert in der Axiologie der Verfassung darstellt.967
Die Verfassung dient daher
der Integration der Gesellschaft, weil ihr Gehalt kein Ausdruck des Willens einer
vorübergehenden Mehrheit, sondern Ausdruck des Willens des Volkes darstellt; ihr liegen
gefestigte Überzeugungen des Gemeinwesens zugrunde. Die Verfassung verwandelt die
soziale Entität in ein rechtliches Sein.968
964
L. A. Huerta Guerrero, Jurisprudencia constitucional e interpretación de los derechos fundamentales, in:
Comisión Andina de Juristas, Derechos fundamentales e interpretación constitucional (ensayos – jurisprudencia),
Lima 1997, S. 41; K. Hesse, Necesidad, significación y cometido de la interpretación constitucional, in: Estudios
de derecho constitucional panameño, Panama 1987, S. 966. 965
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Madrid 2006, S. 125. 966
B. Banaszak, Ogólne wiadomości o prawach człowieka, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności
obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 50. 967
Z. Staroszewski, Aksjologia i duch konstytucji III Rzeczypospolitej, in: Przegląd Sejmowy, Nr. 4(81), 2007,
mit Verweis auf: P. Winczorek, A jednak kompromis, in: Rzeczpospolita, 05.10.2002; siehe auch: B. Banszak,
A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 52f. 968
B. Banszak, A. Preisner, Prawo konstytucyjne. Wprowadzenie, Wrocław 1996, S. 54.
243
Die integrierende Funktion der Verfassung hat auch das BverfG anerkannt: „mehr als die
Interpretation der Gesetze hat die der Verfassung mit dem Problem der Offenheit des
Normtextes zu tun, weil die Verfassung der aufgegebenen politischen Einheit des Staates zu
dienen bestimmt ist.”969
Der echte Interpret der Verfassung ist derjenige, der eine
Rechtsinstitution nicht nur dadurch erschließt, dass er sich den überkommenen
Auslegungsethoden bedient, sondern auch indem er sich an die soziale und politische
Wirklichkeit hält und die zu interpretierenden Normen in den Rahmen des rechtlichen und
sozialen Transformationsprozesses hineinsetzt, aus welchem diese Normen hervorgehen und
für welchen sie bestimmt sind. Der Interpret muss sich die Konflikte bewusst machen, welche
die Verfassung zu schlichten versucht.970
Dieser funktionale Interpretationsgrundsatz nähert
sich in seinem Zweck, die Normen- und Interessenspannungsverhältnisse abzubauen, dem
Prinzip der Einheit der Verfassung sowie dem Prinzip der praktischen Konkordanz.971
Die integrationsfördernde Auslegung soll – selbstredend – nicht als Unterstützung des
Integrationismus verstanden werden, der zu den verschiedenartigen Formen des politischen
Autoritarismus, Fundamentalismus oder Transpersonalismus führt; das Prinzip der
Integrationswirkung der Auslegungsergebnisse geht vielmehr von der „verfassungsrechtlich
rationalisierten Konfliktanfälligkeit“972
aus, um „pluralistisch integrierende Lösungen“973
herzustellen.
Gerade dieser letzte Punkt wird von einigen Autoren nicht hinreichend berücksichtigt, was zu
skeptischen Positionen betreffs der Verbrauchbarkeit des integrationswirkenden
Interpretationsansatzes für die Auslegung der Gewissensfreiheit geführt hat. Escobar Roca
argumentiert, dass es nicht sicher ist, ob die Zügelung jeglicher Verweigerung aus
Gewissensgründen zwecks der Uniformierung der Gesellschaft oder vielmehr die Toleranz
gegenüber der Dissidenten geboten ist, um dadurch friedliche Integration der
Andersdenkenden in die Gesellschaft zu verwirklichen.974
Böckenförde verneint dagegen
völlig die Anwendbarkeit der integrierenden Auslegungsmethode für die Auslegung der
Gewissensfreiheit, indem er darauf hinweist, dass die Gewissensfreiheit verstanden im Lichte
969
BverfGE 61,1 (45). 970
H. Masnatta, Interpretación de la Constitución, in: Rosatti, La reforma de la Constitución, Sbuenos Aires
1994, S. 21. 971
J. C. Moncada Zapata, Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte
Constitucional Colombiana, in: Derecho PUC, Nr. 53, 2000, S.156. 972
C. Gomes, J. Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 227. 973
Ebenda, S. 227. 974
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S.195.
244
dieser Theorie lediglich denjenigen schützt, wer dieses Schutzes nicht bedarf; die
Minderheiten und Dissidenten, die gerade den Schutz der Gewissensfreiheit brauchen, werden
von ihrem Schutzbereich nicht erfasst.975
Dieser Betrachtungsweise ist allerdings nicht beizupflichten. Die integrierende Wirkung der
Verfassungsauslegung gewinnt an Gewicht insbesondere im polnischen Kontext, wenn in
Erwägung gezogen wird, dass die religiös-weltanschaulichen Fragen zu den umstrittensten
Problemen der politischen Debatte zur Gestalt und Inhalt der Verfassung von 1997 gehörten.
Von Erlangung des Kompromisses in diesem Bereich hing sogar die Akzeptanz des ganzen
Verfassungsprojektes an.976
Die Interpretation der polnischen Verfassung, insbesondere der
kontroversanfälligen weltanschauungsrelevanten Vorschriften, soll deshalb zweifellos die
herausgearbeiteten Kompromisse schützen und eventuelle Spannungsverhältnisse zwischen
Gläubigen und Nichtgläubigen entschärfen. Für die Gewissensfreiheit bedeutet dies, dass die
den religiösen Glauben stammenden Gewissensentscheidungen keine bevorzugte Position
gegenüber diejenigen ethischen Überzeugungen einnehmen können, welche aus einer
Weltanschauung abgeleitet wurden. Soll das Grundrecht der Gewissensfreiheit zur Stärkung
der Kohäsion der polnischen Gesellschaft beitragen, muss allen Gewissensentscheidungen
unabhängig von ihrer geistigen Quelle gleichwertiger Schutz eingeräumt werden.
975
E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Staat, Verfassung, Demokratie,
Studie zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1992, S. 132. 976
P. Borecki, Kompromis końca wieku. Klauzule wyznaniowe w Konstytucji z 1997 r., in: Res Humana, Nr. 2,
2007, S. 11f.
245
Kapitel VI
Schutzumfang der Gewissensfreiheit
1. Subjekte der Gewissensfreiheit
1.1. Allgemeines
Die Gleichstellung der Staatsbürger und Ausländer im Beriech der Freiheitsrechte in der
polnischen Verfassung ergibt sich bereits daraus, dass die allen Menschen zustehende
Menschenwürde von dem Verfassungsgeber als Quelle der Rechte und Freiheiten anerkannt
wurde.977
Nichtdestoweniger enthält Art. 51 Abs. 1 Verf. eine audrückliche Regelung des
subjektiven Schutzbereichs der Gewissens- und Religionsfreiheit. Danach steht dieses
Grundrecht jedem Einzelnen zu. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass sich die
Regelung der Subjektivität der Gewissens- und Religionsfreiheit in der Verfassung von 1997
von der entsprechenden Normierung dieser Frage in der Verfassung von 1952 unterscheidet;
in der sozialistischen Verfasung wurden nämlich die Grundrechte nur den polnischen
Staatsbürgern eingeräumt. Die Ausdehung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf
Ausländer lässt sich dem Gesetz über die Garantien der Gewissens– und Bekenntnisfreiheit
entnehmen: in Art. 1 dieses Gesetzes wird als Berechtigte zwar nur der Bürger genannt, Art. 7
präzisiert aber, dass auch die Ausländer, die sich im polnischen Staatsgebiet aufhalten, in
Angelegenheiten der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit den Inländern gleichgestellt sind.
Diese Regelung gilt entsprechend auch hinsichtlich der Staatenlosen. Mit der ausdrücklichen
Bezeichnung der Grundrechtssubjekte sind allerdings nicht alle mit Bestimmung des
subjektiven Schutzbereichs verbundenen Probleme gelöst: Der Untersuchung bedarf nämlich
die Rechtslage der Minderjährigen und der juristischen Personen; diesem Zweck dienen die
folgenden Abschnitte.
977
K. Complak, Uwagi o godności człowieka oraz jej ochrona w świetle nowej Konstytucji, in: Przegląd
Sejmowy, Nr. 5(28), 1998, S. 142.
246
1.2. Kinder und Jugendliche als Rechtssubjekte der Gewissensfreiheit
Aus der verfassungsrechtlichen Bestimmung des Art. 51 Abs. 1, wonach „jedermann“
Grundrechtsträger der dort genannten Rechte ist, ergibt sich eindeutig, dass sich der
Schutzbereich der Gewissensfreiheit auf Kinder und Jugendliche erstreckt.978
Die
Grundrechtssubjektivität der Minderjährigen wurde auch in der Rechtsprechung zum Art. 9
EMRK bejaht, indem die Konventionsorgane ihnen den Status des zweiten
Beschwerdeführers neben ihren Eltern anerkannt haben.979
Die Bejahung der
Grundrechtssubjektivität der Kinder und Jugendlichen trägt der Tatsache Rechnung, dass sie
in aller Regel zu Gewissensentscheidungen fähig sind. Die Inanspruchnahme der
Gewissensfreiheit ist nämlich nicht nur den sittlich ausgereiften Menschen mit festen und
dauerhaften Grundvorstellungen vorbehalten. Für die Inanspruchnahme dieses Rechts ist
vielmehr „nur ein gewisser Grad sittlicher Einsicht als Grundlage sittlichen
Urteilsvermögens“980
notwendig. Diese dem BverfG entnommene Ansicht liegt auch den
einschlägigen Bestimmungen der polnischen Verfassung zugrunde und kommt in der
Situierung der normativen Ausgestaltung der Gewissens- und Religionsfreiheit der Kinder
und Jugendlichen im Zusammenhang mit dem Eltern-Kind Verhältnis zum Ausdruck.
Im Fall der Kinder schützt die Gewissensfreiheit vor allem gegen nichtberechtigte Eingriffe in
den Bereich ihres Bewusstseins und Verhaltens, der ihrer moralischen Bewertung unterliegt.
Außerdem gewährt sie das Recht, mit Inhalten und Situationen nicht konfrontiert zu werden,
die von dem Kind als moralisch „böse“ angesehen werden.981
Diese Auslegung findet ihre
rechtsvergleichende Bestätigung in den Vorschriften der Kinderrechtekonvention. Außer dem
Art. 14 der den Minderjährigen die Gewissensfreiheit gewährleistet, wird die Garantie dieses
Menschenrechts in anderen Bestimmungen der Konvention verstärkt. Da die
Gewissensfreiheit für die Bildung und Erhaltung der persönlichen Identität von großer
978
In diesem Zusammenhang ist die Meinung Łopatkas in Bezug auf die Subjektstellung der Kinder in
internationalen Menschenrechteabkommen erwähnenswert: der Autor argumentiert, dass obwohl Art. 18 Abs. 1
IPpbR jedem als Rechtsträger der Gewissens- und Religionsfreiheit bezeichnet, schließt die ausdrückliche
Erwähnung der elterlichen Erziehungsrechte in Art. 18 Abs. 4 IPbpR die Subjektivität der Kinder in diesem
Bereich aus. Die Anerkennung der Kinder als Subjekte der Gewissens- und Glaubensfreiheit ist erst mit
Verabschiedung der Kinderrechtekonvention erfolgt (A. Łopatka, Dziecko. Jego prawa człowieka, Warszawa
2000, S. 79). 979
Lena and Anna-Nina Angelini v. Sweeden, Appl 10491/83, DR 51/41; C.J., J.J., E.J. v. Poland, Appl
23380/94, DR 84/46. 980
BVerfGE 12, 272. 981
T. Sokołowski, Wolność myśli, sumienia i wyznania dziecka, in: T. Smyczyński, Konwencja o prawach
dziecka, Analiza i wykładnia, Poznań 1999, S. 262.
247
Bedeutung ist, ist der Schutz des Gewissens der Kinder zunächst durch Art. 8 der
Kinderrechtekonvention untermauert, welcher gerade die Erhaltung der Identität des Kindes
zum Schutzgegenstand hat. Für die Bildung des Gewissens von Kindern ist auch Art. 17 der
Konvention von Bedeutung; danach haben die Konventionsstaaten die Pflicht übernommen,
sicherzustellen, dass die Kinder Zugang zur Information und Material aus der Vielfalt der
nationalen und internationalen Quellen haben, welche die Förderung ihres sozialen, seelischen
und sittlichen Wohlergehens sowie ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel
haben. Zusätzlich sind die Konventionstaaten verpflichtet, die Kinder von denjenigen
Informationen zu schützen, die ihr Wohlergehen beeinträchtigen können (Art. 17e). Darüber
hinaus, wenn es notwendig ist, ein Kind vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären
Umgebung herauszulösen, und seine Adoption oder Unterbringung in einer Pflegefamilie
bzw. in einer „geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung“ in Betracht kommt, ist bei der Wahl
einer dieser Lösungen die erwünschte Kontinuität in der Erziehung des Kindes sowie seine
ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft gebührend zu berücksichtigen.982
Die Gewissensfreiheit der Kinder wird allerdings durch die elterliche Erziehungsrechte
ergänzt und beschränkt. Art. 53 Abs. 3 S. 1 Verf. gewährleistet den Eltern das Recht, eigene
Kinder in Übereinstimmung mit ihren religiösen und moralischen Überzeugungen zu
erziehen. Die zitierte Vorschrift verweist auf Art. 48 Abs. 1 Verf. wonach im elterlichen
Erziehungsprozess die Gewissens- und Religionsfreiheit der Kinder sowie ihre
Überzeugungen angemessen berücksichtigt werden sollen. Die Inanspruchnahme der
Gewissensfreiheit von Minderjährigen wird somit bis zur Volljährigkeit durch
Erziehungsrechte der Eltern wesentlich eingeschränkt. Art. 48 Verf. regelt dabei nicht den
ganzen Erziehungsprozess, d.h. die allgemeine Gestaltung der menschlichen Persönlichkeit
und die Sorgepflicht der Eltern, die körperliche und geistige Entfaltung des Kindes zu sichern,
sondern nur einen Aspekt der Erziehung, d.h. die auf der bewussten Entscheidung der Eltern
beruhende Beibringung und Festigung bei den Kindern einer bestimmten Religion, einer
Weltanschauung oder moralischer Werte und Überzeugungen.983
Zum Schutzgegenstand
dieser Rechtsnorm wird moralische Erziehung, die vor allem darin besteht, das Gewissen des
Zöglings zu bilden und ihn zur Wahrnehmung und Würdigung der moralischen Werte
anzuregen, damit er persönliche Entscheidungen treffen und sie als eigene anerkennen
982
E. Brems, Art. 14. The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion, Leiden, Boston 2006, S. 8. 983
P. Sarnecki, Art. 48, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, III, Warszawa 2003,
S. 1.
248
kann.984
Den Eltern als „natürlichen Disponenten“ der Gewissensfreiheit der Kinder obliegt,
ihnen die Richtung der Inanspruchnahme dieses Rechts zu weisen. Dies ergibt sich sowohl
aus der elterlichen Gewalt als auch aus der natürlichen Bindung zwischen den Eltern und
seinen Kindern.985 Die Orientierungshilfe bei der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit der
Kinder liegt dabei in dem Verantwortungsbereich beider Eltern. Das Recht stellt keine Lösung
bereit, wie potenzielle Konflikte zwischen den Eltern in Fragen der religiösen und
weltanschaulichen Erziehung ihrer Kinder zu bewältigen sind.986
Es obliegt somit den
Betroffenen, die Grundsätze der Erziehung festzulegen und diese Grundsätze zu beachten.987
Die verfassungsrechtliche Regelung der Erziehungsrechte der Eltern soll in erster Linie nicht
als Antizipation und Lösungsmechanismus eventueller Konflikte in diesem Bereich
angesehen werden. Ihr Zweck liegt vielmerhr in der Anerkennung der Tatsache, dass das
Kind, die Entwicklung seiner Persönlichkeit und Verwirklichung seiner Rechte der
elterlichen Sorge anvertraut sind. In den richtig funktionierenden Familien ist die
Hervorhebung der Kinderrechte nicht notwendig, solange sein Wohl nicht gefährdet wird.988
Die zitierte Vorschrift gewährleistet vor allem das Abwehrrecht der Eltern gegen
unerwünschte Beeinflussungen von außen. Danach darf niemand den Kindern ethische und
religiöse Unterrichtung und Erziehung aufzwingen, die im Widerspruch zu den
Anschauungen der Eltern stehen.989
Deshalb ist der Meinung beizupflichten, wonach sich die
Berücksichtigung des Reifegrades des Kindes im Erziehungsprozess in eine privilegierte
Position der Kinder auf Kosten der elterlichen Erziehungsrechte nicht umwandeln soll. Dies
ist insbesondere im Zusammenhang mit den destruktiven und übermäßigen Einflüssen seitens
Dritter (etwa Mitglieder einer Sekte) von Bedeutung.990
984
J. Krukowski, Ochrona prawa rodziców do moralnego i religijnego wychowania dzieci w prawie
kanonicznym i w prawie polskim – wprowadzenie do problematyki, in: J. Krukowski, A. Maćkowski, Ochrona
funkcji wychowawczej rodziny, Szczecin 2007, S. 14. 985
K. Warchałowski, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii w Europejskiej Konwencji Praw Człowieka i
Podstawowych Wolności, Lublin 2004, S. 195; P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rezeczypospolitej
Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997, S. 116. 986
M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno –
Historyczne, 2001, Heft 1, S. 126. 987
P. Sarnecki, Art. 48, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, III, Warszawa 2003,
S. 4. 988
O. Sitarz, Ochrona wolności sumienia i wyznania dziecka w polskim prawie karnym, in: Problemy prawa
karnego, Nr. 25, 2004, S. 14f. 989
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 274, Rn. 11. 990
J. Krukowski, Ochrona prawa rodziców do moralnego i religijnego wychowania dzieci w prawie
kanonicznym i w prawie polskim – wprowadzenie do problematyki, in: J. Krukowski, A. Maćkowski, Ochrona
funkcji wychowawczej rodziny, Szczecin 2007, S. 23.
249
Um die Einschränkung der elterlichen Erziehungsrechte zu bestimmen, ist darauf Rücksicht
zu nehmen, dass elterliche Gewalt eine naturrechtliche Grundlage hat. Der unveräußerliche
Charakter der elterlichen Erziehungsrechte rechtfertigt den Eingriff seitens öffentlicher
Institutionen nur im Fall der Verletzung durch die Eltern im Erziehungsprozess der
moralischen Grundwerte, auf denen die Rechtsordnung aufbaut. Eine bestimmte Schranke des
elterlichen Erziehungsrechts bilden lediglich die durch Art. 72 Verf. geschützten Rechte der
Kinder. Danach kann jeder von der öffentlichen Gewalt verlangen, die Kinder vor Gewalt,
Grausamkeit und Demoralisierung in Schutz zu nehmen.991
Eine analoge Regelungsweise der Gewissens- und Religionsfreiheit der Minderjährigen
enthält Art. 14 der UNO Konvention über die Rechte des Kindes. In Art. 14 Abs. 2 der
Konvention ist von den Rechten und Pflichten der Eltern bzw. des Vormunds die Rede, das
Kind bei der Ausübung seiner eigenen Rechte seiner Entwicklung entsprechend zu leiten. Im
Verhältnis zu den selbständigen Rechten der Kinder haben die Rechte und Pflichten der Eltern
nach der Kinderrechtekonvention einen akzessorischen Charakter. Die starke Akzentuierung
der Gewissens- und Religionsfreiheit der Kinder unterschiedet die Regelung der Konvention
von Art. 48 Verf., wo der Schwerpunkt auf die Erziehungsrechte der Eltern gelegt wurde. Die
Gegenüberstellung der Bestimmungen der Verfassung und der Kinderrechtekonvention
könnte zur Annahme einer Auslegung des polnischen Rechts führen, wonach im Fall eines
Konfliktes über die Richtung der moralischen Erziehung die Letztentscheidung auf die Eltern
fallen soll. Es ist allerdings in Betracht zu ziehen, dass die Eltern verpflichtet sind, den Grad
der Mündigkeit des Kindes sowie dessen Religions- und Gewissensfreiheit im ganzen
Erziehungsprozess (Art. 48 Abs. 1 Verf.), insbesondere bei der Entscheidung über die
Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht (Art. 53 Abs. 3 Verf.) zu berücksichtigen.
Gerade die genannte Berücksichtigungspflicht des Reifegrades der Kinder spricht für die
Verneinung einer einseitigen Interpretation zugunsten der Eltern.992
Sowohl die Konvention
über die Rechte des Kindes als auch die Verfassung trägt der Evolution der Eltern - Kind
Verhältnisse hinlänglich Rechnung. Aus diesem Grund können interpretatorische Ansätze des
991
P. Sarnecki, Art. 48, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, III, Warszawa 2003,
S. 2. 992
D. Wójcik, Rozwój psychiczny dzieci i młodzieży a prawa gwarantowane przez Konwencję o Prawach
Dziecka, in: T. Smyczyński, Konwencja o prawach dziecka, Analiza i wykładnia, Poznań 1999, S. 69.
250
Art. 14 der Konvention für die Auslegung der einschlägigen polnischen
verfassungsrechtlichen Vorschriften fruchtbar gemacht werden.
Das wichtigste interpretatorische Problem des normativen Zusammenspiels der
Erziehungsrechte der Eltern und der Gewissensfreiheit der Kinder liegt darin, dass weder die
Kinderrechtekonvention noch das polnische Recht Maßstäbe festlegt, wonach der Grad der
Mündigkeit der Kinder zu bestimmen ist. In diesem Zusammenhang ist anzunehmen, dass bei
der Feststellung, ob das Kind einen hinreichenden Grad der moralischen Reife erreicht hat,
um die Gewissensfreiheit selbständig in Anspruch zu nehmen, auf den konkreten Fall
ankommt. Den Eltern wurde dabei ein weiter Spielraum überlassen. Im Konfliktfall können
die Gerichte die Entscheidungen der Eltern hinsichtlich der Einschätzung der Urteilsfähigkeit
der Kinder für ausschlaggebend halten, solange kein krasser Missbrauch der elterlichen
Aufgaben vorliegt.993
Im Zweifel kann ein Gutachten eines Psychologen hilfreich sein.994
Der
Bereich der Autonomie der Kinder in Fragen der religiösen und weltanschaulichen
Angelegenheiten bleibt allerdings weitgehend unbestimmt, was zur Kontroverse hinsichtlich
der Grenzziehung seines Umfangs geführt hat: die allgemeine Formulierung des Art. 48 Abs.
1 Verf. „bereitet viele interpretatorische Schwierigkeiten und trägt zur Schwächung der
elterlichen Autorität bei.“995
Die Lehrmeinungen zu dieser Frage lassen sich auf zwei
Gruppen einteilen, wobei die Schwerpunktsetzung auf Rechte der Eltern bzw. der Kinder zum
Einteilungskriterium wird.
Die erste Gruppe bilden die Auffassungen, welche von der leitenden Position der Eltern
ausgehen: Sarnecki vertritt die Auffassung, dass die „Berücksichtigung der divergierenden
Überzeugungen der Kinder keine Pflicht ihrer Akzeptanz von den Eltern bedeutet. Auch in
diesem Fall haben sie das Recht, ihre eigenen Erziehungsmaßnahmen zu treffen. Das Gebot,
die Gewissenspositionen der Kinder zu berücksichtigen, hat lediglich einen praxeologischen
Charakter und bedeutet nur, dass die Eltern die Pflicht haben, auf neue erzieherische Situation
993
G. Lantier, Freedom of thought, concience and religion, in: J. Todres, M. Wojcik, C. Revaz, The U.N.
Convention on the Rights of the Child. An Analysis of Treaty Provisions and Implications of U.S. Ratification,
New York 2006, S. 160. 994
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 241; C. Gomes, J.
Jose, Direito Constitucional, Coimbra 1993, S. 459f. 995
P. Sobczyk, Wolność sumienia i religii w art. 53 Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia
1997r., in: Prawo Kanoniczne, Nr. 3/4, 2001, S. 213.
251
zu reagieren.996
Die dominierende Rolle der Eltern in der religiösen und moralischen
Erziehung ihrer Kinder wird auch von Krukowski 997
hervorgehoben: der zitierte Autor geht
zwar von der Annahme der Religionsfreiheit der Kinder und vom Ausschluss jedes Zwanges
in Fragen ihrer Selbstbestimmung aus, er optiert aber für den Primat der Eltern in
Beschlussfassung über Ausübung der religiösen Praktiken und Teilnahme am
Religionsunterricht. Die Eltern sollen dabei auf ihre Kinder „mit Kraft ihrer Autorität“
einwirken. Der Autor begrenzt damit die Berücksichtigung der Religions- und
Gewissensfreiheit auf Art und Weise der elterlichen Einflussnahme. Den Vorrang der
elterlichen Entscheidungen in den durch den Gesetzgeber nicht geregelten Bereichen der
moralischen und religiösen Erziehung bejaht auch Banaszak.998
Gemäß Abramowicz sind die
Eltern Disponenten des Rechts auf Glaubenswechsel im Verhältnis zu ihren Kindern. Dies
ergibt sich aus Art. 53 Abs. 3 Verf., wonach die Eltern das Recht haben, ihre Kinder in
Übereinstimmung mit ihren Überzeugungen zu erziehen. Die Pflicht, den Reifegrad des
Kindes zu berücksichtigen soll allerdings nicht zur Annahme führen, dass die Kinder in
diesem Bereich berechtigt sind.999
Die Ängste, dass die Position der Eltern als Wegweiser in den weltanschaulichen
Angelegenheiten durch die Hervorhebung der Gewissensfreiheit der Kinder geschwächt
werden kann, haben sich in der von der Republik Polen bei der Ratifizierung der
Kinderrechtekonvention abgegebenen Erklärung widerspiegelt. Gemäß dieser Erklärung
sollen die Rechte der Kinder, insbesondere diejenigen aus den Art. 12- 16 der Konvention
unter Achtung der elterlichen Gewalt nach den polnischen Sitten und Traditionen hinsichtlich
der Position des Kindes innerhalb und außerhalb der Familie ausgeübt werden. Da aber
sowohl das polnische Rechtssystem1000
als auch die Konvention vom Modell der
Partnerschaftsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern ausgehen, die auf dem gemeinsamen
996
P. Sarnecki, Art. 48, in: L. Garlicki, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, III, Warszawa 2003,
S. 4. 997
J. Krukowski, Polskie Prawo Wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 79, derselbe, Polskie prawo wyznaniowe,
Warszawa 2008, S. 66. 998
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 251, Rn. 3. 999
A. M. Abramowicz, Przedmiotowy zakres wolności religijnej, in: Studia z Prawa Wyznaniowego, 2007, Band
10, S. 328. 1000
Art. 87 Familiengesetzbuch bestimmt, dass die Eltern und Kinder zur gegenseitigen Achtung und
Unterstützung verpflichtet sind.
252
Respekt basieren sollen, ist die erwähnte Erklärung gegenstandslos und daher soll widerrufen
werden.1001
Andere Autoren versuchen dagegen die Rechte der Kinder im Erziehungsprozess zu
akzentuieren: Gemäß Grzejdziak setzt die rechtsmäßige Inanspruchnahme der
Erziehungsrechte durch die Eltern voraus, dass sie sich nach dem Verständnis- und
Bezugsvermögen der Kinder auf die ihnen dargestellten Werte also nach deren Mündigkeit
richten sollen. Das Kind darf dabei nicht gezwungen werden, bestimmte Überzeugungen
anzunehmen. Grundsätzlich soll ihm die Entscheidung über Zugehörigkeit zu einer
Konfession überlassen werden. Die Rechte der Kinder stellen die Grenze der
Erziehungsrechte der Eltern dar, die ihrerseits das wachsende Bedürfnis der Kinder zur
Selbstbestimmung im Erziehungsprozess berücksichtigen sollen.1002
Winczorek geht von der
Annahme voraus, dass Kinder kein Eigentum der Eltern sind, sondern selbständige
Rechtssubjekte, welche die ihnen zustehenden Rechte und Freiheiten genießen können. Die
Pflicht der Berücksichtigung ihres Mündigkeitsgrades und Überzeugungen hat zum Zweck,
insbesondere ältere Kinder und Jugend vor dem unzulässigen Druck seitens der Eltern zu
schützen und damit das Gleichgewicht zwischen Eltern und Kindern herzustellen.1003
Für die
Selbständigkeit älterer Kinder(12-16 Jahre alt) in religiösen und weltanschaulichen Fragen
plädiert auch Łopatka, der argumentiert, dass sie nicht verpflichtet sind, moralische und
religiöse Überzeugungen ihrer Eltern automatisch anzunehmen.1004
Dieser Ansicht schließt
sich Pietrzak an; gemäß diesem Autor kann eine Interpretation der relevanten
verfassungsrechtlichen Bestimmungen angenommen werden, wonach der Abschluss der
Grundschule ein hinreichender Reifegrad des Kindes bildet, damit das Kind selbstständig von
der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit Gebrauch machen kann.1005
Mangels der verfassungsrechtlichen Festsetzung des Alters, mit dessen Vollendung der
Einzelne die volle Selbstbestimmung im Bereich der religiösen und moralischen
1001
D. Wójcik, Rozwój psychiczny dzieci i młodzieży a prawa gwarantowane przez Konwencję o Prawach
Dziecka, in: T. Smyczyński, Konwencja o prawach dziecka, Analiza i wykładnia, Poznań 1999, S. 70. 1002
A. Grzejdziak, Prawo do wychowania w rodzinie, in. B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności
obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 468f. 1003
P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rezeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997, Warszawa
2000, S. 116f. 1004
A. Łopatka, Dziecko, jego prawa człowieka, Warszawa 2000, S. 80. 1005
M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno –
Historyczne, 2001, Heft 1, S. 126.
253
Angelegenheiten genießen kann, wird postuliert, sie mit dem Alter der Erreichung der vollen
Geschäftsfähigkeit zu verbinden.1006
Nach einer ähnlichen Ansicht im Bezug auf die
Regelung der Gewissens- und Religionsfreiheit in der UN Kinderrechtekonvention kann
angenommen werden, dass die Wahl der Religion durch das Kind der elterlichen
Genehmigung vorbehalten werden kann. Mit der Zunahme der Autonomie der Kinder sind
allerdings ihre Rechte, etwa das Recht auf Befreiung vom Religionsunterricht allmählich zu
bejahen.1007
Dies betrifft vor allem die Staaten, welche eine Alternative zwischen Religions-
und Ethikunterricht vorsehen. Die Wahl zwischen Religions- und Ethikunterricht soll nicht
bis zur Volljährigkeit der Kinder den Eltern vorbehalten werden. Das UN-Komitee für
Kinderrechte hat in diesem Zusammenhang die Sorge hinsichtlich der Situation in Polen
geäußert, wo die Kinder elterliche Einwilligung brauchen, wenn sie am Ethikunterricht statt
Religionsunterricht teilnehmen möchten. Das Komitee hat allerdings kein konkretes Alter
vorgegeben, mit dessen Vollendung die Kinder von diesem Recht Gebrauch machen könnten.
Es hat lediglich auf die elterliche Lenkungsrechte hingewiesen und festgestellt, dass deren
Gebrauch mit den sich entfaltenden Einsichtfähigkeiten der Kinder vereinbar sein muss.1008
Zum Schluss ergibt sich, dass die Gewissensfreiheit der Kinder wegen ihrer notwendigen
Verflechtung mit den elterlichen Erziehungsrechten sehr schwer normierbar ist. Die Fragen
der Religionsmündigkeit könnten allerdings in Polen ausführlicher gesetzlich geregelt
werden. Dies könnte durch Novelierung des Gesetzes über die Garantien der Gewissens- und
Religionsfreiheit geschehen, welches ein komplexer Rechtsakt ist, der nicht nur die Fragen
des Verhältnisses zwischen dem Staat und Religionsgemeinschaften, sondern auch die Rechte
des Einzelnen regelt. Als Muster könnte dabei die deutsche und schweizerische Gesetzgebung
dienen, welche die Fragen der Religionsmündigkeit ausdrücklich regeln.
1.3. Juristische Personen
Die juristischen Personen können nicht den Status der Rechtssubjekte derjenigen Grundrechte
genießen, von denen wesensmäßig nur natürliche Personen Gebrauch machen können. Da das
1006
J. Krukowski, Ochrona prawa rodziców do moralnego i religijnego wychowania dzieci w prawie
kanonicznym i w prawie polskim – wprowadzenie do problematyki, in: J. Krukowski, A. Maćkowski, Ochrona
funkcji wychowawczej rodziny, Szczecin 2007, S. 23. 1007
E. Brems, Art. 14. The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion, Leiden – Boston 2006, S. 30. 1008
CRC Concluding Observations: Poland (UN Doc. CRC/C/15/Add. 194, 2002), para. 33.
254
Gewissen als höchstpersönliches Phänomen lediglich den natürlichen Personen innewohnt,
haben viele Autoren angenommen, dass sich juristische Personen auf Gewissensfreiheit nicht
berufen können. Da Gewissenskonflikte nur das Individuum durchstehen kann, ist die
Gewissensfreiheit nicht kollektivierbar.1009
Auch die Europäische
Menschenrechtskommission begrenzt den persönlichen Schutzbereich der Gewissensfreiheit
auf natürliche Personen; einem Verein wurde der Grundrechtsschutz verweigert.1010
Die Gewissensfreiheit weist freilich eine gemeinschaftliche Dimension auf, weil die
Herausbildung einer Gewissensentscheidung ohne Mitwirkung einer Bezugsgruppe häufig
nicht möglich ist. Die gleichgesinnten Individuen schließen sich auch häufig in
Gruppierungen zusammen, welche ihre Identität stärken und ihre Interessen verteidigen. Die
soziale Komponente der Gewissensfreiheit vermag aber nicht, eine Gruppe als Trägerin des
Grundrechts zu avancieren.1011
Obwohl die Gruppierungen kein eigenes Gewissen haben, was die Anerkennung ihrer
Grundrechtsfähigkeit unmöglich macht, lassen sich allerding Argumente anführen, die
zumindest ihre Teilnahme an einem eventuellen Anerkennungsverfahren, also eine
unterstützende Rolle zugunsten der Individuen begründen. Hammer plädiert für die
Ausdehnung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf die Gruppen, indem er
gesellschaftliche Komponente der Gewissensfreiheit betont. Er argumentiert, dass die
verinnerlichten sozialen und kulturellen Ansichten eine Basis für die Gewissensentscheidung
bilden, deshalb kann unter Individuen durch das Gewissen, ähnlich wie durch eine Religion,
eine gemeinsame Identität entstehen, die entsprechend gemeinsam wahrgenommen und
verteidigt werden kann.1012
Einzelne Gewissenspositionen werden eher von den Gruppen der
1009
Statt vieler: K. Szewczyk, Bioetyka. Medycyna na granicach życia, Warszawa 2009, S. 220, 225; Á. Aparisi
Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la
fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 37; Ch.
Grabenwarter, Kommentierung des Art. 9 EMRK in: Internationaler Kommentar zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, Köln 2002,Rn. 34, S. 21; A. Wojciechowska – Nowak, Etyczno- prawne aspekty
korzystania przez lekarza z klauzuli sumienia, in: PiP, Nr. 7, 2002, S. 98; G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit.
Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 161; U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2, in: E. Denninger, W. Hoffmann-
Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt
1989, Rn. 39; C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso 2004, S.
93; J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho
1984, S. 43; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 247; S.
Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 25. 1010
App. No 11921/86, Verein Kontakt – Information – Therapie et Hagen, v. Österreich, DR 57. S. 88. 1011
H. Bethge, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, S. 439. 1012
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 243.
255
Gleichgesinnten (wie. z.B. die Verweigerung der Zeugen Jehovas des Wehr- und
Zivildienstes) als von vereinzelten Individuen verbreitet und ausgeübt. Für den Schutz der
Gruppen spricht auch die historische Erfahrung, wonach die Gewissensfreiheit aus Konflikten
zwischen den Konfessionen ihren Ursprung hat. Ihre moderne Herauslösung aus allgemeiner
Glaubensfreiheit steht nicht entgegen, dass mit diesem Grundrecht ganzen Gruppen geholfen
werden sollte, insbesondere wenn man in Betracht zieht, dass es auch heute in der Regel
Gruppen sind, die durch ihre besonderen sittlichen Überzeugungen in Konflikt mit der von
der Mehrheit getragenen Politik geraten.1013
Eine Einrichtung wie Krankenhaus oder
Apotheke „kann eine interne moralische Atmosphäre, ein ethisches Mikroklima herstellen, in
dem sowohl interne Spannungen, als auch externe Drücke reguliert und in ein institutionelles
Kredo, ein beruflicher Still und ein ethisches Gewissen integriert werden, das freiwillig
übernommen und öffentlich offenbart wird.“1014
In der Tat lassen sich Rechtsordnungen finden, welche das sog. institutionelle
Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen garantieren. Dies betrifft die Befreiung der
privaten, z.B. konfessionellen Gesundheitsanstalten oder Krankenhäuser, diejenigen
Behandlungen vorzunehmen, die mit der Weltanschauung der Anstalt nicht vereinbar ist. Z.B.
gemäß Art. 6 des argentinischen Gesetzes 25. 6731015
werden die durch eine
Religionsgemeinschaft getragenen Einrichtungen, die mit Schutz der Gesundheit verbundenen
Leistungen erbringen, von der Pflicht befreit, den Patienten
Schwangerschaftsverhütungsmittel zur Verfügung zu stellen. Die französischen
Regelungen1016
sehen die Möglichkeit der institutionellen Verweigerung der
Schwangerschaftsabbrüche im Fall der privaten Anstalten vor. Die öffentlichen Anstalten sind
allerdings verpflichtet, die Abtreibung durchzuführen, falls in der Ortschaft kein anderes
Gesundheitszentrum gibt, welches solche Leistungen anbietet. Dem ist allerdings
entgegenzuhalten, dass nicht alle Mitglieder einer Organisation ihren Glauben oder
Weltanschauung uniform teilen müssen. Wenn den juristischen Personen das Recht
eingeräumt würde, ihre Gewissensposition zu betätigen, könnte geschehen, dass sie
1013
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 46. 1014
J. López Gózman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 151. 1015
Zittiert nach: J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. Sanchez, J. Navarro Floria, La
libertad religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 318. 1016
Das Gesetz 75-17 von 17.01.1975, novelliert durch das Gesetz 79-1204 von 31.12.1979; Journal Officiel de
la Republique Française, 18.01.1975, S. 739-741 und von 01.01.1980, S. 3-5.
256
versuchen, den Dissidenten innerhalb der Gruppe eine gewissenswidrige Handlung
aufzuzwingen.1017
Auch der Wortlaut der entsprechenden Vorschriften der völkerrechtlichen
Menschenrechtskonventionen, wonach der Einzelne seinen Glauben oder Weltanschauung
individuell oder kollektiv ausüben kann, lässt sich den Schluss ziehen, dass das Recht, eine
Organisation zur Förderung einer Gewissensposition zu gründen und in ihrer Rahmen seinem
Glauben oder Weltanschauung Ausdruck zu verleihen, durch die Gewissensfreiheit
gewehrleistet ist. Aus dieser Formulierung ergibt sich allerdings nicht zwingend, dass
derartigen Organisationen Grundrechtssubjektivität und Beschwerdefähigkeit zukommen
soll.1018
Die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte hinsichtlich der
Beschwerdefähigkeit der Kirchen als Nichtregierungsorganisationen nach Art. 25 EMRK hat
eine Evolution von der Verneinung ihrer Beschwerdefähigkeit zu deren Anerkennung als
Vertreterin der Rechte der Kirchenmitglieder erfahren. Die Beschwerdefähigkeit der Kirchen
wird dabei aus der Aggregation der Rechte der einzelnen Mitglieder abgeleitet; sie sind
dagegen nicht berechtigt, die Verletzung eigener Rechte geltend zu machen.1019
Die
Anerkennung der Beschwerdefähigkeit wurde durch die Kommission auch auf Vereinigungen
ausgedehnt, die religiösen und weltanschaulichen Zwecken dienen.1020
Dies bezieht sich aber
nur auf die Religionsfreiheit; die Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit durch juristische
Personen ist im Lichte der Rechtsprechung der Konventionsorgane nicht möglich.1021
Die
erwähnte Evolution der Rechtsprechung zur Beschwerdefähigkeit der juristischen Personen
hinsichtlich der Gewissens- und Religionsfreiheit scheint gleichwohl noch nicht
abgeschlossen zu sein. In der Rechtsprechung der Konventionsorgane ist z.B. die
Beschwerdefähigkeit der auf Gewinn gerichteten Gesellschaften nicht hinreichend
klargestellt. Zuerst hat die Kommission die Beschwerdefähigkeit einer Gesellschaft mit
1017
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S.249. 1018
B. Dicuzzo, La libertà di pensiero, die coszienza e di religione, in: C. Defilippi, D. Bost, R. Harvey, La
Convenzione Europea dei Diritti dell‟ L‟Uomo e delle Libertà Fondamentali, Napoli 2006, S. 389. 1019
X. and the Church of Scientology v. Sweden, App. 7805/77, 16 ECHR, DR 94, 96, (1979). 1020
Omkarananda and the Divine Light Zentrum v. Switzerland, App. 8118/77, 25 ECHR DR 93, 96, (1996). 1021
Kontakt-Information-Therapie and Hagen v. Austria, App. 11921/86, 57 ECHR, DR 81, 88 (1988).
257
beschränkter Haftung, die sich auf negative Religionsfreiheit berufen hat, um Zahlung der
Kirchensteuer zu vermeiden, nicht anerkannt. In einer anderen Entscheidung hat sie aber die
Möglichkeit der Einleitung einer Beschwerde durch eine auf Gewinn gerichtete juristische
Person, die auch ideelle Zielsetzungen hatte, nicht ausgeschlossen.1022
Die Frage, inwieweit
eine Organisation auf wirtschaftliche Tätigkeiten gerichtet sein kann, um als Träger der
Rechte aus Art. 9 EMRK anerkannt zu werden, wurde jedoch nicht näher erörtert.
Gestützt auf die Anerkennung durch die Rechtsprechungsorgane der EMRK der
Beschwerdefähigkeit der Kirchen und anderer religiösen Gruppierungen in Bezug auf die
Religionsfreiheit kann angenommen werden, dass die Vereinigungen, welche religiösen oder
weltanschaulichen Zwecken dienen, etwa Vereine der Wehrdienstverweigerer, berechtigt
sind, auch Rechte aus Gewissensfreiheit im Namen ihrer Mitglieder geltend zu machen. Die
Ausdehnung der Beschwerdefähigkeit hinsichtlich Art. 9 EMRK auf juristische Personen ist
positiv zu begrüßen. Damit würde insbesondere die Position der Minderheiten verstärkt, die
für Verletzung der Gewissens- und Religionsfreiheit besonders anfällig sind. Die von
Einzelnen eingelegten Beschwerden erwiesen sich nicht ausreichend „tragfähig“, um die
Konventionsorgane zu veranlassen, sich mit der systematischen Verletzungen der
Religionsfreiheit der ganzen Gruppe auseinander zu setzen.1023
Es ist allerdings nicht zu
verkennen, dass das Gewissen ein Attribut der Einzelperson ist. Die eventuelle Anerkennung
der Beschwerdefähigkeit der Organisationen würde somit nur eine unterstützende Rolle
zugunsten der betroffenen Individuen erfüllen. Ihre Teilnahme als Beistand an einem
Anerkennungsverfahren würde daher nur ausdrückliches Gesuch des einzelnen
Grundrechtsträgers oder seine Einwilligung voraussetzen. Es kann nämlich nicht
ausgeschlossen werden, dass eine Organisation, welche dem Einzelnen bei der Anerkennung
des Verweigerungsrechts helfen soll, auf ihn einen unzulässigen Druck setzt.1024
1022
Kustannus Oy Vapaa Ajattelija AB and Others v. Finland, App. 20471/92, 85-A ECHR DR 29, 43 (1996). 1023
Z.B. Kokkinakis v. Greece, 260-A, European Court of Human Rights, Ser. A(1993). 1024
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución Española, Madrid 1993, S. 249.
258
2. Der Schutz des forum internum der Gewissensfreiheit
2.1. Die rechtliche Relevanz des forum internum der Gewissensfreiheit
Das forum internum der Gewissensfreiheit kann als innerliche Sphäre der menschlichen
Freiheit d.h. der zwangsfreien Selbstbestimmung in den spirituellen und ethischen Fragen
definiert werden. Der positive Aspekt des forum internum der Gewissensfreiheit besteht aus
dem Recht auf Gewissensbildung sowie aus dem Recht, die angenommene ethische
Überzeugung zu haben. Die negative Facette des forum internum bildet dagegen die Freiheit
vom Zwang.1025
Das forum internum der Gewissensfreiheit unterliegt dabei keinerlei
Beschränkungen und Derogationen.
Einige Autoren weisen darauf hin, dass der so weit abgesteckte Schutzbereich von forum
internum der Gewissensfreiheit mit dessen geringen praktischen Anwendbarkeit einhergeht.
Dies ist darauf zurückzuführen, dass es schwer fällt, das Vorliegen eines Eingriffs in das
forum internum der Gewissensfreiheit festzustellen. Darüber hinaus bezieht sich der
verfassungsrechtliche Schutz des forum internum auf das innere Bewusstsein des Einzelnen,
deshalb ist nicht möglich, durch uneingeschränkte Inanspruchnahme dieses Rechts, einen
relevanten sozialen Schaden herbeizuführen.1026
Wegen der geringen sozialen Erheblichkeit
des forum internum identifizieren einige Autoren die Gewissensfreiheit mit der externen
Betätigung einer Gewissensentscheidung und halten den inneren Bereich dieses Grundrechts
für rechtlich nicht relevant. Sie argumentieren dabei, dass sich die Freiheit, eine
Weltanschauung zu wählen oder zu haben, außerhalb der Regelungsmöglichkeit des
Gesetzgebers befindet. Das forum internum der Gewissensfreiheit ist daher überhaupt nicht
geeignet, Gegenstand der rechtlichen Normierung zu werden.1027
Illustrativ für diesen Ansatz
ist die Auffassung Herredas, wonach die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit den
Menschen in seiner Handlungen in der Außensphäre schützen. Diese Rechte „schützen die
Menschenwürde im Bereich der Welt des Geistes, mit anderen Worten, im Bereich der
Rationalität des Menschen, der mittels seines Handelns sich selbst zum Ausdruck bringt. Wir
1025
A. M. Abramowicz, Przedmiotowy zakres wolności religijnej, in; Studia z Prawa Wyznaniowego, 2007,
Band 10, S. 325f. 1026
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 72 f. 1027
J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 77; A. Łopatka, Prawo do wolności myśli,
sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 9; J. Godlewski, Obywatel a religia. Wolność sumienia w PRL, Warszawa
1971, S. 15; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid, 1993, S. 178.
259
sprechen vom Handeln des Menschen, weil diese Welt des Geistes durch das Recht nicht
fassbar ist, soweit sie keine mögliche oder wirkliche äußerliche Manifestierung durch
Handlung (proyeccion operativa) erfährt.“1028
Auch Luhmann, der die Gewissensfreiheit vor
allem als Freiheit vor Gewissenskonflikten deutet, welcher die an den Staat gerichtete Pflicht
entspricht, den Einzelnen von den Kollisionen zwischen Rechtsnormen und
Gewissensnormen womöglich zu schonen, hält den Schutz des forum internum der
Gewissensfreiheit für entbehrlich.1029
Der Schutz des internen Bereiches des Einzelnen ist allerdings nicht überflüssig. Die
totalitären Regime begnügen sich regelmäßig nicht damit, das Handeln der Menschen zu
überwachen, sondern suchen auch den Zugriff auf ihr Denken und Glauben. Im Bereich des
forum internum verbietet die Gewissensfreiheit die Anwendung von Gehirnwäsche, Hypnose,
Drogen und ähnlichen Techniken etwa in der polizeilichen Untersuchung oder im
gerichtlichen Verfahren, welche den Einzelnen der intellektuellen Fähigkeiten und der
Gewissensfunktionen berauben.1030
2.2. Der Schutzumfang des forum internum
2.2.1. Allgemeines
Die Gewissensfreiheit schützt zunächst die Freiheit des Individuums, eine bestimmte Form
der inneren Kommunikation führen zu dürfen. Die geschützte innere Kommunikation besteht
in einem diskursiven Prozess der Selbstbeurteilung, der auf eine moralische Entscheidung
bezogen ist. Von diesem Recht erfasst ist auch die Freiheit, über Intensität und Tempo der
Selbstbeurteilung selbst zu entscheiden und im Extremfall eine Auseinandersetzung im
Gewissen gänzlich zu unterlassen oder aufzuschieben.1031
1028
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de una terapéutica, in: Persona y Derecho,
1984, S. 31; siehe auch: I. M. Sanchís, L`objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for
Church and State Research, Consciencious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 97. 1029
N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR, Nr. 90, 1967, S. 257. 1030
J. Kokott in: M. Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 4, München 1992, S. 262, Rn. 48; B. P. Vermeulen.
Scope and limits of conscientious objection, in: Council of Europe, Freedom of Conscience, Strasburg 1993, S.
82, L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 89.
1031
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 180.
260
Außer der Person des Berechtigten erstreckt sich der Schutz des forum internum auch auf
Hilfsmittel wie Niederschrift oder Aufnahme, welche den Erlangungsvorgang zu einer
Gewissensentscheidung und die damit zusammenhängenden Spannungen und
Auseinandersetzungen mit sich selbst wiedergeben.1032
Zu dieser Kategorie der
Aufzeichnungen gehören auch diejenigen, die dem Versuch dienen, einer befürchteten
Verstrickung in Straftaten zu entgehen. Die Eintragungen, die bei dem Auseinanderklaffen
von Norm und Wirklichkeit entstehenden Gewissensspannungen des Tagebuchführers
thematisieren, sind durch das uneinschränkbare forum internum der Gewissensfreiheit
geschützt, deswegen ist ihr Verbrauch in einem Strafprozess grundsätzlich verboten.1033
Die
Verwertung der Aufzeichnungen des Gewissensträgers im Strafprozess ist unter Ausschluss
der Öffentlichkeit nur zulässig, wenn sie für die Verfolgung eines besonders hochrangigen
öffentlichen Interesses zwingend notwendig ist.1034
Dieses Interesse liegt vor allem in der
Abwehr einer weiteren Straftat oder in Auferlegung einer Strafmaßnahme wegen eines
schweren Verbrechens.1035
Im Schrifttum wurde vorgeschlagen, folgende Verletzungen der Gewissens- und
Religionsfreiheit als Eingriffe in das forum internum einzustufen: Diskriminierung wegen
bestimmten Glaubens oder Religion, Rechtsverbot der Mitgliedschaft zu einer religiösen oder
weltanschaulichen Organisation, der Zwang, eine Glaubensposition zu offenbaren,1036
Drohung, Zwang, oder physische Gewalt, Strafrechtssanktionen, die zum Zweck haben, auf
das Gewissen oder Glauben des Einzelnen einzuwirken.1037
1032
Die Rolle, welche die Tagesbuchführung bei der Gewissensprüfung hat, kann durch die Geschichte belegt
werden. Die Sitte der Tagesbuchführung hat nämlich seinen Ursprung in der Beichte. Durch die Auferlegung des
Beichtezwangs im 1215 bot die Kirche eine Möglichkeit der inneren Kontrolle an, welche die nachlassende
Kontrollkraft durch soziale Gruppen im Hochmittelalter ausgleichen konnte. Als der Beichtezwang durch die
Reformation abgeschafft wurde, wurden die Gläubigen aufgefordert, ein Tagesbuch zu führen, um sein Leben im
Lichte des Glaubens zu analysieren. Diese Idee wurde auch von Gegenreformation übernommen. Schließlich hat
sich die Sitte säkularisiert. Siehe dazu: K. Amelung, Der Grundrechtsschutz der Gewissensforschung und die
strafprozessuale Behandlung von Tagebüchern, in: NJW, 1988, S. 1005. 1033
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 185. 1034
Ebenda, S. 248. 1035
K. Amelung, Der Grundrechtsschutz der Gewissensforschung und die strafprozessuale Behandlung von
Tagebüchern, in: NJW, 1988, S. 1005; M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 248. 1036
H. Cullen, The emerging scope of freedom of conscience, in: European Law Review. Human Rights Survey,
1997, S. 33. 1037
B. G. Tahzib, Freedom of Religion or Belief: Ensuring Effective International Protection, Haag 1996, S. 26.
261
Dieser Liste ist zu entnehmen, dass unzulässige Eingriffe in das forum internum der
Gewissensfreiheit häufig mit dem Verstoß gegen andere (Grund)rechte des Einzelnen 1038
vor
allem gegen das Folterverbot einhergehen. Die Legaldefinition der Folter gemäß Art. 1 UNO
Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung oder Strafe enthält u.a. die vorsätzliche Zufügung großer
physischer oder psychischer Schmerzen oder Leiden, „um jemandem einzuschüchtern oder zu
nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund
(...)“. Ein Beispiel für die Verletzung der Gewissensfreiheit, welche auf Folter hinausläuft,
wäre die Herbeiführung der Angst oder Anwendung der Drohung, um einen Willensbruch
oder einen Wechsel in dem Gewissen zu verursachen.
2.2.2. Freiheit vom Zwang in Gewissensfragen
Der Kern des forum internum der Gewissensfreiheit ist die Freiheit vom Zwang in
Gewissensfragen. Ohne die Freiheit vom Zwang wäre nicht nur die ungestörte
Gewissensbildung, sondern auch das Recht, die Gewissensposition zu wechseln, das in der
westlichen Tradition der Menschenrechte als eine integrale Komponente der Religions- und
Gewissensfreiheit einhellig betrachtet wird,1039
unvorstellbar.
Verboten ist somit jede Beeinflussung der Gewissensbildung durch Ausnutzung von
Machtpositionen.1040
Das Zwangsverbot erstreckt sich sowohl auf physische als auch
psychische Zwangslagen wie etwa Drohung oder Ablehnung einer Leistung durch den Staat
1038
HRC General Comment zu Art. 18, paragraph 3; Nowak, S. 294 f., 314f. Das Recht auf Meinungsfreiheit
und Privatleben unterstützen den uneingeschränkten Schutz von forum internum. 1039
Die Meinungsverschiedenheiten zur Sicherung des Rechts auf Religionswechsel gab es dagegen bei der
Ausarbeitung der Schutzinstrumente der Menschenrechte des universellen Völkerrechts. Ein Teil von
islamischen Staaten lehnt die Anerkennung des Rechts auf Religionswechsel aus theologischen Gründen völlig
ab. Diese Diskrepanz spiegelt sich im Wortlaut des Art. 18 Abs. 2 IPbpR wider, wo von einer expliziten
Verbürgung des Rechts auf Religionswechsel abgesehen wurde. Der angenommene Wortlaut „das Recht, eine
Religion oder Glauben seiner Wahl zu haben oder anzunehmen“ weist zwar auf die Absicht der Abkommenväter
hin, den Artikel 18 IPbpR „in der bequemen Nähe zum Recht auf Religionswechsel“ (M. Evans, Religious
liberty and international law in Europe, Cambridge 1997, S. 202.) zu situieren, er ist aber auf die restriktive
Auslegung offen, wonach das Recht, seinen Glauben aufzugeben durch den Art. 18 IPbpR nicht geschützt ist.
Wenn auch der angenommene Wortlaut zeigt, dass das Problem eher umgangen als gelöst wurde und
ausreichend „diplomatisch“ (K. F. Partsch, Freedom of Conscience, in: L. Henkin, The International Bill of
Rights, New York 1981, S. 210.) ist, um verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zuzulassen, wird allgemein
angenommen, dass das Recht auf Religionswechsel in Art. 18 IPbpR implizit verbürgt ist. Dieser Auslegung hat
sich auch der Internationale Komitee für Menschenrechte angeschlossen. 1040
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 52.
262
wegen der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft. Das konstitutive Element des
Zwangsbegriffes ist dabei die Absicht, die Preisgabe oder Annahme einer Gewissensposition
zu verursachen.1041
Für die Bejahung einer Zwangsanwendung ist dabei nicht notwendig, dass
der Erfolg in Form der Änderung einer Gewissensposition eingetreten ist.1042
Die
Zwangsausübung ist allerdings von erlaubten Einflussnahmen auf das Bewusstsein des
Einzelnen, etwa durch Massenmedien, sowie von erlaubten Überzeugungsversuchen
abzugrenzen. Der Einzelnen darf auf das Gewissen der Mitmenschen durch intellektuelle und
moralische Überzeugungsversuche einwirken.1043
Der Aufruf zum Wechsel einer
Gewissensposition kann dabei auch materielle Anreize enthalten.1044
Auch „externe“ Handlungen bilden einen unzulässigen Eingriff in das forum internum der
Gewissensfreiheit, wenn deren Zweck ist, auf das Gewissen einzuwirken.1045
Z.B. eine
Einschränkung der Meinungsfreiheit kann zugleich einen Eingriff in das forum internum der
Gewissensfreiheit darstellen, wenn der Staat durch diese Einschränkung danach strebt, das
Gewissen des Einzelnen zu verändern.1046
Dieser Zweck ist viel leichter zu ermitteln, wenn
den Diskriminierungsmaßnahmen gegen eine Zielgruppe ein so hoher Grad der Intoleranz
eigen ist, dass die Absicht der Untergrabung und Änderung der Gewissensposition der
einzelnen Gruppemitglieder anzunehmen ist.1047
Das Abstellen auf den Zweck einer
Maßnahme verhilft dazu, die Eingriffe in das forum internum von denjenigen mittelbaren
staatlichen Handlungen und Unterlassungen zu unterscheiden, die zwar das forum internum
tangieren, sind aber von der Absicht nicht getragen, den Einzelnen direkt zu veranlassen,
seine Gewissensposition zu wechseln (z.B. Nichtbereitstellung der Bildungsmöglichkeit auf
einem bestimmten Niveau).1048
Das Problem, den Schutzumfang des forum internum der
1041 L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 42, 88, vgl. Human Rights
Committee, General Comment No 22: The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion U.N. Doc.
CCPR/C/21/Rev.1/Add. 4, (1993), http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrc/comments.htm . (25.06.2011),
para. 5. 1042
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 88. 1043
M. Evans, Religious liberty and international law in Europe, Cambridge 1997, S. 198; L. Hammer, The
international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 43. 1044
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 88. 1045
Ebenda, S. 93, 97. 1046
Ebenda, S. 98. 1047
Ebenda, S. 257, siehe auch: 8282/78, Church of Scientogy v. Sweden, 21 DR 111 (1981). 1048
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 95.
263
Gewissensfreiheit zu bestimmen, liegt darin, dass sich bei dessen Schutzgegenstand um eine
Sphäre handelt, die sich auf alle Gedankenformen und geistige Prozesse bezieht. Die
Gewissensinhalte werden in einem langen Prozess der Sozialisation gebildet, in dem eine
Reihe von äußeren Faktoren eine Rolle spielt. Deswegen ist die Einwirkung der äußeren
Instanzen (auch seitens der staatlichen Organe und des positiven Rechts) auf das
Bewusstseinsbild des Einzelnen als natürliches Element in der Entstehung der
Gewissensinhalte zu begreifen, solange kein suggestiver oder manipulativer (etwa wegen
gewählter Mittel) Eingriff in die freie Gewissensbildung ersichtlich ist.1049
In solchen Fällen tendieren die Entscheidungsorgane der EMRK, sich auf die Feststellung des
offensichtlicheren Verstoßes gegen ein anderes Recht (etwa gegen das Recht auf Sicherheit
oder gegen das Diskriminierungsverbot) zu beschränken. Die Europäische
Menschenrechtskommission hat z.B. keine Verletzung des forum internum in dem Fall
festgestellt, wo die Lehrer auf ihre Schülerinnen psychischen Druck setzten, um sie zu
überzeugen, den Religionsunterricht gegen die Wünsche ihrer Eltern zu besuchen. Die Lehrer
haben dabei argumentiert, dass es für die Schülerinnen besser sei, am Religionsunterricht
teilzunehmen und die entsprechende Spalte im Schulzeugnis unausgefüllt zu lassen. Die
Kommission hat den Eingriff in das forum internum mit dem Argument verneint, dass weder
ein Indoktrinierungsversuch noch eine Gewaltanwendung vorlag. Die Möglichkeit der
Befreiung von Religionsunterricht sei somit hinreichend, um den Schutz des forum internum
des Schülers zu gewähren.1050
In einer anderen Entscheidung hat die Europäische Kommission für Menschenrechte dagegen
den Standpunkt geäußert, dass die Auferlegung auf einen Lehrer, der oppositionelle politische
Überzeugungen hegt, der Pflicht, einen Eid der Loyalität abzulegen,1051
eine Verletzung des
forum internum der Gewissensfreiheit darstellt, weil dadurch eine Absicht zu erblicken ist, die
betroffene Überzeugung beizubringen. Dies wäre auch zu bejahen, wenn der Eid im
1049
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 152. 1050
C. J. v. Poland App.23380/94, 84 DR 46 (1996).
1051 App.17851/91, Vogt v. Germany, 21EHRR 205 (1996). Auch im Fall Darby v. Sweden (187 EctHR (Ser. A),
1990. para. 50, 51, 60) hat die Kommission die Meinung ausgespochen, dass die Rechtspflicht, die Kirchensteuer
zu zahlen, das forum internum der Religionsfreiheit beeinträchtigt. Der GH hat jedoch dieses Argument nicht
aufgegriffen.
264
Notstandsfall mit Berufung auf zulässige Rechtseinschränkungen nach Art. 9 Abs. 2 EMRK
abverlangt würde.1052
Der Staat darf nämlich das Individuum auf die Identifikation mit den ins
positive Recht übernommenen Wertentscheidungen nicht verpflichten. Den Staatsbehörden ist
offensichtlich erlaubt, von den Rechtsadressaten die faktische Einhaltung der Rechtsnormen
zu verlangen, dies kann aber auf Forderung der über die Befolgung von Verhaltenspflichten
hinausgehenden Treuebekenntnisse zu einer bestimmten moralischen Wertordnung, nicht
ausgedehnt werden.1053
Die Unterscheidung zwischen dem forum internum und forum externum wurde hingegen im
Fall Buscarini v. San Marino1054
nicht beibehalten. Die Beschwerdeführer, neu gewählte
Abgeordneten des Parlaments von San Marino, haben sich geweigert, einen Eid auf die Bibel
abzulegen. Diese Pflicht wurde von ihnen als Voraussetzung für den Amtsantritt verlangt. Sie
haben den Eid erst dann geleistet, nachdem ihnen mitgeteilt wurde, dass die Verweigerung
des religiösen Eides zum Verlust des Mandats führen würde. Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat diese Rechtspflicht als mit Art. 9 EMRK unvereinbar mit der
Begründung erklärt, dass sie auf die Treuepflicht gegenüber einer bestimmten Religion
hinausläuft. In der Lehre wurde allerdings zutreffend bemerkt,1055
dass der Sachverhalt nicht
unter die Religionsausübungsfreiheit subsumiert werden kann, wie ihn der Gerichtshof
betrachtet hat, sondern als Verstoß gegen das forum internum der Gewissensfreiheit
anzusehen ist. Das forum internum der Gewissensfreiheit ist nämlich dann tangiert, wenn
„Rechtspflichten über das geschriebene und ungeschriebene Recht hinaus moralisch
überwölbt werden.“1056
Dies kann im Fall des Zwanges, einen Eid abzulegen, bejaht werden.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass das Gewissen eine „autoritätsanfällige Struktur“1057
aufweist, deshalb erlangt der Schutz des forum internum in denjenigen Bereichen Bedeutung,
wo die Machtpositionen missbraucht werden können. Das sind vor allem geschlossene
1052 L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 99, 103. 1053
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 173. 1054
Buscarini and others v. San Marino, App. No. 24645/94, European Court of Human Rights 18 Februar 1999. 1055
C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on Human Rights, New York 2001, S. 73-
74. 1056
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 184. 1057
U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 40.
265
Institutionen wie Schulen, Krankenhäuser, Militär oder Gefängnisse. In diesem
Zusammenhang ist die von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
vorgenommene Unterscheidung zwischen der Missionierungstätigkeit als Ausübungsform der
Religions- und Gewissensfreiheit und dem Proselitysmus als eine unzulässige Form der
Zwangsanwendung von entscheidender Bedeutung.1058
Die Entscheidung im Fall Larissis v.
Greece,1059
der das Problem des Proselytismus im Wehrdienst betraf, zeigt, dass die
Rechtsmäßigkeit der privaten Missionstätigkeit am Maßstab der Umstände des konkreten
Falles zu bewerten ist. Die Beschwerdeführer, drei Offiziere der griechischen Luftstreitkräfte,
haben mehrmals ihre Untergegebenen in Diskussionen zu religiösen Themen zum
Bekehrungszweck verwickelt. Ähnliche Diskussionen führten sie auch mit Zivilen. Der
Gerichtshof hat in Betracht gezogen, dass die hierarchische Struktur jegliche Beziehungen
zwischen den Mitgliedern des Militärpersonals beeinflussen kann, deswegen kann es für einen
Untergegebenen schwierig sein, sich aus einem von seinem Vorgesetzten begonnenen
Gespräch zurückzuziehen. Während ein Gespräch zu religiösen Themen unter Zivilpersonen
als unschädlicher Ideenwechsel gilt, der durch Freiheit der Akzeptanz oder der Ablehnung
eines Standpunktes geprägt wird, kann dasselbe Verhalten in den militärischen Verhältnissen
als Schikanieren oder unangemessener Druck bewertet werden. Wenn auch nicht jedes
Gespräch zu religiösen oder anderen vergleichbar sensiblen Themen unter diese Kategorie
fallen würde, ist durchaus gerechtfertigt, dass die Staaten unter Umständen erforderliche
Maßnahmen (hier Strafmaßnahmen) treffen, um die Gewissens- und Religionsfreiheit der
Untergegebenen zu schützen. Da Zivilpersonen keinem vergleichbaren Druck oder Nötigung
unterworfen werden, gibt es keinen Grund dafür, eine ähnliche Diskussion in einem
Privathaus als ein Verhalten zu betrachten, das den Rahmen der erlaubten Missionstätigkeit
überschreitet. Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen des Bekehrungsversuchs der
Zivilpersonen wurde daher als Verletzung des Art. 9 EMRK angesehen.
Die dargestellte Entscheidung lässt sich dahingehend ausdehnen, dass Missionierungstätigkeit
ebenfalls in anderen Organisationen und Verhältnissen, für welche eine hierarchische Struktur
1058
Kokkinakis v. Greece, 14307/88 (die Pönalisierung durch das griechische Recht des Proselitysmus wurde als
Überschreitung der zulässigen Schranken der Religionsausübungsfreiheit bewertet. 1059
App. 23372/94
266
oder Unterordnungsverhältnis charakteristisch ist, wie etwa in den Beziehungen zwischen den
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arzt und Patienten, Lehrer und Schüler 1060
durch staatliche
Maßnahmen eingeschränkt werden kann.
Im Zusammenhang mit dem Zwangsverbot in Gewissensangelegenheiten wird die Meinung
vertreten, dass die Verpflichtung, eine Glaubens- oder Gewissensposition zu offenbaren,
einen Verstoß gegen das forum internum der Gewissensfreiheit darstellt. Dies betrifft nicht
nur die Fälle, wenn die Absicht vorliegt, bestimmte religiöse oder philosophische Strömungen
zu beeinträchtigen, sondern auch im Fall der Erhebung oder der Auferlegung der Pflicht, eine
formale Erklärung eines Kirchenaustritts als Voraussetzung für die Befreiung von der
Kirchensteuer der staatlichen Behörden gegenüber abzugeben. Dies wird damit begründet,
dass eine solche Verpflichtung zur Folge haben kann, dass beim Einzelnen unzumutbare
Hemmnisse entstehen, welche ihm verhindern könnten, seine Glaubens- oder
Gewissensfreiheit auszuüben.1061
Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Religions-
und Gewissensfreiheit nicht davor schützt, von jeder Unannehmlichkeit, welche die
Ausübung einer Glaubens- oder Gewissensposition nach sich zieht, entlastet zu werden. Die
Offenbarungspflicht, etwa in Form einer Erklärung eines Arztes, dass er sich aus
Gewissensgründen weigert, bestimmte medizinische Behandlungen durchzuführen, ist mit
Rücksicht auf kollidierende Interessen der Patienten und auf Funktionsfähigkeit einer Anstalt
gerechtfertigt.1062
1060
A. Mowbray, Cases and Materials on the European Convention on Human Rights, London, Edinburgh,
Dublin 2001, S. 423. 1061
P. van Dijk, G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, Boston
1990, S. 542; C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention on Human Rights, New York
2001, S. 82; Holly Cullen, The emerging scope of freedom of conscience, in: European Law Review. Human
Rights Survey, 1997, S. 33. 1062
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho
1984, S. 52.
267
2.2.3. Das Recht auf Gewissensbildung
2.2.3.1. Allgemeines
Die Bildung der Gewissensentscheidungen wird durch die Vielfalt individueller und sozialer
Faktoren bedingt, ohne die die Gewissensbildung überhaupt nicht möglich wäre. Auch nicht
jede Einflussnahme seitens des Staates auf die Gewissensbildung kann verboten sein. Sie
erfolgt nicht nur im Rahmen des Erziehungsauftrags des Staates im Bereich der Schule,
sondern auch durch seine allgemeine Kompetenz, das Zusammenleben rechtsverbindlich zu
ordnen. Wegen dieser zum Teil unfassbaren Beeinflussungen scheint die Freiheit der Bildung
einer internen moralischen Instanz konturenlos und ihre rechtliche Gewährung – unvorstellbar
zu sein.1063
Die Gewährleistung des Rechts auf Gewissensbildung kann somit nicht die
Beseitigung aller „umweltbedingten“ Eingriffe bedeuten, welche die Bildung der
Gewissensentscheidungen beeinflussen und in Extremfällen sogar verhindern würden. Das
absolut verstandene Recht auf Gewissensbildung wäre utopisch.1064
Um die Freiheit der Gewissensbildung zu gewährleisten, ist allerdings unabdingbar, ein
neutrales Milieu zu schaffen, in dem der Einzelne die Entscheidungen hinsichtlich seiner
moralischen Entfaltung treffen kann. In diesem Zusammenhang ist der verfassungsrechtliche
Grundsatz der Unparteilichkeit der Staatsbehörden im Bereich der religiösen,
weltanschaulichen und philosophischen Angelegenheiten von entscheidender Bedeutung.
Danach sollen alle Überzeugungen, welche die Grundwerte der polnischen
Verfassungsordnung respektieren, gleich behandelt werden, was die Bevorzugung bei der
Propagierung einer Glaubensrichtung oder Weltanschauung ausschließt.1065
Der Grundsatz
der Unparteilichkeit kann jedoch nicht als axiologische Indifferenz des Staates interpretiert
werden. „Der Staat funktioniert niemals in einem axiologischen Vakuum. Von seiner Identität
entscheidet im großen Maße das angenommene Wertsystem“1066
, das vor allem in
verfassungsrechtlichen Normen zum Ausdruck gebracht ist.
1063
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 43; U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E.
Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 40; A. Piekarski, Wolność sumienia i wyznania w Polsce, Warszawa 1979, S.
52. 1064
J. A. Souto Paz, Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,
S. 123. 1065
A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 73. 1066
Ebenda, S. 74.
268
Die wichtigsten Bereiche der Staatstätigkeit, in denen das Recht auf Gewissensbildung
tangiert ist und gegebenenfalls verletzt werden kann, sind die Bildung und die Massenmedien.
Die nachstehenden Ausführungen haben zum Zweck, diese Problematik im polnischen
Kontext darzustellen.
2.2.3.2. Das Recht auf Gewissensbildung im schulischen Bereich
Die Rolle des Staates hinsichtlich der Gewissensbildung ist besonders schwerwiegend in der
Schulbildung. Wenn Kinder die Schule eintreten, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen
dem staatlichen Bildungsauftrag einerseits und dem elterlichen Erziehungsrecht sowie der
Gewissensfreiheit der Kinder andererseits. Dieses Spannungsverhältnis ist darauf
zurückzuführen, dass den Entscheidungen über Bildungsziele und Stoffwahl immer eine
Wertung zugrundeliegt; der Unterricht ohne weltanschauliche Implikationen ist nicht
möglich.
Die schulische Erziehung basiert auf bestimmten, durch die Verfassung legitimierten
Wertepräferenzen.1067
Die genauere Aufzählung der Werte, nach welchen sich der Prozess der
Unterrichtung und Erziehung leiten soll, enthält die Präambel zum Gesetz über das
Bildungssystem. Dazu gehört u.a. das Gebot der Respektierung der christlichen Werte, die
Offenheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe zum Vaterland. Als Grundlage für die
Erziehung sollen dabei universelle Grundsätze der Ethik angenommen werden. In der Lehre
wurde zwar mit Recht bemerkt, dass der Bezug auf die genannten Werte äußert geringe
Bedeutung für die Auslegung und Anwendung des Gesetzes hat,1068
ihre Einbeziehung in den
Text zeigt aber, dass die schulische Erziehung im ethischen Vakuum unvorstellbar ist.
Unter den in der Präambel zum Gesetz über das Bildungssystem aufgezählten Werten hat die
Erwähnung des christlichen Wertesystems gewisse Kontroverse hervorgerufen. Nach einer
Meinung ist das Gebot, das christliche Wertsystem beim gleichzeitigen Hinweis auf
universelle Grundsätze der Ethik als Grundlage der Bildung zu respektieren, als Ausdruck
eines weltanschaulichen Kompromisses zu deuten, welcher auch in der Präambel zur
Verfassung ersichtlich ist. „Auf diese Art und Weise achtet der Gesetzgeber die Rechte der
1067
H. Nishihara, Gewissensfreiheit in der Schule, in: Der Staat, Nr. 32, 1993, S. 75. 1068
M. Pilich, Ustawa o systemie oświaty. Komentarz, Warszawa 2009, S. 22.
269
Gläubigen, indem er auf die Zugehörigkeit unseres Landes zum bestimmten Kulturkreis
hinweist, aber gleichzeitig achtet er auch die Überzeugungen Anderer, indem er darauf
hinweist, dass nichtsdestoweniger universelle Grundsätze der Ethik die Grundlage für die
Unterrichtung bildet.“1069
Nach einer anderen Ansicht führt die ausdrückliche Erwähnung
eines bestimmten Wertsystems in dem Bildungsgesetz zu seiner Privilegierung.1070
Außerdem
gehört der Begriff: „das christliche Wertsystem“ der Sprache der Philosophie und Theologie,
deshalb fehlt ihm die rechtliche Präzision,1071
deswegen wäre sachgerecht, ihn in den
Gesetzestext nicht einzuschließen.
Die „ordentliche“ staatliche Einflussnahme auf den Prozess der moralischen Erziehung etwa
im Rahmen der Schulaufsicht, Festlegung der Bildungsziele, oder Einführung des
Ethikunterrichts kann als unzulässiger Zugriff auf das forum internum des Einzelnen
grundsätzlich nicht angesehen werden.1072
Die Pflicht des Staates zur Bewahrung der
pluralistischen Vielfalt im Bereich der Bildung ist nicht verletzt, wenn der Staat werbend für
normativ abgesicherte Werte eintritt, solange er auf ihren absoluten Richtigkeitsanspruch
verzichtet. Derartige Werte sind etwa in Grundrechtsgehalten verankert.1073
Auch das
elterliche Erziehungsrecht kann im Schulleben den absoluten Vorrang nicht beanspruchen;
ansonsten wäre die Schulerziehung schlechthin unmöglich. Es ist vielmehr von
Gleichrangigkeit von dem elterlichen Erziehungsrecht und dem staatlichen Bildungsauftrag
auszugehen, während auf dem sittlich–weltanschaulichen Gebiet den Vorrang dem
Elternrecht einzuräumen ist.1074
Gelegentlich wird die Meinung vertreten, dass die Gewissensbildungsfreiheit in ihrer
subjektivrechtlichen Dimension das Recht beinhaltet, von den gewissenswidrigen
Unterrichtsinhalten freigestellt zu werden. Die Befreiung von der Teilnahme am
Religionsunterricht soll danach als Modell dienen. Ähnliche Regelung könnte etwa im Fall
der Sexualkunde eingeführt werden. Damit jedoch das von einem Lehrfach befreite Kind
keine Bildungskosten in Gestalt von verringerten Bildungschancen trägt, sind durch die
Schule Alternativen zu schaffen. Der zitierte Autor findet auch die Alternative Religion/Ethik
1069
A. Król, P. Kuzior, M. Łyszczarz, Prawo oświatowe. Komentarz do ustawy o systemie oświaty, Warszawa,
Bielsko – Biała 2009, S. 16. 1070
J. Sobczak, Radiofonia i telewizja. Komentarz do ustawy, Art. 18, Kraków 2001, S. 271, Rn. 15. 1071
J. Sobczak, Radiofonia i telewizja. Komentarz do ustawy, Art. 18, Kraków 2001, S. 270, Rn. 14. 1072
D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229. 1073
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 184. 1074
H. Nishihara, Gewissensfreiheit in der Schule, in: Der Staat, Nr. 32, 1993, S. 572.
270
verfassungsrechtlich problematisch, wenn im Fall einer Kollision zwischen dem Gewissen des
Kindes und der Eltern keine Ausweichmöglichkeit besteht. Der Unterricht in Ethik ist, wie
tolerant und zurückhaltend er auch sein mag, stets eine potenzielle Gefährdung der freien
Gewissensbildung des Einzelnen.1075
Wie oben ausgeführt wurde, weist das Recht auf Gewissensbildung eine enge Affinität mit
dem Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates auf. In dem Schulwesen
ist vor allem seine negatorische Dimension als eines der Gestaltungsprinzipien des
öffentlichen Schulwesens von Bedeutung. So gesehen ist der Bildungsauftrag dem Staat
insoweit anerkannt, den Kindern die Möglichkeit zur Aneignung vom Wissen und
Fertigkeiten bereitzustellen. Die Einflussnahme durch weltanschauliche Inhalte ist nur dann
gerechtfertigt, wenn es sich dabei um eine „unausweichliche Begleiterscheinung der
Wissensvermittlung oder um die Vermittlung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen
handelt.“1076
Im Zusammenhang mit der Gewissensbildung ist auch die Gleichstellung des Ethikunterrichts
im Verhältnis zum Religionsunterricht problematisch. Die polnische Verfassung bestimmt in
Art. 53 Abs. 4, dass die Religion einer Kirche oder einer anderen rechtlich anerkannten
Glaubensgemeinschaft zum Gegenstand des schulischen Unterrichts werden kann, ohne dass
dabei die Gewissens- und Religionsfreiheit anderer Personen verletzt werden darf. Auch
gemäß dem General Comment Nr 22, zum Art. 18 Abs. 4 IPbpR ist die Unterrichtung der
allgemeinen Religions- und Ethikgeschichte erlaubt, vorausgesetzt, dass diese Fächer in einer
neutralen und objektive Art und Weise dargestellt werden. Danach ist auch die Unterrichtung
einer bestimmten Religion in den öffentlichen Schulen mit dem Art. 18 Abs. 4 IPbpR
vereinbar, wenn eine nichtdiskriminierende Alternative, welche den Wünschen der Eltern
oder des Vormunds gerecht wird, zur Verfügung gestellt wird oder das Recht zur Befreiung
eingeräumt wird.1077
Nach polnischem Recht erstreckt sich der verfassungsrechtliche Schutz
auf weltanschaulichen Unterricht (etwa Ethikunterricht) nicht.1078
Das Recht auf den
1075
H. Nishihara, Gewissensfreiheit in der Schule, in: Der Staat, Nr. 32, 1993, S. 576f. 1076
Ebenda, S. 578. 1077 Human Rights Committee, General Comment No 22: The Right to Freedom of Thought, Conscience and
Religion (Art. 18), U.N. Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add. 4, 1993,
http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrc/comments.htm , (25.06.2011), para. 6. 1078
M. Pietrzak, Prawo wyznaniowe, Warszawa 1999, S. 256ff., P. Tuleja, Prawo Konstytucyjne, Warszawa
1995, S. 108; B. Banaszak in: J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej oraz komentarz do konstytucji z roku 1997,
S.104; E. Schwierskott, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im polnischen Rechtssystem, Regensburg, 2001,
S. 93.
271
Unterricht beschränkt sich ausschließlich auf die Religion, gleichwohl können sich die
Nichtgläubigen auf den allgemeinen Gleichheitssatz berufen.1079
Der Schutz vom Unterricht
als eine der Ausübungsformen eines Glaubens oder Weltanschauung in der polnischen
Verfassung wird somit enger als in den völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz der
Menschenrechte gefasst, wo der Begriff „teaching“ weit interpretiert wird, und bezieht sich
nicht nur auf die Unterweisung in einem religiösen Glauben, sondern umfasst auch Unterricht
in einer nichtreligiösen Weltanschauung. Darüber hinaus erstreckt er sich auf
Missionierungstätigkeiten und auf private Überzeugungsversuche.1080
Was den Status des Ethikunterrichts als eine Alternative zum Religionsunterricht in den
polnischen öffentlichen Schulen angeht, is der Standpunkt das Komitees der
Kinderrechtkonvention erwähnenswert, der beobachtet hat, dass obwohl nach dem polnischen
Recht die Wahl zwischen dem Religions-, und Ethikunterricht den Eltern garantiert wird,
bieten in der Tat nur wenige Schulen den Ethikunterricht an. In diesem Zusammenhang wurde
empfohlen, dass die Wahlmöglichkeit zwischen Religion und Ethik in allen öffentlichen
Schulen gewährleistet wird.1081
Art. 53 Abs. 4 Verf, bestimmt weiter, dass im Zusammenhang
mit dem Religionsunterricht die Gewissens- und Religionsfreiheit anderer Personen nicht
verletzt werden darf. Diese Vorschrift kann als allgemeines Verbot der Unterrichtung und
Beeinflussung gegen den Willen der betroffenen Personen ausgelegt werden. Die durch den
Staat aufgezwungene Unterrichtung in einer bestimmten Religion oder Ethik stellt einen
Eingriff vor allem in die Gewissens- und Glaubensfreiheit der Kinder dar und erst an der
zweiten Stelle ist sie mit dem elterlichen Recht auf Orientierungshilfe in der
Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit ihrer Kinder unvereinbar. Im Bereich der
weltanschauungsrelevanten Unterrichtung sind daher neben den Präferenzen der Eltern auch
Wünsche der Kinder angemessen zu berücksichtigen.1082
1079
B. Banaszak in: J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej oraz komentarz do konstytucji z roku 1997, S. 104. 1080
J. Frowein, W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, Kehl, Strassburg,
Arlington 1996, Rn. 11. 1081
CRC Committee, Concluding Observations: Poland, (UN Doc. CRC/C/15/Add. 194, 2002) paras. 32-33. 1082
E. Brems, Art. 14. The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion, Leiden – Boston 2006, S. 27.
272
2.2.3.3. Die Gewissensbildung und das Achtungsgebot des sog. „christlichen
Wertsystems“ im Rundfunkwesen und Fernsehen
Für die Gewissensbildung ist von erheblicher Bedeutung, mit welchen Inhalten sich der
Einzelne als Hörer oder Zuschauer in den Massenmedien konfrontiert. In diesem
Zusammenhang hat sich der Verfassungsgerichtshof mit der Auslegung einiger
Bestimmungen des Rundfunk- und Fernsehengesetzes von 29. Dezember 19921083
beschäftigt,
welche das Gebot enthalten, in den Sendungen „christliche Werte, die mit den universellen
Prinzipien der Ethik vereinbar sind, zu respektieren“ (Art. 21 Abs.2 S. 6), sowie „die
religiösen Überzeugungen der Empfänger und insbesondere das christliche Wertsystem“ zu
achten (Art. 18 Abs. 2). Gegen die Einbeziehung dieser Pflicht in den Gesetzestext wurde
eingewandt, dass der Kategorie der „christlichen Werte“ durch ihre Verankerung in einem
Gesetz der normative Charakter zugeschrieben wurde. Ihre Einbeziehung in das Gesetz hat
nämlich zur Folge, dass das christliche Wertesystem im Verhältnis zu anderen Wertsystemen
privilegiert wird, wodurch das Prinzip der Gleichbehandlung verletzt wird. Diese Rechtslage
verstößt somit nach Meinung des Beschwerdeführers unter anderen gegen den
Gleichheitssatz, die Religionsfreiheit sowie die Meinungsfreiheit. Der Verstoß gegen die
Meinungsfreiheit wurde damit begründet, dass keine einheimischen und völkerrechtlichen
Garantien dieses Grundrechts ihre Einschränkung in Bezug auf irgendeines Wertesystem
vorsehen. Weiterhin hat der Beschwerdeführer argumentiert, dass das Rundfunk- und
Fernsehengesetz unter Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und dessen objektiven Kriterien
willkürlich darüber bestimmt, dass nur eines der vielen existierenden Wertesystemen, nämlich
das christliche, als Kriterium der Ausstrahlung von Rundfunksendungen dient. Dies hat zur
Folge, dass die Ausstrahlung einer Sendung, die auf einem anderen Wertesystem gegründet
ist, eingeschränkt werden könnte. Darüber hinaus wird (zu Recht) argumentiert, dass der
Begriff der „christlichen Werte“ näher nicht präzisiert und ihre Beziehung zu den
„universellen Prinzipien der Ethik“ nicht geklärt worden sind. Die umstrittene Rechtsnorm
besitzt somit den Charakter einer Generalklausel, die einen starken Einfluss auf die
öffentliche Tätigkeit des Rundfunks und Fernsehens nimmt.
1083
Ustawa o radiofonii i telewizji Dz. U. 1993 Nr. 7 poz. 34.
273
Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes1084
ist der Vorwurf des Beschwerdeführers
unbegründet; Art. 18 Abs. 2 des Rundfunk- und Fernsehengesetzes ist als das Verbot der
Verletzung der religiösen Gefühle auszulegen. Die Formulierung „insbesondere das
christliche Wertesystem zu respektieren“ ist nur als ein Beispiel grammatischer Auslegung
anzusehen, das „durch starke Verankerung und Verwurzelung dieses Wertesystems in der
polnischen Tradition und Kultur unabhängig von der Stellungnahme der einzelnen Personen
zu Religion“ begründet ist. Eine Rundfunksendung, die gegen das christliche Wertesystem
gerichtet ist, verstößt gegen Art. 18 des Rundfunk- und Fernsehengesetzes nur dann, wenn sie
die religiösen Gefühle der Zuschauer verletzt. Die Respektierung des christlichen
Wertsystems ist nicht mit dessen Propagierung gleichzustellen. Darüber hinaus bezieht sich
das Gebot auf das Programm als Ganze und nicht auf eine konkrete Sendung, deshalb muss
zwecks der Feststellung eventueller Rechtswidrigkeit das ganze Programm und nicht seine
konkreten Einzelheiten untersucht werden. Die Normen des Art. 21 Abs.2 müssen auch mit
anderen Grundsätzen etwa mit dem Verbot der präventiven Zensur und Äußerungsfreiheit in
Einklang gebracht werden.1085
Diese Auslegungsalternative wurde auch in der Lehre mit dem
Hinweis bejaht, dass das nahste Synonym für „respektieren“ das Wort „nicht verletzen“ ist.
Das Gebot, das christliche Wertsystem zu respektieren, bedeutet somit das passive Verhalten
der Normadressaten: „Der Adressat soll das christliche Wertsystem lassen so wie es ist.“1086
Des Weiteren sah der Verfassungsgerichtshof die Vorschriften des Rundfunk- und
Fernsehengesetzes als eine notwendige Einschränkung der Äußerungsfreiheit, die den
Anforderungen der Verfassungsmäßigkeit genügen. Die Grundlage für die aufgegriffenen
Vorschriften ist der Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit, der auch im Verbot der
Verletzung religiöser Überzeugungen zum Ausdruck kommt. Religiöse Überzeugungen
unterliegen, unabhängig von ihren Charakter, dem besonderen Schutz im polnischen
Rechtsystem, da sie unmittelbar mit der Gewissens- und Religionsfreiheit verbunden sind.
Das im Gesetz festgelegte Verbot der Verletzung und Gebot der Respektierung religiöser
Gefühle, das eine Entsprechung im Art. 198 Strafgesetzbuch und Art. 23 Zivilgesetzbuch
findet, wird vom Verfassungsgerichtshof somit als zulässige Einschränkung der Freiheit der
Meinungsäußerung anerkannt.
1084
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 7. Juni 1994 (K 17/93). 1085
Beschluss des Verfassungsgerichtshofes von 2. März 1994 (W 3/93), OTK z 1994 cz. I, S. 153 ff. 1086
J. Sobczak, Radiofonia i telewizja. Komentarz do ustawy, Art. 18, Kraków 2001, S. 270, Rn. 12.
274
Darüber hinaus ist die Vorschrift des Art. 21 Abs. 2 S. 6 nach Ansicht des
Verfassungsgerichthofs wie in seinem Beschluss OTK 1994/1/17 W 3/93 auszulegen.
Während die Rundfunksendungen das christliche Wertesystem respektieren sollen, sind als
ihre Grundlage die universellen Prinzipien der Ethik anzunehmen. Das Gebot der
Respektierung vom christlichen Wertesystem kann nicht als Gebot ihrer Propagierung
aufgefasst werden. Art. 21 Abs. 2 S. 6 gibt lediglich Werte vor, die in den Sendungen des
öffentlichen Rundfunks und Fernsehens nicht negiert werden sollen. Das Anliegen des
Gesetzgebers war, auf die Werte der christlichen Kultur hinzuweisen, die gleichzeitig
grundlegende, universelle Prinzipien der Ethik darstellen. Jede andere Auslegung der Norm
des Art. 21 Abs. 2 S. 6 würde zu Ergebnissen führen, die mit dem Diskriminierungsverbot
und dem Prinzip der Neutralität des Staates unvereinbar wären. Insbesondere sind die Begriffe
„christliche Werte“ und „Religion“ nicht gleichzustellen.
Eine andere Auslegung würde auch mit anderen Vorschriften des Rundfunkgesetzes, die die
Tätigkeit des Rundfunks normieren, nicht vereinbar. Damit meinte der
Verfassungsgerichtshof insbesondere Art. 21 Abs. 2 S. 3 und S. 4 sowie Art. 24 des
Rundfunkgesetzes über die Teilhabe des Rundfunks am öffentlichen Leben durch Darstellung
unterschiedlicher Meinungen und Stellungnahmen sowie Art. 28 Abs. 7 über die breite
Beteiligung der Bürger und politischer Gruppen bei der Gestaltung des Rundfunkprogramms.
Der Verfassungsgerichtshof erkannte keine Verletzung durch Art. 21 Abs. 2 S. 6 des in der
Verfassung verankerten Gebots der gleichen Behandlung, da er kein Primat eines bestimmten
Wertesystems festlegt. Der Verfassungsgerichtshof sieht hierin nur eine von mehreren
Richtlinien, die das Programm des öffentlichen Rundfunks bestimmen und die sich auf die
Werte der christlichen Kultur, die mit den universellen Prinzipien der Ethik übereinstimmen,
berufen.
Insofern ist der Gedankenweg des Verfassungsgerichtshofs nicht transparent: wenn das
Gesetz nur die universellen Prinzipien der Ethik in Schutz zu nehmen beabsichtigen würde,
gäbe es keinen Grund für den Gesetzgeber, eine begriffliche Unklarheit zu schaffen. Die
Erwähnung der ethischen Werte alleine würde genügen. Mit seiner Einführung könnte
allerdings der Gesetzgeber durchaus den Eindruck erwecken, gerade ihnen besondere
Aufmerksamkeit schenken zu wollen. Der Verfassungsgerichtshof übte allerdings Kritik an
der Redaktion des Art. 21 Abs. 2 S. 6. Sein Inhalt sei nicht transparent und bedürfe der
275
Auslegung, ohne die Zweifel wegen ihrer Vereinbarkeit mit den Verfassungsnormen bestehen
bleiben könnten.
2.3. Fazit zum Schutz des forum internum der Gewissensfreiheit
Als Fazit ergibt sich, dass das forum internum der Gewissensfreiheit das Recht auf eine innere
diskursive Auseinandersetzung im Gewissen, das Recht, eine aus der inneren
Auseinandersetzung resultierende Gewissensentscheidung zu treffen und eine entsprechende
moralische Überzeugung zu haben sowie das Recht auf Geheimhaltung der Gewissensinhalte
umfasst, es sei denn dass die Offenbarung der Gewissensentscheidung zur Ausübung anderer
Rechte notwendig ist. Den Kern des verfassungsrechtlichen Schutzes der Gewissensfreiheit
bildet allerdings die Freiheit vom Zwang in Gewissensfragen und von unzulässiger
Beeinflussung, insbesondere auf den Prozess der Gewissensbildung, wenn auch die
Abgrenzung zwischen erlaubten und sogar unabdingbaren Maßnahmen des Staates und der
verbotenen Indoktrinierung schwierig sein mag. Das entscheidende Kriterium wäre in den
Zweifelsfällen der Zweck, welcher der betroffenen Handlung oder Maßnahme unterliegt.
3. Der Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit
Die fogenden Auführungen haben zum Zweck, zu untersuchen, ob sich der Schutz der
Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung in der Gewährleistung der geistigen inneren
Freiheit erschöpft oder sich vielmehr auf den Bereich der Betätigungsfreiheit ausdehnen lässt.
Falls der grundrechtliche Schutz des forum externum der Gewissensfreiheit bejaht wird, ist zu
untersuchen, wieweit die Gewährleistung des forum externum greift, d.h. der Umfang der
Ausübungsfreiheit der Gewissensentscheidungen zu bestimmen.
Die Erstreckung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit in der polnischen Verfassung auf
das Handeln nach Maßgaben des eigenen Gewissens könnte auf ein systematisches
Gegenargument stoßen. Wenn es richtig ist anzunehmen, dass die Freiheit der
Religionsausübung nicht aus Art. 53 Abs. 1 Verf. hergeleitet wird, sondern in den folgenden
Absätzen desselben Artikels, welche die einzelnen Aspekte der Religionsausübung
gewährleisten, konstitutiv geregelt ist, dann wäre eine Auslegung des Art. 53 Abs. 1 Verf.,
276
wonach die dort genannten Rechte lediglich das forum internum betreffen, durchaus
gerechtfertigt. Diese enge Auslegung des Art. 53 Abs. 1 Verf. scheint dadurch bestätigt zu
sein, dass die Verfassung das Wehrdienstverweigerungsrecht ausdrücklich normiert. Die
explizite Regelung eines sehr engen Ausschnitts aus dem Fächer der denkbaren Modalitäten
der Gewissensausübung spricht eher gegen als für eine extensive Auslegung der
Gewissensfreiheit. Die Regelung des Wehrdienstverweigerungsrechts wäre nämlich
entbehrlich, wenn der Verfassungsgeber die allgemeine Ausübungsfreiheit der
Gewissensentscheidungen garantierten würde. Darüber hinaus bezieht sich die
Beschränkungsklausel der Grundrechtsausübung lediglich auf die Religionsfreiheit. Ihre
Auslegung nach Wortlaut würde zur Annahme führen, dass die Gewissensfreiheit das
schrankenlose Recht ist, was zur Folge hätte, dass jede Rechtspflicht vor dem Gewissen des
Einzelnen zurücktreten müsste.
In diesem Zusammenhang entsteht allerdings die Frage, ob sich die Religionsfreiheit gemäß
Art. 51 Abs. 1 Verf. auf die Glaubensverwirklichung nicht erstreckt, weil diese von ihr
begrifflich ausgeklammert ist, oder lediglich deshalb, weil sie trotz ihrer grundsätzlichen
Erstreckbarkeit auf die Glaubensverwirklichung positivrechtlich von der in Art. 53 Abs. 2 - 4
Verf. enthaltenen Regelung der einzelnen Modalitäten von Religionsausübung, die gegenüber
Art. 53 Abs. 1 Verf. lex specialis sind, verdrängt ist. Die erste Alternative bedeutet, dass wenn
es Absätze. 2 - 4 des Art. 53 Verf. nicht gäbe, könnte das Recht auf Religionsausübung aus
der allgemeinen Religionsfreiheit nicht hergeleitet werden. Die grammatische Auslegung des
Begriffs „Gewissens- und Religionsfreiheit“ lässt allerdings die Ausschließung der
Betätigungsfreiheiten nicht zu. Es ist daher durchaus vertretbar, dass Art. 53 Abs. 2 – 4 Verf.
lediglich eine klarstellende Funktion erfüllt. Dies kann damit begründet werden, dass die in
Art. 53 Abs. 2 - 4 Verf. befindliche Aufzählung der Ausübungsmodalitäten der Religion nicht
enumerativ ist: Wenn die Aufzählung als erschöpfend zu betrachten wäre, müsste
angenommen werden, dass durch die polnische Verfassung etwa das Recht auf
Religionswechsel nicht geschützt wird, weil es in Art. 53 nicht explizit erwähnt wurde.
In diesem Zusammenhang sei der Argument Pietrzaks erwähnt, dass die Auslegung, wonach
die Gewissens- und Religionsfreiheit auf die in Art. 53 Verf. ausdrücklich verankerten
Ausübungsformen der Religionsfreiheit reduziert wird, mit dem verfassungsrechtlichen
277
Verbot der Verletzung des Wesens der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht vereinbar
wäre.1087
Der zitierte Autor setzt die klarstellende Funktion des Art. 53 Abs. 2-4 Verf. implizit
voraus; Ohne diese Prämisse müsste er nämlich annehmen, dass die Aufzählung der einzelnen
Ausübungsformen eine Legaldefinition der Religionsfreiheit ist und dadurch für den
grundrechtlichen Gehalt der Gewissens- und Religionsfreiheit eine konstitutive Bedeutung
hat. Das Wesen der Religionsfreiheit würde dann durch Art. 53 Abs. 2 -7 Verf. bestimmt. Die
Berufung auf das im Verhältnis zu diesen Vorschriften „extern“ definierte Wesen des
Grundrechts würde in diesem Fall nicht standhalten. Dieser Meinung ist unter Hinweis darauf
beizupflichten, dass ein Rechtsakt, welcher eine Freiheit normiert, begriffsnotwendig einen
deklaratorischen Charakter hat. Da der Staat kein Disponent der menschlichen Freiheit ist,
kann er die Freiheit nicht konstituieren. Die Regulierung der Freiheit soll daher lediglich ihre
Einschränkungsvoraussetzungen in Form der Gebote oder Verbote erschöpfend festlegen. Es
sollen dabei nur diejenigen Freiheitsausübungen reglementiert werden, welche für Andere
schädlich sein können. Der Rechtsakt soll dabei keine Aufzählung dessen enthalten, was
erlaubt ist.1088
Die deklaratorische Rolle der Absätze 2-4 des Art. 53 Verf. lässt sich auch mit Hilfe eines
rechtsvergleichenden Arguments d.h. aus dem Vergleich der Regelungen der
Gewissensfreiheit in der Verfassungen Deutschlands und Polen bestätigen. Art. 53 Verf. und
Art. 4 GG weisen eine strukturelle Ähnlichkeit hinsichtlich der Regelungsweise der einzelnen
Aspekte der Gewissens- und Glaubensfreiheit auf; Wie die polnische Verfassung in Art. 53
Abs. 1 proklamiert Art. 4 Abs. 1 GG zuerst allgemein die Freiheit des Glaubens, die einzelnen
Manifestierungsformen der in Abs. 1 genannten Grundrechte werden dagegen in folgenden
Absätzen aufgezählt. Die Regelungsunterschiede der Gewissens- und Religionsfreiheit in
beiden Verfassungen betreffen den Grad der Detailliertheit der Normierung: während die
polnische Verfassung die einzelnen Ausübungsformen der Religion ausführlich regelt und
legt zusätzlich die Grundrechtschranken fest, garantiert das Grundgesetz allgemein die
religiöse und weltanschauliche Bekenntnisfreiheit, ungestörte Religionsausübung sowie das
Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Die Ähnlichkeit der beiden Verfassungstexte besteht
1087
M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno –
Historyczne, 2001, Heft 1, S. 127. 1088
L. Wiśniewski, Zasady normatywnej regulacji wolności i praw człowieka, in: Konstytucja i Władza we
współczesnym świecie. Prace dedykowane Profesorowi Wojciechowi Sokolewiczowi na siedemdziesięciolecie
urodzin, Warszawa 2002, S. 112f.
278
somit im formalen Aufbau der betroffenen Vorschriften d.h. in der Regelung „vom
Generellen zum Speziellen“; die Unterschiede beziehen sich dagegen auf die inhaltliche
Ausgestaltung der Ausübungsmodalitäten der Glaubensfreiheit, dabei hebt sich die polnische
Verfassung mit ihrer religiösen Einseitigkeit ab. Für die vorliegende Untersuchung ist aber
nur relevant, dass sich weder das Grundgesetz noch die polnische Verfassung zur Frage der
Gewissensbetätigung ausdrücklich äußert; die anderen sachlichen Unterschiede beider
Regelungen sind hier ohne Belang.
Das BverfG steht auf dem Standpunkt, dass die Freiheit der Religionsausübung im Grunde
genommen schon in der allgemeinen Glaubensfreiheit ohnehin enthalten ist.1089
Das
Grundrecht auf freie Religionsausübung ist „an sich im Begriff der Glaubens- und
Bekenntnisfreiheit“1090
enthalten. Folgerichtig kommt dem Art. 4 Abs. 2 GG lediglich
deklaratorische Bedeutung zu. Aus der Tatsache, dass das GG zum Thema der allgemeinen
Gewissensverwirklichung schweigt und dass das BverfG beim Fehlen des Art. 4 Abs. 2 GG
das Religionsausübungsrecht aus Abs. 1 herleiten würde, zieht Herzog den Schluss, dass das
BverfG unter Anwendung dieser Auslegungsmethode das Grundrecht der Gewissensfreiheit
im Ernstfall auf das äußere Handeln erstrecken würde.1091
Wegen der Parallelität der Struktur
von den verglichenen Vorschriften lässt sich die Argumentation der deutschen
Rechtsprechung und Lehre auf die polnische Verfassung übertragen. Diese Ansicht wird auch
hinsichtlich der Regelung der Gewissensfreiheit in der EMRK vertreten: danach werden die
Ausübungsfreiheiten bereits im Begriff der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
enthalten. Dabei wird die Gewissensfreiheit als das Recht begriffen, die gewählten
Lebensprinzipien zu haben, zu bekunden und nach ihnen das Leben auszurichten.1092
Diese
Aussage trifft sicherlich im bezug auf Gedankenfreiheit nicht zu, weil das forum externum
dieser Freiheit durch Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützt wird.
1089
Z.B. BverfGE 24, 236 (245); 32, 98 (106); 41, 29 (49); 69, 1 (33). 1090
BverfGE 24, 236. 1091
R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 134. 1092
F. G. Jacobs, R. C. White, The European Convention on Human Rights, Oxford 1996, S. 211, G. del Moral,
La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia
y función pública, Madrid 2007, S. 248.
279
In dem älteren, inzwischen überholten, Schrifttum war der Schutzbereich der
Gewissensfreiheit auf die psychische Sphäre des forum internum beschränkt.1093
In der
deutschen Lehre ist für diese Auslegung die Meinung Schollers kennzeichnend, der den
Schutzbereich der Gewissensfreiheit wie folgt interpretiert: „Die Anschauung jedes Menschen
von Gott, Welt und Staat sowie die innere Schau der Werte sind unantastbar und ihre
Gestaltung ist innerhalb der Geheimsphäre unverletzlich.“1094
Der Schutz der
Gewissensfreiheit wird gemäß diesem Autor auch auf den Bereich der geheimen
Kommunikation zwischen Familienangehörigen und Freunden auf die Sphäre des forum
externum ausgedehnt.1095
Die dargestellte Auffassung wird zuerst dem Phänomen des Gewissens als innerer Instanz
zwingend gebotenen Verhaltens nicht gerecht. Jede Gewissensentscheidung drängt nach
Umsetzung ins praktische Verhalten und fordert von dem Einzelnen, in der Außenwelt
verwirklicht zu werden.1096
Jede rechtliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit muss daher
so verstanden werden, dass sie auch das gewissensgemäße Verhalten absichert. Bereits im
Verlauf der geschichtlichen Entwicklung war die Gewissensfreiheit, wenn auch mit der
Religionsfreiheit gleichgestellt, niemals auf den Bereich des forum internum zurückgeführt.
Im 16. und 17. Jh. war sie nicht nur als das innere Glaubenkönnen, sondern auch als eine
Mindestform der Glaubensbetätigung (Hausandacht) verstanden. Nach dem ihr
innewohnenden Prinzip drängte die Gewissensfreiheit in Richtung weiterer privaten und
öffentlichen Religionsausübungsformen bis zur Gewährleistung voller Kultusfreiheit für alle
Staatsbürger und nicht nur für Angehörige der staatlich anerkannten Kirchen. Auch die
Einfügung des Gesetzesvorbehaltes zugunsten der staatsbürgerlichen Pflichten in die
Verfassungen des 19. Jh., also aus dem Zeitalter des voll entwickelten
Staatssouveränitätsanspruchs, setzt das Verständnis der Gewissensfreiheit als das forum
externum umfassendes Recht voraus.1097
1093
L. Sánchez Agesta, Sistema político de la Constitución Española, S. 131; R. Zippellius, Artikel 4, Glaubens,-
Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung – Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R.
Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2008 Rn. 42 – 45. 1094
H. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, S. 131ff, 217. 1095
Ebenda, S. 134. 1096
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2006,
S. 12. 1097
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 51f.
280
Darüber hinaus ist nicht zu verkennen, dass die Gewissensfreiheit eine Ausprägung der
allgemeinen menschlichen Freiheit bildet. Die Freiheit hat jedoch nicht nur eine
abwehrrechtliche negative Dimension (Freiheit vom Zwang), welche auf der normativen
Ebene in Opposition zu den Kompetenzen der zur Regulierung des sozialen Lebens befugten
Subjekte steht. Zu ihrem Wesen gehört vielmehr ihr positiver Aspekt, d.h. die Möglichkeit des
Einzelnen, die Wert- und Handlungsentscheidungen zu treffen, also das Recht auf
Selbstbestimmung. Außerdem hat die menschliche Freiheit eine interne und externe Seite. Die
innere Dimension bezieht sich auf die innerliche Autonomie des Menschen und auf seine
Fähigkeit, selbstbestimmte Wertentscheidungen zu treffen. Die äußere Dimension der Freiheit
hat dagegen den sozialen Charakter und besteht in der Möglichkeit, die getroffenen
Wertentscheidungen zu verwirklichen und das konkrete Handeln in der Außenwelt unter
konkreten Umständen der menschlichen Existenz vorzunehmen.1098
Gerade auf die externe
Dimension der Freiheit bezieht sich Herzog, der das Grundrecht der Gewissensfreiheit wie
folgt auslegt: „Nach der hier vertretenen Auffassung wird dem Sinn des Art. 4 I GG
tatsächlich auch nur eine Auslegung gerecht, die in die Freiheit der Gewissensentscheidung
grundsätzlich auch die Freiheit der Gewissensverwirklichung einbezieht. Es wäre mit dem
Grundrechtsverständnis des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren, wenn man annehmen wollte,
dass das Grundgesetz in irgendeiner Grundrechtsvorschrift ausschließlich einen inneren
Vorgang garantiere, ohne zugleich Aussagen über die praktischen Auswirkungen zu treffen.
Was immer man über das Menschenbild des Grundgesetzes denken mag, steht doch jedenfalls
fest, dass es sich nicht in der tatenlosen Atmosphäre des ‚stillen Kämmerchen‟ erschöpft.“1099
Diese Ansicht betrifft zwar die Regelung der Gewissensfreiheit in dem deutschen
Grundgesätz, lässt sich aber wegen derselben axiologischen Grundlagen (Achtung und Schutz
der menschlichen Freiheit) der Verfassungen beider Länder in die polnische
Grundrechtsdogmatik ohne weiteres transponieren. In der Tat: „Gewissensfreiheit beschränkt
auf innere Freiheit zu postulieren, ist ein Zynismus gegenüber der Person, verdeckt durch den
Anschein des Respekts.“1100
Im Zusammenhang mit der Bedeutung der menschlichen Freiheit
ist somit nach Böckenförde zu konstatieren, dass durch die Beschränkung des Schutzbereichs
der Gewissensfreiheit auf das forum internum das Grundrecht auf den Maß verkürzt würde,
„das auch ein Diktator gewähren kann, sofern er sich nur Orwell„scher Methoden enthält.“1101
1098
H. Skorowski, Problematyka praw człowieka, Warszawa 1999, S. 109f. 1099
R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 135. 1100
P. Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, in: Der Staat, Nr. 26, 1987, S. 382. 1101
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 51
281
Heutzutage wird die Beschränkung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf die Sphäre
des forum internum mit dem unbeschränkbaren Charakter des Gewissens begründet. Die
Säkularisierung der Gewissensfreiheit hat nämlich zur allmählichen Erweiterung deren
Schutzbereichs sowohl hinsichtlich des geschützten gewissensmäßigen Verhaltens, als auch
hinsichtlich seiner Begründung geführt. Dies spiegelt sich in der Interpretation des
verfassungsrechtlichen Begriffes „Gewissensfreiheit“ wider, welchem der erweiterte
Sinngehalt zugeschrieben wird.1102
Wenn allerdings davon auszugehen wäre, dass der
Gewissensentscheidung jeder Typ des Verhaltens als Motivationsbasis zugrundeliegen kann,
müsste jede gesetzliche Pflicht als eine potenzielle Beschränkung der Freiheit ihrer
Betätigung angesehen werden. In der Tat, „es können so viele Verweigerungsformen
vorkommen, wie viele Gewissensinhalte gibt es.“1103
Im Bereich des forum externum können
Konflikte zwischen der extensiv geschützten Gewissensfreiheit und der allgemeinen
Rechtsordnung entstehen, weil es keinen numerus clausus der Sachverhalte der Verweigerung
aus Gewissensgründen gibt. Dies hat Befürchtungen hervorgerufen, dass die Gleichsetzung
der Gewissensfreiheit mit dem Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen auf „reinsten
Anarchismus“1104
, bzw. auf die „Negation der Idee des Staates“1105
hinauslaufen würde.
Diese „Bereichslosigkeit“1106
der Gewissensfreiheit ist dadurch verursacht, dass das
Individuum in seiner moralischen Souveränität entscheidet, was zur Gewissenssache wird.
Das Gewissen ist zu einer rein subjektiven Kategorie geworden. Im voraus kann deshalb nicht
gesagt werden, in welchem Zusammenhang und mit welchem Befehl es im Einzelfall auf den
Plan tritt. Die inhaltliche Objektivierung des Gewissens ist nicht möglich, da letzten Endes die
individuell anerkannten Wertmaßstäbe und deren Unverbrüchlichkeit den Inhalt der
Gewissensentscheidung ausmachen.1107
Dies hat zur Folge, dass die Beschränkung der
Gewissensfragen auf einen abgesteckten Bereich der Lebenswirklichkeit nach der
Herauslösung der Gewissensfreiheit aus dem Kontext der Religionsfreiheit nicht mehr
möglich ist. Bei der Gewissensfreiheit handelt sich weder um Schutz bestimmter Rechtsgüter
wie etwa Leben oder Gesundheit, noch um abgesteckte Bereiche menschlichen Handelns wie
1102
J. Guzman Lopez, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 18; A. Ruiz Miguel, Sobre la
fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos, 1986/87, S. 409; F. Filmer,
Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 109. 1103
V. Reina, A. Reina, Lecciones de derecho eclesiástico español, Barcelona 1983, S. 416. 1104
V. Reina, A. Reina, Lecciones de derecho eclesiástico español, Barcelona 1983, S. 378. 1105
Das Urteil des spanischen Verfassungstribunals STC 161/1987. 1106
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 112. 1107
Ch. Starck, Abtreibung auf Grund Gewissensentscheidung? , in: JZ, 1993, S. 31.
282
z.B. Ausübung eines Berufs, sondern um das Handeln schlechthin.1108
Die
Gewissensbetätigungsfreiheit, die als allgemeines Recht durch eine Verfassung oder ein
internationales Abkommen garantiert würde, und zwar unabhängig davon, ob diese Freiheit
der Einschränkungen unterliegen würde oder nicht, ließe sich mit der Rechtsordnung nicht
vereinbaren. Da das Gewissen seinen materiellen Gehalt verloren hat, kann es nicht in einem
identifizierbaren und abgegrenzten Bereich des menschlichen Verhaltens lokalisiert werden.
Aus der „Bereichslosigkeit“ der Gewissensfreiheit folgt unausweislich ihre
Unbeschränktbarkeit, womit ausgeschlossen ist, dass diese Freiheit mit allgemeiner
Einschränkungsklausel ausgestattet wird. Andere Grundrechte unterscheiden sich von der
Gewissensfreiheit damit, dass ihr Gegenstand in viel höherem Maße bestimmbar und
abgrenzbar ist. Ihr Schutzgegenstand bezieht sich nämlich auf spezifizierbare Bereiche der
menschlichen Tätigkeit; sie sind mit bestimmten sozialen Institutionen verbunden und decken
vorhersehbare Verhaltensmuster, was ihrerseits möglich macht, ihre Ausübung mit Hilfe
allgemeiner Schrankenklauseln einzuschränken. Da der Gewissensfreiheit ein
identifizierbarer, hinreichend bestimmbarer Schutzgegenstand fehlt, ist nicht möglich,
generelle Einschränkungen in Form einer Schrankenklausel zu konzipieren.1109
In diese
Richtung argumentiert auch das spanische Verfassungstribunal: Danach stellt der Maßstab der
Vereinbarkeit eines Verhaltens mit den Diktaten des Gewissens ein extrem generelles
Kriterium dar, das nicht zulänglich ist, weder den Gehalt der Gewissensfreiheit sachgerecht
zu bestimmen, noch die durch die Inanspruchnahme dieses Rechts resultierenden
Interessenkonflikte zu lösen. 1110
Aus obigen Ausführungen wird geschlossen, dass die Gewissensbetätigungsfreiheit lediglich
in den durch den Gesetzgeber aufgezählten Fälltypen anerkannt werden kann. Dem „Sprung
von der Gewissensfreiheit zu der Verweigerung aus Gewissensgründen“1111
fehlt sowohl die
verfassungsrechtliche Basis als auch eine rechtliche Rechtfertigung; die Gewissensfreiheit ist
für die ausdrücklich nicht anerkannten Fälle der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht
1108
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 113. 1109
B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State
Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 262; derselbe: Scope and limits of
conscientious objectors, in: Council of Europe, Freedom of Conscience, Strasburg 1993, S. 5, 10, 81 – 83;
Mosquera Monelos, El derecho de a libertad de conciencia y religión en el ordenamiento jurídico peruano, S.
173f. 1110
Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 15/1982 von 23. April 1982 FJ 5. 1111
J. A. Souto Paz, Derecho eclesiástico del estado, Madrid 1993, S. 119.
283
anwendbar. Während die Gewissensfreiheit einen generellen Charakter hinsichtlich ihres
Umfanges und Inhalts hat, was keine Spezifikation der geschützten Handlungen und
Unterlassungen notwendig macht, erwirbt die Verweigerung aus Gewissensgründen ihre
Eigenschaft des subjektiven Rechts in denjenigen konkreten Tatbeständen, die von dem
Gesetzgeber ausdrücklich anerkannt sind.1112
Wenn auch aus der rechtsdogmatischen
Perspektive das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen seine Grundlage in Religions-
und Weltanschauungsfreiheit hat, braucht es der ausdrücklichen Anerkennung durch den
Gesetzgeber. Damit wird der ursprüngliche Konflikt zwischen Mehrheitsentscheidungen und
den Gewissenspositionen des Einzelnen behoben. Die Beschränkung des Schutzbereiches der
Gewissens- und Religionsfreiheit auf ausdrücklich geregelte Betätigungsmodalitäten würde
keine erheblichen Rechtsschutzlücken mit sich bringen, weil der Einzelne seinen
Gewissensentscheidungen mittels anderer Grundrechte Geltung verschaffen könnte.1113
Die
enge Interpretationsvariante führ zur größeren Rechtsklarheit, die weite Interpretation d.h.
diejenige, welche das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen zulässt, – zur
größeren Rechtsschutzlückenlosigkeit.1114
Die beiden Ansätze sind dabei methodisch
vertretbar.
Die Kritiker der Einschränkung des Schutzes der Gewissensbetätigung auf die durch die
Gesetze normierten Bereiche weisen darauf hin, dass sich dieser Ansatz auf die „legalistische
Mentalität“1115
der Rechtspraktiker zurückzuführen lässt, welche dem Verfassungsbild des
freien Individuums nicht entspricht. Entscheidend ist jedoch, dass den Argumenten über der
Unbestimmtheit der Gewissensfreiheit trotz ihrer prinzipiellen rechtsdogmatischen
Stichhaltigkeit an wirklichkeitsbezogener Stütze fehlt. Die real vorkommenden Konflikte, in
denen sich das Gewissen äußert, begrenzen sich auf Konflikte zwischen Anforderungen
staatlicher Institutionen und Moralen vom universalistischen Typus, d.h. auf religiöse aus dem
Christentum motivierte Gewissensgründen, und auf weltanschauliche d.h. allgemein
pazifistische oder ökologische Motive, die auf allgemeine Menschheitsinteressen Bezug
nehmen. Die Berufung auf beliebige oder gruppenegoistische Gründe kommt äußerst selten
vor. Ganz im Gegenteil kann man davon ausgehen, dass es in der Tat einen numerus clausus
1112
J. A. Souto Paz, Derecho eclesiástico del estado, Madrid 1993, S. 119. 1113
R. Zippellius, Artikel 4, Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 47. 1114
Ebenda, Rn. 50. 1115
J. Martínez Torrón, Ley del jurado y objeción de conciencia, in: Revista Española de Derecho
Constitucional, Jahr 16, Nr. 48, 1996, S. 134.
284
der Gewissensgründe gibt.1116
Auch die These von dem völlig individuellen Charakter der
Gewissensinhalte lässt sich empirisch nicht belegen. Die Gewissensinhalte innerhalb eines
Kulturkreises sind zum gewissen Grad uniform.1117
Aus der Tatsache, dass das Gewissen im
großen Maß durch soziale Bedingungen gebildet wird, kann geschlossen werden, dass es auch
eine soziale Dimension aufweist. Darüber hinaus sieht das positive Recht die Einschränkung
einiger Grundrechte zum Schutz der öffentliche Moral vor, Dies legt den Schluss nahe, dass
nicht nur in der Theologie, sondern im gewissen Sinne auch in der Rechtswissenschaft vom
„richtigen“ Gewissen gesprochen werden kann: „Nicht jedes Gewissen z.B. das
verbrecherische verdient geachtet zu werden.“1118
Daraus ergibt sich, dass atypische Verweigerungsfälle nur vereinzelt vorkommen und keine
Gefährdung für die Stabilität der Rechtsordnung darstellen. Durch die Gewissensfreiheit
können deshalb nicht nur diejenigen Verweigerungstypen geschützt werden, die ausdrücklich
durch den Gesetzgeber anerkannt worden sind. Der grundrechtliche Schutz ist somit auch auf
atypische durch den Gesetzgeber nicht geregelte Verweigerungsfälle auszudehnen. Wenn
nicht nur historische und genetische, sondern auch rechtliche Verbindung zwischen der
Gewissensfreiheit und dem Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen angenommen ist, ist
wegen des Prinzips der unmittelbaren Geltung der Verfassung sowie im Hinblick auf die
hochrangige Position der Grundrechte im Rechtssystem nicht kohärent zu behaupten, dass das
Verweigerungsrecht lediglich in den durch den Gesetzgeber anerkannten Modalitäten
garantiert ist. Die These von dem Ausnahmecharakter des Verweigerungsrechts setzt die
interpositio legislatoris, d.h. die gesetzgeberische Tätigkeit als eine notwendige Bedingung
für die normative Geltung der Grundrechte voraus. Die Grundrechte sind allerdings keine
Programmsätze, sondern unmittelbar geltendes Recht. Die Annahme des allgemeinen
Verweigerungsrechts als eine Ausübungsform der Gewissensfreiheit entspricht somit im
höheren Grad dem Regelungsmechanismus der Grundrechte und ihrer Stellung innerhalb der
Rechtordnung.
1116
H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der
Gewissensfreiheit (eText) (2001), http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf
(20.08.2010) 1117
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Zum Verhältnis von
Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates,
Frankfurt am Main, Bern, New York 1987, S. 254ff. 1118
B. Gronowska, T. Jasudowicz, M. Balcerzak, M. Lubiszewski, R. Mizerski, Prawa człowieka i ich ochrona,
Dom Organizatora, Toruń 2005, S. 323f.
285
Das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen bringt mit sich die
Notwendigkeit, eine individuelle Norm zu schaffen, in welcher die Anerkennung des Status
des Verweigerers ausgesprochen wird. Dies macht die Verbindung des Verweigerungsrechts
aus Gewissensgründen mit einem prozessualen Verfahren unentbehrlich; die Verweigerung
aus Gewissensgründen wird in den verfahrensrechtlichen Rahmen in Anspruch
genommen.1119
Dies führ dazu, dass bei der Anwendung der Gewissensfreiheit die besondere
Rolle der Gerichtsbarkeit zukommt. Der Richter ist verpflichtet, die Abwägung zwischen dem
Allgemeininteresse an Rechtsbefolgung und dem Individualinteresse an Wahrung eigener
Identität vorzunehmen. Das allgemeine Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen setzt
dabei voraus, dass das positive Recht neben einzelnen Ausübungsmodalitäten der
Gewissensfreiheit eine Regel enthält, wonach diejenigen, die aus Gewissensgründen handeln,
auf eine „Vermutung der Legalität“1120
rechnen können. Zugunsten des Einzelnen, der eine
Rechtspflicht mit Berufung auf die Gewissensfreiheit nicht erfüllt, soll eine prima facie
Vermutung bestehen, dass er innerhalb des Schutzbereichs des Grundrechts handelt, ohne
damit auszuschließen, dass diese Rechtsposition gegebenenfalls vor den Werten und
Interessen zurücktreten, die von der verweigerten Rechtspflicht geschützt werden sollen.
Damit würde dem mit dem Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen zusammenhängenden
Verdacht der Illegalität entgegengewirkt. Die Rolle der Rechtsprechung bei der Sicherung der
Gewissensfreiheit erscheint besonders deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass in einer
pluralistischen Gesellschaft die Zahl der verweigerten Rechtspflichten theoretisch unbegrenzt
ist, was die erschöpfende gesetzliche Regelung dieser Freiheit praktisch unmöglich macht.
Zum anderen kommen die Verletzungen der Gewissensfreiheit durch indirekte Maßnahmen
wie religions- und gewissensneutrale Gesetzgebung häufiger als direkte Verstöße vor. Dies
setzt die Notwendigkeit der Interessenabwägung bei der Entscheidungsfindung in den
konkreten Fällen voraus, die sachgerechter von der Rechtsprechung als vom Gesetzgeber
vorgenommen werden kann, weil der Gesetzgeber nur in seltenen Fällen zustande ist,
endgültige Lösungen zu bieten.
1119
M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 252. 1120
M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 256, 279ff; P. A.
Talavera Fernández, V. Bellver Capella, La objeción de conciencia farmacéutica a la píldora postcoital, in:
Bioética en la red, http://www.bioeticaweb.com/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=264
(01.09.2010); R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del Estado español,
Pamplona 1993, S. 487.
286
4. Der Umfang der Gewissensbetätigungsfreiheit
4.1. Die Bekenntnisfreiheit der Gewissensinhalte
Einige Autoren vertreten die Ansicht, dass das forum externum der Gewissensfreiheit zuerst
das Recht auf Kommunikation des individuellen Selbstbeurteilungsprozesses im Gewissen
und seiner Ergebnisse umfasst.1121
Das dem forum internum zugeordnete Recht auf
Geheimhaltung der Gewissensinhalte findet daher über das forum externum seine Ergänzung.
Die Bekenntnisfreiheit beschränkt sich nach diesem Ansatz nicht auf Kundgabe einer
Religion, sondern erstreckt sich auch auf die Kundgabe der Gewissensinhalte und umfasst alle
Ausdruckmittel wie etwa Sprache, Schrift, Kunst etc. Außerdem schützt die Gewissensfreiheit
das Recht, eine Gewissensentscheidung zu verbreiten und für diese Gewissensentscheidung
zu werben.1122
Wie die Glaubensfreiheit die propaganda fidei garantiert, so gewährleistet die
Gewissensfreiheit die propaganda conscientiae.1123
Die Gewissensfreiheit liegt somit parallel
zur Religionsfreiheit und bezieht sich auf nichtreligiöse Anschauungen in den drei
Tätigkeitsformen: Denken, Sprechen und Handeln.1124
Der Ausdehnungsvorschlag des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf die Kundgebe der
Gewissensentscheidungen berücksichtigt allerdings nicht, dass sich das Verhalten gemäß dem
eigenen Gewissen (Gewissensbetätigung) vom Bemühen des Einzelnen, seine
Gewissensüberzeugung durch Kundgabe an die Umwelt zu manifestieren, qualitativ
unterscheidet. Die bloße Äußerung einer Gewissensposition, welcher kein unbedingt
bindendes Gewissensgebot zugrundeliegt, wird nicht durch die Gewissensfreiheit, sondern
durch andere Grundrechte (Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit etc.)
geschützt. Darüber hinaus ist die Ausübung einer Gewissensentscheidung von denjenigen
Handlungen abzugrenzen, die zwar vom Gewissen motiviert sind, gleichwohl zum Zweck
haben, das Verhalten eines Anderen zu verändern, oder eine Veränderung in der Außenwelt
herbeizuführen.1125
Zwischen dem Bekennen, das lediglich auf die Kundgabe einer
Gewissensposition gerichtet ist, und dem gewissensmäßigen Verhalten stehen dagegen
1121
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 204. 1122
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 205. 1123
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 494. 1124
A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, München 2003, S. 183. 1125
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S.181.
287
Handlungen, deren Zweck ist, für eigene Gewissensüberzeugung Anhänger zu gewinnen, wie
Werbung, Propaganda und Mission. Sie können als Form der Gewissensbetätigung eingestuft
werden, soweit sie in ihrer Eigenschaft bereits selbst Inhalt eines Gewissensgebots sind. Ist
das nicht der Fall, werden diese Tätigkeiten durch andere Grundrechte geschützt.
4.2. Gewissensfreiheit als Freiheit vom Zwang
Entsprechend ihren historischen Wurzeln in Toleranzgedanken ist die Gewissensfreiheit als
das Recht aufzufassen, das dem Einzelnen vor Zwang bewahrt, den der Staat auf ihn ausübt.
Die Gewissensfreiheit gibt dem Individuum die Möglichkeit, in Situationen, welche er nicht
selbst herbeigeführt hat, den Diktaten seines Gewissens folgen zu können und dadurch die
ihm aufgezwungenen Gewissenskonflikte abzuwehren.1126
„Das grundrechtlich geschützte
Gewissen gerät nicht aufgrund eigener freier Initiative in Schwierigkeiten. Die
Gewissensfreiheit gibt nur ein Recht, zur Verweigerung der staatlichen Befehle.“1127
Eine
ähnliche Interpretation der Gewissensfreiheit wurde im Bezug auf Art. 9 EMRK
vorgeschlagen: danach verpflichtet die Gewährleistung der Gewissensfreiheit den Staat
zunächst, „keinen oder nur einen im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 EMRK oder anderen
Konventionsartikeln zulässigen Zwang auszuüben. Vor allem darf der Staat nicht versuchen,
Gewissensentscheidungen des Einzelnen zu beeinflussen oder daran Vor- oder Nachteile zu
knüpfen.1128
Die Einengung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf Zwangssituationen
wird mit Verweis auf die Funktion des Gewissens als eine innere Zensur- und Kontrollinstanz
gerechtfertigt, die „in einer konkreten personalen Konfliktsituation negatorisch auf einen von
innen oder außen an den einzelnen herantretenden Impuls reagiert.“1129
Die Gewissensfreiheit
entfaltet dabei erst dann ihre Schutzfunktion, wenn eine unausweichliche Zwangslage besteht,
die so zu verstehen ist, dass staatliche Ge- oder Verbote in einem unlösbaren Widerspruch zu
einem individuell zwingenden Gewissensgebot stehen. Solange alternative
1126
B. P.Vermeulen, Scope and limits of conscientious objection, in: Council of Europe, Freedom of Conscience,
Strasburg 1993 S. 82f.; A. Arndt, Umwelt und Recht, in: NJW, 1966, S. 2205. 1127
S. Muckel, Art. 4, Glaubens- und Gewissensfreiheit in: K. H. Friauf, W. Höfling, Berliner Kommentar zum
Grundgesetz, Berlin 2008, Rn. 58; vgl. U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P.
Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 42;
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, K. Heilbronner, G. Ress, Berlin 1989, S. 496. 1128
J. Frowein, Art. 9 (Glaubensfreiheit), in: J. Frowein, W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention,
EMRK-Kommentar, Kehl – Strassburg – Arlington 1996, Rn. 3, S. 369; in diese Richtung auch: Meyer-
Ledewig, Europäische Menschenrechtskonvention. Handkommentar, Rn. 3, S. 186. 1129
U. Preuß, Art. 4 Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989, Rn. 42.
288
Verhaltensmöglichkeiten bestehen, die mit dem Gewissensgebot nicht kollidieren, ist die
Gewissensfreiheit noch nicht verletzt.1130
In diese Richtung argumentiert auch die Europäische Kommission für Menschenrechte,
welche die Beschwerde zurückgewiesen hat, die sich gegen die durch strafrechtliche
Vorschriften sanktionierte Pflicht zur Teilnahme an Wahlen richtete. Die Kommission hat
darauf hingewiesen, dass dem Wähler eine zumutbare Alternative überlassen ist, einen
unausgefühlten oder ungültigen Stimmzettel in die Urne hineinzuwerfen. Dieser Ansatz findet
auch in denjenigen Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte seine
Bestätigung, in denen der Schutz der Religionsfreiheit mit der Begründung abgelehnt wurde,
dass sich der Einzelne in eine Zwangssituation freiwillig eingelassen hat. Sie hat z.B. die
Beschwerde einer türkischen Studentin zurückgewiesen, die sich gegen das Verbot der
Tragung der religiösen Kopfdeckung an der Universität wandte. Die EKMR betrachtet
offenbar die Beschränkung der Religionsfreiheit als Folge eines freien Entschlusses, an einer
nichtreligiösen Einrichtung zu studieren.1131
Nach diesem Ansatz wird die Gewissensfreiheit als klassisches Abwehrrecht aufgefasst. Sie
ist aber zugleich ein Befreiungsrecht, d.h. sie schützt gegen den Zwang, eine Handlung, etwa
Ablegung eines Eides oder Ehrebezeugung der Nationalflagge als Bedingung der Zulassung
zu einer staatlichen Schule gegen das Gewissen des Einzelnen vorzunehmen. Mit anderen
Worten beinhaltet das Recht auf Gewissensfreiheit ein Unterlassungsrecht, welches dem
seiner Gewissensentscheidung folgenden Menschen gewährleistet, dass er sich insoweit „aus
der Allgemeinheit durch Passivität ausschließen darf, um nicht an seiner Seele Schaden zu
nehmen.“1132
Dies wird damit begründet, dass positive Handlungen gegen den Staat lediglich
das Problem des Widerstandsrechts sein können, das weder durch die Gewissensfreiheit noch
sonst in der Verfassung geregelt ist und überhaupt kaum regelbar ist.1133
Wenn mittels der Gewissensfreiheit nur die vom Staat aufgezwungenen Gewissenskonflikte
abgewehrt werden können, umfasst ihr Schutzbereich kein Recht, sein Leben allgemein auf
1130
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 158. 1131
App. 16278/90, DR 74, para. 93, 100ff. 1132
A. Arndt, Umwelt und Recht, in: NJW, 1966, S. 2205. 1133
Ebenda, S. 2205.
289
der Grundlage von den getroffenen Gewissensentscheidungen zu gestalten.1134
Die wichtigste
Konsequenz dieses Ansatzes besteht somit darin, dass das gewissensgeleitete Handeln von
dem Grundrechtsschutzbereich grundsätzlich nicht erfasst wird Dem ist allerdings
entgegenzuhalten, dass der Schutz des gewissensgeleiteten Handelns in denjenigen Fällen
angenommen werden soll, wenn das Gewissen dem Einzelnen eine Handlung gebietet, ohne
dass er über die Handlungsalternativen verfügt. Für den Schutz der Gewissensfreiheit soll
nicht entscheidend sein, in welche Weise der Einzelne in die Lage des Gewissenskonfliktes
geraten ist, „ob er also etwa durch einen staatlichen Befehl in sie gerät, sich selbst hinein
begibt, oder durch eine andere Privatperson in sie gebracht wird. Diese Konstellationen könne
auf der Schrankebene entsprechende Berücksichtigung finden.1135
Die Verkürzung der Gewissensfreiheit zum Recht auf Abwehr der vom Staat herbeigeführten
Konfliktsituationen reduziert dieses Grundrecht zur Freiheit „dem Staat gegenüber; es ist dann
keine Freiheit „in dem Staat.“1136
Sie entspricht allerdings dem Menschenbild der Verfassung
nicht, wo der Mensch nicht nur als Rechtsträger, sondern vor allem als Person in seiner
Menschenwürde, die nach Selbstverwirklichung und Betätigung seiner Werte strebt,
anerkannt wird. Der demokratische Staat charakterisiert sich nicht nur mit der Unterscheidung
zwischen dem Bürger und dem Untertanen, sondern vor allem mit der Auseinanderhaltung
zwischen dem Bürger und Person. Die Identifizierung der Person mit dem Bürger – parallel
zu der Gleichsetzung vom Staat und Gesellschaft – führt zur Verkümmerung der Freiheiten
und zum Auftauchen von Leviathan.1137
Diese Auffassung führt zum Ausschluss vom
grundrechtlichen Schutzbereich derjenigen Gewissensgebote, deren Realisierung vom eigenen
Entschluss der Betroffenen abhängt und keine Abwehr des seitens des Staates auferlegten
Zwanges darstellt. Danach wäre beispielsweise der Schutzbereich der Gewissensfreiheit im
Fall der Verweigerung an Tierexperimenten teilzunehmen nicht eröffnet, selbst wenn ein
vollwertiges Studium ohne Tierversuche an lebenden Tieren auskommt. In dieser Situation
geht die den Studenten auferlegte Teilnahmeforderung an Tierexperimenten aus einem
Sachzwang hervor. Der Gewissenskonflikt wird nämlich durch die Wahl der
Studienfachrichtung und nicht durch staatliche Maßnahmen hervorgerufen. Der Student hat
1134
S. Muckel, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in: P. Tettinger, K. Stern, Kölner
Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte – Charta, München 2006, S. 321. 1135
Ch. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote, T. Marauhn, EMRK/GG,
Konkordanzkommentar, Tübingen 2006, S. 830. 1136
M. Benyeto, Art. 16. in: O. Villaamil Alzaga, Comentarios a las leyes políticas. Constitución Española de
1978, Band 2, Madrid 1984, S. 334. 1137
Ebenda, S. 334f.
290
sich selbst in die Gewissensnot gebracht; der Staat reagiert mit seiner Anordnung lediglich auf
die Anforderungen des Studiengegenstands. Soweit der Einzelne über gewissensschonende
Alternativen verfügt, wird der Schutzbereich der Gewissensfreiheit nicht eröffnet.
Die Auffassung der Gewissensfreiheit als Freiheit vom Zwang hat auch weitreichende
Konsequenzen im Arbeitsrecht; die freiwillige Aufnahme einer Laufbahn wird in diesem
Zusammenhang als Selbstbeschränkung, wenn nicht als Verzicht der Ausübung der
Gewissensfreiheit verstanden. In diese Richtung hat etwa die kolumbianische Corte Suprema
de Justicia in den Fällen entschieden, wo der Beschwerdeführer Verbote bestimmter
Verhaltensweisen beanstandet hat, die nach Ansicht des kolumbianischen Gesetzgebers gegen
Berufswürde verstoßen; „die Gewissensfreiheit setzt die freie Wahlmöglichkeit des Bürgers
voraus, für das Nichtgezwungensein in bestimmten Aspekten seines Verhaltens und damit für
die Nichtgebundenheit an dem öffentlichen Dienst zu optieren, oder (diesen Zwang – A. J. )
nach Maßgabe seiner Überzeugungen, Sitten und Praktiken hinzunehmen und die
richterlichen Aufgaben zu übernehmen.“1138
Es ist zwar unabdingbar, dass die Vornahme
einer Berufskarriere, insbesondere im Bereich des Staatsdienstes, bestimmte Einschränkungen
der Grundfreiheiten nach sich zieht, das volenti non fit iniuria Argument kann aber
dahingehend nicht verabsolutiert werden, dass das Individuum des grundrechtlichen Schutzes
völlig beraubt wird.
4.3. Gewissensfreiheit als allgemeine Handlungsfreiheit nach der Überzeugung des
Einzelnen
Nach einer weiten Auffassung wird die Gewissensfreiheit in der Nähe der
Weltanschauungsfreiheit und Meinungsfreiheit angesiedelt. Sie beinhaltet „vor allem das
Recht, eine inneren Verpflichtungen entstammende Entscheidung, die auch nichtreligiöser Art
sein kann, zu treffen und nach ihnen zu leben.“1139
Mit anderen Worten wird die
Gewissensfreiheit als eine Möglichkeit verstanden, Antworten auf persönliche Fragen betreffs
individuellen und sozialen Angelegenheiten, die man als zutreffend hält, autonom
1138
Entscheidung der Corte Suprema de Justicia von 12. August 1982, zitiert nach: M. J. Cepeda, Los derechos
fundamentales en la constitución de 1991, Santa Fe de Bogota 1992, S. 165. 1139
Ch. Gaitanides, Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit, in: S. Heselhaus, C. Nowak, Handbuch der
Europäischen Grundrechte, München 2008, S. 813; ähnlich: S. Mosquero Molenos, El derecho de libertad de
conciencia y de religión en el ordenamiento jurídico peruano, Lima 2005, S. 157; M. Lee, G. Sotelo Monroy, O.
Casa Madrid, La objeción de conciencia en la práctica del médico, Revista de la Facultad de Medicina, Band 49,
Nr. 3, 2006, S. 122.
291
auszuwählen oder auszuarbeiten, sein Verhalten entsprechend diesen Antworten auszurichten
sowie den Anderen kundzutun, was man für wahr hält.1140
Die Gewissensfreiheit setzt daher
die Freiheit der Weltanschauung voraus.1141
Der Schutzbereich dieses Rechts erstreckt sich
nach diesem Ansatz nicht nur auf die moralische Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern
auch wird auf den Schutz anderer Positionen und Präferenzen ausgedehnt, die häufig nicht
erschöpfend aufgezählt werden. Die Tendenz zur Erstreckung der Gewissensfreiheit auf alle
möglichen Denksysteme und Meinungen sei anhand folgenden beispielhaften Definitionen
dieses Grundrechts illustriert: „Verbunden mit einem religiösen Glauben oder einer
philosophischen Überzeugung bedeutet die Dispensierung aus Gewissensgründen das Recht,
eine Leistung oder eine auferlegte Pflicht zu verweigern, die gegen sein Kredo, seine
Lebensphilosophie, politische, persönliche, moralische usw. Option verstößt.“1142
Barreto
dagegen beschreibt die Gewissensfreiheit wie folgt: „Die Freiheit des Gewissens ist ein Recht,
in unserem intimen Bereich beliebige Ideen oder Glauben zu jeder Angelegenheit zu haben,
unabhängig davon, ob sich um religiöse und politische Fragen oder um eine philosophische
Vision der Welt handelt. Das Gewissen darf weder von Anderen, noch von den
Staatsgewalten eingegriffen werden. Die Gewissensfreiheit bezieht sich nicht nur auf den
Schutz der Verschiedenheit der möglichen Gewissensinhalte, sondern auch auf die Freiheit,
verschiedenenartige Rationalitäten wie das logische Urteilen, das Irrationale, den
schamanischen oder magischen Glauben oder Denken auszuüben.“1143
Nach diesem Ansatz wird die Gewissensfreiheit mit der allgemeinen Handlungsfreiheit
gemäß dem Gewissen gleichgesetzt und damit in der Nähe der allgemeinen Freiheit gestellt.
Die Gewissensfreiheit ist aber kein Einlasstor, sondern „Abschluss und Vollendung der
Freiheitsrechte.“1144
Nicht jedes Verhalten, das das Gewissen erlaubt, wird von dem Schutz
des Grundrechts auf Gewissensfreiheit umfasst. Die aktive Lebensgestaltung nach dem
eigenen Gewissen lässt sich vielmehr aus Art. 31 Abs. 1 und 2 Verf. herleiten, wonach die
allgemeine menschliche Freiheit rechtlich geschützt wird und niemand gezwungen werden
1140
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 28; S. Pau Agulles, La objeción
de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 25. 1141
C. Silva Costa, A interpretacäo constitucional e os direitos e garantías fundamentais na constituicão de 1988,
Rio de Janeiro 1992, S. 155. 1142
U. Lammego Bulos, Constutuicão Federal anotada, São Paolo 2005, S. 144; siehe auch: F. Loñ, A. Morello,
Lecturas de la Constitución, Buenos Aires 2003, S. 410. 1143
M. Barreto, L. Sarmiento Anzoles, Constitución Política de Colombia comentada por la Comisión
Colombiana de Juristas. De los derechos, las garantías y los deberes, Bogota 1991, S. 58; siehe auch; N. P.
Sagüés, Manual de derecho constitucional, Buenos Aires 2007, S. 723. 1144
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Die Veröffentlichungen der Vereinigung der
deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 28, S. 65.
292
kann, etwas zu tun, was ihm das Recht nicht gebietet. Es ist somit anzunehmen, dass erst
wenn die Gewissenspflichten des Einzelnen in den Konflikt mit Rechtspflichten geraten, ist
die Gewissensfreiheit tatsächlich relevant. Zum Kern dieses Grundrechts wird daher „das
Widerstandsrecht aus Gewissensgründen.“1145
Damit werden allerdings die Konturen des
forum externum der Gewissensfreiheit nicht gewonnen. Dies wird erst mit der sachlichen
Eingrenzung ihres Schutzbereichs zum ethischen Bereich erreicht.
4.4. Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit im moralischen Bereich
Wenn der Gewissensfreiheit ein eigener Schutzbereich zukommen soll, muss sich dieses
Grundrecht von anderen Grundrechten, insbesondere von der Religions- und
Weltanschauungsfreiheit sowie der Meinungsfreiheit deutlich abheben. Dies wird mit dem
Moment des Ethischen erreicht. Die Gewissensfreiheit erscheint somit als das Recht, nicht
nach einer beliebigen Überzeugung, sondern nach moralischen Maßstäben zu handeln, die
auch durch andere Grundrechte geschützt werden können.1146
Die Gewissensfreiheit schützt
danach denjenigen Bereich der menschlichen Rationalität, „der sich auf das moralische Urteil
über eigene Handlungen und auf das Handeln in Übereinstimmung mit diesem Urteil bezieht.
Sie betrifft somit das ethische Element, d.h. die Verpflichtung, gemäß seinen Überzeugungen
zu handeln: sie bedeutet die Übertragung einer Weltanschauung oder eines Denksystems in
kohärente Verhaltensnormen.“1147
Sie ist „die Grundfreiheit jedes Bürgers als Person in der
Suche nach dem Guten, die Freiheit, ein eigenes moralisches Urteil als persönlicher
Gewissensakt zu haben, sowie das Recht, sein Verhalten an sein Moralurteil anzupassen,und
sein Leben danach zu richten.“1148
5. Die Abgrenzung der Gewissensfreiheit von anderen Grundrechten
Die Ausübung einer Gewissensentscheidung wird in vielen Fällen durch andere Grundrechte
geschützt, was den Rückgriff auf die Gewissensfreiheit entbehrlich macht. Die Europäische
Kommission für Menschenrechte hat z.B. die Zwangsmitgliedschaft in einer
1145
R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 138. 1146
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 298. 1147
M. Benyeto, Art. 16. in: O. Villaamil Alzaga, Comentarios a las leyes políticas. Constitución Española de
1978, Band 2, Madrid 1984, S. 347. 1148
Ebenda, S. 347; Vgl. C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso
2004, S. 93, 97.
293
Berufsorganisation als keine Verletzung der Gewissensfreiheit angesehen, obwohl die
betroffene Organisation Ansichten vertritt, die gegen das Gewissen des Beschwerdeführers
verstoßen.1149
Es ist allerdings durchaus vertretbar, dass der Einzelne in diesem Fall durch
negative Meinungsfreiheit geschützt werden soll, weil der Beitritt zu einer Organisation von
einem Dritten als Identifizierung mit dem Programm und Zielsetzungen dieser Organisation
wahrgenommen werden kann.1150
Ähnlich im Fall Bowmann v. UK1151
wurde die Verteilung
von Flugblättern, die die Position eines Wahlkandidaten zur Abtreibung bekannt gaben, nicht
als Ausübung der Religions- und Gewissensfreiheit bewertet; die Entscheidung wurde im
Zusammenhang mit Äußerungsfreiheit gefällt. In den Fällen, welche die Versamlungsfreiheit
betreffen, wird die Gewissensfreiheit als deren Element angesehen;1152
die
Rechtssprechungsorgane der EMRK konzentrieren sich dabei nicht auf die Überzeugung,
welche durch die Versammlung zum Ausdruck gebracht werden soll, sondern auf ihre
externen Äußerungsformen.1153
Wenn die Gewissensfreiheit als ein selbständiges Grundrecht mit eigenem Schutzbereich zu
betrachten ist, taucht allerdings die Frage ihrer Abgrenzung von der Religions- und
Weltanschauungsfreiheit auf. Dies ist insbesondere wichtig, weil sich die Gewissensfreiheit
mit Religions- und Weltanschauungsfreiheit überschneidet, wenn der Gewissensentscheidung
durch einem Glauben oder Weltanschauung geprägt ist.1154
Die Religion und Weltanschauung
liefern oft, wenn nicht immer, die Maßstäbe, anhand deren Gewissensentscheidungen
getroffen werden. Im Vergleich zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist der
Schutzbereich der Gewissensfreiheit in dem Sinne weiter, dass die geschützte moralische
Überzeugung lediglich bruchstückhaft und situationsbezogen sein kann, ohne ein
geschlossenes Gedankengebäude bilden zu müssen, während der Glaube oder die
Weltanschauung „eine fundierte und zusammenhängende, grundlegende Fragen des
menschlichen Lebens umgreifende Sicht wiedergeben“1155
also ein geschlossenes
Gedankensystem darstellen. Darüber hinaus charakterisiert sich die Gewissensentscheidung
1149
14331/88 Revert Legallais v. France 62 DR 309 (1989). 1150
L. Hammer, The international right to freedom of conscience, Aldershot 2001, S. 162. 1151
24839/94 1998-I Rep. Judg. And Dec. 175. 1152
10126/82 Platform Ärzte v. Austria 44 DR 65 (1985), die Kommission bewertet die Gewissens- und
Äußerungsfreiheit als Elemente der Versammlungsfreiheit; 16130/90 Sigurjonsoon v. Iceland 16 EHRR 462
(1993) die Prüfung der Äußerungs- und Gewissensfreiheit wird wegen der Prüfung der Versammlungsfreiheit
nicht durchgeführt; 2522/94 Negotiate Now v. UK 19 EHRR CD93 (1995). 1153
8840/78 Christians against Racism and Fascism v. UK 21 DR 138 (1981). 1154
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 257ff. 1155
Ebenda, S. 257.
294
durch eine individuelle Dringlichkeit; der Einzelne erfährt sie in aller Regel als innerlich
bindend und unbedingt verpflichtend. Obwohl eine Glaubens- oder Weltanschauungsfrage
auch stark affektiv aufgeladen sein kann, muss die innere Dringlichkeit nicht zwingend
vorliegen. Drittens weisen die Religion und Weltanschauung neben der individuellen auch
eine kollektive Dimension auf, indem sie von einer Gemeinschaft getragen und gepflegt
werden; das Gewissen ist dagegen ein höchstpersönliches Phänomen. Die Unterscheidung
zwischen Glauben und Gewissen kommt gerade dann zum Tragen, wenn eine individuelle
Gewissensposition nicht im deutlichen Zusammenhang mit den Lehren einer Religion oder
Weltanschauung steht. Diese Ansicht findet in der Rechtsprechung der Konventionsorgane
der EMRK, wonach nach Art. 9 auch individualistische Glaubens- und Gewissenspositionen
geschützt werden, ihre Bestätigung. Obwohl die Schlüsselbegriffe in keinem internationalen
Abkommen definiert werden, welche die Gewissens- und Religionsfreiheit regelt, ist
unumstritten, dass sie auch individualistische Glaubenssysteme umfassen, deren Anhänger in
keiner Organisation vereint sind; durch Art. 9 EMRK werden deshalb Freidenker und
Atheisten geschützt.1156
Das Gemeinschaftselement eines Glaubenssystems ist somit nicht
notwendig, um unter den Schutzbereich des Art. 9 EMRK fallen zu können. Dies ist
besonders in Hinsicht auf Gewissensfreiheit von Bedeutung, die naturgemäß ein individuelles
Recht ist und dessen Ausübung von keiner Mitgliedschaft in einer Organisation abhängig
gemacht wird. Die Gewissensfreiheit erfüllt somit eine Auffangfunktion und greift immer
dann ein, wenn fraglich ist, ob eine hinreichende Verbindung zu einer Religion oder
Weltanschauung besteht.1157
Es ist somit nicht richtig, die Gewissensfreiheit entweder mit
Religions- oder mit Weltanschauungsfreiheit gleichzusetzen. Sie bietet vielmehr für die
Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein zusätzliches Element und stellt ihre Bereicherung
um die ethische Dimension dar.
1156
Kokkinakis v. Greece, 260-A, EctHR Ser. A para. 13 (1993). 1157
Ch. Walter, Religions- und Gewissensfreiheit, in: R. Grote, T. Marauhn, EMRK/GG,
Konkordanzkommentar, Tübingen 2006, S. 831; Ch. Grabenwarter, Kommentierung des Art. 9 EMRK in:
Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Köln 2002, Rn. 33, S. 21.
295
6. Nachweis der Gewissensentscheidung
6.1. Indizien der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung
Das Hauptproblem des Grundrechts der Gewissensfreiheit liegt nicht in der Konzeption des
Gewissens, sondern vielmehr in dem objektiven Beweis der Gewissensentscheidung. Das
Gewissen entzieht sich als ein seelischer Vorgang der Überprüfung und Kontrolle von außen;
es bleibt ein unzugängliches Geheimnis der Person. Die Tatsache, dass das menschliche
Gewissen undurchdringlich und der äußeren Kontrolle nicht zugänglich ist, macht die
objektive Beweisführung einer Gewissensentscheidung unmöglich. Das Vorliegen einer
Gewissensentscheidung kann mit intersubjektiv mittelbaren Mitteln weder bewiesen noch
widerlegt werden.1158
Dies macht das Grundrecht der Gewissensfreiheit auf Rechtsmissbrauch
besonders empfindlich. Deshalb muss sich der Gesetzgeber bei der Anerkennung eines
Verweigerungstyps damit rechnen, dass die Gewissensfreiheit von Simulanten missbraucht
werden kann: „Die Gewährung dem Einzelnen des Schutzes hat den Schutz der Simulanten
als eine ungewollte Nebenwirkung.“1159
Bei der Feststellung der Ernsthaftigkeit einer Gewissensentscheidung können die üblichen
Beweismittel nicht weiterhelfen. Die sich an den Beweis richtenden Anforderungen im
üblichen Beweisverfahren müssen im Anerkennungsverfahren auf Glaubhaftmachung einer
Gewissensentscheidung herabgesetzt werden. Es kann lediglich von einer Vermutung
ausgegangen werden, dass der Grundrechtsträger in Übereinstimmung mit seinem Gewissen
handelt.1160
Mit anderen Worten: im Anerkennungsverfahren einer Verweigerung aus
Gewissensgründen darf nicht mehr als ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für das Vorliegen
der Gewissensentscheidung verlangt werden.1161
Die Beweislast oder vielmehr die
Glaubhaftmachungslast des Verweigerers besteht in Glaubhaftmachung, dass die durch das
Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Anerkennung als Verweigerer aus
Gewissensgründen in seiner Person erfüllt sind. Deshalb reicht der bloße Hinweis auf
religiöse oder moralische Gründe ohne nähere Darstellung der Gewissensentscheidung nicht
1158
F. v. Zezschewitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in: JZ, 1970, S. 236; R. Herzog, Art. 4 in: T.
Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 160. 1159
V. Reina, A. Reina, Lecciones del derecho eclesiástico del estado, S. 418. 1160
J. A. Souto Paz, Derecho eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993,
S. 122. 1161
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 252.
296
aus.1162
Die Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung ist dabei auf Indizien
angewiesen, zu denen eine Reihe von tatsächlichen Umständen gehören, welche auf die
Ehrlichkeit des Gewissensträgers schließen lassen. Zu diesen Indizien gehören insbesondere
folgende Gesichtspunkte:
a) Ein hohes Maß an affektiver Bindung an das moralische Verhaltensgebot
Mit diesem Kriterium wird gemeint, dass sich der Einzelne mit seiner Gewissensposition in
dem Sinne identifizieren muss, dass er im Fall ihrer Nichtbefolgung Schuldgefühle erfahren
würde. Dieser Umstand könnte allerdings nur anhand der vergangenen „gewissensrelevanten“
Erfahrungen des Grundrechtsträgers festgestellt werden. Die ex ante Einschätzung der
eventuellen Konsequenzen der Nichtbefolgung des Gewissensgebots im Einzelfall ist dagegen
weder möglich, noch notwendig. Die Prüfung soll sich somit auf eine Voraussage der
negativen Folgen der Verletzung des Gewissensimperatives für die Persönlichkeit des
Individuums zu beschränken. Dabei sollen die überhöhten Anforderungen nicht gestellt
werden, um die Pathologisierung der Gewissensfreiheit zu vermeiden.
b) Das Maß an „gedanklich-argumentativer Durchdringung und/oder dogmatische
Untermauerung von Verhaltensgeboten.“1163
Wenn jemand behauptet, eine Gewissensentscheidung getroffen zu haben, kann gleichwohl
von ihm erwartet werden, dass seine Argumentation durchdacht und konsistent ist und sein
Verhalten der vorgetragenen Gewissensposition entspricht. Es sind aber bei der Prüfung des
kognitiven Gewissensaspektes die intellektuellen Fähigkeiten, insbesondere
Artikulationsfähigkeiten des Einzelnen als Maßstab der Beurteilung zugrunde zu legen. Es
handelt sich dabei offensichtlich nicht um Beurteilung der intellektuellen Leistungen, sondern
um Nachvollziehung des individuellen Gewissensbildungsprozesses. Da ein sprachlich
Gewandter das Vorhandensein eines Gewissenskonfliktes leicht vorspielen kann, kommt es in
einem Anerkennungsverfahren auf die Feststellung an, ob und wie der Betroffene seine
Lebensweise nach seiner Gewissensentscheidung einzurichten bereit ist.1164
Die Prüfung der kognitiven Komponente der Gewissensfreiheit hat auch ihre immanenten
Grenzen. Es muss nämlich berücksichtigt werden, dass das Gewissen zwar eine kognitive
1162
J.O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 258. 1163
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 251. 1164
H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NVwZ, 1991, S. 1035.
297
Komponente aufweist, die Wertungsgrundlagen, auf denen die Gewissensentscheidungen des
Einzelnen beruhen, können aber in den Tiefschichten der Persönlichkeit angesiedelt werden,
oder durch langfristige Einübung derart an Konturen verloren haben, dass sie für den
Einzelnen nicht in Detail bewusst sind. Deswegen sind die Anforderungen an die
intersubjektive Vermittlung nicht überspitzt zu stellen. Herdergen argumentiert in diesem
Zusammenhang, dass man sich bei kognitiven Anforderungen an Gewissensinhalte mit dem
Bezug auf ein bestimmtes Wertesystem und dessen allgemein gehaltene Obersätze begnügen
muss.1165
Aus diesen Gründen wird in der deutschen Rechtsprechung zu
Kriegsdienstverweigerung die Prüfung auf Schlüssigkeit, Widerspruchsfreiheit und
Rationalität nicht durchgeführt.1166
Außerdem kann im weltanschaulich neutralen Staat
zwecks Feststellung des Vorliegens einer Gewissensentscheidung weder auf ihre Quelle, noch
auf ihren Inhalt abgestellt werden.1167
Der Anerkennungsausschuss oder das Gericht ist für die
Beurteilung der Darlegungen des Grundrechtsträgers in Kategorien von „richtig“, „falsch“
nicht zuständig. Es sind auch Versuche unzulässig, den Einzelnen von Unrichtigkeit seiner
Darlegungen zu überzeugen.1168
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass dieses Indiz für das Vorliegen einer
Gewissensentscheidung nicht viel aussagekräftig ist; die Voraussetzung der
Wiederspruchlosigkeit können auch diejenigen erfüllen, die aus anderen, etwa politischen
Gründen handeln oder eine Gewissensentscheidung vortäuschen. Es erfüllt somit nur eine
negative, kritische Funktion und dient nur dafür, bestimmte Motivationstypen abzusondern.
Die Konsistenz des Verweigerers stellt zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende
Bedingung für die Echtheit einer Gewissensentscheidung.
c) Soziale Umweltbeziehungen des Individuums, welche den Prozess der Gewissensbildung
und Werteinternalisierung bestimmen
Zu dieser Kategorie gehören nicht nur Beziehungen zu und innerhalb der Gruppen vom
religiös-weltanschaulichen Charakter, sondern auch z.B. familiäre und berufliche
Rollenbeziehungen.1169
Nach einer Ansicht stellt der Umstand, dass eine Gewissensposition
1165
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 144. 1166
BVerfGE 12, 45; BverwGE 23, 98 (99); BverwGE 75, 88 (190). 1167
B. P. Vermeulen, Scope and limits of conscientious objections, in: Council of Europe, Freedom of
conscience, Strasburg 1993, S. 79. 1168
J. O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 338; L. Prieto Sanchis, La
objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59, 1984, S. 58. 1169
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 251.
298
für eine Gruppe, etwa eine Religionsgemeinschaft typisch ist, ein starkes Indiz für die
Annahme der Glaubwürdigkeit des Gewissensträgers dar, sodass die bloße Feststellung der
Kollision einer religiösen Norm mit einer Rechtspflicht genügt, um die Glaubhaftigkeit der
Gewissensentscheidung zu bejahen.1170
Die bloße Feststellung der Zugehörigkeit zu einer
Glaubensgemeinschaft soll jedoch die Behörde bzw. das Gericht von der Prüfungspflicht
nicht befreien, ob sich der Einzelne mit der betroffenen Fragen geistig auseinandergesetzt hat,
die Lehre der Kirche oder Organisation, zu welcher er angehört, als für sich geltend
anerkennt und die persönliche Gewissensentscheidung getroffen hat.1171
Das Abstellen
lediglich auf die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft berücksichtigt die Möglichkeit
der Divergenzen im Hinblick auf die Interpretation der Glaubenssätze zwischen einer
religiösen Autorität und den Einzelnen nicht.1172
Es ist vielmehr anzunehmen, dass die
Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppierung
häufig vorkommen und dass das gerichtliche Verfahren nicht das geeignete Forum ist, über
die richtige Interpretation einer Glaubenslehre zu entscheiden. Außerdem bietet die
Gewissens- und Religionsfreiheit den Schutz nicht nur im Hinblick auf die Glaubensinhalte,
welche von allen Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft geteilt werden, sondern umfasst
auch individuelle Überzeugungen. Die anerkennenden Behörden sollen der Tatsache
Rechnung tragen, dass sich die konkreten Wertentscheidungen des Einzelnen oft nicht nach
den Grundsätzen der Lehre richten, zu der er sich formal bekennt. Der Einzelne kann
hinsichtlich einiger Glaubens- oder Moralfragen in Opposition zu seiner
Glaubensgemeinschaft stehen, ohne aus der Kirche austreten zu wollen. Eventuelle
Widersprüche in diesem Zusammenhang eignen sich nicht als Gegenstand der Beurteilung der
Staatsorgane. Deshalb ist der der Entscheidung des polnischen Verwaltungsgerichtshofes1173
entnommenen Argumentation nicht zu folgen, gemäß der der Antrag auf Einweisung zum
Ersatzdienst, in welchem der Rechtpflichtige als Grund seines Verlangens „die krasse
1170
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 192. 1171
Deshalb ist der Entscheidung des polnischen Verwaltungsgerichtshof NSA SA/Wr 57/91 von 1991.02.11
zuzustimmen. Danach sind im Fall der Abstellung auf religiöse Überzeugungen das bekannte religiöse System
sowie dessen Regeln, welche die Leistung des Wehrdienstes verbieten, näher zu bezeichnen. Im Zweifel ist auch
das Vorliegen eigener faktischer Verbindungen mit der betroffenen Glaubensgemeinschaft nachzuweisen. Siehe
auch: Ch. Starck, Kommentierung des Art. 4 in: H. v. Mangoldt, F. Klein, Ch. Starck, Bonner Grundgesetz,
Kommentar, Band 1, Art. 4, München 1999, S. 482, Rn. 107. 1172
S. Stavros, Freedom of Religion and Claims for Exemption from Generally Applicable, Neutral Laws:
Lesson from Across the Pond?, European Human Rights Law Revie 1997, S. 613ff. 1173
NSA SA/Wr 1047/91, 1991.12.10.
299
Diskrepanz“ der auf Soldaten auferlegten Pflichten mit den von ihm als den „praktizierenden
Katholiken“ anerkannten moralischen Grundsätzen mit dem Hinweis abgelehnt wurde, dass
gemäß dem Gesetz über das Verhältnis des Staates zu der Römisch-Katholischen Kirche in
der Republik Polen alle vorgesehenen Befreiungen und Beschränkungen der Militärpflichten
nur die Geistlichen, Mitglieder der Orden oder Studenten der Priesterseminare betreffen und
werden auf Laien dieser Kirche nicht ausgedehnt.
Der nichtvereinte Einzelgänger wird zwar vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit nicht
ausgeschlossen, obwohl ihm wesentlich schwieriger ist, seine Gewissensentscheidung
glaubhaft zu machen. Die Befreiung von einer Rechtspflicht lediglich Mitglieder bestimmter
religiösen oder sonstigen Gruppen der Verweigerer würde eine unzulässige Diskriminierung
darstellen.1174
d) Uneigennützigkeit des Verhaltens des Einzelnen.
Die Anerkennung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen wird manchmal damit
gerechtfertigt, dass sich der Einzelne, der von diesem Recht Gebrauch macht, auf universelle
moralische Prinzipien und nicht auf persönliche Interessen beruft. Der Grundrechtsträger, um
„anerkennungswürdig“ zu sein, soll den universellen Charakter der moralischen Prinzipien
immer vor Augen haben; seine Verweigerung soll keinesfalls als Mittel zum persönlichen
Nutzen gebraucht werden.1175
Es handelt sich dabei um objektivierte Uneigennützigkeit im
Sinne der materiellen oder anders objektiv messbaren Vorteile. Das Streben nach psychischer
Ruhe zählt dazu nicht.
Dieses Indiz spielt eine wichtige Rolle, wenn das Gewissen als Verantwortungsbewusstsein
für Andere aufgefasst wird. Unter diesem Gesichtspunkt liegt der Zweck des
Beweisverfahrens in Ermittlung, ob die Gewissensentscheidung des Einzelnen aus
Verantwortung für die Anderen oder durch persönliche Vorteile irgendwelcher Art motiviert
ist.1176
Dieser Umstand lässt sich ohne weiteres feststellen, weil sich die echten Verweigerer
1174
C. D. de Jong, The Freedom of Thought, Conscience and Religion or Belief in the United Nations (1946-
1992), S. 182; G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho
Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, 251f. 1175
K. Mansilla Torres, L. E. Villaran, La objeción de conciencia. Un aporte a su comprensión y desarrollo en el
Peru, Lima 2000, S. 18. 1176
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 71.
300
aus Gewissensgründen von der „breiten Masse der Durchschnittsbürger“1177
, die ihre
Rechtspflichten erfüllt, durch den überdurchschnittlichen Verantwortungsgrad deutlich
abheben. Die Simulanten weisen dagegen „asoziale Züge“ auf. Die Zuordnung zu den
genannten Kategorien ist anhand der allgemeinen Motivstruktur des Betroffenen möglich,
„die sich durch den persönlichen Eindruck von ihm und durch Befragung von Menschen, die
ihn gut kennen, ermitteln lässt.“1178
e) Konsequente Umsetzung der Gewissensentscheidung im früheren Leben
Die authentische Lebenspraxis ist ein entscheidendes Indiz für Existenz und Gewicht der
Gewissenspflicht. Das gegenwärtige Verhalten oder Handlungen des Grundrechtsträgers aus
nicht weit zurückliegender Vergangenheit können ohne weiteres der
Anerkennungsentscheidung zugrunde gelegt werden.1179
Dieses Kriterium ist allerdings nicht
so zuverlässig, wie es aus dem ersten Blich erscheint, weil der Einzelne seine
Gewissensposition wechseln kann, oder sie in der Auseinandersetzung mit dem anstehenden
Problem erst errungen hat. Die Berücksichtigung der früheren Lebensführung birgt die Gefahr
in sich, die Vergangenheit des Einzelnen „in eine Lebensführungsschuld mit unwiderleglich
vermuteter ‚Gewissenslosigkeit‟ zu verkehren.“1180
Die Feststellung des Widerspruchs
zwischen Darlegungen des Einzelnen und seinem vergangenen Verhalten soll daher nicht
automatisch zur Zurückweisung seines Antrags führen, ansonsten würde dem Einzelnen die
Möglichkeit der Änderung abgesprochen. In diesem Fall wird es ihm allerdings schwerer
fallen, seine Gewissensentscheidung glaubhaft zu machen.
f) Die freiwillige Akzeptanz einer lästigeren Rechtspflicht
Die Gewissensentscheidung charakterisiert sich durch ihre Ernsthaftigkeit, Tiefe und
Intensität. Da ihre Befolgung für das Aufrechterhalten der Identität des Einzelnen
fundamentale Bedeutung hat, ist er grundsätzlich bereit, negative Konsequenzen der
Handlung gemäß seinem Gewissen zu tragen. In diesem Zusammenhang kehrt das Problem
der Bereitstellung von Handlungsalternativen von dem Staat, diesmal unter dem
Gesichtspunkt seiner praktischen, verfahrensmäßigen Funktion als Vorschlag einer „lästigen
Alternative.“ Danach soll dem Einzelnen, der sich auf sein Gewissen beruft, um von einer
1177
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 71. 1178
Ebenda, S. 71. 1179
J. O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 346. 1180
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 159.
301
gesetzlichen Pflicht freigestellt zu werden, ein zumutbares Opfer auferlegt werden. Die
Notwendigkeit, die Nachteile der Befolgung seines Gewissensimperatives in Kauf zu nehmen,
würde nämlich denjenigen abschrecken, der eine Gewissensentscheidung vortäuscht. Dies
schafft die Möglichkeit, das Prüfungsverfahren auf das notwendige Minimum zu reduzieren
oder eventuell darauf zu verzichten.1181
Trotz seiner praktischen Vorteile ist dieses Indiz allerdings nicht unproblematisch. Zum einen
wird seine Anwendbarkeit mit dem Argument in Frage gestellt, dass dem Staat verwehrt ist,
die Bereitschaft zur negativen Folgen der Gewissensentscheidung unter Beweis zu stellen.
Dieses Verbot ergibt sich schlechthin aus Gewissensfreiheit; danach ist nicht erlaubt, den
Verweigerer in eine schlechtere Position zu stellen als denjenigen, der die Rechtspflicht
erfüllt, ansonsten würde der Einzelne nicht frei, nach Maßgaben seines Gewissens zu
handeln.1182
Zum anderen ist die Forderung der Opferbereitschaft als Beweismittel für das
Vorliegen einer Gewissensentscheidung nicht immer zuverlässig: Die Hinnahme der
Nachteile spricht zwar stark für die Ernsthaftigkeit einer Gewissensposition und verleiht der
Gewissensentscheidung einen besonderen moralischen Wert. Diese Folgerung lässt sich aber
nicht umkehren. Der Umstand, dass jemand den Nachteil nicht auf sich nimmt, kann z.B.
bedeuten, dass sein Verhalten durch kollidierende soziale Verpflichtungen bestimmt ist. Dies
wäre etwa der Fall, wenn materielle Nachteile wegen einer gewissensbegründeten Pflicht, um
eigene Familie zu sorgen, von dem Einzelnen als eine lästige Alternative nicht hingenommen
werden können.1183
Bei der Prüfung des Vorhandenseins einer Gewissensentscheidung kann
auch die generelle soziale Verstrickung des Einzelnen nicht ignoriert werden. Dies bedeutet
z.B., dass die Inanspruchnahme oder Gebrauch von umweltbelastenden Waren und
Einrichtungen von einem ökologisch sensiblen Menschen oder ein Arbeitsverhältnis in einer
umweltabträglichen Industrie nicht notwendig gegen eine ökologisch begründete
Gewissensentscheidung sprechen kann.1184
Darüber hinaus ist die geforderte Bereitschaft zu negativen Konsequenzen der Befolgung
einer Gewissensentscheidung nicht mit Bereitschaft zum Leiden oder Bereitschaft zum
1181
E. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, Tübingen 1971, S. 67. 1182
B. P. Vermeulen, Conscientious objection in Dutch law, in: European Consortium for Church – State
Research, Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 272f; Derselbe, Scope and limits of
conscientious objections, in: Council of Europe, Freedom of conscience, Strasburg 1993, S. 80. 1183
C. Eiselstein, Das „forum externum“ der Gewissensfreiheit – ein Weg in die Sackgasse, in: DÖV, 1984, S.
798. 1184
P. Derleden, Arbeitsverhältnis und Gewissen, in: AuR, 1991, S. 195.
302
großen, unzumutbaren Opfer gleichzusetzen: „Der Heros braucht das Grundrecht nicht, da er
ohnehin nach seiner Gewissensüberzeugung handeln würde.“1185
Die Gewissensfreiheit ist
vielmehr jedem Menschen zugestanden und nicht einer Gruppe der heroischen Auserkorenen.
Wie gesagt, der Einzelne ist in das persönliche, familiäre, berufliche und gesellschaftliche
Verantwortungsnetz verwickelt und das Handeln nach seinem Gewissen kann das ganze
Gefüge seiner sozialen Verflechtungen berühren. Deshalb ist der Wankelmut, Angst oder
Rückzug in das gesellschaftskonforme Verhalten nicht als mangelnden Opfergeist auszulegen,
um dem Einzelnen eines seiner Grundrechte abzuschneiden.1186
Darüber hinaus gewährleistet
das Kriterium des „Opfers“ keine vollständige Aussonderung deren, die allein aus
Gewissensgründen handeln. Auch der „Märtyrer“ kann aus Geltungsdrang, aus gegen sich
gekehrter Aggression oder aus anderen Gründen handeln, die mit Gewissensüberzeugung
nichts zu tun haben.1187
Aus der Darstellung der einzelnen Indizien ergibt sich, dass ihre Aussagekraft im Bezug auf
Inhalt, Ernst und Tiefe der Gewissensentscheidung beschränkt ist. Sie bieten nämlich keinen
Beweis für das Vorliegen einer Gewissensentscheidung: „Mehr als Zweifel an der
Aufrichtigkeit der Erklärung vermögen sie nicht zu erzeugen; Existenz und subjektive
Verbindlichkeit des Gewissensgebotes zu leugnen, gestatten sie Dritten nicht. Dieser
Unfähigkeit Außenstehender, durch Erkenntnisakte die Wahrheit der Gewissensentscheidung
zu finden, korrespondiert die Unfähigkeit des Einzelnen seine Persönlichkeitsentscheidung als
solche des Gewissens zu beweisen.“1188
Es handelt sich somit um den klassische Fall des non
liquet, dem durch die materiellen Grundsätze der Beweislast nicht begegnet werden kann,
denn Beweisregeln setzen notwendig die Beweisbarkeit voraus, die sich gegebenenfalls zum
Beweis nicht verdichtet. Deshalb ist in den mehrheitlichen Zweifelsfällen von der Vermutung
der Ehrlichkeit des Verweigerers auszugehen und die Entscheidung zu seinen Gunsten zu
treffen.1189
1185
G. U. Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 166. 1186
Ebenda, S. 166. 1187
Ebenda, S. 167. 1188
F. v. Zezschewitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in: JZ, 1970, S. 236. 1189
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, S. 236f; G. del Moral, La objeción
de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y función
pública, Madrid 2007, S. 252.
303
6. 2. Die Rechte des Grundrechtsträgers im Anerkennungsverfahren
Im Schrifttum wird insbesondere die Brauchbarkeit des mündlichen Anerkennungsverfahrens
für die Glaubhaftmachung der Gewissensentscheidung in Frage gestellt. Dabei wird nämlich
auf die Gefahr hingewiesen, dass zum einen im mündlichen Verfahren Fragen gestellt werden
können, welche die Intimsphäre des Antragstellers unnötig verletzen und dadurch gegen das
Schweigerecht in religiösen und weltanschaulichen Fragen verstoßen, zum anderen nimmt die
Möglichkeit der verbotenen Bewertung von Gewissensgründen zu.1190
Das Erfordernis, die Gründe für eine Gewissensentscheidung vor einer anerkennenden
Behörde oder einem Gericht darzulegen, kann jedoch nicht als Verstoß gegen das
Schweigerecht hinsichtlich der Glaubens- und Weltanschauungsfragen angesehen werden,
weil mit der Anerkennung dem Verweigerer ein Vorteil oder Begünstigung in Form der
Befreiung von einer Rechtspflicht erteilt wird, was die Beschränkung des Schweigerechts
rechtfertigt.1191
Illustrativ in diesem Zusammenhang ist die Entscheidung des spanischen
Verfassungstribunals, in welcher die Kollision zwischen dem Verweigerungsrecht aus
Gewissensgründen und dem (aus der negativen Glaubensfreiheit sowie aus dem Recht auf
Privatleben hervorgehenden) Anspruch des Einzelnen, seine ideologischen Überzeugungen
nicht offenbaren zu müssen, verneint wurde. „Die mögliche Kollision zwischen dem Recht
aus Art. 16 (ideologische Freiheit) und dem Recht aus Art. 18 (das Recht auf Privatleben)
verschwindet mit der Ausübung des Verweigerungsrechts. Das Anerkennungsverfahren setzt
den Verzicht des Verweigerers voraus, seine ideologischen Vorbehalte gegen die Gewalt und
/oder gegen die Leistung des Militärdienstes im geheimen Bereich seines Gewissens zu
bewahren. Es versteht sich von selbst, dass ohne diesen Willen des Verweigerers, der von
seiner Verweigerung auf die Herbeiführung der rechtlichen, also im Verhältnis zu seinem
Gewissen externen Konsequenzen abzielt, niemand in seine Innerlichkeit hereingehen noch
ihn dazu zwingen kann, von seiner Ideologie, Religion oder Glauben zu erzählen.“1192
Gibt es
allerdings die Möglichkeit „den konkreten Fall ohne unangemessenes Wühlen in gewissens-
und weltanschauungsorientierten Individualbereichen zu lösen, so dürfte zumindest das nobile
officium bestehen, diesen Weg und nicht den der ‚Gewissensforschung‟ durch den Staat zu
1190
J. O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 271. 1191
J. Lopéz Guzmán, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 51. 1192
Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 160/1987 von 27. Oktober 1987, FJ 5.
304
beschreiten.“1193
Die Offenbarungspflicht eigener religiösen oder weltanschaulichen
Überzeugungen kann nur in denjenigen Fällen gerechtfertigt werden, wenn dies „für die
Ausübung der Religion und Weltanschauung vernünftigerweise nötig ist.“1194
Der Verstoß gegen das Schweigerecht wäre jedoch zu bejahen, wenn die
Anerkennungsbehörde eigene Ermittlungen über den Rahmen der von dem Antragsteller
vorgetragenen Verweigerungsgründe hinaus vornehmen würde. Es obliegt nur dem
Antragsteller, Tatsachen und Beweise darzulegen, die er als nötig zu offenbaren betrachtet,
um als Verweigerer aus Gewissensgründen anerkannt zu werden. Die Tätigkeit der
Anerkennungsstelle soll sich lediglich auf die Würdigung des von dem Antragsteller
vorgetragenen Materials beschränken. Die Ansammlung weiterer Tatsachen etwa von
Dritten,1195
die im Antrag nicht erwähnt wurden, würde auf die Verletzung des
Schweigerechts des Einzelnen hinauslaufen. Die Anerkennungsbehörde ist dagegen
berechtigt, die von Antragsteller dargelegten Tatsachen durch Dritte oder Organisationen
glaubhaft gemacht zu lassen.1196
Die oben genannten Beweisschwierigkeiten rechtfertigen die verfahrensrechtliche
Behandlung der Gewissensfreiheit als subsidiäres Grundrecht gegenüber anderen
Grundrechten. Da sich die Gewissensbetätigungsfreiheit mit anderen Grundrechten teilweise
überdeckt, kann das Vorliegen einer Gewissensentscheidung offen gelassen werden, wenn
sich der Bürger auf ein anderes Grundrecht berufen kann. Der andere Fall, in dem das
Vorliegen einer Gewissensentscheidung unentschieden bleiben kann, liegt vor, wenn evident
ist, dass übergeordnete Rechtsgüter und Rechtsinteressen die Anwendung der
Grundrechtsschranken rechtfertigen.
1193
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff , K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 139; auch: R. Herzog, Art. 4 in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz
Kommentar, München 1993, Rn. 162. 1194
J. O. Arujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 262. 1195
Freihalter argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die Zeugen unbrauchbar sind, weil es möglich ist,
dass der Einzelne sich in seine Umgebung nicht gut eingepasst hat, sondern ihr gereizt, nervös gegenübertritt,
was entsprechende Reaktionen, Aggressionen oder Ressentiments Anderer auslösen kann. G. U. Freihalter,
Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973, S. 169. 1196
Vgl. Sondervotum von Fernando García-Mon, González Regueral zum Urteil von STC 160/1987.
305
Kapitel VII
Die Verweigerung aus Gewissensgründen im Bereich der Medizin
1. Allgemeines
Die Fragen des Beginns und des Endes vom menschlichen Leben weisen eine große ethische
Brisanz auf, deswegen ist dieser Bereich für die Gewissenskonflikte besonders anfällig. Dem
wurde der polnische Gesetzgeber gerecht, indem er das Verweigerungsecht aus
Gewissensgründen der Ärzte und anderer medizinischen Mitarbeiter in Form der sog.
Gewissensklausel gewehrleistet hat. Art. 39 des Gesetzes über die Berufe des Arztes und des
Zahnarztes sieht nämlich vor, dass die Ärzte die Ausführung einer gesundheitsfördernden
Handlung unterlassen dürfen, die gegen ihr Gewissen verstößt, vorausgesetzt dass es sich
nicht um eine Notfallsituation handelt, in der das Leben oder Gesundheit des Patienten
gefährdet sein kann, sowie dass sie bestimmten Mitteilungspflichten ihren Vorgesetzten und
den Patienten gegenüber nachgehen. Der Hauptfall der Verweigerung, eine
gesundheitsfördernde Leistung zu erbringen, bildet die Verweigerung, an den
Schwangerschaftsabbrüchen teilzunehmen.
2. Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen
2.1. Begriffsbestimmung der Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen
Unter Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen ist eine Ablehnung zu verstehen,
einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen oder an denjenigen Handlungen
teilzunehmen, die unmittelbar oder mittelbar die Durchführung eines
Schwangerschaftsabbruchs fördern. Derartige Verweigerung kann sich sowohl auf religiöse
oder moralische Verbote als auch auf berufliche Deontologie stützen.1197
Ein erwähnenswerter
Faktor, welcher das Ausmaß der Verweigerung der Schwangerschaftsunterbrechung aus
Gewissengründen in Polen wesentlich bestimmt, ist allerdings der Standpunkt der
1197
R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,
S. 510; R. Navarro -Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in:
Anuario de Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 261.
306
katholischen Kirche, wonach das menschliche Leben von dem Augenblick der Empfängnis
absolut zu achten und zu schützen ist.1198
Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen ist dabei von der
Meinungsäußerung zu ihrer moralischen Zulässigkeit zu unterscheiden. Da sich das Gewissen
immer auf ein konkretes Tun oder Unterlassen, d.h. auf eine bestimmte Situation, in der sich
der handelnde Mensch befindet, bezieht, sind die Handlungen, die darauf abziehen, den
Standpunkt gegen die Abtreibung zu verteidigen oder in einer anderen Weise zum Ausdruck
zu bringen, durch die Gewissensfreiheit nicht erfasst. Sie stellen vielmehr eine
Betätigungsform der Meinungsfreiheit, gegebenenfalls der Glaubens- und
Weltanschauungsfreiheit dar. Die Gewissensfreiheit kommt ins Spiel nur dann, wenn ein
konkreter Schwangerschaftsabbruch bevorsteht, also im Fall des medizinischen Personals, das
rechtlich verpflichtet ist, an seiner Durchführung teilzunehmen.1199
Von der (prinzipiellen)
Verweigerung aus Gewissengründen ist auch der Fall nicht umfasst, wo der Arzt eine
medizinische Leistung üblicherweise erbringt, verweigert sie aber in einer konkreten Situation
wegen der besonderen „emotionalen Verwicklung“1200
, welche seine Beziehung zu den
Patienten bestimmt. Diese Situation liegt z.B. vor, wenn ein Arzt die Befruchtung in vitro
grundsätzlich durchführt, lehnt sie aber im Fall eines lesbischen Paares ab, weil er solche
Beziehungen für moralisch verwerflich hält. Der Artzt, der bei seiner Verweigerung nicht auf
den Charakter der gesundheitsfördernden Leistung, sondern auf Eigenschaften der Patienten
abstellt, kann den grundrechtlichen Schutz nicht beanspruchen.
2.2. Die Regelung der Zulässigkeit der Abtreibung in der polnischen Rechtsordnung
Gemäß Art. 4a des Gesetzes über die Familienplanung, den Schutz des menschlichen Fötus
und Voraussetzungen der Zulässigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung1201
wird die
Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs aus folgenden Gründen erlaubt:
1198
Katechismus der Katholischen Kirche, http://www.pfarrer.at/katechismus_moral_gebote.htm (25.08.2010),
Nr. 2270ff. 1199
A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la
fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 39.
R. Navarro- Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario de
Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 262. 1200
J. Pawlikowski, Prawo do wyrażania sprzeciwu sumienia przez personel medyczny – problemy etyczno-
prawne, http://www.incet.uj.edu.pl/dzialy.php?l=pl&p=32&i=3&m=22&z=0&n=2&k=5 (30.12.2010). 1201
Das Gesetz von 07.01 1993, Dz.U. Nr. 17, poz. 78 mit weiteren Veränderungen
307
a) medizinischen – wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben und
Gesundheit der Schwangeren darstellt.
b) eugenischen – wenn die Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Störung
des Fötus oder einer unheilbaren Krankheit besteht.
c) kriminologischen – wenn eine begründete Annahme besteht, dass die
Schwangerschaft Resultat einer rechtswidrigen Tat ist.
Im Fall der eugenischen und kriminologischen Gründe sieht der Gesetzgeber auch eine
zeitliche Begrenzung der Rechtsmäßigkeit der Abtreibung vor: der Schwangerschaftsabbruch
kann nämlich nur innerhalb der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft durchgeführt werden.
Dagegen im Fall der medizinischen Gründe ist die Abtreibung nicht mehr erlaubt, wenn der
Fötus die Fähigkeit erreicht hat, außer dem Organismus der Schwangeren selbstständig zu
leben. Das Vorliegen der medizinischen und eugenischen Voraussetzungen der
Schwangerschaftsunterbrechung soll von einem anderen Arzt als derjenige, der die
Behanglung durchführt, festgestellt werden. Für die Feststellung der kriminologischen
Voraussetzungen ist dagegen der Staatsanwalt zuständig. Darüber hinaus ist für die
Rechtsmäßigkeit der Behandlung in jedem Fall die schriftliche Einwilligung der Schwangeren
erforderlich. Im Fall der Minderjährigen oder der Entmündigten ist die Einwilligung ihrer
gesetzlichen Vertreters einzuholen. Die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters kann unter
Umständen durch die Einwilligung des Vormundschaftsgerichts ersetzt werden. Wenn die
Minderjährige das 13. Lebensjahr vollendet hat ist ihre parallele Einwilligung in jedem Fall
erforderlich.
Die bloße Zulassung der Abtreibung in bestimmten Situationen als eine Ausnahme von ihrer
grundsätzlichen Strafbarkeit führt allerdings zu keiner automatischen Anerkennung des
subjektiven Rechts der Schwangeren auf Abtreibung und infolgedessen begründet keine
entsprechende Rechtspflicht seitens des medizinischen Personals, die
Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Diese Fragen müssen vielmehr ausdrücklich
geregelt werden, was der polnische Gesetzgeber getan hat. Die Rechtsgrundlage des
Anspruchs auf Abtreibung in der polnischen Rechtsordnung bildet Art. 4b des zitierten
Familienplanungsgesetzes, der bestimmt, dass allen Personen, welche die
Krankenversicherung haben, das Recht auf eine kostenfreie Behandlung des
Schwangerschaftsabbruchs zusteht. Aus dieser Bestimmung ergibt sich eine allgemeine
Pflicht der Gesundheitsanstalten, die Behandlungen der Schwangerschaftsunterbrechung
zugänglich zu machen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen ihrer Legalität erfüllt sind. Es
308
ist allerdings anzunehmen, dass das Recht einer Frau, sich der Abtreibung zu unterziehen,
keinen Anspruch voraussetzt, von einem bestimmten Arzt behandelt zu werden. Es ist daher
nicht möglich, aus der erwähnten Vorschrift eine Rechtspflicht eines konkreten Arztes
herzuleiten, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. Die Kollision zwischen dem
Recht der Frau und dem Recht des Arztes ist nur dann anzunehmen, wenn ein anderer Arzt
nicht zugänglich ist, der bereit wäre, die Abtreibung vorzunehmen.1202
In diesem Zusammenhang wird mit Recht vertreten, dass aus dem Recht auf Leben das
Verbot für den Gesetzgeber hergeleitet werden kann, Rechtspflichten zu schaffen, welche
gegen die Natur d.h. gegen die Finalität der medizinischen Berufe, das Leben und Gesundheit
zu retten, verstoßen würden. Die Ablehnung seintens des medizinischen Personals, die
Abtreibung oder Sterbehilfe durchzuführen, falls ihm eine solche Pflicht gesetzllich auferlegt
würde, könnte daher als die Verweigerung aus beruflichen Gründen und nicht zwangsläufig
als Verweigerung aus Gewissensgründen eingestuft werden.1203
Daraus ergibt sich das
Postulat, dass im Fall der nichttherapeutischen Abtreibung oder Sterbehilfe das medizinische
Personal nicht verpflichtet werden darf, ihre Kenntnisse in solche Behandlungen einzusetzen.
Die Auferlegung einer diesbezüglichen gesetzlichen Pflicht würde einen illegitimen Eingriff
in das Wesen und Zweck der medizinischen Berufe sowie in die freie Entfaltung der
Persönlichkeit und somit in die Menschenwürde des medizinischen Personals darstellen.1204
Die Vornahme solcher Behandlungen sollte vielmehr durch die Betroffenen freiwillig
übernommen werden.
Das Fehlen einer direkten gesetzlichen Pflicht, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, die
an einen konkreten Arzt gerichtet ist, könnte den Schluss nahelegen, dass auch die
ausdrückliche Regelung der Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen entbehrlich
ist.1205
Diese Sichtweise ist allerdings formalistisch: wenn sich die Abtreibung in bestimmten
Fällen im Bereich des Erlaubten befindet, ist durchaus möglich, dass sich die Verweigerung
aus Gewissensgründen zwar nicht gegen die gesetzliche Pflicht eines konkreten Arztes richtet,
1202
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 389; J. López
Gúzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 105. 1203
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 337; J. A. Souto Paz, Derecho
Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993, S. 139; A. Aparisi Miralles,
J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la fundamentación
filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 44. 1204
A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la
fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 42. 1205
Ebenda, S. 43.
309
Abtreibungen vorzunehmen, sondern gegen die organisatorischen Regelungen einer
Gesundheitsanstalt oder gegen arbeitsvertragliche Bestimmungen, was im Endergebnis
dieselben Probleme verursacht.1206
Für die Notwendigkeit der gesetzlichen Normierung des
Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen ist somit nicht relevant, ob der Schwangeren ein
subjektives Recht auf Abtreibung zusteht.1207
Wenn sich der Gesetzgeber enthalten würde,
den Anspruch auf Abteribung und die ihm entsprechende Pflicht der medizinischen Anstalten,
solche Behandlungen zur Verfügung zu stellen, ausdrücklich zu regeln, würde sich die
Verweigerung aus Gewissensgründen gegen die Norm richten, welche zwar keine direkte
Pflicht auferlegt, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, sieht aber das Gebot vor, die
legalen (erlaubten) medizinischen Leistungen zu erbringen.1208
Es wurde auch zu Recht darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein einer
Gewissensentscheidung der Schwangeren auf Abtreibung grundsätzlich zu verneinen ist.
Wenn auch derartiger Entscheidung die Ernsthaftigkeit innewohnt, fehlt ihr die sittliche
Unbedingtheit. Die Gewissensentscheidung der Schwangeren wäre eigentlich denkbar, wenn
ihr Leben oder Gesundheit durch die Schwangerschaft gefährdet ist, oder wenn das Risiko
einer schweren Krankheit des Kindes besteht.1209
In dem ersten Fall überwiegt das Recht auf
Leben der Frau. Dies folgt jedoch nicht schon daraus, dass eine Gewissensentscheidung
getroffen worden ist, sondern als Resultat der objektivierbaren Abwägung zwischen
(prinzipiell) gleichwertigen Rechtsgütern.
2.3. Die Regelung der Gewissensfreiheit im Bereich der Medizin im polnischen Recht
Das aktuell geltende Recht sieht die sog. Gewissensklausel in Art. 39 des Gesetzes über den
Beruf des Arztes und des Zahnarztes von 5.12.1996 1210
vor. Danach können sich die Ärzte
und Zahnärzte von der Durchführung einer gesundheitsfördernden Leistung enthalten, wenn
dieses Tun gegen die in ihrem Gewissen angenommenen Prinzipien verstößt. Die
entsprechende Regelung hinsichtlich der Krankenschwester und Hebammen enthält Art. 23
des Gesetzes von 05.07.1996 über den Beruf der Krankenschwester und Hebamme.1211
Durch
1206
I. C. Ibán, L. Prieto Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 165. 1207
J. López Gúzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 101. 1208
M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de
Derecho, Band 21, 2003, S. 107. 1209
Ch. Starck, Abtreibung auf Grund Gewissensentscheidung?, in: JZ, 1993, S. 32. 1210
Der vereinheitlichte Gesetzestext; Dz.U. von 2005, Nr. 226, poz. 1943 mit weiteren Änderungen. 1211
Der vereinheitlichte Gesetzestext: Dz. U. von 2001, Nr. 57, poz. 602, mit weiteren Änderungen.
310
die Einführung der Gewissensklausel in die Rechtsordnung wird der Grundsatz der
Vereinbarkeit der ärztlichen Tätigkeit mit den Direktiven des medizinischen Wissens sowie
mit den zugänglichen Mitteln und Methoden relativiert Der Begriff „Gewissen des Arztes“
gehört nun nicht nur zum Bereich der Ethik, sondern auch dem Bereich des Rechts.1212
Da der Gegenstand der Verweigerung eine gesundheitsfördernde Leistung sein kann, ist die
Bestimmung ihrer Reichweite für die Bestimmung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit
von entscheidender Bedeutung. Der Begriff einer gesundheitsfördernden Leistung wurde in
Art. 3 des Gesetzes von 30.08.1991 über die Gesundheitsanstalten1213
definiert. Damit werden
diejenigen Handlungen gemeint, welche der Erhaltung, Rettung, Wiederherstellung und
Besserung der Gesundheit dienen, sowie andere medizinische Tätigkeiten, die aus dem
Heilungsprozess resultieren oder sich aus anderen Vorschriften ergeben, welche die
Grundsätze ihrer Durchführung regeln und welche mit Untersuchung, medizinischer
Beratung, Heilung, diagnostischer Untersuchung einschließlich der medizinischen Analytik,
Beurteilung und Begutachtung über dem Gesundheitszustand verbunden sind. Aus dieser
Begriffsbestimmung ergibt sich vor allem, dass der Begriff der gesundheitsfördernden
Leistung weiter als der Begriff der Heilung ist. Das Problem der Verweigerung aus
Gewissensgründen betrifft in der polnischen Rechtspraxis folgende gesundheitsfördernde
Leistungen: die Ausstellung einer Bescheinigung über den Gesundheitszustand einer
Patientin, der zur Vornahme der Schwangerschaftsunterbrechung berechtigt, die Abtreibung,
andere Behandlungen aus dem Bereich der genetischen Ingenieurkunst und der künstlichen
Befruchtung, pränatale Untersuchungen sowie die Verordnung der
Schwangerschaftsverhütungsmittel.1214
Die Bestimmung des Umfangs des Verweigerungsrechts des medizinischen Personals, hängt
in Grenzfällen von der Auslegung des Rechtsbegriffs der gesundheitsfördernden Leistung ab.
Wenn bei der Auslegung des Begriffs „eine gesundheitsfördernde Leistung zu erbringen“ auf
die persönliche Handlung abgestellt wird, muss angenommen werden, dass etwa die
Ausstellung des Rezeptes oder Überweisung aus dem Schutzbereich des Verweigerungsrechts
1212
J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 152; L. Kubicki,
Sumienie lekarza jako kategoria prawna, in: PiM, Nr. 4, 2003, S. 5. 1213
Ustawa o zakładach opieki zdrowotnej, Dz. U. von 1991, Nr. 91, poz. 408, mit späteren Änderungen. 1214
M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 194; J. Haberko, Sumienie medycyny i
litera prawa w obronie życia i zdrowia ludzkiego, in: J. Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk, Lege artis.
Problemy prawa medycznego, Poznań 2008, S. 21.
311
ausgeschlossen ist.1215
Daraus folgt z.B., dass ein gläubiger Katholik mit Hinweis auf sein
Gewissen nicht verweigern darf, rezeptpflichtige Schwangerschaftsverhütungsmittel
vorzuschreiben. Freilich könnte er dies wegen der medizinischen Indikationen in einem
individuellen Fall tun, nicht aber mit der allgemeinen Begründung, dass er zutiefst davon
überzeugt ist, dass die zum Verkehr zugelassenen Mittel gravierende Nebenwirkungen für alle
Patienten haben. Wenn im gegebenen Fall individuelle Gegenindikationen nicht vorhanden
sind, soll die endgültige Entscheidung über die Anwendung bestimmter Mittel dem
betroffenen Patienten überlassen werden.1216
Die Berechtigung auf Zugang zu den
zugelassenen Schwangerschaftsverhütungsmitteln ergibt sich aus Art. 2 des Gesetzes über die
Familienplanung, den Schutz des menschlichen Fötus und die Voraussetzungen der
Schwangerschaftsunterbrechung. Wenn dagegen der Rechtsbegriff „gesundheitsfördernde
Leistung“ weit ausgelegt würde, könnte die Verschreibung der
Schwangerschaftsverhütungsmittel als eine Handlung subsumiert werden, welche der
Prophylaxe (das Vermeiden von Leiden) oder Bewahrung und Verbesserung der Gesundheit
durch rationale Familienplanung dienen. Die Gesundheit wird dabei nicht nur als
Nichtvorliegen einer Krankheit, sondern auch als allgemeines Wohlergehen auf der
physischen, psychischen und sozialen Ebene verstanden. Demzufolge wäre in diesem Fall die
Möglichkeit der Berufung des Arztes auf Gewissensklausel zu bejahen.1217
Als eine Vergleichsregelung seien die Bestimmungen des polnischen Kodexes der Arztethik
erwähnt: Art. 7 sieht das Recht des Arztes vor, in begründeten Fällen die Heilung abzulehnen.
Art. 7 ist allerdings im Zusammenhang mit Art. 4 des Kodexes zu lesen, wonach der Arzt zu
den Handlungen nicht gezwungen werden darf, die mit Errungenschaften der modernen
Wissenschaft nicht vereinbar sind oder gegen sein Gewissen, d.h. gegen seine
weltanschaulichen, religiösen und moralischen Überzeugungen verstoßen. Der aus dem
Kodex der Arztethik entnommene Begriff „Heilung“ hat im Vergleich zum gesetzlichen
Begriff der gesundheitsfördernden Leistung einen engeren Umfang. Gemäß dem geltenden
Recht ist eine Auslegung vertretbar, wonach der Arzt berechtigt ist, etwa die Verschreibung
eines Schwangerschaftsverhütungsmittels oder die Erstellung einer Bescheinigung, dass die
Voraussetzungen eines erlaubten Schwangerschaftsabbruchs vorliegen, aus
1215
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 554. 1216
K. Szewczyk, Bioetyka. Medycyna na granicach życia, Warszawa 2009, S. 219: E. Zielińska, Ustawa o
zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 557. 1217
Ebenda, S. 216ff., J. Haberko, Sumienie medycyny i litera prawa w obronie życia i zdrowia ludzkiego, in: J.
Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk, Lege artis. Problemy prawa medycznego, Poznań 2008, S. 27f.
312
Gewissensgründen zu verweigern, während diese Verweigerungsfälle durch den Kodex der
Arztethik eindeutig nicht gedeckt sind. De lege ferenda wird postuliert, dass die
Harmonisierung beider Normsysteme in Richtung der außerrechtlichen Regelung des
Kodexes der Arztethik vorgenommen werden soll; der sachliche Gegenstand der
Gewissensklausel soll somit verengt werden.1218
Darüber hinaus wird vertreten, dass die Berufung auf Gewissensklausel im Gewissen des
Arztes ein moralisches Dilemma hervorrufen soll. Auf der Waageschale liegt nämlich das
Recht der Patientin auf Entscheidung, ob sie das Kind zur Welt bringen soll, obwohl etwa ein
schweres und irreversibles Defekt des Fötus vorliegt oder die Schwangerschaft als Folge einer
Straftat eingetreten ist.1219
Dieser quasi materialrechtlichen Voraussetzung der
Inanspruchnahme der Gewissensklausel muss allerdings die (falsche) Annahme
zugrundeliegen, dass der Mensch außer seinem Gewissen über einen anderen dem Gewissen
übergeordneten Mechanismus der Selbstkontrolle – ein „Metagewissen“ verfügt. Wenn der
Arzt davon ausgeht, dass eine gesundheitsfördernde Leistung moralisch „böse“ ist, nimmt er
an, dass ihre Durchführung generell, also auch im Fall eines konkreten Patienten unzulässig
ist. Die zweite Waageschale, auf der die Rechte und Interessen des betroffenen Patienten
liegen, ist somit nicht ersichtlich.1220
2.4. Der Schutzbereich der Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen
Das Verweigerungsrecht, an der Abtreibung teilzunehmen, wurde bereits unter Geltung der
Verfassung von 1952 von dem Verfassungsgerichtshof1221
anerkannt. Es ist dabei zu betonen,
dass sich der Verfassungsgerichtshof mangels einer gesetzlichen Grundlage für das
Verweigerungsrecht der Abtreibung unmittelbar auf den die Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit regelnden Art. 82. Verf. berufen hat. Er betrachtet somit das
Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen als eine Ausübungsmodalität der weit
auszulegenden Gewissensfreiheit. Bemerkenswert ist auch der von dem
Verfassungsgerichtshof angenommene weite Schutzbereich des Verweigerungsrechts der
1218
E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 28. 1219
A. Wojciechowska-Nowak, Etyczno-prawne aspekty korzystania przez lekarza z klauzuli sumienia
(seminarium – Wydział Prawa i Administracji UW. 13.III.2000), in: PiP, Nr. 7, 2002, S. 97. 1220
M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 194f. 1221
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 15.01.1991 U 8/90, OTK 1991 Nr. 1 poz. 8; vgl. die
gleichlautende Entscheidung des spanischen Verfassungstribunals STC 53/1985 von 18.04.1985, BOE von
18.05.1985.
313
Abtreibung aus Gewissensgründen, der nicht auf die Durchführung des
Schwangerschaftsabbruchs beschränkt wird, sondern auch beinhaltet die Verweigerung, eine
Bescheinigung über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs auszustellen.
Dem Verfassungsgerichtshof ist nicht nur deswegen zuzustimmen, dass er von der weiten
Auslegung der Gewissensfreiheit als ein selbständiges Grundrecht ausgeht, das dem
Einzelnen das allgemeine Recht verleiht, gemäß seinen moralischen Grundsätzen zu leben.
Die angeführte Entscheidung trägt auch der Tatsache Rechnung, dass die Position des
Verweigerers in der Axiologie der Verfassung verankert ist. Sie findet nämlich ihre
Rechtfertigung in dem verfassungsrechtlich verankerten Schutz des ungeborenen Lebens. Der
Arzt, der die Schwangerschaftsunterbrechung ablehnt, kämpft nämlich nicht nur um die
Bewahrung eigener Identität, sondern auch tritt für die in der Verfassung zum Ausdruck
gebrachten Werte (Recht auf Leben) ein. Die Verweigerung aus Gewissensgründen im
Allgemeinen hat neben der individuellen auch die soziale Dimension, die im Fall der
Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen besonders deutlich zur Erscheinung
tritt. Es liegt nämlich im Interesse des Gemeinwesens, das medizinische Personal vor
Verletzungen der Gewissensfreiheit zu schützen, weil es für dasjenige Allgemeingut besorgt
ist, das einen fundamentalen Wert jedes Gemeinwesens und jeder Zivilisation darstellt.1222
Aus diesem Grund wird die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen im
sptanischen Schrifttum manchmal als eine Verweigerung aus Legalitätsgründen (objeción de
legalidad) bezeichnet.1223
Aus der Verankerung der Rechtfertigung der Verweigerung der
Abtreibung aus Gewissensgründen in der Axiologie der Verfassung wurde sogar geschlossen,
dass der Konflikt zwischen dem Recht der Schwangeren auf die legale medizinische
Leistungen und dem Recht des Verweigerers zugunsten des letzteren zu lösen ist,1224
wenn
das Leben und Gesundheit der Patientin nicht bedroht wird. Der Staat soll allerdings
organisatorische Vorkehrungen treffen, damit die Situation, in der eines der beiden Rechte
aufzuopfern wäre, vermieden wird.1225
1222
R. Navarro- Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario
de Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 268. 1223
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 96; R. Navarro-Valls, Las
objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993, S. 515f. 1224
R. Navarro- Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario
de Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 268. 1225
A. M. Garcia, La objeción de conciencia en la interrupción voluntaria del embarazo, in: Revista Juridica de
Catalunya, Nr. 2, 1987, S. 258.
314
Die Durchführung der Abtreibung umfasst freilich nicht nur die auf den
Schwangerschaftsabbruch unmittelbar führende Behandlung, sondern auch eine Kette der
verschiedenartigen vorherigen und nachhaltigen Hilfstätigkeiten, die in Handlungen
medizinischer sowie administrativer und sonstiger Natur eingeteilt werden können. Deshalb
ist zu prüfen, welche dieser Tätigkeiten zum Gegenstand der Verweigerung aus
Gewissensgründen werden können.
Nach einer Meinung sind die mit der Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs
verbundenen Handlungen auf vorbereitende und nachträgliche Aktivitäten und zwar
unabhängig von ihrem Charakter aufzuteilen. Die vorbereitenden Aufgaben werden nach
dieser Auffassung durch das Recht auf Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen
gedeckt, von dem nicht nur das medizinische Personal, sondern auch andere Angestellten der
Gesundheitsanstalten Gebrauch machen können. Dagegen bleiben nachträgliche Handlungen
– etwa die medizinische Betreuung einer Patientin nach der Abtreibungsoperation durch die
Gewissensfreiheit nicht geschützt.1226
Die Aufteilung der die Schwangerschaftsunterbrechung
begleitenden Handlungen auf vorbereitende und nachträgliche erfolgt gemäß diesem Ansatz
ohne Berücksichtigung ihres sachlichen Charakters Dies hat zur Folge, dass sich der
grundrechtliche Schutzbereich nicht nur auf medizinische, sondern auch auf administrative
und technische Handlungen erstreckt, welche nur einen indirekten Zusammenhang mit der
Schwangerschaftsunterbrechung aufweisen. Eine solche Ausweitung des Schutzbereichs der
Gewissensfreiheit lässt sich aber nicht begründen. Problematisch ist auch die Affassung,
wonach der Arzt, welcher sich die Erbringung einer gesundheitsfördernden Leistung weigert,
verpflichtet sein soll, die im Verhältnis zur verweigerten Handlung vorherigen und
nachträglichen Leistungen durchzuführen. Diese Lösung soll insbesondere im Notfall
gelten.1227
Wenn außer Zweifel steht, dass die Berufung auf Gewissensfreieit in
Notfallsituationen wegen der Grundrechtsschranken nicht rechtsmäßig erfolgen kann, sind
diejenigen vorbereitenden Handlungen, welche mit der Durchführung der Abtreibung
hinreichend unmittelbar verbunden sind, von dem grundrechtlichen Schutz ausgeschlossen.
1226
A. Ruiz Miguel, El aborto, problemas constitucionales, Madrid 1989, S. 117; S. Sieira Mucientes, La
objeción de conciencia sanitaria, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007,
S. 58; J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floria, La libertad
religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 291. 1227
J. Rivera-Flores, I. Acevedo-Medina, Objeción de conciencia y el anestesiólogo, in: Revista Mexicana de
Anestesiología, Vol. 32, Suplemento 1, abril-junio, 2009, S. 157.
315
Die beiden Meinungen zeigen, dass die Bestimmung des Schutzbereichs der
Gewissensfreiheit hinsichtlich der Abtreibung mit Hilfe der chronologischen Aufteilung der
mit der Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs verbundenen Aufgaben ohne
Berücksichtigung ihres sachlichen Charakters nicht möglich ist. Die gesundheitsfördernden
Leistungen, deren Erbringung unter Berufung auf die Gewissensklausel des Art. 39 des
Gesetzes über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes vom medizinischen Personal
verweigert werden kann, müssen deshalb zuerst von administrativen und sonstigen
technischen Tätigkeiten abgehoben werden. Die letzten haben in der Regel lediglich einen
organisatorischen Charakter und werden nicht vom medizinischen Personal verrichtet. Zu den
administrativen Tätigkeiten gehört etwa die Aufnahme der Patientin in die Klinik,
Archivierung ihrer medizinischen Dokumentation etc. Die technischen Aufgaben umfassen
etwa den Tronsport- oder Küchendienst. Da beide Tätigkeitsbereiche im Hinblick auf die
Schwangerschaftsunterbrechung nur einen mittelbaren Charakter haben, kann ihnen keine
Gewissensrelevanz und konsequenterweise kein grundrechtlicher Schutz der
Gewissensfreiheit zugeschrieben werden.1228
Vertretbar ist allerdings in diesem Zusammeng
die Meinung Escobar Rocas, der auf die Besonderheit des Aufgabenbereichs des Direktors
einer Anstalt, in der Abtreibungen vorgenommen werden, hinweist. Der zitierte Autor betont
nämlich eine enge Verbindung der Verwaltungsaufgaben des Direktors mit der Durchführung
der Schwangerschaftsabbrüche, was in diesem Fall die Bejahung des grundrechtlichen
Schutzes rechtfertigen soll. Wenn aber der Direktor von der Gewissensklausel Gebrauch
macht, ist seine Versetzung in eine andere Abteilung verhältnismäßig.1229
Es muss allerdings
berücksichtigt werden, dass die Gewissensfreiheit des Leiters der öffentlichen Klinik, der sich
weigern würde, die legale Durchführung der Abtreibung in der von ihm verwalteten Anstalt
zu organisieren, ihre Grenzen in dem Recht der Patientin findet, die legale Behandlung zu
bekommen. Diesem Recht entspricht die Pflicht der öffentlichen Klinik, derartige
Behandlungen anzubieten. Darüber hinaus wird die Position des Verweigerers durch einen
freiwilligen Abschluss seines Arbeitsvertrages geschwächt.1230
1228
M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de
Derecho, Band 21, 2003, S. 106; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española,
Madrid 1993, S. 383; I. M. Sanchis, La Objeción de Concienica, I. España, in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floria,
La libertad religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 290. 1229
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 383f. 1230
S. Sieira Mucientes, La objeción de conciencia sanitaria, in: I. Sancho Gargallo, Objeción de conciencia y
función pública, Madrid 2007, S. 60.
316
Die chronologische Aufteilung der mit der Abtreibung zusammenhängenden Aufgaben
erweist sich jedoch als hilfreich für die Darstellung des Schutzumfangs der Gewissensfreiheit
im Hinblick auf medizinische Tätigkeiten. Daraus ergibt sich folgende Differenzierung:
a) Die vorbereitenden Handlungen umfassen vor allem die Teilnahme der Ärzte an der
Ausstellung der Bescheinigungen sowie die Beratung der Schwangeren zu medizinischen,
psychologischen und sozialen Aspekten der Abtreibung. Es ist durchaus möglich, dass
derartige Tätigkeiten tiefgreifende Gewissenskonflikte bereiten können, sodass ihre
Einbeziehung in den Schutzbereich des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen
gerechtfertigt ist.1231
Andererseits kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige Gegner der
Abtreibung keine Gewissensbedenken hinsichtlich der Durchführung der Informations- und
Beratungstätigkeiten hegen. Automatischer Ausschluss der Abtreibungsverweigerer aus der
Informations- und Beratungsphase scheint somit theoretisch nicht notwendig zu sein. Es ist
aber zu befürchten, dass in diesem Fall die Erfüllung dieser Aufgaben nicht neutral erfolgen
würde, was im Ergebnis zur Beeinträchtigung der Rechte der Schwangeren auf die
Abtreibung führen könnte. Der Ausschluss der Verweigerer von der Teilnahme an der
Vorbereitungsphase ist somit nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten.1232
In diesem Zusammenhang taucht auch die Frage auf, ob ein Facharzt eine fachliche
Untersuchung mit Verweis auf sein Gewissen verweigern kann. Einerseits könnte die
medizinische Urkunde, welche das Vorliegen der mittels der Untersuchung festgestellten zur
Abtreibung berechtigenden Tatsachen bescheinigt, nur als Feststellung objektiver Umstände
aufgefasst werden. Der Verfassungsgerichtshof 1233
hat allerdings angenommen, dass sich
eine solche Bescheinigung auf die Diagnose, welche auf medizinischen Kenntnissen basiert,
nicht beschränkt. Ihr wohnt auch ein wertendes Element inne: der Arzt muss nämlich zu der
Frage Stellung nehmen, ob die Fortsetzung der Schwangerschaft unter Umständen das Leben
oder die Gesundheit der Patientin gefährden kann, oder ob die festgestellte oder glaubhaft
gemachte Beschädigung des Embryos als irreversible und schwere Beschädigung oder
lebensgefährdende Krankheit qualifiziert werden soll. Dieses bewertende Element kann aber
durch die Weltanschauung des Arztes dahingehend bestimmt werden, dass die Einbuße an
Objektivität der Bescheinigung zu befürchten ist. Es ist dabei in Betracht zu ziehen, dass die
1231
M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de
Derecho, Band 21, 2003, S. 116. 1232
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 384 – 385. 1233
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 15.01.1991, U 8/90, OTK 1991, S. 134.
317
Bescheinigung des Arztes über das Vorliegen der die Abtreibung ermöglichenden
Voraussetzungen für die Durchführung dieser Behandlung entscheidende Bedeutung hat. Der
Arzt, welcher den Schwangerschaftsabbruch vornimmt, darf nämlich nicht die Diagnose des
Facharztes in Frage zu stellen. Es ist daher mit dem Verfassungsgerichtshof anzunehmen,
dass sich der Verweigerer auf die Überweisung der Patientin zur Fachuntersuchung und zur
Benennung des Gesundheitszentrums beschränken soll, wo die Patientin die von ihm
verweigerte Untersuchung bekommen kann.1234
b) Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs: Der Zwang auf Ärzte und andere Mitglieder
des medizinischen Personals, an einem Schwangerschaftsabbruch aktiv teilzunehmen, würde
den Kernbereich des Grundrechtes der Gewissensfreiheit verletzen. Hier zählen nicht nur die
Tätigkeiten, welche unmittelbar zum Erfolg führen, sondern auch diejenigen, welche als
indirekte Mitarbeit die Erreichung des vorgenommenen Zieles fördern und ermöglichen wie
z.B. die Patientin anästhesieren, den Tropf legen oder ihren Gesundheitszustand während der
Behandlung zu kontrollieren.1235
c) Die nachträglichen Tätigkeiten: Ein Mitglied des medizinischen Personals kann sich
dagegen auf Gewissensfreiheit nicht berufen, um die nachträgliche Behandlung einer
Patientin zu verweigern. Dies ist damit zu begründen, dass einerseits das Leben des Fötus
nicht mehr existiert, andererseits hat die Patientin das Recht auf adäquate Behandlung nach
der legal durchgeführten Abtreibung.1236
Was den persönlichen Schutzbereich angeht, ist anzunehmen, dass das Verweigerungsrecht
nicht nur demjenigen Arzt (und sonstigen Personalmitgliedern) zusteht, in deren
Arbeitsverträgen die Ausführung der Abtreibung zu seinem Aufgabenbereich nicht explizit
zugerechnet wurde. Zum Genuss dieses Rechts kommen auch Ärzte, die sich zur
Durchführung der Abtreibung freiwillig verpflichtet haben. Die jeweilige Konkretisierung der
Aufgaben eines Arztes im Arbeitsvertrag ist somit für den subjektiven Schutzbereich des
Rechts auf Abtreibungsverweigerung aus Gewissensgründen ohne Belang. In diesem Fall
1234
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 558f. 1235
M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de
Derecho, Band 21, 2003, S. 114. 1236
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 385; M. Cebría
García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de Derecho, Band
21, 2003, S. 115.
318
verursacht jedoch die Ausübung des Grundrechts die Haftung wegen Nichterfüllung der
Arbeitspflichten.
2.5. Das Verfahren der Inanspruchnahme der Gewissensklausel
Der Gesetzgeber macht die Berufung auf die Gewissensklausel von der Erfüllung einiger
formalen Voraussetzung abhängig, im Fall deren Verletzung die Berufung auf
Gewissensklausel nicht rechtsmäßig erfolgt.1237
Die Betonung der formalen Voraussetzungen
der Inanspruchnahme der Gewissensklausel begründet sich damit, dass in Polen keine
homogene Praxis in diesem Bereich zu verzeichnen ist: sie werden in vielen Fällen willkürlich
nicht erfüllt, was u.U. zivilrechtliche Haftung des Arztes auslösen kann.1238
Dem Verweigerer obliegt zuerst, seinem Vorgesetzten eine schriftliche Benachrichtigung
einzureichen, in der er mitteilen soll, dass er die Absicht hat, das Verweigerungsrecht
auszuüben. Im Bezug auf die Ärzte gilt diese Pflicht, wenn der Betroffene in einem Arbeits-,
oder Dienstverhältnis ist. Der Arzt ist dabei verpflichtet, seine Erklärung zu begründen. Diese
Pflicht hat in der Lehre interpretatorische Zweifel hervorgerufen: es erhebt sich nämlich die
Frage, in welchem Zeitpunkt die Mitteilung zu erfolgen ist, sowie ob sie den generellen
Charakter (d.h. der Arzt erklärt, dass er bestimmte gesundheitsfördernde Leistungen in jedem
Fall nicht erbringen wird) oder den individuellen (fallbezogenen) Charakter haben soll. Der
Gebrauch des Plurals im Gesetzestext im Bezug auf die Verweigerung der
gesundheitsfördernden Leistungen legt den generellen Charakter der ärztlichen Erklärung
nahe. Dagegen lässt die andere Pflicht des Arztes, den Patienten zu informieren, wo er die
Möglichkeit hat, die verweigerte Leistung (Singular!) zu bekommen, auf den individuellen
Charakter der ärztlichen Erklärung seinen Vorgesetzten gegenüber schließen.1239
Trotz des
Wortlauts des Gesetzes, wonach sich der Arzt von gesundheitsfördernden Leistungen
1237
J. Niklas, Problematyka prawna dostępu do zabiegów przerwania ciąży oraz badań prenatalnych, in: Prawo i
Medycyna pl,
http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=196&PHPSESSID=28110c71704ca4550a
(29.12.2010) 1238
A. Wojciechowska-Nowak, Etyczno-prawne aspekty korzystania przez lekarza z klauzuli sumienia
(seminarium – Wydział Prawa i Administracji UW. 13.III.2000), in: PiP, Nr. 7, 2002, S. 98f. 1239
A. Zoll, Prawo lekarza do odmowy udzielenia świadczeń zdrowotnych i jego granice, in: PiM, Nr. 13, 2003,
S. 24; J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 152 die Fußnote.
Zielinska hat den allgemeinen Charakter der Mitteilung mit Rechtswirkungen pro futuro angenommen. Siehe: E.
Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 559.
319
enthalten darf, welche mit seinem Gewissen unvereinbar sind, kann angenommen werden,
dass sich die Gewissensklausel auf eine konkrete Situation und ein konkretes Verhältnis
zwischen dem Arzt und dem Patienten bezieht.1240
Darüber hinaus präzisiert das Gesetz nicht,
dass die Mitteilung der Gewissensentscheidung dem unmittelbaren Vorgesetzten gegenüber
erfolgen soll. Daher ist anzunehmen, dass in einem Krankenhaus diese Pflicht gegenüber dem
Oberarzt der Krankenhausabteilung oder dem Direktor des Krankenhauses erfüllt werden
kann. In den Gesundheitsanstalten (öffentlichen und nichtöffentlichen) erfolgt die Mitteilung
dem Leiter der Anstalt gegenüber. Im Fall des Dienstverhältnisses oder Einberufung zum
Militärdienst ist die Verweigerung demjenigen Vorgesetzten zu erklären, dem der Betroffene
unterliegt.1241
Die Pflicht des Arztes, über die verweigerten gesundheitsfördernden Leistungen zu
benachrichtigen, hat zum Zweck, dass der Vorgesetzte entsprechende Vorkehrungen auf der
Ebene der Anstellungspolitik und Arbeitsorganisation trifft, damit die Rechte und Interessen
der Patienten gesichert werden.1242
Gemäß Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes über die
Familienplanung haben die Organe der Regierungsverwaltung und Selbstverwaltung die
Pflicht, die der bewussten Familienplanung dienenden Methoden und Mittel zugänglich zu
machen. Diese Vorschrift bildet somit die Rechtsgrundlage für die entsprechende
Berechtigung der Patienten. Die Zugänglichkeit hat dabei technische, wirtschaftliche und
faktische Dimension und bezieht sich auf alle in Polen zugelassenen Mittel. Die genannten
Organe haben die Pflicht, festzustellen, ob in den öffentlichen Gesundheitsanstalten die
genügende Zahl der Ärzte angestellt ist, die von der Gewissensklausel keinen Gebrauch
machen wollen.1243
Daraus ergibt sich, dass wenn die durch das Gesetz über die Berufe des Arztes und des
Zahnarztes vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind, entsteht das subjektive Recht der Frau
auf die Abtreibung. Deswegen ist die Abgabe durch eine öffentliche Anstalt einer allgemeinen
Erklärung, dass sie diese Leistung verweigert, als rechtswidrig anzusehen.1244
Eine solche
1240
A. Dyszlewska-Tarnowska, in: L. Ogiegło, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty, Warszawa 2010,
S. 341. 1241
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 542f. 1242
Ebenda, S. 559; dieselbe, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 31; M. Cebría García, La objeción de
conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de Derecho, Band 21, 2003, S. 112. 1243
E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 27. 1244
J. Niklas, Problematyka prawna dostępu do zabiegów przerwania ciąży oraz badań prenatalnych, in: Prawo i
Medycyna pl,
320
Erklärung würde die Möglichkeit der Feststellung der Umstände (unmittelbare Gefahr für das
Leben und Gesundheit des Patienten, andere Dringlichkeitsfälle) ausschließen, in welchen die
Pflicht entsteht, die Abtreibung durchzuführen, und welche die Berufung des Arztes auf
Gewissensklausel rechtswidrig machen.1245
Zum anderen setzt eine solche Erklärung das
Vorhandensein einer dem polnischen Recht unbekannten Kategorie eines kollektiven
Gewissens voraus. Darüber hinaus schafft die kollektive Verweigerung die Möglichkeit, auf
Nichtverweigerer Druck auszuüben, was sich mit der Freiheit der Selbstbestimmung nicht
vereinbaren lässt.1246
Der Arzt, welcher sich auf die Gewissensklausel beruft, ist ebenfalls verpflichtet, den
Patienten über eine reale Möglichkeit der Erhaltung der verweigerten medizinischen Leistung
bei einem anderen Arzt oder in einer anderen Gesundheitsanstalt zu informieren. Die
Auferlegung den verweigernden Ärzten von dieser Pflicht ist allerdings umstritten: Zum einen
wird darauf hingewiesen, dass die Auferlegung der Informationspflicht mit Herbeiführung
einer indirekten Gewissenszwangssituation gleichsteht und deshalb als Verletzung der
Gewissensfreiheit durch den Gesetzgeber einzustufen ist.1247
Zum anderen setzt die
sachgemäße Erfüllung dieser Pflicht voraus, dass der Arzt zuerst nachforschen soll, wo der
Patient die von ihm verweigerte Leistung bekommen kann.1248
Vom Arzt wird gefordert, dass
er immer aktualisierte Kennnisse über Tätigkeitsbereiche anderer Ärzte und
Gesundheitsanstalten unter Berücksichtigung der Fragen der Erstattung der Kosten durch den
Nationalen Gesundheitsfond hat. Die Erfüllung dieser Informationspflicht ist daher ohne eine
Systemlösung schwer erfüllbar.1249
Aus diesem Grund wurde die Informationspflicht als
unrealistisch mit der Begründung bewertet, dass der in einer Privatpraxis berufstätige Arzt
http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=196&PHPSESSID=28110c71704ca4550a
(29.12.2010); M. Nesterowicz, Prawo medyczne, Toruń 2004, S. 197; M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg
medyczny, Toruń 2007, S. 197; siehe auch: M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje
constitucional, Anuario de la Facultad de Derecho, Band 21, 2003, S. 106, 121. 1245
A. Wojciechowska-Nowak, Etyczno-prawne aspekty korzystania przez lekarza z klauzuli sumienia
(seminarium – Wydział Prawa i Administracji UW. 13.III.2000), in: PiP, Nr. 7, 2002, S. 97. 1246
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S.560f; dieselbe,
Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 30. 1247
J. Pawlikowski, Prawo do wyrażania sprzeciwu sumienia przez personel medyczny – problemy etyczno-
prawne, http://www.incet.uj.edu.pl/dzialy.php?l=pl&p=32&i=3&m=22&z=0&n=2&k=5 ; A. Mezglewski, H.
Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 107. 1248
J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 153; L. Kubicki,
Sumienie lekarza jako kategoria prawna, in: PiM, Nr. 4, 2003, S. 6. 1249
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 546.
321
über die notwendige Information einfach nicht verfügt.1250
In diesem Zusammenhang hat
Zielińska vorgeschlagen, die Auskunftspflicht des Arztes mit der Mitwirkung seitens der
Gesundheitsanstalten und Krankenkassen zu verkoppeln.1251
Sie geht allerdings davon aus,
dass die Erteilung der Information über die Möglichkeit der Erhaltung der verweigerten
Leistung in der ersten Linie auf den Ärzten ruhen soll. Konsequenterweise konzentriert sie
sich auf die Sicherstellung, dass der verweigernde Arzt über die notwendigen Daten
tatsächlich verfügt. Nach ihrem Postulat sollen die Gesundheitsanstalt, wo der Verweigerer
angestellt ist, eventuell auch die Ombudsmänner der Patienten und Ärztekammer, verpflichtet
werden, diese Daten den Verweigerern bereitzustellen und zu aktualisieren.1252
Die zittierte
Autorin verkennt allerdings, dass die Auskunftspflicht des sich auf die Gewissensfreiheit
berufenden Arztes sein Gewissen schwerwiegend belasten kann.
Darüber hinaus wird vorgeschlagen, ein Register zu schaffen, in dem die sich auf
Gewissensklausel berufenden Ärzte und die von ihnen verweigerten gesundheitsfördernden
Leistungen eingetragen werden könnten. Ein solches Register könnte durch die Organe
geführt werden, welche über die Befähigung zur Berufsausübung entscheiden. Die
Eintragungspflicht hätte auch zum Zweck, dem Rechtsmissbrauch entgegenzuwirken, also der
Situation, wo sich ein Arzt in den staatlichen Anstalten die Gewissensklausel in Anspruch
nimmt und gleichzeitig die von ihm verweigerten Leistungen in den Privatkliniken
durchführt.1253
Zum Schluss ist der Arzt verpflichtet, einen Vermerk über die Inanspruchnahme des
Verweigerungsrechts mit der entsprechenden Begründung in den medizinischen Unterlagen
des Patienten einzutragen. Das Gesetz präzisiert dabei nicht genau, welchen Inhalt dieser
Vermerk haben soll. Offenkundig ist zuerst die Tatsache zu bescheinigen, dass die
Gewissensklausel in Anspruch genommen wird. Die grammatische Auslegung legt aber den
1250
K. Pawlikowska, Klauzula sumienia – rozważania prawno-moralne, in: Prawo i Medycyna pl.,
http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=176&PHPSESSID=28110c71704ca4550a
(29.12.2010). 1251
E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 30; zustimmend: M. Świderska, Zgoda pacjenta na
zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 197. 1252
E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 31. 1253
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 561; dieselbe,
Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 31f. Gegen die Einführung eines solchen Registers hat sich M.
Świderska ausgesprochen, die meint, dass diese „Bücher der moralischen Entscheidungen“ zum
Druckinstrument innerhalb des medizinischen Berufskörperschaft würde und im Endeffekt zur Entscheidungen
gegen das eigene Gewissen führen könnte, um negative Reaktionen seitens der Kollegen zu vermeiden; siehe: M.
Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 196f, Fußnote 359.
322
Schluss nahe, dass es sich um den Vermerk handelt, dass der Informationspflicht über die
Zugänglichkeit der verweigerten Leistungen nachgegangen wurde. In der geforderten
Begründung soll der Arzt bescheinigen, dass er die Schranken der Gewissensfreiheit erwogen
und ausgeschlossen hat.1254
Die Begründung wäre somit mangelhaft, wenn sie lediglich einen
Hinweis auf das Gewissen des Arztes enthielte: die Berufung auf die Gewissensklausel ohne
die Gründe der Verweigerung ausführlicher anzugeben, könnte zum missbräuchlichen
Gebrauch der Gewissensfreiheit führen.1255
Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die
Inanspruchnahme der Gewissensklausel von keiner Anerkennung in einem Verfahren
abhängig gemacht wurde, deshalb ist von der Glaubwürdigkeit des Grundrechtsträgers
auszugehen.
Die Nichterfüllung der Mitteilungspflicht des Vorgesetzten, der Informationspflicht des
Patienten und der Vermerkpflicht über die Ausübung der Gewissensfreiheit in den
medizinischen Dokumenten des Patienten ist mit keiner speziellen Sanktion versehen. In
diesem Fall kommen allgemeine arbeitsrechtliche Konsequenzen sowie die Sanktionen, die
sich aus Berufshaftung des Arztes kraft des Gesetzes über die Ärztekammer, sowie aufgrund
der jeweiligen Dienstordnung in Frage.
Der polnische Gesetzgeber hat die Ausübung der Gewissensfreiheit auch an keine zeitlichen
Voraussetzungen gebunden. Wegen der Veränderbarkeit des Gewissensinhalts kann die
Gewissensentscheidung gegen die Abtreibung in jeder Zeit getroffen und widerrufen werden.
Es ist somit auch die Möglichkeit der nachträglichen Verweigerung zu bejahen. Dabei ist
nicht relevant, ob der Rechtsträger zur Vornahme der Abtreibungen aufgrund seines
Arbeitsvertrags verpflichtet ist, oder, dass er früher Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt
hat. In diesem Zusammenhang ist nicht auszuschließen, dass die Gewissensentscheidung auch
im Moment getroffen werden kann, wenn eine Frau zur Behandlung erscheint. Dies kann u.U.
zu schwerwiegenden praktischen Problemen führen. Deswegen ist dem Verweigerer
zuzumuten, seine Gewissensposition unverzüglich mitzuteilen, damit die Patientin
rechtszeitig einen anderen Arzt aufsuchen kann. Außerdem kann die Verwaltung eines
Krankenhauses oder Klinik von einer Vermutung ausgehen, dass die Gewissensentscheidung
1254
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 562. 1255
K. Pawlikowska, Klauzula sumienia – rozważania prawno-moralne, in: Prawo i Medycyna pl.,
http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=176&PHPSESSID=28110c71704ca4550a
(29.12.2010).
323
fortbesteht, solange sie nicht ausdrücklich widerrufen ist bzw. solange sich nicht herausstellt,
dass der in einer staatlichen Anstalt angestellte Verweigerer in einer privaten Praxis
Abtreibungen vornimmt. Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen gilt als
widerrufen, wenn festgestellt wurde, dass ein Arzt oder ein anderes Mitglied des
medizinischen Personals an der Behandlung freiwillig teilgenommen hat. Dies ist allerdings
nicht eindeutig in einem Fall, wo das Leben der Mutter bedroht ist.
Das Schweigen des Gesetzgebers in dieser Hinsicht hat zur Folge, dass die Verweigerung
jederzeit, d.h. auch im engen zeitlichen Zusammenhang mit der bevorstehenden Behandlung
erklärt oder widerrufen werden kann. Die freie Verfügung des Berechtigten über das
Verweigerungsrecht kann nicht nur zu Störungen in Funktionsfähigkeit der
Gesundheitsanstalten führen; das Fehlen der Klarheit in diesem Bereich kann sich auch auf
die Position der Patientin auswirken.1256
Die Präzisierung der zeitlichen Aspekte der
Inanspruchnahme der Gewissensklausel würde mehr Klarheit und Sicherheit für die Patienten
verschaffen. In diesem Zusammenhang verdient die Aufmerksamkeit die italienische
Regelung, wonach die Ausübung des Verweigerungsrechts von der Erfüllung der zeitlichen
Anforderungen an die Abgabe der Erklärung der Verweigerung abhängig gemacht wird.
Danach ist die Erklärung innerhalb eines Monats nach Anstellung in einer zur Vornahme der
Schwangerschaftsabbrüche berechtigten Anstalt an den Provinzialarzt sowie an den Direktor
der betroffenen Gesundheitsanstalt zu richten. Falls die Verweigerung aus Gewissensgründen
widerrufen wurde und nach einem Widerruf wiederum eintritt, erlangt die erneut gestellte
Erklärung erst nach Ablauf von einem Monat Geltung.1257
Die erwähnte Lösung könnte dem
polnischen Gesetzgeber als Modell dienen.
Die Inanspruchnahme der Gewissensklausel wird allerdings – auch in zeitlicher Hinsicht –
durch Art. 30 des Gesetzes über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes beschränkt, der die
Problematik der Schranken der Gewissensfreiheit regelt. Danach ist der Arzt verpflichtet, den
Patienten medizinische Hilfe nicht nur im Fall der Gefahr für das Leben und Gesundheit,
sondern auch in jedem Dringlichkeitsfall zu leisten. Aus dieser Bestimmung entsteht für den
Arzt, welcher sich in konkreten Umständen auf die Gewissensklausel beruft, die Pflicht, das
Interesse der Patienten in möglichst schneller Erledigung ihrer Probleme zu berücksichtigen.
1256
J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: Sanchez, J. Navarro Floria, La libertad religiosa
en España y Argentina, Madrid 2006, S. 291. 1257
Art. 9 des italienischen Abtreibungsgesetzes (Legge 194/74 sull interruzione di gravidanza von 22.05.1978).
324
Da in jedem Fall des Schwangerschaftsabbruchs das medizinische Risiko der Behandlung für
die Schwangere mit dem Zeitablauf zunimmt, ist der Arzt verpflichtet, seine Verweigerung
der Patientin unverzüglich mitzuteilen. Die eventuelle Anwendung der Verzögerungstaktik,
insbesondere wenn sie die Überschreitung der gesetzlichen Fristen für die legale
Schwangerschaftsunterbrechung zur Folge hat, sodass ihre Durchführung nicht mehr erlaubt
ist (etwa im Fall der Abtreibungsmöglichkeit aus eugenischen Gründen, wo der Fötus die
Fähigkeit zum selbständigen Leben außer dem Organismus der Mutter erreicht hat), kann zur
zivilrechtlichen Haftung führen.1258
2.6. Das Diskriminierungsverbot der Verweigerer
Es wird vertreten, dass mit der Anerkennung durch die Rechtsordnung des
Verweigerungsrechts, eine gesundheitsfördernde Leistung aus Gewissensgründen zu
erbringen, die Organe des Gesundheitswesens berechtigt und verpflichtet sind, die
Verantwortung für die Einteilung der Aufgaben zwischen den in diesem Sektor angestellten
Personen zu übernehmen. Dies könnte unter anderen mit der Einführung bestimmter
Zulassungsvoraussetzungen zum Studium einiger Spezialisierungen und folglich zur
Anstellung in einigen Gebieten geschehen.1259
Dem wurde zu Recht entgegengehalten, dass
die Versuche, den Zugang zum Studium etwa der Frauenheilkunde oder Entbindungskunst
derjenigen Personen einzuschränken, deren Gewissen die Durchführung von Abtreibung oder
In-vitro-Fertilisation verbietet, eine Diskriminierung wegen der Weltanschaung darstellen
würde.1260
Die Gewissensfreiheit des Arztes soll aber mit den Ansprüchen der Patienten in
Einklang gebracht werden, deswegen stellt die Absage, einen Arzt in einem Ort anzustellen,
wo es schwierig wäre, ihm im Notfall zu ersetzen, keine Beeinträchtigung seiner Rechte
dar.1261
1258
E. Zielińska, Klauzula sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 29; dieselbe, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza
dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 556; Das Urteil des Obersten Gerichtshofes von 13.10.2005 IV CK
161/05, OSP 2006 von Juni, S. 328. 1259
D. Dooley, Conscientious refusal to assist with abortion, in: British Medical Journal, No 6955, Volume 309,
1994, S. 623. 1260
A. Aparisi Miralles, J. López Guzmán, El derecho a la objeción de conciencia en el supuesto de aborto. De la
fundamentación filosófico-jurídica a su reconocimiento legal, in: Persona y Bioética, Bd. 10, 2006, S. 49. 1261
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho
1984, S. 52.
325
Fraglich ist allerdings, unter welchen Umständen die Versetzung eines Verweigerers aus
organisatorischen Gründen in einen anderen Dienst möglich ist, ohne das Verbot der
Diskriminierung aus Gewissensgründen zu verletzen. In diesem Zusammenhang erweist sich
die Auseinandersetzung mit diesen Fragen in der spanischen Rechtsprechung für den
polnischen Rechtskontext besonders lehrreich. Der spanische Oberste Gerichtshof 1262
steht
auf dem Standpunkt, dass die Versetzung einer Krankenschwester, die abgelehnt hat, an der
Durchführung der Abtreibungen zusammenzuarbeiten, in eine andere Krankenhausabteilung
gegen die Religions- und Gewissensfreiheit nicht verstößt, wenn dadurch der berufliche
Status der Versetzten (kein Wechsel des Wohnsitzes und des anstellenden Krankenhauses,
keine Verminderung der Gehälter und anderer Rechte etc.) unverändert bleibt. Die
Argumentation der Beschwerdeführer, dass durch ihre Verweigerung an Abtreibungen
teilzunehmen ihre Widmung und Leistungsfähigkeit nicht gemindert ist, weil die mit der
Durchführung der Abtreibungen zusammenhängenden Handlungen lediglich einen kleinen
Teil ihrer Berufspflichten darstellen, wurde durch den Obersten Gerichtshof mit dem Hinweis
zurückgewiesen, dass die Schwangerschaftsabbrüche einen ordentlichen Bestandteil des
Krankenhausdienstes bilden und dass ihre Ablehnung zur Störung der Funktionsfähigkeit der
gynäkologischen Abteilung führen würde. Die Versetzung der technischen und sanitären
Hilfskräfte in einen anderen Dienst innerhalb desselben Krankenhauses stellt auch keine
diskriminierende Maßnahme dar. Dies wurde damit begründet, dass die Versetzung weder die
Änderung des Wohnortes und des Arbeitsplatzes der Verweigerer zur Folge hatte, noch sich
negativ auf ihre berufliche Kategorie und Belohnung auswirkte. Die eventuelle Repressalie
seitens des Arbeitgebers ist somit in diesem Fall nicht ersichtlich.1263
Nach gegenteiliger Ansicht ist der Arbeitgeber verpflichtet, statt den Verweigerer in eine
andere Abteilung zu versetzen, erforderliche Anpassungsmaßnahmen zu treffen, wenn die
abgelehnten Handlungen einen unwesentlichen Teil seiner Berufspflichten darstellen. Die
Versetzung stellt einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot wegen religiöser oder
ethischer Überzeugungen des Verweigerers dar, auch wenn sie keine Änderung im
beruflichen Status zu Ungunsten des Verweigerers mit sich bringt. Diese Maßnahme kann
u.U. als eine versteckte Repressalie angesehen werden, deshalb ist sie mit besonderem Ernst
und Vorsicht zu behandeln, um die Wirksamkeit der Schutzgarantien der Gewissensfreiheit zu
1262
Urteil 1987/18 von 20.1.1987. 1263
Urteil des spanischen Obersten Gerichtshofes (Tribunal Supremo) von 20. Januar 1987.
326
gewehrleisten, sowie dem Grundsatz des ideologischen Pluralismus das Genüge zu tun.1264
Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten, dass der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nur dann
vorliegt, wenn der differenzierenden Handlung eine objektive Begründung fehlt. In diesem
Fall ist aber das Diskriminierungsverbot mit der Pflicht der öffentlichen Gesundheitsanstalten
in Einklang zu bringen, nötige Vorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass die
Erbringung legaler medizinischer Leistungen unmöglich ist.1265
Die Möglichkeit der
Versetzung eines Verweigerers aus Gewissensgründen ist somit als eine Maßnahme der
Harmonisierung der Interessen des Arbeitgebers und Arbeitnehmers zu betrachten.
Insbesondere wenn sie zu keiner Veränderung des Rechtsstatus des Letzteren führt, ist ihre
Verhältnismäßigkeit nicht zu bezweifeln.
2.7. Schranken der Gewissensklausel im Bereich der Medizin
Nach Art. 30 des Gesetzes über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes darf der Arzt eine
gesundheitsfördernde Leistung nicht verweigern, wenn eine unmittelbare Gefährdung für das
Leben und Gesundheit des Patienten besteht sowie „in anderen Dringlichkeitsfällen“, die
nicht so gravierende Konsequenzen haben können. Der Arzt kann sich somit ex ante auf
Gewissensklausel nicht berufen, ohne zuerst geprüft zu haben, ob eine der in Art. 30 des
Gesetzes über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes genannten Situationen vorliegt, es sei
denn dass der Zustand des Patienten die genannte Gefahr eindeutig ausschließt.1266
Er wird
dabei von der Haftung für eventuelle Nichterfüllung seiner Pflicht auch im Fall nicht befreit,
auch wenn er auf eine andere reale Möglichkeit der Behandlung von einem anderen Arzt
hinweist, weil dies zu einem Verzug im Heilungsprozess führt.1267
Der Arzt darf auch nicht
verweigern, die Überweisung zu einer fachlichen Untersuchung unter Berufung auf seine
Gewissensüberzeugungen auszustellen, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt, dass die
Schwangerschaft eine Gefährdung für das Leben oder die Gesundheit der Patientin darstellt,
oder wenn die Patientin befürchtet, dass das Embryo beschädigt ist. Dies gilt insbesondere in
1264
Tribunal Superior de Justicia de Aragón, Urteil von 18.09.1991, zitiert nach: R. Navarro-Valls, Las
objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993 S. 517. 1265
J. Navarro Floria, Objeción de Concienica, II. Argentina, in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floria, La libertad
religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 291; M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su
encaje constitucional, Anuario de la Facultad de Derecho, Band 21, 2003, S. 120. 1266
K. Pawlikowska, Klauzula sumienia – rozważania prawno-moralne, in: Prawo i Medycyna pl.,
http://www.prawoimedycyna.pl/index.php?str=artykul&id=176&PHPSESSID=28110c71704ca4550a
(29.12.2010); M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 195; E. Zielińska, Klauzula
sumienia, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 30. 1267
M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 191.
327
dem Fall, wenn der Arzt weiß oder vermutet, dass sich die Patientin nach Feststellung dieser
Voraussetzungen für die legale Abtreibung entscheiden wird.1268
Die Gewissensfreiheit der Ärzte und des anderen medizinischen Personals ist somit dem
absoluten Gebot der Rettung des Lebens unterworfen.1269
Da in diesem Fall die Durchführung
der Abtreibung für die Abwendung der Gefahr für das Leben und Gesundheit der Patientin
unerlässlich ist, und deren Unterlassung zur Aufopferung dieser Rechtsgüter führen würde, ist
diese Rechtskollision mit der Gewissensfreiheit zugunsten der ersteren Rechtsgüter zu
lösen.1270
Man kann aber nach Escobar Roca annehmen, dass die ins Spiel kommenden
Rechtsgüter nicht graduierbar und dagegen abwägungsunfähig sind. Der zitierte Autor lässt
dagegen die Abwägung a posteriori zu, d.h. dass im Fall der Verweigerung der Durchführung
der Abtreibung trotz der unmittelbaren Bedrohung des Lebens der Mutter, die
Gewissensgründe bei der Strafzumessung berücksichtigt werden können.1271
In diesem Zusammenhang wird allerdings postuliert, dass die Berufung auf die
Gewissensfreiheit lediglich im Fall einer direkten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit
des Patienten ausgeschlossen werden soll; die bloße Möglichkeit der genannten Folgen sollte
dagegen kein ausreichender Grund darstellen, der die Einschränkung der
Grundrechtsbetätigung zu rechtfertigen vermag.1272
Darüber hinaus wird die gesetzliche
Erstreckung der Einschränkbarkeit der Gewissensklausel auf die „anderen
Dringlichkeitsfälle“ unter Berücksichtigung der kollidierenden Interessen als zu weitgehend
bewertet.1273
Dieser Ansicht ist allerdings mit Hinweis auf praktische Anwendung der
Gewissensklausel nicht anzunehmen: das Risiko für den Patienten, welche die Berufung auf
die Gewissensklausel mit sich bringt, besteht nicht darin, dass der Patient die medizinische
Leistung überhaupt nicht bekommt, sondern vielmehr darin, dass er diese Leistung nicht
rechtzeig bekommt.1274
Ein wichtiges Beispiel für das Vorliegen eines Dringlichkeitsfalles ist
1268
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 558; K.
Szewczyk, Bioetyka. Medycyna na granicach życia, Warszawa 2009, S.224f.. 1269
E. Zielińska, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty. Komentarz, Warszawa 2008, S. 554; L. Kubicki,
Sumienie lekarza jako kategoria prawna, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 5. 1270
M. Cebría García, La objeción de conciencia al aborto: su encaje constitucional, Anuario de la Facultad de
Derecho, Band 21, 2003, S. 120. 1271
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 387. 1272
J. Bujny, Prawa pacjenta. Między autonomią a paternalizmem, Warszawa 2007, S. 153; A. Zoll, Prawo
lekarza do odmowy udzielenia świadczeń zdrowotnych i jego granice, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 19f. 1273
A. Zoll, Prawo lekarza do odmowy udzielania świadczeń zdrowotnych i jego granice, in: PiM, Nr. 13, 2003,
S. 19; zustimmend: A. Mezglewski, H. Misztal, P. Stanisz, Prawo wyznaniowe, Warszawa 2008, S. 107. 1274
M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 195.
328
die Situation, in welcher notwendig ist, die pränatale Untersuchung rechtzeitig durchzuführen,
wenn das Risiko einer genethischen Krankheit des Fötus zu befürchten ist, um die gesetzliche
Möglichkeit der Abtreibung aus zeitlichen Gründen nicht zu vereiteln. Obwohl in diesem Fall
keine unmittelbare Gefahr für das Leben und Gesundheit der Patientin vorliegt, ist die Pflicht
des Arztes zu bejahen, die Überweisung zu einer solchen Untersuchung auszustellen.
Im Fall der Abtreibung aus eugenischen und kriminologischen Gründen ist dagegen zu
berücksichtigen, dass das Recht einer Frau auf Schwangerschaftsunterbrechung keinen
Anspruch umfasst, von einem bestimmten Arzt behandelt zu werden. Deshalb entsteht der
Konflikt zwischen der Gewissensfreiheit und dem Recht der Frau auf Abtreibung erst dann,
wenn kein Arzt zugänglich ist, der bereit wäre, die Behandlung durchzuführen. Aus diesem
Grund obliegt der medizinischen Verwaltung dafür zu sorgen, einen Arzt zur Verfügung zu
stellen, der keine Gewissensbedenken gegen die Schwangerschaftsabbrüche hat, um dadurch
die Entstehung der Konflikte zwischen der Gewissensfreiheit und dem Recht einer Frau auf
Schwangerschaftsunterbrechung möglichst zu vermeiden. Die besondere Rolle der
Verwaltung der Gesundheitsanstalten in der Vermeidung der Konflikte begründet sich damit,
dass der Zwang zur Vornahme einer Abtreibung gegen das Gewissen des Einzelnen einen
Eingriff in den Kernbereich der Gewissensfreiheit darstellt.1275
Andererseits kann die
Massenverweigerung der Abtreibung gekoppelt mit einer ungenügenden Funktionsfähigkeit
der Verwaltung, die die Überschreitung der gesetzlich vorgesehenen Fristen zur
Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs zur Folge hätte, dem Verweigerer nicht zum
Nachteil gereichen.
2.8. Die Gewissensfreiheit des medizinischen Personals und Arbeitsrecht
Für die Bestimmung der arbeitsrechtlichen Folgen der Verweigerung aus Gewissensgründen,
den Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, ist vor allem der Arbeitsvertrag maßgeblich. Es
ist nämlich zwischen den Verweigerern, die beim Arbeitsvertragsschluss die Durchführung
der Abtreibungen freiwillig übernommen haben, von denjenigen zu differenzieren, die eine
solche Verpflichtung ausdrücklich nicht eingegangen sind. Die nachträglichen Verweigerer
verlieren zwar die Möglichkeit der Ausübung der Gewissensfreiheit nicht, die vertragliche
1275
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 390 einschließlich
Fussnote 96.
329
Pflicht wirkt sich aber in der rechtlichen Qualifizierung der Entlassung aus.1276
Dabei ist
zwischen zwei Fallsituationen zu unterscheiden:1277
a) Der Arbeitsvertrag bestimmt explizit die Vertragspflicht des Arztes, Abtreibungen
durchzuführen. Im Fall der nachträglich eingetretenen Gewissensentscheidung gegen die
Abtreibung ist die Kündigung des Arbeitsvertrages zulässig und begründet, wenn der
Arbeitgeber bewiesen hat, dass es ihm unzumutbar ist, den Aufgabenbereich des
verweigernden Arztes zu modifizieren.
b) Der Arbeitsvertrag sieht keine ausdrückliche Pflicht vor, Abtreibungen vorzunehmen.
Wenn der Arbeitgeber von seinem ius variandi Gebrauch macht, indem er den
Aufgabenbereich eines Arztes oder eines anderen Mitglieds des medizinischen Personals
dahingehend ändert, dass er gegen sein Gewissen an Durchführung der Abtreibung
teilzunehmen hat, ist die Kündigung des Arbeitsvertrages in diesem Fall nicht begründet.
Dem Arbeitnehmer steht in diesem Fall der Anspruch auf Schadensersatz.
2.9. Fazit
Die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen wird nicht lediglich auf die mit der
Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs unmittelbar zusammenhängenden Handlungen
eingeschränkt. Sie umfasst auch die vorbereitenden Tätigkeiten, insbesondere die Anfertigung
der Dokumentation. Der Schutz der Gewissensklausel kann allerdings auf nachträgliche
Handlungen nicht erstreckt werden. Die Bedrohung des Lebens und Gesundheit der
Schwangeren stellt dabei eine unüberschreitbare Schranke des Verweigerungsrechts dar. Die
Ausdehnung der Schranken der Gewissensfreiheit auf den Fall der hypothetischen
Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Patientin würde allerdings den
grundrechtlichen Schutz zu weitgehend reduzieren, insbesondere wenn in Betracht gezogen
wird, dass dem Recht der Patientin i.d.R. die Pflichten der Gesundheitsanstalten und nicht der
konkreten Ärzte oder anderer Mitglieder des medizinischen Personals entsprechen. Es sollte
allerdings ein minimales Verfahren der Inanspruchnahme geschaffen werden, damit die
Rechte der Schwangeren genügend geschützt werden. Das Verfahren sollte von einer
generellen (und nicht fallbezogenen) Erklärung des Verweigerers an dem Arbeitgeber
ausgehen. Zu seinem Regelungsgegenstand könnte auch die Form und Zeit der Abgabe der
1276
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 381. 1277
Ebenda, S.390f.
330
Verweigerungserklärung werden. Es sollen vor allem Maßnahmen getroffen werden, um
sicherzustellen, dass die Patientin ihre Rechte wegen des Fristablaufs für die legale
Abtreibung infolge der Versäumnisse seitens des medizinischen Personals nicht verliert. In
dieser Richtung soll der Einschränkungsgrund der „anderen Dringlichkeitsfälle“ interpretiert
werden. Wenn die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens es verlangt, soll der
Verweigerer ausnahmsweise auf den anderen Arbeitsplatz verlegt werden können.
3. Die Verweigerung aus Gewissensgründen des Pharmazeuten
3.1. Allgemeines
Die Verweigerung des Pharmazeuten aus Gewissensgründen richtet sich vor allem gegen den
Verkauf der Schwangerschaftsverhütungsmittel. Die Anhänger der Anerkennung dieses
Verweigerungstyps gehen von dem spezifischen Verständnis dieses Berufes aus; der
Pharmazeut wird nämlich nicht als bloßes Kettenglied im Vertrieb der Medikamente
angesehen, wo die ganze Verantwortung auf den ein bestimmtes Medikament verordnenden
Arzt fällt. Da er sein Wissen und Erfahrung in die Bearbeitung jedes Rezeptes aufbringen
muss, wird seine Mitwirkung als einen aktiven Faktor im Prozess des Schutzes und Förderung
der Gesundheit betrachtet.1278
Das deontologische Berufsziel des Pharmazeuten liegt im
Schutz des Lebens und Förderung der Gesundheit, deswegen kann der Vertrieb einiger Mittel,
die etwa abortive Wirkung haben, gegen sein Gewissen verstoßen. Darüber hinaus wird dem
Pharmazeuten eine pharmakologische Aufsichtsfunktion zugeschrieben, aus der seine
Verpflichtung hervorgeht, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, wenn ihm eine geeignetere
Therapiemöglichkeit bekannt ist. Mit der aktiven Rolle des Pharmazeuten wird die
vorherrschende, sogar paternalistische, Position des Arztes im Prozess der Heilung
überwunden. Der Arzt, der Pharmazeut und der Patient sollen vielmehr einen kooperierenden
Team bilden. Dies setzt allerdings die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller
Betroffenen voraus.1279
1278
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S.112; P. Talavera
Fernández, V. Bellver Capella, La objeción de conciencia farmacéutica a la píldora postcoital, in: Bioética en la
red, http://www.bioeticaweb.com/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=264 (01.09.2010). 1279
J. López Gúzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 117ff, 154.
331
3.2. Die Interessenabwägung
Es ist davon auszugehen, dass im Konflikt zwischen der gesetzlichen Pflicht des
Pharmazeuten, die im Verkehr zugelassenen Medikamente zur Verfügung zu stellten, der das
Recht des Patienten entsprichicht, das von ihm gewünschte Mittel zu bekommen, und dem
Interesse des Pharmazeuten, sein Gewissensverbot zu beachten, das letztere Interesse
grundsätzlich überwiegen soll.1280
Dies lässt sich damit begründen, dass bei der Ablehnung
eines Pharmazeuten, die Schwangerschaftsverhütungsmittel zu verkaufen, weder das Leben
noch die Gesundheit der Patienten verletzt wird. Als kollidierendes Rechtsgut kommt
allerdings ihre Freiheit zu einem bestimmten Lebensstils in Frage. Aus der Gegenüberstellung
der genannten Rechtsgüter ergibt sich, dass wenn eine andere Apotheke relativ leicht
erreichbar ist, kann die Reise zu einer benachbarten Ortschaft der Patientin zugemutet
werden.1281
Dem wird entgegengehalten, dass die Gesundheit der betroffenen Frau doch in
Frage kommen kann, weil die Pille auch zwechs der Behandlung einiger Krankheiten
vorgeschrieben wird und der Pharmazeut nicht wissen kann, zu welchem Zweck ein Mittel im
konkreten Fall verordnet wurde. Dieses Argument wird jedoch mit der Behauptung entkräftet,
dass die hormonale Schwangerschaftsverhüttungsmittel in standardisierter Dosierung lege
artis niemals als therapeutische Mittel bei der Behandlung der gynäkologischen Krankheiten
angewendet werden sollen.1282
Um die negativen Folgen der Verweigerung für die Betroffenen zu vermeiden, wird
vorgeschlagen, dass die Verweigerer verpflichtet werden sollen, eine formale
Verweigerungserklärung abzugeben. Dies würde nicht nur im Fall eines Labors vonnöten
sein, um eine reibungslose Organisation der Arbeit zu ermöglichen, sondern auch im Fall
einer einzigen Apotheke in einer Ortschaft notwendig, um die Patienten im Voraus über die
Gewissensposition des Pharmazeuten zu informieren und damit ihre Unannehmlichkeiten zu
verringern.1283
Obwohl die Bejahung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen des Pharmazeuten
durchaus vertretbar scheint, ist zu vermuten, dass sie in Polen nicht anerkannt würde, wenn
1280
P. Talavera Fernández, V. Bellver Capella, La objeción de conciencia farmacéutica a la píldora postcoital, in:
Bioética en la red, http://www.bioeticaweb.com/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=264
(01.09.2010). 1281
J. López Gúzman, Objeción de conciencia farmacéutica, Barcelona 1997, S. 124f. 1282
Ebenda, S. 127. 1283
Ebenda, S. 129.
332
sich ein solcher Fall zur gerichtlichen Entscheidung stellen würde. Das Gericht würde sich
wahrscheinlich auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
stützen, wonach die Verweigerung eines Pharmazeuten, Schwangerschaftsverhütungsmittel zu
verkaufen, als die Ausübungsform der Gewissens- und Religionsfreiheit verneint wurde. Die
Entscheidung beruht auf der in der Rechtsprechung der Konventionsorgane zu Art. 9 EMRK
häufig vorgenommenen Unterscheidung zwischen Handlungen, die eine wirkliche
Betätigungsformen („actual practice“) der Religion oder Weltanschauung des
Grundrechtsträgers darstellen oder mit seinem Glauben oder Weltanschauung eng verbunden
sind („intimately linked“) von denjenigen Verhaltensweisen, die durch eine Religion oder
Weltanschauung lediglich motiviert oder beeinflusst werden. Nach Ansicht des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte basiert zwar die Verweigerung des Pharmazeuten auf
seinem religiösen Glauben, sie stellt aber keine durch Art. 9 EMRK geschützte
Ausübungsform der Gewissensfreiheit dar.1284
4. Die Verweigerung der medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen
4.1. Der Grundsatz der Selbstbestimmung des Patienten im Heilungsprozess
Die Hauptpflicht des medizinischen Personals, das Leben und Gesundheit des Patienten zu
retten, kommt im Spruch salus aegroti suprema lex esto (Das Wohl des Kranken sei das
höchste Recht) zum Ausdruck. Die negative Seite dieser Pflicht verdichtet sich dagegen im
Grundsatz non nocere, wonach dem Arzt verwehrt ist, dem Patienten einen Schaden
zuzufügen, auch wenn er dies ausdrücklich fordert. Die genannten Grundsätze der Bioethik
und Medizinrechts können aber in bestimmten Fällen mit dem Grundsatz der Autonomie des
Patienten in Konflikt geraten und sogar dadurch durchbrochen werden. Gemäß dem
Grundsatz der Autonomie ist der Patient berechtigt, im Bereich der Entscheidungen über die
ihn betreffenden medizinischen Handlungen nach seinen Maßstäben zu handeln,
vorausgesetzt dass er über die genügende Urteilsfähigkeit verfügt. Durch die Anerkennung
und Aufwertung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten im Prozess der Heilung hat sich
der Übergang von dem paternalistischen Modell der Ausübung der medizinischen Berufe zu
dem partnerschaftlichen Modell der Verhältnisse zwischen dem Arzt und dem Patienten
vollzogen. Dieser Übergang kann allerdings zum Spannungsverhältnis zwischen den beiden
1284
ECHR, Pichon and Sajous v. France, die Entscheidung von 2001. 10. 02, Reports – X.
333
Grundsätzen führen, insbesondere dann, wenn der Patient unter Berufung auf sein
Selbstbestimmungsrecht eine gesundheitsfördernde Leistung verweigert, um andere Werte
verwirklichen zu können. Der Konflikt der Werte beginnt dabei bereits auf der ethischen
Ebene, deren Berücksichtigung zum Ausgangspunkt der rechtlichen Regelungen wird.1285
Die
Anerkennung der Subjektivität des Patienten auf der Ebene der medizinischen Deonthologie
hat sich in der Normierung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten in der Rechtsordnung
widerspiegelt.
Das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung hat zwei Aspekte: in seiner positiven
Dimension verwirklicht sich das Selbstbestimmungsrecht in der Forderung, eine bestimmte
gesundheitsfördernde Leistung zu bekommen und eventuell eine bestimmte Heilungsmethode
zu wählen. Die negative Facette des Selbstbestimmungsrechts des Patienten besteht dagegen
in der Möglichkeit, eine Heilungsmethode oder die Heilung insgesamt zu verweigern. Im
ersten Fall ist zwar die Forderung des Patienten möglichst in Betracht zu ziehen, sie hat aber
für den Arzt keinen bindenden Charakter.1286
Im Fall der Verweigerung einer
gesundheitsfördernden Leistung hat der Arzt die Entscheidung des Patienten grundsätzlich zu
respektieren. Aus dem Grundsatz der Autonomie des Patienten wird die Voraussetzung seiner
Einwilligung zu einer medizinischen Behandlung hergeleitet. Mit der Einwilligung wird ein
Willensakt gemeint, welcher aufgrund der sachgerechten und für den Patienten verständlichen
Aufklärung betreffs aller Etappen des medizinischen Verfahrens zwangsfrei getroffen und
ausgedrückt wurde.1287
Durch das Erfordernis, die Einwilligung des Patienten zu einer medizinischen Behandlung
einzuholen, verwirklicht sich jedoch nicht nur der Schutz des Rechts des Patienten auf
Selbstbestimmung, sondern auch das Recht auf Privatleben und das Recht auf körperliche
Unversehrtheit1288
und nicht zuletzt das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Die
folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Untersuchung derjenigen Aspekte der
Ablehnung einer medizinischen Behandlung, welche mit der Ausübung der Gewissensfreiheit
der Betroffenen zusammenhängen. Dies betrifft vor allem die Haltung der Zeugen Jehovas,
1285
A. Zoll, Granice legalności zabiegu medycznego, in: PiM, Nr. 1, 1999, S. 58. 1286
E. Zielińska, Powinności lekarza w przypadku braku zgody na leczenie oraz wobec pacjenta w stanie
terminalnym, in: PiM, Nr. 5, 2000, S. 68. 1287
M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 19. 1288
M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 34.
334
welche die Heilung mit Blut (vornehmlich die Bluttransfusion) aus religiösen Gründen
verweigern.
4.2. Der Zusammenhang zwischen dem Recht auf Leben und der Verweigerung einer
medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen
Die Weigerung, sich einer lebensrettenden medizinischen Behandlung zu unterziehen, könnte
als eine Ausübungsform der Autonomie des Patienten oder als eine Modalität des
Grundrechts der Gewissensfreiheit nicht anerkannt werden, wenn davon auszugehen wäre,
dass die Verfassung eine Wertehierarchie festlegt, in der das menschliche Leben den höchsten
Stellenwert genießt. In diesem Fall müsste konsequenterweise dem menschlichen Leben der
absolute verfassungsrechtliche Schutz zuerkannt werden. Dies würde aber voraussetzen, dass
die Verfassung dem Einzelnen die Pflicht auferlegt, das eigene Leben zu bewahren. Wenn
dagegen der Status dieses Rechtsguts nicht als absoluter Verfassungswert, sondern als
Gegenstand des Freiheitsrechts auf Leben aufzufassen ist, könnte von einer Pflicht zum Leben
nicht gesprochen werden. Die Ablehnung einer medizinischen Behandlung würde dann als
eine Ausübungsform der menschlichen Freiheit im Bereich des Erlaubten erscheinen, ohne
dass das Bedürfnis entstünde, auf die Rechtsfigur der Verweigerung aus Gewissensgründen
zu rekurrieren. Es besteht somit ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Auslegung
des Rechts auf Leben und der Möglichkeit, die Verweigerung einer medizinischen
Behandlung als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, eventuell als eine
Betätigungsform der Gewissensfreiheit, zu bejahen. Die Interpretation des Rechts auf Leben
als ein absolutes Rechtsgut ist in der ausländischen Rechtsprechung zu verzeichnen. Die
Folgen derartiger Auslegung hinsichtlich der Rechte der Patienten seien am Beispiel aus der
spanischen Rechtsprechung illustriert.
Das spanische Verfassungstribunal hat in der Entscheidung zur Verweigerung der
Bluttransfusion aus Gewissensgründen den das Recht auf Leben verbürgende Art. 15 der
spanischen Verfassung dahingehend interpretiert, dass er nicht nur das subjektive Recht des
Einzelnen garantiert, sondern auch eine Projizierung des höchsten Wertes der
verfassungsrechtlichen Ordnung enthält, der mit dem Kern der Menschenrechte – der
Menschenwürde – eng verbunden ist. Das Verfassungstribunal setzt dabei an die
objektivrechtliche Auffassung der Grundrechte an: „Aus der Bedeutung und Zweck dieser
335
Rechte innerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung ergibt sich, dass sich die Garantie ihrer
Geltung auf die Möglichkeit der Erhebung der Ansprüche seitens der Einzelnen nicht
beschränken kann; sie muss vielmehr von dem Staat übernommen werden. Daraus wird eine
positive Pflicht abgeleitet, zur Effektivität der in den Grundrechten verkörperten Rechte und
Werte beizutragen, auch in den Fällen, wo kein subjektiver Anspruch seitens des Bürgers
ersichtlich ist.“1289
Gestützt auf dieser Prämisse argumentiert das Verfassungstribunal
weiterhin, dass der Gesetzgeber positive Maßnahmen zum Schutz des Lebens treffen kann,
ohne sich auf den Willen des Grundrechtsträgers verlassen zu müssen: „Das Recht auf Leben
hat somit den Aspekt des positiven Schutzes, der verhindert, dieses Recht als Freiheitsrecht zu
gestalten, das ein Recht auf eigenen Tod enthielte. (...) Es ist daher nicht möglich
anzunehmen, dass die Verfassung in Art. 15 das Recht auf den eigenen Tod garantiert.“1290
Der Grundsatz der absoluten Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens wird gelegentlich in
der spanischen Lehre als Prinzip der Heiligkeit des Lebens (el principio de la santidad de la
vida) bezeichnet. Aus dem absoluten Charakter des Rechts auf Leben ergibt sich, dass es im
Verhältnis zur persönlichen Freiheit und auch im Verhältnis zu einer individuellen Moral
vorrangig ist.1291
Dieser Argumentation hat sich auch der spanische Oberste Gerichtshof
angeschlossen. Danach konnte der Beschwerdeführer „nicht ignorieren, dass jene Norm oder
Regel des religiösen Verhaltens (der Glaubensrichtung der Zeugen Jehovas) in denjenigen
Entscheidungen dieses Gerichtshofs widerholt missbilligt wurde, in welchen der
unveräußerliche Wert des menschlichen Lebens anerkannt wurde, indem der durch das Recht
auf Glaubensfreiheit herbeigeführte Konflikt zugunsten dieses Rechtsgutes gelöst wurde. Die
beiden Rechte werden zwar verfassungsrechtlich geschützt, da aber das Recht auf Leben das
Zentrum und Prinzip anderer Rechte ist, hat es das absolute Übergewicht. In der Tat können
die angegebenen religiösen Überzeugungen die Verwerflichkeit der Tat des Angeklagten
nicht verringern. Im Gegenteil war von ihm das normgemäße Verhalten zu erwarten.“1292
Mit den dargestellten Entscheidungen zum Recht auf Leben wurde der Bereich der
interpersonalen Beziehungen überschritten und die Privatsphäre des Einzelnen tangiert. Es
wurde eine Schutzmodalität des Rechts auf Leben geschaffen, die auch unabhängig von dem
Willen des Betroffenen und sogar seinen Willen zuwider zur Anwendung kommt. Daraus
1289
Das Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 53/1985 von 11.04. 1985, FJ 3. 1290
Das Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 120/1990 von 27.06.1990. 1291
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 332. 1292
Das Urteil des spanischen Obersten Gerichtshofes (Tribunal Supremo) von 27.03.1990.
336
ergibt sich, dass weder im Fall des Suizids und Sterbehilfe, noch im Fall der Verweigerung
der Bluttransfusion oder anderer für die Abwendung einer Lebensgefahr unerlässlichen
medizinischen Behandlung möglich ist, sich auf das Selbstbestimmungsrecht zu berufen. Der
Staat ist vielmehr verpflichtet, das Leben ohne Rücksicht auf Weigerung des Rechtsträgers
positivrechtlich zu schützen. Ein Gesetz, das dem Willen und der Autonomie des Einzelnen
rechtliche Relevanz anerkennen würde, würde gegen das Recht auf Leben vorstoßen und
daher verfassungswidrig sein.1293
Die Annahme des menschlichen Lebens als ein absolutes
Rechtsgut kann den Schluss nahelegen, dass bereits die Verbreitung derjenigen Elemente der
religiösen Lehre, aus der das Verbot der Bluttransfusion abgeleitet wird, durch die
Religionsfreiheit nicht geschützt werden kann. Darauf wird nicht auf einen irrtümlichen
Charakter des Verbots der Bluttransfusion, sondern auf seine objektive Schädlichkeit für die
öffentliche Gesundheit abgestellt.1294
Aus der angeführten Rechtsprechung und ihrer Kommentierung im Schrifttum ist sichtbar,
dass sich der abstrakte, prinzipielle Vorrang des Rechts auf Leben über die anderen
Grundrechte ohne weiteres in die Pflicht zur Lebenserhaltung umwandeln kann. In einem
pluralistischen Staat kann allerdings diese Wertehierarchie den Einzelnen ohne einen
hinreichenden verfassungsrechtlichen Grund nicht auferlegt werden.1295
Diese Frage ist in der
polnischen Verfassung dahingehend deutlich geregelt, dass in Art. 38 Verf. nicht das Leben
als solche, sondern vielmehr das Recht auf Leben zum Schutzgegenstand wird. Die Pflicht am
Leben zu bleiben, würde nur im ersten Fall zu bejahen sein, dagegen kann der Einzelne
aufgrund der geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmung über sein eigenes Leben selbst
verfügen.1296
Dies ist darauf zurückzuführen, dass das menschliche Leben kein allgemeiner
und absolut geschützter Wert ist, der in abstracto aufgefasst werden soll.1297
Das Recht auf
Leben in der polnischen Verfassung ist nicht als das subjektive Recht, sondern vielmehr als
Freiheitsrecht konzipiert. Eine solche Lösung wird mit Vorrang anderer Freiheitsrechte
begründet. Aus der Freiheitsklausel wird das allgemeine Recht eines Kranken abgeleitet, über
1293
A. Ruiz Miguel, Autonomia individual y derecho a la propia vida, in: Revista del Centro de Estudios
Constitucionales, Nr. 14, 1993, S. 253. 1294
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho,
1984, S. 49. 1295
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,
S. 28. 1296
J. Giezek, R. Kokot, Granice ludzkiego życia a jego prawno karna ochrona, in: B. Banaszak, A. Preisner,
Prawa i wolności obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 103f. 1297
M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu
Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 31.
337
die Unterbrechung einer Heilungsform zu entscheiden. Dem Art. 53 Abs. 1 Verf. wird
dagegen das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen entnommen, wonach eine
Heilungsmethode abgelehnt werden kann, wenn sie gegen die Grundsätze einer Religion oder
Weltanschauung des Einzelnen verstößt.1298
4.3. Rechtsgrundlage der Einwilligung des Patienten als Voraussetzung einer legalen
medizinischen Behandlung
Viele Autoren vertreten die Meinung, dass das Recht auf Verweigerung, sich einer
Bluttransfusion zu unterziehen, aus Art. 31 Abs. 2 Verf., also aus der allgemeinen
Freiheitsklausel, abzuleiten ist, wonach niemand etwas zu tun gezwungen werden darf, was
ihm das Recht nicht gebietet.1299
Die Anderen weisen dagegen (manchmal kumulativ mit der
allgemeinen Freiheitsklausel) auf Art. 41 (das Recht auf körperliche Unversehrtheit) und 47
Verf. (das Recht auf Privatleben, das Recht, über sich selbst zu entscheiden) als
Rechtsgrundlage für das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hin.1300
Die These von der
Ableitbarkeit des Rechts des Patienten, eine gesundheitsfördernde Leistung zu verweigern,
aus der Freiheitsklausel wird auch von dem Obersten Gerichtshof 1301
geteilt: „(...) in dem
demokratischen Rechtsstaat wird die menschliche Freiheit besonders geschützt; darunter fällt
auch die Freiheit des Privatlebens, sowie die Autonomie der getroffenen Entschlüsse. Die
Freiheit ist auch ein fundamentaler Grundsatz der modernen Menschenrechtslehre (...). In
diesem Zusammenhang vertraut die Verfassung die Freiheit dem besonderen Schutz durch
den Staat an, indem sie jedermann die persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit,
sowie das Privat- und Familienleben, Ehre, guten Ruf sowie das Recht, über sein persönliches
Leben zu entscheiden, schützt (Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 Verf.). Eine der
Ausprägungsformen der Autonomie des Einzelnen und seiner Freiheit, die
1298
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej, Komentarz, Art. 38, Rn. 2, 6, Warszawa 2009, S. 214 f. 1299
Statt Vieler: U. Chmielewska, S. Ciołkowski, T. Wiwatowski, Praktyka leczenia Świadków Jehowy bez krwi
– aspekty medyczne, prawne i etyczne, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 90; A. Zoll, Granice legalności zabiegu
medycznego, in: PiM, Nr. 1, 1999, S. 75. ; B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy wola pacjenta – dylemat prawa i
medycyny (uwagi o odmowie zgody na leczenie oraz o dopuszczalności oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2,
2007, S. 43; K. Poklewski-Koziełł, Oświadczenie woli pro futuro pacjenta jako instytucja prawna, in: PiP, Nr. 3,
2000, S. 4. 1300
L. Kubicki, Sumienie lekarza jako kategoria prawna in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 10; T. Wiwatowski, U.
Chmielewska, A. Karnas, Prawo wyboru metody leczenia – stanowisko Świadków Jehowy w sprawie transfuzji
krwi, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 20; A. Kobińska, Zakres autonomii pacjenta na przykładzie niewyrażenie zgody na
zastosowanie preparatu krwi podczas ewentualnej interwencji medycznej w bliżej nieokreślonej przyszłości, in:
Transformacje Prawa Prywatnego, 3-4, 2006, S. 39; C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg, Z. Przybylski,
Zgoda Świadków Jehowy na leczenie preparatami krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny
Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr. 1, 2007, S. 138. 1301
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 27. Oktober 2005; III CK 155/05.
338
Wahlentscheidungen zu treffen, ist das Recht über sich selbst, darunter über die
Heilungsmethode zu entscheiden.“ Es ist bemerkenswert, dass Art. 53 Verf. also die
Gewissens- und Religionsfreiheit in diesem Zusammenhang nicht angeführt wird. Dies
betrifft auch die Diskussion über die Verweigerung der Bluttransfusion von Zeugen Jehovas,
also über die Verweigerung aus religiösen Gründen im polnischen Schrifttum.
Die Anwendung der Gewissens- und Religionsfreiheit in diesem Bereich wird auch in der
Kommentierung des Art. 9 EMRK mit dem Argument verneint, dass der Begriff „practice“ in
der Rechtsprechung der Konventionsorgane eng ausgelegt ist.1302
Das Recht auf körperliche
Unversehrtheit und das aus diesem Recht entnommene Verbot der Durchführung einer
medizinischen Behandlung (auch von geringerer Bedeutung) wird vielmehr aus dem Recht
auf Privatleben abgeleitet.1303
Die dargestellte Ansicht des Obersten Gerichtshofes und der
Lehre trifft zu, insoweit sich um die Einwilligung des Patienten im Allgemeinen handelt, also
in einem Fall, wo keine religiösen oder moralischen Gesichtspunkte ins Spiel kommen. Wenn
dagegen die Gründe für die Ablehnung der medizinischen Behandlung die Form einer
Gewissensentscheidung annehmen, soll die Gewissensfreiheit, die in diesem Fall lex specialis
ist, als Rechtsgrundlage einer solchen Verweigerung in Vordergrund treten.
Auf der gesetzlichen Ebene ist das Erfordernis der Einwilligung des Patienten zu einer
medizinischen Behandlung in Art. 32 – 34 des Gesetzes über die Berufe des Arztes und des
Zahnarztes normiert. Gemäß diesen Bestimmungen wird dem Patienten das Recht eingeräumt,
für eine gesundheitsfördernde Leistung Zustimmung oder Ablehnung zu erteilen, nachdem er
entsprechende Information erhalten hat. Im Fall der Minderjährigen ist die Einwilligung des
gesetzlichen Vertreters erforderlich. Wenn der gesetzliche Vertreter nicht erreichbar ist,
entsteht die Pflicht des Arztes, die Einwilligung des Vormundschaftsgerichts einzuholen.
Wenn aber der Minderjährige das 16. Lebensjahr vollendet hat, ist neben der Einwilligung
seines gesetzlichen Vertreters auch seine schriftliche Einwilligung erforderlich, wobei in
Konfliktfällen zwischen dem Minderjährigen und seinem Vertreter das
Vormundschaftsgericht entscheiden soll. Darüber hinaus wird die körperliche Unversehrtheit
als persönliches Gut gemäß Art. 23 des Zivilgesetzbuches geschützt: wenn der Arzt die
1302
R. M. Lozano, La protection européenne des droits de l‟homme dans le domaine de la biomédicine. La
documentation française, Paris 2001, S. 42. 1303
R. M. Lozano, La protection européenne des droits de l‟homme dans le domaine de la biomédicine. La
documentation française, Paris 2001, S. 42; L. E. Pettiti, La Convention européenne des Droits de l‟homme et
des libertés fondamentaux, commentaire article par article, Paris 1995, S. 343; X v. Austria, App: 8278/78, DR
18, 54.
339
verweigerte Behandlung den Willen des Patienten entgegen durchführt, haftet er nach Art. 24
des Zivilgesetzbuches, obwohl die Behandlung lege artis durchgeführt wurde und der
beabsichtigte Erfolg eingetreten ist.1304
Die Selbstbestimmung des Patienten im Bereich der
medizinischen Behandlungen genießt auch den strafrechtlichen Schutz: gemäß Art. 192
Strafgesetzbuch ist nämlich die Durchführung einer medizinischen Behandlung ohne die
Einwilligung des Patienten strafbar.
Zum Schluss ist auf eine in der polnischen Lehre vereinzelt vertretene, jedoch eine relative
Resonanz genießende Auffassung hinzuweisen, wonach das Selbstbestimmungsrecht der
Patienten nicht so weit reichen kann, dass er die Einwilligung zu einer lebensrettenden
medizinischen Behandlung verweigern kann: „Niemand darf einen Anderen mit seinem Tod
belästigen. In diesem Zusammenhang kann das Verhalten des Zeugen Jehovas als ein
Rechtsmissbrauch betrachtet werden, welcher mit den Grundsätzen des sozialen
Zusammenlebens unvereinbar ist. Ein solches Verhalten wird bekanntlich gemäß Art. 5
Zivilgesetzbuch als Rechtsausübung nicht angesehen und genießt keinen Rechtsschutz.“1305
Dabei wird argumentiert, dass die menschliche Freiheit keinen absoluten Stellenwert
einnimmt, weil die Rechte und Freiheiten des Einzelnen u.a. zum Schutz der Gesundheit
eingeschränkt werden können. Der Wille des Patienten soll vielmehr dem Recht auf Leben
und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Gesundheitsschutzes untergeordnet werden.
Der Arzt darf zwar nicht gegen den Willen des Kranken handeln, dies betrifft allerdings die
Situation nicht, wo das Leben des Patienten bedroht ist. Die Pflicht des Arztes, den Willen des
Patienten zu achten, findet ihre Grenzen in seiner Pflicht, das Leben des Patienten zu
retten.1306
Im Fall, wo der Patient zu einer Operation eingewilligt hat, wo die Möglichkeit
einer Bluttransfusion nicht auszuschließen ist, achtet der Arzt seine religiösen Überzeugungen
hinreichend, indem er das Ausmaß des Risikos der Behandlung ohne Bluttransfusion
einschätzt. Wenn dieses Risiko besteht oder wenn es unter Umständen unerwartet eintreten
kann, darf der Patient vom Arzt nicht erwarten, dass er die Hilfeleistung zwecks Rettung
seines Lebens unterlässt und seinen Tod in Kauf nimmt.1307
Dem Arzt ist erlaubt und er ist
1304
U. Chmielewska, S. Ciołkowski, T. Wiwatowski, Praktyka leczenia Świadków Jehowy bez krwi – aspekty
medyczne, prawne i etyczne, in: PiM, Nr. 13, 2003, S. 93. 1305
J. Ignaczewski, Zgoda pacjenta na leczenie, Warszawa 2003, S. 36; M. Nesterowicz, Wyrok Cour
Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277), in: PiM, Nr. 5, 2000, S. 151. 1306
M. Nesterowicz, Wyrok Cour Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277) in: PiM, Nr. 5,
2000, S .151. 1307
Ebenda.
340
dazu verpflichtet, das Leben des Patienten zu retten, und zwar unabhängig davon, ob der
Patient eine allgemeine Erklärung abgegeben hat, dass er die Bluttransfusion verweigert.1308
Die Befürworter dieser Ansicht gehen allerdings von einer subjektiven Wertehierarchie aus,
in der das Leben und Gesundheit des Patienten als summum bonum über sein
Selbstbestimmungsrecht gestellt wird. Diese Hierarchisierung kann nicht nur als Rückschritt
im Verhältnis zum europäischen Gedankengut betreffs der Partnerrolle des Patienten im
Prozess der Heilung bewertet werden; sie birgt auch eine Gefahr in sich, dass die
Nichtrespektierung des Willens des Patienten, die rechtlich als eine Ausnahme ausgestaltet ist,
zum Regelfall wird.1309
4.4. Subjektiver Schutzbereich und Umfang des Verweigerungsrechts einer
medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen
Nach einem Ansatz wird für die Anerkennung der Verweigerung der medizinischen
Behandlung aus Gewissensgründen darauf abgestellt, ob sich im konkreten Fall um einen
Erwachsenen handelt, der sich bewusst seiner Entscheidung ist. Danach wird das
Verweigerungsrecht sowohl des unbewussten Erwachsenen als auch des Minderjährigen
unabhängig von ihrem Reifegrad nicht anerkannt. Im Fall der letzteren wird argumentiert,
dass der gesetzliche Vertreter nicht zuständig ist, über das Leben und Gesundheit Anderer zu
verfügen.1310
Die Zweifel betreffs der Fähigkeit des Patienten, die Einwilligung zur medizinischen
Behandlung zu erteilen, sind zugunsten der Autonomie des Patienten zu lösen.1311
Für die
Bejahung der faktischen Unfähigkeit soll dabei auf den Zustand des gänzlichen
Bewußtseinsverlusts abgestellt werden. Die beschränkte Kontaktfähigkeit mit der Außenwelt
1308
M. Nesterowicz, Wyrok Cour Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277) in: PiM, Nr. 5,
2000, S .151. 1309
U. Chmielewska, A. Karnas, Głos w sprawie uznania wyroku Apelacyjnego Trybunału Administracyjnego
(Cour Administratif d‟Appel de Paris) z dnia 9 czerwca 1998 r. jako wyznacznika kierunku przemian polskiego
prawa medycznego, in: PiM, Nr. 5, 2000, S. 156; siehe auch: R. Kubiak, Prawo medyczne, Warszawa 2010, S.
236. 1310
R. Kubiak, Prawo medyczne, Warszawa 2010, S. 236; I. M. Sanchis, La Objeción de Concienica, I. España,
in: I. M. Sanchis, J. Navarro Floria, La libertad religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 299f; H.
Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008, S. 29;
A. C. Salinas, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaiso 2004, S. 123. 1311
M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 43.
341
oder die beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit des Patienten reicht dagegen nicht aus.1312
Die
Tatsache, dass sich der Patient unter Einfluss der Medikamente oder im Zustand des Traumas
z.B. nach einem Autounfall befindet, lässt keine generelle Vermutung begründen, dass er der
Einsichts- und Urteilsfähigkeit beraubt ist, wenn auch die Zweifel im Einzelfall nicht
auszuschließen sind.1313
Die Autonomie des Patienten soll auch in den Fällen geachtet
werden, wenn er nach Erteilung seiner Stellungnahme zur medizinischen Behandlung die
Entscheidungsfähigkeit verliert. Deshalb kann eine eventuelle Änderung des Umfangs einer
operativen Handlung oder einer Heilungsmethode die Durchführung der medizinischen
Leistungen nicht umfassen, die von dem Betroffenen ausdrücklich abgelehnt worden sind.1314
Diese Ansicht wird auch im Zusammenhang mit Art. 8 des Übereinkommens zum Schutz der
Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und
Medizin vertreten. Danach betrifft die Pflicht, die Einwilligung des Patienten einzuholen, die
Notfallsituationen nicht, in denen unter Umständen diese Einholung nicht möglich ist und die
Behandlung für die Gesundheit des Patienten unerlässlich ist. Der hypothetische Wille des
Patienten ist aber auch in diesem Fall im Rahmen des Möglichen zu erforschen.1315
Das
Anliegen der Konvention ist, der Einwilligung des Patienten eine vorrangige Position
einzuräumen und immer wenn es möglich ist, seinen Willen, zu respektieren (Art. 9).1316
Diese Bestimmung hat allerdings keinen absoluten Charakter.1317
Sie regelt nämlich nicht nur
Situationen der Lebensgefahr für den Patienten, sondern auch bezieht sich auf die Fälle, wo
die Erweiterung des Umfangs einer Behandlung oder die Wahl einer anderen
Handlungsmethode notwendig ist. Entscheidend ist aber, dass das Gebot der
Berücksichtigung der Wünsche des Patienten mit ihrer kategorischen Befolgung nicht
gleichsteht.1318
1312
M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 43. 1313
R. Kubiak, Prawo medyczne, Warszawa 2010, S. 235. 1314
L. Kubicki, Sumienie lekarza jako kategoria prawna in: PiM, 1999, S. 9f; U. Chmielewska, S. Ciołkowski, T.
Wiwatowski, Praktyka leczenia Świadków Jehowy bez krwi – aspekty medyczne, prawne i etyczne, in: PiM, Nr.
13, 2003, S. 92. 1315
Conseil de l‟ Europe, Rapport explicatif a la Convention pour la protection des droits de l‟ Homme et de la
dignité de l etre humain a l egard des applications de la biologie et de la médicine, Direction des affaires
juridiques, in: DIR/JUR (97) 1, Strasbourg 1997, Art. 8,57, para. 15. 1316
R. M. Lozano, La protection europeenne des droits de l‟homme dans le domaine de la biomédicine. La
documentation française, Paris 2001, S. 49. 1317
M. Nesterowicz, Wyrok Cour Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277) in: PiM, Nr. 5,
2000, S. 151. 1318
M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 212; M. Nesterowicz, Działanie lekarza
bez zgody pacjenta w świetle Konwencji Bioetycznej, prawa i etyki,
http://www.diametros.iphils.uj.edu.pl/?l=1&p=wyk55&m=45&ik=18&ij=1 (05.01.2011).
342
Für die Anerkennung der Verweigerung des Patienten verlangt der Oberste Gerichtshof, dass
es zwischen der Abgabe der Verweigerungserklärung und der verweigerten Behandlung einen
„ausreichend engen zeitlichen Zusammenhang“1319
gibt. Nach diesem Ansatz ist der Arzt
nicht verpflichtet, die Entscheidung des Patienten zu achten, wenn sie lange Zeit vor der
Behandlung getroffen wurde und wenn die Behandlungstechnik in der Zwischenzeit
wesentlich fortgeschritten hat.1320
Diese Ansicht ist allerdings auf Kritik gestoßen: es wird
nämlich postuliert, dass der zeitliche Zusammenhang im Fall der von den Zeugen Jehovas
abgegebenen Erklärungen pro futuro ohne Bedeutung für ihre rechtliche Wirksamkeit sein
sollte.1321
Eine wirksam zum Ausdruck gebrachte Verweigerung soll vielmehr in Kraft
bleiben, solange sie ausdrücklich nicht widerrufen wurde.1322
Darüber hinaus ist nicht
notwendig, dass die Erklärung des Patienten ein Datum enthält. Aufgrund Art. 61
Zivilgesetzbuch ist nämlich anzunehmen, dass die Erklärung pro futuro im Zeitpunkt
abgegeben wurde, in dem sie bei dem unbewussten Patienten gefunden wurde.1323
In diesem Zusammenhang ist die rechtliche Bedeutung der allgemeinen Erklärungen der
Patienten zu erwägen, welche im Bezug auf hypothetische, künftige Fälle, wenn die
Behandlungen im Zustand des Bewusstseinsverlusts vorgenommen werden sollen, abgegeben
werden.1324
Der Zweck dieser Erklärungen ist zu verhindern, dass bei dem Patienten „das
Risiko des Gefühls des Verlustes der persönlichen Freiheit (Autonomie) in einer Situation
entsteht, in welcher er infolge einer unheilbaren Krankheit oder eines Unglücksfalles zum
willenlosen Objekt der Handlungen des Gesundheitsdienstes wird.“1325
Einer der
Anwendungsfälle solcher Erklärungen ist die Praxis der Mitglieder der Glaubensgemeinschaft
Zeugen Jehovas, welche ein in Anwesenheit von zwei Zeugen unterzeichnetes Dokument bei
1319
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 27. Oktober 2005; III CK 155/05. 1320
R. M. Lozano, La protection européenne des droits de l‟homme dans le domaine de la biomédicine. La
documentation française, Paris 2001, S. 49. 1321
J. Kulesza, Glosa do postanowienia Sądu Najwyższego z 27 października 2005 r., in: Palestra, Nr. 3-4, 2007,
S. 322. 1322
M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu
Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 29. 1323
R. Tymiński, Glosa do postanowienia z 27 października 2005 (III CK 155/05), in: Przegląd Sądowy, 2008,
Nr. 3, S. 120. 1324
genannt im Ausland living will, advanced directives, testament de la vie, testament biologique und im
deutschsprachigen Raum – Lebenstestament oder Patientenverfügung 1325
J. Bujny, Prawne aspekty oświadczeń składanych przez Świadków Jehowy na wypadek utraty przytomności,
in: Anestezjologia i ratownictwo, 2008, Nr. 2, S. 196; siehe auch: K. Poklewski-Koziełł, Lekarz wobec
oświadczeń woli pacjenta antycypującego swój stan terminalny (na tle rozwiązań przyjętych w Szwajcarii), in:
PiM, Nr. 9, 2003, S. 48.
343
sich tragen, in dem sie erklären, dass sie in hypothetischen Fällen des Verlustes der
Entscheidungsfähigkeit die Bluttransfusion ablehnen.1326
Das polnische Recht enthält keine ausdrückliche Regelung (Reglementierung) dieser sog.
Lebenstestamente. Die Autoren, welche die Zulässigkeit einer solchen Erklärung bejahen,
berufen sich auf den Grundsatz der Selbstbestimmung des Einzelnen. In diese Richtung
argumentiert auch der Oberste Gerichtshof: „Der Grundsatz der Achtung der Autonomie des
Patienten gebietet, seinen Willen unabhängig von den unterliegenden Motiven
(konfessionelle, ideologische, gesundheitliche) zu respektieren. Deshalb ist anzunehmen, dass
die Nichteinwilligung des Patienten zu einer bestimmten Behandlung (oder zu einem Typ der
Behandlungen) für den Arzt bindend ist und dass sie das Risiko der strafrechtlichen oder
zivilrechtlichen Verantwortung wegnimmt. Die Absage der genannten Einwilligung macht
auch die Durchführung der Behandlung rechtswidrig.“1327
Die zitierte These des Obersten
Gerichtshofes hat den universallen Charakter und bezieht sich auf alle Erklärungen, in
welchen die Heilung insgesamt oder eine bestimmte Behandlung verweigert wird.1328
Der
erwachsene, einsichtsfähige Patient darf daher im Fall des Bewusstseinsverlustes nur dann
behandelt werden, wenn er eine Verweigerung nicht erteilt hat.1329
Die Erklärung des Patienten, um rechtswirksam zu sein, muss allerdings ausdrücklich und
eindeutig sein, sowie im Bewusstsein der getroffenen Entscheidung und ihrer Folgen
abgegeben werden. Darüber hinaus ist der Arzt nicht verpflichtet, alle ihm zur Verfügung
stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um sich zu vergewissern, dass eine solche Verweigerung
nicht vorliegt. Mangels der ausdrücklichen rechtlichen Regelung ist von der Formfreiheit des
Lebenstestaments auszugehen, wenn auch die Schriftform für Beweiszwecke empfohlen
wird.1330
Insbesondere kann die bloße Kenntnis des Arztes, dass der betroffene Patient Zeuge
Jehovas ist, das schriftliche Dokument nicht ersetzen: wenn keine ausdrückliche Erklärung
1326
K. Poklewski-Koziełł, Lekarz wobec oświadczeń woli pacjenta antycypującego swój stan terminalny (na tle
rozwiązań przyjętych w Szwajcarii), in: PiM, Nr. 9, 2003, S. 53. 1327
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 27. Oktober 2005; III CK 155/05. 1328
A. Zoll, Brak zgody pacjenta na zabieg (Uwagi w świetle postanowienia SN z 27 października 2005 r., III
CK 155/05), in: PiM, Nr. 4, 2006, S. 8. 1329
M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu
Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 28. 1330
Ebenda, S. 28; B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy wola pacjenta – dylemat prawa i medycyny (uwagi o
odmowie zgody na leczenie oraz o dopuszczalności oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 44.
344
nicht vorliegt, ist vielmehr die Transfusion durchzuführen.1331
Auch die Behauptungen der
Mitglieder der Familie des Patienten, dass er eine solche Erklärung zwar nicht in Schriftform
aber in Anwesenheit der Zeugen abgegeben hat, ist wegen möglicher Zweifel nicht
anzunehmen.1332
Ebenso wenig ist der Forderung der Familienmitglieder, die Transfusion zu
unterlassen, Folge zu leisten, die lediglich mit der Behauptung begründet wird, dass der
betroffene Patient zu der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehört.1333
Darüber hinaus muss die Erklärung zwangsfrei abgegeben werden. Es geht dabei nicht um
eine vorbeugende Isolierung des Patienten von allen Personen, welche seine Haltung
beeinflussen können, sondern um Vermeidung einer solchen Druckausübung, infolge deren
der Patient der Möglichkeit beraubt wäre, über sich selbst zu entscheiden.1334
Diese
offensichtliche Voraussetzung einer rechtwirksamen Erklärung verdient allerdings einer
Hervorhebung im Zusammenhang mit der Behandlung von Zeugen Jehovas, wenn in Betracht
gezogen wird, dass die Fälle der Druckausübung auf den Patienten seitens anderer
Gemeinschaftsmitglieder „allgemein bekannt sind.“1335
Dieser Umstand rechtfertigt allerdings
nicht, diese Kategorie der Patienten als besonders anfällig für Druckausübung seitens Dritter
zu betrachten. Die konkreten Umstände eines unzulässigen Drucks müssten bewiesen werden,
ansonsten ist der Wille des Patienten zu respektieren.1336
Der Druck auf den Patienten kann allerdings nicht nur von Dritten, etwa von
Familienmitgliedern, sondern auch vom Arzt kommen. Das Gewissen des Arztes, das ihm
gebietet, den Patienten auch seinem Willen zuwider zu retten, muss vor dem
Selbstbestimmungsrecht und der Gewissensfreiheit des Letzteren weichen. Die Bestimmung
der Hierarchie der kollidierenden Rechtsgüter (das Leben und Gesundheit der Patienten
einerseits und sein Selbstbestimmungsrecht andererseits) soll dem Betroffenen überlassen
1331
J. Bujny, Prawne aspekty oświadczeń składanych przez Świadków Jehowy na wypadek utraty przytomności,
in: Anestezjologia i ratownictwo, Nr. 2, 2008, S. 198; J. Kulesza, Glosa do postanowienia Sądu Najwyższego z
27 października 2005, in: Palestra, Nr. 3-4, 2007, S. 321. 1332
R. Patryn, J. Sak, P. Kiciński , B. Kołodziejczyk, Etyczne i medyczne aspekty stosowania preparatów krwi u
Świadków Jehowy, in; Zdrowie Publiczne, Nr. 117(4), S. 488. 1333
C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg , Z. Przybylski, Zgoda Świadków Jehowy na leczenie
preparatami krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr.
1, 2007, S. 140. 1334
B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy wola pacjenta – dylemat prawa i medycyny (uwagi o odmowie zgody na
leczenie oraz o dopuszczalności oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 40. 1335
M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu
Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 26. 1336
Ebenda, S. 26.
345
werden. Der Arzt ist dagegen nicht zuständig, eine solche Wertung vorzunehmen.1337
Die
Rolle des Arztes soll sich deshalb grundsätzlich zur Verdeutlichung dem Patienten seiner
medizinischen Situation beschränken. Wegen einer bestimmten Symmetrie zwischen der
Einwilligung zur Behandlung, die eine verständliche Aufklärung des Arztes über den
Gesundheitszustand des Patienten sowie über die Vorteile und Risiken der vorgeschlagenen
Behandlung voraussetzt, und der Verweigerung der Behandlung, ist die Auskunftspflicht des
Arztes auch im zweiten Fall zu bejahen. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass obwohl der
Arzt keinen unzulässigen Druck auf den Patienten ausüben darf, ist ihm erlaubt zu versuchen,
den Patienten für die Behandlung zu überzeugen. Er darf z.B. ihm auf eine von einigen
Zeugen Jehovas vertretene liberale Interpretation der einschlägigen biblischen Fragmente
hinzuweisen, wonach sich das Verbot des Bluts lediglich auf das Verzehren bezieht und sich
auf die Bluttransfusion nicht erstreckt. Es steht auch nichts im Wege, dass der Arzt in seinem
Überzeugungsversuch dem Patienten mitteilt, dass einige Zeugen Jehovas dieses Verbot nicht
beachten, soweit er diese Kenntnisse hat. Um den eventuellen Druck seitens der Dritten zu
vermeiden, soll das Gespräch mit dem Arzt ohne die Teilnahme Anderer stattfinden.1338
Die
Einräumung dem Arzt der Möglichkeit, den Patienten für die Behandlung zu überzeugen,
lässt sich mit seiner spezifischen und schwierigen Situation begründen, in der er
gegebenenfalls gegen sein eigenes Gewissen und seinen beruflichen Auftrag die Heilung
unterlassen muss.
Während die Erklärungen pro futuro in der polnischen Lehre allgemein anerkannt werden, ist
ihr Rechtscharakter Gegenstand der Kontroverse. Nach einer Ansicht stellt eine durch den
Erwachsenen abgegebene Verweigerung einer medizinischen Behandlung pro futuro eine
einseitige Willenserklärung dar, die geachtet werden muss, es sei denn dass eine begründete
Vermutung besteht, dass der Patient im Irrtum gehandelt hat.1339
Nach einer Mindermeinung
1337
A. Kobińska, Zakres autonomii pacjenta na przykładzie niewyrażania zgody na zastosowanie preparatu krwi
podczas ewentualnej interwencji medycznej w bliżej nieokreślonej przyszłości, in: Transformacje Prawa
Prywatnego, Nr. 3-4, 2006, S. 42; R. Patryn, J. Sak, P. Kiciński , B. Kołodziejczyk, Etyczne i medyczne aspekty
stosowania preparatów krwi u Świadków Jehowy, in: Zdrowie Publiczne, Nr. 117(4), S. 487. 1338
R. Patryn, J. Sak, P. Kiciński , B. Kołodziejczyk, Etyczne i medyczne aspekty stosowania preparatów krwi u
Świadków Jehowy, in: Zdrowie Publiczne, Nr. 117(4), S. 487. 1339
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 27. Oktober 2005; III CK 155/05; T. Wiwatowski, U.
Chmielowska, A. Karnas, Prawo wyboru metody leczenia – stanowisko Świadków Jehowy w sprawie transfuzji
krwi, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 22f; A. Kobińska, Zakres autonomii pacjenta na przykładzie niewyrażania zgody
na zastosowanie preparatu krwi podczas ewentualnej interwencji medycznej w bliżej nieokreślonej przyszłości,
in: Transformacje Prawa Prywatnego, Nr. 3-4, 2006, S. 43; J. Bujny, Prawne aspekty oświadczeń składanych
przez Świadków Jehowy na wypadek utraty przytomności, in: Anestezjologia i ratownictwo, 2008, Nr. 2, S. 196;
C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg, Z. Przybylski, Zgoda Świadków Jehowy na leczenie preparatami
346
ist dagegen die Einwilligung bzw. ihre Verweigerung keine Willenserklärung, weil deren
Zweck nicht in Herbeiführung bestimmter Rechtsfolgen, sondern in Verfügung über eigene
persönliche Rechtsgüter ist. Sie bildet vielmehr einen einseitigen Rechtsakt, der sich der
Konstruktion der Willenserklärung nähert.1340
Daraus ergibt sich vor allem, dass bei der
Bestimmung der Voraussetzungen der Wirksamkeit der Einwilligung im größeren Maß auf
die Eigenschaften des handelnden Subjektes als auf rechtsformale Kriterien, etwa die
Geschäftsfähigkeit, abzustellen ist. Bei der Einwilligung und ihrer Verweigerung, anders als
im Fall der Willenserklärung, tritt die Autonomie des Einzelnen in den Vordergrund, während
die Rechte und Interessen Anderer weniger schutzbedürftig sind. Diese Auffassung der
Einwilligung erlaubt sie als eine von der Geschäftsfähigkeit unabhängige Kategorie zu
behandeln.1341
De lege ferenda wird deshalb postuliert, dass die wirksame Einwilligung nicht
vom Kriterium der Vollendung der Volljährigkeit abhängen soll; Entscheidend soll vielmehr
der Reifegrad des Einzelnen, dessen Erreichung ihm die Einsicht in seine Situation sowie
Einschätzung der eventuellen Folgen der (Nicht)Einwilligung zur medizinischen Behandlung
ermöglicht.1342
In der polnischen Lehre wurden auch skeptische Meinungen zur Frage der Anerkennung der
Erklärungen pro futuro geäußert, die allerdings eine Minderströmung bilden: Świderska
bemerkt, dass mit der bloßen Abstellung auf die Autonomie des Patienten verkannt wird, dass
die Betrachtung der allgemeinen (pauschalen) Zulässigkeit des Lebenstestaments ohne
Berücksichtigung des Sterbehilfeverbots nicht möglich ist. Die uneingeschränkte
Legalisierung des Lebenstestamentes wäre mit einer versteckten Legalisierung der Sterbehilfe
gleichbedeutend.1343
Diese Bemerkung ist allerdings in Bezug auf Zeugen Jehovas nicht
krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr. 1, 2007, S.
139. 1340
A. Zoll, Granice legalności zabiegu medycznego, in: PiM, Nr. 1, 1999; M. Safjan, Prawo i Medycyna,
Oficyna Naukowa, Warszawa, 1998, S. 34f. Nach einer anderen Ansicht hat die Einwilligung des Patienten den
Charakter der Willenserklärung, wenn sie bewusst, zwangsfrei und ernsthaft abgegeben wurde: siehe statt vieler:
A. Dyszlewska-Tarnowska, in: L. Ogiegło, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty, Warszawa 2010, S.
299; M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 29. Da auch die Autoren, welche
verneinen, dass die Einwilligung eine Willenserklärung ist, die analoge Anwendung der Vorschriften des
allgemeinen Teils des Zivilgesetzbuches hinsichtilich der Einwilligung des Patienten, wie etwa die Vorschriften
zum Willensirrtum oder Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts zulassen, ist diese Frage in praxi nicht relevant. 1341
M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 35. 1342
R. Patryn, J. Sak, P. Kiciński, B. Kołodziejczyk, Etyczne i medyczne aspekty stosowania preparatów krwi u
Świadków Jehowy, in: Zdrowie Publiczne, Nr. 117(4), S. 488; A. Zoll, Granice legalności zabiegu medycznego,
in: PiM, Nr. 1, 1999, S. 59. 1343
M. Świderska, Zgoda pacjenta na zabieg medyczny, Toruń 2007, S. 210ff.
347
relevant, weil die Verweigerung der Bluttransfusion mit dem Willen zu sterben, nicht
gleichgestellt werden kann.1344
Andere Autoren argumentieren, dass der Wille des Patienten geachtet werden muss, solange
er zustande ist, die Verweigerung bewusst zu äußern. Der unbewusste Patient hat keine
Möglichkeit, seine frühere Entscheidung angesichts des Todes, also wenn die Gefahr für sein
Leben real wurde, zu verifizieren. Dieser Umstand soll die Durchführung der Behandlung
ohne seine Einwilligung rechtfertigen.1345
Es muss nämlich von der Vermutung ausgegangen
werden, dass wenn der Patient bewusst wäre, könnte er seinen Willen ändern. In dieser
Situation handelt der Arzt als der Handelnde ohne Auftrag (Art. 754 Zivilgesetzbuch).1346
Diese Ansicht findet eine Stütze im Phänomen des Gewissens, das ein Urteil über die
moralische Qualifikation einer konkreten Handlung ist, also situationsgebunden wirkt. Die
Gewissensposition des Patienten soll daher nur in actu beachtet werden. Daraus ergibt sich,
dass die verweigerte Therapie durchgeführt werden soll, wenn der Patient nicht bewusst ist,
und zwar auch dann, wenn dem medizinischen Personal seine Gewissensposition bekannt
war, etwa im Fall, wenn der Patient eine allgemeine Erklärung zu seiner Stellung zu
Bluttransfusion in Schriftform abgegeben hat.1347
Gegen die Anerkennung der allgemeinen Verweigerungen einer medizinischen Behandlung
pro futuro spricht auch, dass diese Erklärung eine negative Facette der Einwilligung zur
Behandlung darstellt. Wenn für die Wirksamkeit einer Einwilligung zur Behandlung von
ausführlicher und verständlicher Aufklärung des Patienten über alle mit der Behandlung
zusammenhängenden Umstände notwendig ist, soll diese Forderung auf die Ablehnung der
Behandlung erstreckt werden. Diese Voraussetzung ist im Fall der Lebenstestamente
allerdings nicht erfüllbar, weil eine solche Erklärung außerhalb der unmittelbaren Gefahr für
1344
Auch die zitierte Autorin spricht sich ausdrücklich für die Zulässigkeit dieser Modalität des
Lebenstestaments aus. 1345
J. Ignaczewski, Zgoda pacjenta na leczenie, Warszawa 2003, S. 38; B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy
wola pacjenta – dylemat prawa i medycyny (uwagi o odmowie zgody na leczenie oraz o dopuszczalności
oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 48; Ablehnend mit Verweis auf die Freiheitsklausel: A.
Kobińska, Zakres autonomii pacjenta na przykładzie niewyrażenie zgody na zastosowanie preparatu krwi
podczas ewentualnej interwencji medycznej w bliżej nieokreślonej przyszłości, in: Transformacje Prawa
Prywatnego, 3-4, 2006, S. 39. 1346
M. Nesterowicz, Działanie lekarza bez zgody pacjenta w świetle Konwencji Bioetycznej, prawa i etyki, in:
Prawo i Medycyna pl., http://www.diametros.iphils.uj.edu.pl/?l=1&p=wyk55&m=45&ik=18&ij=1
(05.01.2011); A. Dyszlewska-Tarnowska, in: L. Ogiegło, Ustawa o zawodach lekarza i lekarza dentysty,
Warszawa 2010, S. 303. 1347
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de und terapéutica, in: Persona y Derecho,
1984, S. 49.
348
das Leben des Betroffenen und ohne die Teilnahme eines Arztes abgegeben wird.1348
Darüber
hinaus, wenn die Aufklärungspflicht des Arztes im Fall der Einwilligung zur Behandlung eine
fundamentale Bedeutung hat, sodass die ungenügende Aufklärung des Patienten zu seiner
zivilrechtlichen Haftung führt, erhebt sich die Frage, ob eine Erklärung pro futuro überhaupt
rechtswirksam sein kann, wenn der Patient im Zeitpunkt ihrer Abgabe außerstande ist, die
Folgen seiner Verweigerung völlig einzuschätzten.1349
Hinzukommt auch, daass es schwierig
festzustellen ist, ob die Erklärung von dem Betroffenen abgegeben wurde und wenn es der
Fall ist, ob sie nicht mit Willensmängeln behaftet ist. Nicht auszuschließen ist auch die
Situation, in welcher der potenzielle Patient seinen Standpunkt in der Zwischenzeit geändert
hat, er hat aber die Erklärungsurkunde aus Vernachlässigung oder anderen Gründen nicht
zerstört. Der entscheidende Grund gegen die Anerkennung der Lebenstestamente liegt jedoch
in der Tatsache, dass der polnische Gesetzgeber diese Institution schlechthin nicht vorgesehen
hat, deshalb ist nicht möglich, von ihr Gebrauch zu machen.1350
Diese Meinung verkennt den psychologischen Aspekt der Abgabe einer solchen Erklärung.
Man muss nämlich davon ausgehen, dass der Patient in diesem Moment nicht impulsiv oder
ohne Überlegung, sondern mit vollem Bewusstsein handelt. Er nimmt seinen Tod als
Konsequenz der Verweigerung in Kauf. Darüber hinaus muss er sich mit der Möglichkeit
rechnen, dass er nach Änderung seiner Meinung nicht schafft, sie rechtzeitig zu widerrufen.
Ihm ist auch zuzumuten, dass er sich der Alternative beraubt, angesichts der wirklichen
Gefahr für sein Leben, die früher abgegebene Gewissensentscheidung zu ändern. „Wir haben
mit erwachsenen Menschen zu tun. Derjenige, der die Einwilligung zur Behandlung im
Voraus verweigert, kann nicht als psychisch labil, unentschieden oder nicht recht bei Verstand
behandelt werden. Das Handeln gegen den Selbsterhaltungstrieb ist per se nicht
entscheidend.“1351
Es ist vielmehr zu betonen, dass die Zeugen Jehovas zu einer Kategorie der
Patienten gehören, welche mit der Problematik der Heilung mit Blut sowie mit den
Patientenrechten besonders vertraut ist.1352
Damit kann das Argument entkräftet werden, dass
1348
B. Janiszewska, Dobro pacjenta czy wola pacjenta – dylemat prawa i medycyny (uwagi o odmowie zgody na
leczenie oraz o dopuszczalności oświadczeń pro futuro), in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 47. 1349
Ebenda, S. 48. 1350
R. Kubiak, Prawo medyczne, Warszawa 2010, S. 230. 1351
M. Boratyńska, Niektóre aspekty świadomej zgody pacjenta na leczenie na tle orzecznictwa Sądu
Najwyższego. Część 1. Sprzeciw pro futuro, in: PiM, Nr. 2, 2007, S. 30. 1352
C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg, Z. Przybylski, Zgoda Świadków Jehowy na leczenie
preparatami krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr.
1, 2007, S. 139.
349
sie bevor die Abgabe der Erklärung pro futuro zu ihrer Wirksamkeit einer Auskunft seitens
des Arztes bedürfen.
Als Fazit ergibt sich, dass die Verweigerung der Bluttransfusion in den Erklärungen pro
futuro klar, deutlich, eindeutig und zweifellos geäußert wird, und als rechtswirksam
anzusehen ist, es sei denn dass das nachträgliche Verhalten des Betroffenen das Abweichen
von den bekannten Glaubensgrundsätzen schließen lässt. Wenn aber im Zeitpunkt der
Entscheidung über die Zulässigkeit der Handlungsmethode irgendeine Zweifel entstehen, ob
der Patient seine Verweigerung aufrechterhalten würde, ist das Leben und Gesundheit des
Patienten zu retten. Maßgeblich ist nämlich die Ermittlung im Moment der Behandlung,
welche Entscheidung der Patient treffen würde, wenn er bewusst wäre.1353
Trotz der grundsätzlichen Bejahung der Meinungen, welche die Achtungspflicht des Willens
des Patienten in seiner Autonomie fundieren, muss mit Nachdruck betont werden, dass die
Entscheidung des Patienten solange zu achten ist, soweit die Inanspruchnahme seiner Freiheit
anderen Menschen nicht schadet.1354
Deshalb ist im Fall der Erwachsenen, welche die volle
Urteilsfähigkeit genießen, dahingehend zu differenzieren, ob sie familiäre Verpflichtungen
haben. Wenn es der Fall ist, überwiegt das Recht der Kinder in einem gut funktionierenden
familiären Milieu erzogen zu werden und die unabdingbare geistige und materielle
Lebenssicherung zu haben. Wenn dagegen dem Einzelnen keine familiären Verpflichtungen
obliegen, ist kein Staatsinteresse ersichtlich, das der Verweigerung des Patienten
gegenübergestellt werden könnte.1355
„Die Entziehung dem Patienten der Möglichkeit, über
sich selbst zu entscheiden um anderer Werte willen, in der Situation, wo seine Entscheidung
niemanden schadet und in Übereinstimmung mit seinem Gewissen ist, würde zum
übermäßigen staatlichen Paternalismus.“1356
1353
J. Kulesza, Glosa do postanowienia Sądu Najwyższego z 27 października 2005 r., in: Palestra, Nr. 3-4, 2007,
S. 319. 1354
R. Tymiński, Glosa do postanowienia z 27 października 2005 (III CK 155/05), in: Przegląd Sądowy, Nr. 3,
2008, S. 117. 1355
K. Rimanque, Freedom of conscience and minority groups, in: Council of Europe, Freedom of conscience,
Strasburg 1993, S. 160; J. Rivera-Flores, I. Acevedo-Medina, Objeción de conciencia y el anestesiólogo, in:
Revista Mexicana de Anestesiología, Vol. 32, Suplemento 1, abril-junio, 2009, S. 157. 1356
R. Tymiński, Glosa do postanowienia Sądu Najwyższego z 27 października 2005 r., in: Przegląd Sądowy
2008, Nr. 3, S. 117f.
350
4.5. Die Verweigerung der medizinischen Behandlung im Fall der Minderjährigen
Gemäß dem Gesetz über die Berufe des Arztes und des Zahnarztes ist für eine
gesundheitsfördernde Behandlung (Art. 32), für eine operative Behandlung und für eine
Behandlung mit erhöhten Risiko (Art. 34) im Fall eines minderjährigen Patienten die
Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters notwendig. Wenn der Patient keinen gesetzlichen
Vertreter hat oder die Kontaktaufnahme mit ihm unmöglich ist, ist die Einwilligung des
Vormundschaftsgerichts einzuholen. Wenn der Patient das 16. Lebensjahr vollendet hat, ist
der Arzt zusätzlich verpflichtet, neben der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters bzw. der
gerichtlichen Einwilligung auch die Zustimmung des Patienten einzuholen. Die Vollendung
des 16. Lebensjahres als Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Mitbestimmungsrechts
wurde in der Lehre als formalistisch mit dem Argument kritisiert, dass der Maßstab der
tatsächlichen Einsichtsfähigkeit durch das Kriterium des Alters ersetzt wurde.1357
In diesem
Zusammenhang wird die Meinung vertreten, dass die Altersgrenze von dem Gesetzgeber zu
hoch gesetzt wurde, insbesondere wenn in Betracht gezogen wird, dass die beschränkte
Geschäftsfähigkeit mit Vollendung des 13. Lebensjahres erlangt wird. Die Bestimmung einer
Altersgrenze soll vielmehr als Vermutung zugunsten der Einwilligungsfähigkeit betrachtet
werden und damit nur einen subsidiären Charakter haben. Diese Lösung würde den modernen
Tendenzen der Regelung der Autonomie der Minderjährigen im größeren Maß Rechnung
tragen (Art. 12 Kinderrechtekonvention, Art. 6 Abs. 2 der Biomedizinkonvention), wonach
die Ansicht des Minderjährigen gemäß seinem Alter und psychischer Reife zu
berücksichtigen ist.1358
In den Notfällen d.h. wenn die Gefahr für das Leben oder Gesundheit des Minderjährigen
vorliegt, kann der Arzt die Behandlung durführen, nachdem er die Einwilligung des
Vormundschaftsgerichts eingeholt hat. Diese Voraussetzung entfällt aber in
Dringlichkeitsfällen; die Entscheidung über die Vornahme einer medizinischen Behandlung
kann dann auch ohne Einholung der Einwilligung der Eltern oder des Vormundschaftsgerichts
getroffen werden. Der Arzt hat allerdings die Pflicht, nach Möglichkeit die Stellungnahme
eines anderen Arztes, nach Möglichkeit des Facharztes derselben Spezialisation, zu erreichen.
Wenn sich der Arzt an das Gericht richtet, ist den Eltern das Gehör zu gewähren. Bei der
1357
T. Wiwatowski, U. Chmielewska, A. Karnas, Prawo wyboru metody leczenia – stanowisko Świadków
Jehowy w sprawie transfuzji krwi, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 24. 1358
M. Safjan, Prawo i Medycyna, Oficyna Naukowa, Warszawa 1998, S. 56.
351
Entscheidung soll das Gericht die Zugänglichkeit und Wirksamkeit der alternativen
Heilungsmethoden berücksichtigen. Den Vorschriften des Familiengesetzbuches, wonach der
Entscheidungsmaßstab in Angelegenheiten des Kindes sein Wohl sein sollte, kann kein Gebot
entnommen werden, eine bestimmte oder allgemein benutzte Heilungsmethode anzuwenden,
wenn die Interessen des Kindes in einer anderen Weise das Genüge getan wird. Der Beweis
der Unabdingbarkeit einer bestimmten Behandlung für die Rettung des Lebens und
Gesundheit des Kindes obliegt dem Arzt.1359
Was die Bluttransfusion angeht, wird zu Recht vertreten, dass ihre Verweigerung niemals
geachtet werden kann, und zwar unabhängig davon, ob der Minderjährige über die genügende
Einsichtsfähigkeit verfügt oder nicht. Richtungsweisend ist hier Art. 3 der
Kinderrechtekonvention, der gebietet, dem Interesse des Kindes immer gerecht zu werden,
auch wenn dies gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen geschieht.1360
Die
Verweigerung seitens der Eltern, dass ihr Kind aus religiösen Gründen der Bluttransfusion
unterzogen wird, kann wegen des Schutzes der Gesundheit verboten werden.1361
Diese
Auslegung findet die Bestätigung in Art. 5 Nr 5 der Erklärung über die Beseitigung aller
Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung,
wonach die Ausübung der Religion oder Überzeugung, in der ein Kind erzogen wird, weder
seine körperliche oder geistige Gesundheit noch seine volle Entfaltung beeinträchtigen darf.
Der Wille der Eltern und gegebenenfalls des minderjährigen Patienten soll dagegen
respektiert werden, wenn alternative Handlungsmethoden vorhanden sind. Wenn diese
Heilungsmethoden nicht zur Verfügung stehen, oder in Dringlichkeitsfällen, wenn eine
Gefahr für das Leben des Kindes oder seine Gesundheit besteht, soll Bluttransfusion
durchgeführt werden.1362
Die Eltern haben nämlich keine ius vitae ac necis, d.h. die
Verfügungsmacht über das Leben ihrer Kinder, wie es im römischen Recht der Fall war.
Wenn die Verfügungsmacht der Eltern über das Vermögen ihrer Kinder in dem Sinne
beschränkt ist, dass ihnen verboten ist, diejenigen Handlungen in Bezug auf das Vermögen
der Kinder vorzunehmen, welche die Tätigkeiten der gewöhnlichen Verwaltung
1359
T. Wiwatowski, U. Chmielewska, A. Karnas, Prawo wyboru metody leczenia – stanowisko Świadków
Jehowy w sprawie transfuzji krwi, in: PiM, Nr. 4, 1999, S. 26. 1360
E. Brems, Article 14. The Right to Freedom of Thought, Conscience and Religion, Leiden, Boston 2006, S.
31. 1361
Ebenda, S. 33. 1362
C. Żaba, P. Świderski, Z. Żaba, A. Kllimberg, Z. Przybylski, Zgoda Świadków Jehowy na leczenie
preparatami krwi – aspekty prawne i etyczne, in: Archiwum Medycyny Sądowej i Kryminalistyki, Band. 57, Nr.
1, 2007, S. 141.
352
überschreiten, (Art. 103 § 3 Familiengesetzbuch), kann ihre Verfügungsmacht über die Person
des Kindes nicht anerkannt werden.1363
1363
M. Nesterowicz, Wyrok Cour Administrative d'Appel de Paris z 9. 06. 1998 (D. 1999. J. 277), in: PiM, Nr. 5,
2000, S. 154.
353
Kapitel VIII
Andere Modalitäten der Gewissensfreiheit
1. Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen
Die soziologische Relevanz eines Verweigerungstyps wird durch das geltende Recht und die
wandelnden moralischen Haltungen der Gesellschaft determiniert. Sie unterliegt somit den
konstanten historischen Veränderungen.1364
Die soziale Entwicklung und Dynamik der
Rechtsordnung führt zur Entstehung neuer Verweigerungstypen, während die „alten“
Verweigerungstypen in den Hintergrund tretten.1365
Was die Situation in Polen angeht,
betreffen die obigen Bemerkungen das Verweigerungsrecht aus Gewissensgründen. Seit 2010
wurde nämlich in Polen die Berufsarmee eingeführt, was zur Folge hat, dass diese Modalität
an praktischer Bedeutung verloren hat. Die folgenden Ausführungen beschränken sich
deshalb auf die Skizzierung der verfassungsrechtlichen Regelungen der Voraussetzungen der
Inanspruchnahme des Wehrdienstverweigerungsrechts, ohne auf die verfahrensrechtliche
Problematik einzugehen.
Art. 85 Abs. 3 Verf. bestimmt, dass der Bürger, dessen religiöse oder moralische
Überzeugungen die Leistung des Militärdienstes verbieten, kann nach den in einem Gesetz
festgelegten Grundsätzen zum Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Verfassung macht somit
die Inanspruchnahme des Rechts auf Wehrdienstverweigerung von der Ableistung des
Ersatzdiensts nicht abhängig. Es ist allerdings anzunehmen, dass die Rechtsgrundlage für das
Wehrdienstverweigerungsrecht nicht Art. 85 Abs. 3 Verf., sondern die allgemeine
Gewissensfreiheit, also Art. 53 Abs. 1 Verf. bildet. Dem trägt auch die Regelung des Art. 85
Abs. 3 Verf. Rechnung, wo nicht nur von religiösen, sondern auch von moralischen, also
gewissensrelevanten Überzeugungen die Rede ist. Der normative Gehalt dieser Bestimmung
erschöpft sich damit, dass dem Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt wurde, den
Verweigerern eine alternative Pflicht in Gestalt vom Ersatzdienst aufzuerlegen. Für diese
Auslegung spricht auch die systematische Stellung des Art. 85 Abs. 3 Verf.; die Vorschrift ist
nämlich nicht im Grundrechtsteil der Verfassung, sondern im Abschnitt „Pflichten“ situiert.
1364
I. C. Ibán, L. Prieto Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 162. 1365
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, Madrid 1993, S. 32.
354
Die vorangehenden Absätze des Art. 85 Verf. regeln die Pflicht jeden Bürgers, das Vaterland
zu verteidigen.
In das polnische Recht lasen sich die Ausführungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts
übertragen, wonach das Recht auf Wehrdienstverweigerung nicht nur in Kriegs-, sondern
auch in Friedenszeiten gilt. Daher wird auch Wehrdienst im Frieden, d. h. Ausbildung an
Waffe von seinem Schutzbereich erfasst. Diese Auslegung ist einzig sinnvoll, „nicht nur, weil
der Staat kein Interesse daran haben kann, Wehrpflichtige mit der Waffe auszubilden, die im
Kriegsfall die Waffenführung verweigern werden, sondern auch vom Standpunkt des
Einzelnen aus, dem eine Ausbildung nicht aufgezwungen werden darf, die einzig den Zweck
hat, ihm zu einer Betätigung vorzubereiten, die er aus Gewissensgründen ablehnt.“1366
Im deutschen Schrifttum ist die Ansicht vertreten, dass die Voraussetzung für die
Anerkennung als Wehrdienstverweigerer die Ablehnung jeder Gewaltanwendung d.h. „die
Verweigerung jeder Form der Gewalt aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen (die
beiden Termine sind dabei weit auszulegen) und daher jeder militärischen Schulung, die
danach bezweckt, den Staat im Notfall mit der Waffe zu verteidigen“,1367
sein soll. Das Recht
auf Wehrdienstverweigerung bezweckt nämlich den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang
zu bewahren, in einer Kriegshandlung einen anderen töten zu müssen, wenn ihm das
Gewissen eine Tötung grundsätzlich und ausnahmslos zwingend verbietet. Allerdings kann
differenzierte Stellungnahme eines Kriegsdienstverweigerers zu den Problemen der Notwehr,
Sterbehilfe oder Abtreibung nicht ohne nähere Prüfung seiner Motivation als
ausschlaggebendes Beweiszeichen gegen eine unbedingte Gewissensentscheidung für die
Verweigerung des Kriegsdienstes bewertet werden.1368
Diese Meinung kann allerdings auf die polnische Rechtsordnung nicht übertragen werden.
Weder Art. 53 Abs. 1 Verf. noch Art. 85 Abs. 3 Verf. stellt auf das absolute Tötungsverbot als
1366
BverfGE, 12, 45, 56. 1367
J. O. Araujo, La objeción de conciencia al servicio militar, S. 204. 1368
B. Schmidt, Bleibtreu, F. Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Berlin 1995, Art. 4, S. 217, Rn. 16; A.
Bleckmann, Staatsrecht II – die Grundrechte, Köln, Berlin, Bonn, München 1997, S. 782, Rn. 61; Ch. Starck in:
H. v. Mangoldt , F. Klein, Ch. Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, München 1985, Art. 4, S. 481, Rn. 106.
355
eine einzige Voraussetzung der Freistellung vom Wehrdienst ab. Der Wortlaut des Art. 83
Abs. 3 spricht vielmehr vom Militärdienst, ohne auf Tötungshandlungen Bezug zu nehmen.
Der Grund für die Zubilligung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung ist daher in der
organisatorisch - funktionellen Einordnung des Einzelnen in ein System zu sehen, das ihm die
persönliche Übernahme der Verantwortung für die Folgen seines Handelns unmöglich macht.
Während des Militärdienstes wird der Einzelne nämlich zu einer fremdbestimmten
Waffenführung gezwungen. Das entscheidende Kriterium für den Einzelnen ist somit die
Eingliederung in bewaffnete Verbände, die für kriegerische Kampfhandlungen ausgerüstet
und ausgebildet werden. Demnach sind primär auf potenzielle Tötungshandlungen nicht
abzustellen, sondern entsprechend dem Wortlaut des Art. 85 Abs. 3 Verf. auf den Charakter
des Militärdienstes. Es ist somit anzunehmen, dass durch das Wehrdienstverweigerungsrecht
nicht nur derjenige geschützt wird, der jede Tötungshandlungen als mit seinem Gewissen
unvereinbar ablehnt, sondern auch derjenige, der „auf Geheiß“ infolge seiner Integration in
ein System mit strenger Über/Unterordnung zu Tötungen bereit sein muss. Schutz wird
demjenigen gewährt, für den wegen Ein- und Unterordnung die Folgen seines Handelns
unverantwortbar sind, weil er sich bei fremdbestimmter Waffenführung zu einer eigenen
Gewissensentscheidung außerstande sieht.1369
Da die polnische Verfassung in dieser Hinsicht keine Einschränkung enthält, ist anzunehmen,
dass zu den geschützten prinzipiellen Wehrdienstverweigerern nicht nur die dogmatischen
Pazifisten zählen, die jeden Krieg überall und in jeder Zeit ablehnen, sondern auch diejenigen,
die den Wehrdienst hier und jetzt allgemein ablehnen, die Motive hierzu aber der historischen
oder politischen Situation entnehmen.1370
Auch der bereits eingezogene Soldat ist Träger des
Grundrechts und kann eine entsprechende Gewissensentscheidung treffen.1371
Für die jetzige
1369
M. Morlok, in: H. Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Tübingen 1996, Art. 4, Rn. 135ff, S. 336f. 1370
Für die Einbeziehung der situationsbedingten Gründen in den Schutzbereich des
Wehrdienstverweigerungsrechts spricht sich ein großer Teil des deutschen Schrifttums: z.B. A. Bleckmann,
Staatsrecht II – die Grundrechte, Köln, Berlin, Bonn, München 1997, S. 783, Rn. 62; G. Leibholz, H.J. Rinck, D.
Hesselberger, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar an Hand der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, Köln 1993, Rn. 251, S. 19; M. Morlok, in: H. Dreier, Grundgesetz, Kommentar,
Tübingen 1996, Art. 4, S. 339, Rn. 136. 1371
Ch. Starck in: H. v. Mangoldt, F. Klein, Ch. Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, München 1985, Art. 4,
S. 477, Rn. 98.
356
polnische Rechtslage bedeutet dies, dass ein Berufssoldat das Recht hat, aufgrund einer
Gewissensentscheidung sein Arbeitsverhältnis etwa durch Kündigung zu Ende zu bringen.
2. Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen
2.1. Problemstellung
Die Steuerpflicht hat ihre normative Grundlage in Art. 85 Verf., wonach jedermann
verpflichtet ist, den im Gesetz bestimmten öffentlichen Lasten und Pflichten, insbesondere
seiner Steuerpflicht, nachzukommen. Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen richtet
sich allerdings nicht gegen die Steuerpflicht als solche, sondern gegen die staatlichen
Ausgaben, welche sie für moralisch inakzeptabel halten insbesondere die Ausgaben für die
Unterhaltung der Streitkräfte. Die Verweigerer der Steuerzahlung aus Gewissensgründen
enthalten sich nämlich unter Hinweis auf pazifistische Überzeugungen von der Zahlung
desjenigen Steueranteils, der direkt oder indirekt für militärische Zwecke verwendet wird.
Damit wird aber auch die verfassungsrechtliche Aufgabe der Verteidigung des Vaterlandes
tangiert (Art. 26 Abs. 1, Art. 85 Abs. 1 Verf.). Die verweigerte Rechtspflicht hat somit den
verfassungsrechtlichen Rang.
Darüber hinaus ist die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen unter dem Gesichtspunkt
des Grundsatzes des demokratischen Rechtsstaates nicht unproblematisch: die
Steuerverweigerer sind bereit, die ausstehende Summe der verweigerten Steuer nur unter
Bedingung zu entrichten, dass das Geld friedlichen Zwecken zugeführt wird. Indem sich die
Steuerverweigerer auf die Gewissensfreiheit berufen, beanspruchen sie das Recht, über die
Verwendung ihrer Steuerzahlungen zu entscheiden, also sich die Kompetenzen der
Repräsentanten des Souveräns anzumaßen. Aus diesen Gründen ist umstritten, ob die Pflicht,
durch Steuerzahlung zur Finanzierung der bestimmten Staatsabgaben beizutragen, überhaupt
unter dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit fällt. An diese Frage kann aus der objektiven
Perspektive der Rechtsordnung oder aus der subjektiven Perspektive des Einzelnen
herangegangen werden.
357
2.2. Objektiver Ansatz (Perspektive der Rechtsordnung)
Unter dem strikt rechtlichen Gesichtspunkt handelt es sich bei der Steuerverweigerung aus
Gewissensgründen um eine direkte Verweigerung; die Gewissensbedenken des Verweigerers
richten sich nämlich nicht gegen die Rechtspflicht der Steuerzahlung als solche, sondern
gegen die Rechtsnormen, welche die Bestimmung der eingesammelten Gelder regeln. Wenn
jedoch anzunehmen wäre, dass der Schutzbereich der Gewissensfreiheit auf
höchstpersönliche, eigenhändige Pflichten verengt sein soll, dann würde die Verweigerung
der Steuerzahlung durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit offenkundig nicht
geschützt.1372
Außerdem kann die Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen
wegen der Bestreitung der Entscheidungen des Parlaments über die Ausgaben eines Teils der
Staatsgelder unabhängig von der Absicht des Verweigerers als Form des politischen Drucks
angesehen werden. Damit nähert sich die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen der
Rechtsfigur des zivilen Ungehorsams an.1373
Weiterhin kommt die Gewissensfreiheit erst dann zum Zuge, wenn es sich um ein bestimmtes
Verhalten des Einzelnen handelt. In diesem Zusammenhang wird argumentiert, dass im Fall
der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen gerade dieses Tatbestandsmerkmal fehlt. Das
Steuererhebungsverfahren ist nämlich grundsätzlich derart ausgestaltet, das kein eigenes
Verhalten des Steuerschuldners gefordert wird, weil die geschuldete Einkommenssteuer von
dem Arbeitgeber abgeführt wird. Aus diesem Grund ist der grundrechtliche Schutz der
Gewissensfreiheit von vornherein ausgeschlossen. Der Eingriff in die Gewissensfreiheit
könnte nur in den Fällen angenommen werden, wenn der Arbeitgeber oder der selbstständig
Erwerbstätige unmittelbar zur Berechnung, Anmeldung und Abführung der Steuerbeiträge
verpflichtet sind.1374
Die Anerkennung des Verweigerungsrechts der Steuerzahlung muss auch
daran scheitern, dass die Rechtsordnung ohnehin dem Einzelnen die Möglichkeit bereitstellt,
die eigenhändige Leistung zu verweigern und es auf die staatliche Vollstreckung ankommen
zu lassen.1375
Die Zwangsvollstreckung erscheint somit als eine hinreichende Alternative zur
freiwilligen Steuerzahlung. Konsequenterweise erübrigt sich, die Befreiungsmöglichkeit von
1372
A. Arndt, Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen, in: NJW, 1968, S. 2370. 1373
L. Prieto Sanchis, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,
1984, S. 49f. 1374
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 226. 1375
R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 140.
358
der Zahlung eines Teils seiner Steuerpflicht, welche für gewissenswidrige Zwecke bestimmt
wird, gesetzlich zu schaffen.1376
Gegen die Anerkennung der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen spricht auch die
Tatsache, dass die strikte Konnexion zwischen den erhobenen Einnahmen und Ausgaben in
dem modernen Steuerrecht überwunden ist. Aus öffentlichen Mitteln werden vielmehr alle
Ausgaben des Staates unabhängig von ihrer moralischen Qualifikation durch den Einzelnen
finanziert. Die konkreten Steuer werden nicht für die Finanzierung spezifischer
Staatsaufgaben erhoben, sondern zwecks Deckung aller Ausgaben insgesamt.1377
Aus diesem
Grund fehlt insofern bereits der Ansatzpunkt für eine Gewissensentscheidung.
2.3. Subjektiver Ansatz (Perspektive des Grundrechtsträgers)
Aus dem Gesichtspunkt des einzelnen Verweigerers ist der Unterschied zwischen dem
persönlichen Beitrag zu kriegerischen Handlungen und der mittelbaren finanziellen
Teilnahme an deren Finanzierung nicht immer geeignet, um die tatbestandliche Abgrenzung
vorzunehmen. Das Gewissen, das einen Einzelnen zur Verweigerung einer Rechtspflicht
bewegt, ist ein Gewissen des konkreten Menschen und kein Gewissen eines abstrakten
Bürgers oder Steuerzahlers.1378
Im Hinblick auf die Verantwortung vor dem eigenen
Gewissen kann daher nicht relevant sein, ob der Einzelne zu einer unmittelbaren Handlung
mit eigener Tatherrschaft gegen sein Gewissen gezwungen ist oder ob dieses Tun oder sein
Erfolg durch Dazwischentreten anderer Faktoren herbeigeführt wird.1379
Der Verweigerer, der
den Kriegsdienst mit der Waffe ablehnt und gleichzeitig keine moralischen Bedenken gegen
die Mitfinanzierung der militärischen Ausgaben hat, könnte als moralisch inkohärent und
sogar heuchlerisch angesehen werden.1380
Daraus ergibt sich, dass eine bloße Unmöglichkeit,
die Finanzierung der Abgaben zu vermeiden, welche von dem Einzelnen als moralisch
1376
W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting decisions of
conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for Church-State
Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 39. 1377
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 438. 1378
L. Prieto Sanchis, La objeción de conciencia como forma de desobediencia al derecho, in: Sistema, Nr. 59,
1984, S. 50, 53. 1379
E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 61; U. K. Preuß, Art. 4
Abs. 1, 2 in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt 1989, Art. 4, Rn. 41. 1380
A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos
Nr. 4, 1986-1987, S. 408.
359
tadelnswert angesehen werden, Gewissenskonflikte verursachen kann, deshalb ist die
Einbeziehung dieser Problematik zum Schutzbereich der Gewissensfreiheit gerechtfertigt.1381
Dem lässt sich allerdings einwenden, dass der Abgabenschuldner durch Zahlung der Steuern
nur einen mittelbaren Beitrag zu der gewissenswidrigen Verwendung leistet und ihm solch ein
mittelbarer Beitrag zu einer gewissenswidrigen Handlung weit eher zuzumuten ist, als eine
Verpflichtung, selbst die gewissenswidrige Handlung vorzunehmen. Aus der Sicht des
Einzelnen besteht daher ein qualitativer Unterschied zwischen einer konkretisierten und
personalisierten Teilnahme an einer für ungerecht gehaltenen Politik und einem
unpersönlichen, abstrakten Beitrag zu dieser Politik.
Eine Voraussetzung der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit ist ein objektiver Bezug der
erstrebten oder beanstandeten Wirkungen des Handelns auf den persönlichen
Verantwortungsbereich. Die Zurechenbarkeit einer Handlung dem Einzelnen kann entweder
nach objektiven (faktischen) oder nach normativen Maßstäben erfolgen. Was die faktische
Kausalität zwischen der Zahlung der Steuer und Finanzierung der abgelehnten Aufgaben
angeht, ist der Zurechnungszusammenhang zwischen der Steuerzahlung und Staatsausgaben
in Form der dem Haftungsrecht entliehenen kumulativen Kausalität erkennbar. Danach kann
zwar jede einzelne Steuerzahlung hinweggedacht werden, ohne dass dies sich auf den
Staatshaushalt auswirkt; beim Wegfall einer Steuerzahlung tritt der Erfolg nur deshalb ein,
weil andere Beiträge geleistet werden. Dieses Hinwegdenken kann sich aber nicht auf alle
oder die meisten Steuerzahlungen beziehen.1382
Da die kumulative Kausalität zwischen der
Steuerzahlung und Staatsausgaben objektiv besteht, ist durchaus vertretbar, dass sich der
Einzelne die Steuerzahlung seinem moralischen Verantwortungsbereich zurechnet.
Dem könnte entgegengehalten werden, dass tatsächliche Zusammenhänge zwischen der
Steuerzahlung und Staatsausgaben über die persönliche Zurechenbarkeit noch nichts besagen,
weil die Verantwortlichkeit des Einzelnen eine Frage der normativen und nicht faktischen
Zurechnung ist. Die rechtliche Zurechenbarkeit dem Einzelnen der Abgaben für
Militärzwecke entfällt wegen des Prinzips der Budgethoheit des Parlaments, wonach die
Entscheidungszuständigkeit in Budgetfragen dem Parlament zukommt. Der Einzelne wird
1381
I. M. Sanchis, La Objecion de conciencia, I. España, in: I. M. Sanchis, J. G. Navarro Floira, La libertad
religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 308. 1382
P. Tiedemann, Kriegssteuerverweigerung und Friedenssteuerfonds, in: DStZ, 1986, S. 457.
360
nämlich in seinem Gewissen entlastet, weil für die Verwendung der eingesammelten Gelder
die dafür zuständigen Organe in ihrer Verantwortung entscheiden. Wenn ein Staatsorgan für
den bestimmten Vorgang die Verantwortung trägt, kann dies die individuelle
Gewissensentscheidung nicht vereiteln.1383
Wer sich wegen seines finanziellen Beitrags für
die gewissenswidrige Zwecke mitverantwortlich fühlt, verkennt die „wichtige Schutzfunktion,
die das Repräsentationsprinzip und der Grundsatz der Budgeteinheit für das Gewissen des
einzelnen Bürgers haben.“1384
Die Verweigerung der Steuerzahlung kann daher in den Verantwortungsbereich des
Verweigerers nicht fallen, da die Entscheidung über die Mittelverwendung den Gegenstand
der ausschließlichen Verantwortung der zuständigen Repräsentationsorgane bildet. Insoweit
würde eine individuelle Wertentscheidung vorliegen, welche final in den verfassungsrechtlich
abgesteckten Verantwortungsbereich von Staatsorganen eingreift. Diese Begrenzung der
Gewissensfreiheit soll sich aus Normativität des positiven Rechts ergeben und gerechtfertigt
sein, um der Gefahr der Auflösung der Rechtsordnung abzuwenden.1385
Die Anerkennung des
Bestimmungsrechts über die Ausgabe der Steuergelder stellt die "Funktionsfähigkeit der
gesetzgebenden Körperschaften in Frage."1386
Sie würde die distributive Funktion des Staates
und der Regierung untergraben und daher auf die Negation des Staates hinauslaufen.
Aus der Sicht des Verweigerers handeln aber die Zuständigen gerade nicht verantwortlich. Es
wird deshalb von dem Verweigerer ein anderer Typ der Verantwortlichkeit geltend gemacht,
„der auf die Verflüchtigung von Verantwortungen im arbeitsteiligen Geflecht von
Institutionen und Kompetenzen reagiert und dies wegen der befürchteten schwerwiegenden
Folgen nicht als Entlastung zu verstehen vermag.“1387
Mag der Einzelne von Rechts wegen
von der Verantwortung für staatliche Ausgabenpolitik entlastet werden, sind die Fälle
denkbar, wo er sich „vom Gewissens wegen“ weiterhin moralisch verantwortlich dafür fühlt,
was mit seinem Geld geschieht.1388
Die Zurechnungsregeln der Ursächlichkeit sind zwar in
1383
S. Muckel, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, in: P. J. Tettinger, K. Stern, Kölner
Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte – Charta, Mümchen 2006, S. 321. 1384
J. Schmude, Mehrheitsprinzip und Gewissensentscheidung, in: Ch. Broda, Festschrift für Rudolf
Wassermann, zum sechszigen Geburtstag, Neuwied 1985, S. 209f, 215. 1385
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin 1989, S. 258. 1386
P. Selmer, Keine Gewissensentscheidung aus Gewissensgründen, Besprechung zu BFH v. 6. 12. 1991, in:
NJW, 1992, S. 1407. 1387
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York
1987, S. 313. 1388
P. Tiedemann, Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S. 71.
361
den Rechtsnormen enthalten, die Ausdehnung dieser Regeln auf die Gewissenssituation des
Verweigerers würde aber die Tatsache verkennen, dass er sich nicht auf Recht, sondern
gerade auf sein Gewissen beruft, das ihm unterschiedliche Zurechnungsordnung vorschreibt
und dadurch einen Gewissenskonflikt herbeiführt.1389
2.4. Die Steurerverweigerung aus Gewissensgründen und das Prinzip der
parlamentarischen Repräsentation
Die Anerkennung des Steuerverweigerungsrechts aus Gewissensgründen gerät in Konflikt mit
dem Grundsatz des demokratischen Rechtsstaates. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit
verleiht nämlich keine Herrschaftsrechte über Dritte. Niemand kann unter Berufung auf die
Gewissensfreiheit einen Rechtsanspruch geltend machen, dass ein Anderer sich seinem
Gewissen gemäß verhält, ansonsten würde die der Gewissensfreiheit zugrundeliegende Idee
der Selbstbestimmung in die Fremdbestimmung für Andere umschlagen.1390
Das Grundrecht
der Gewissensfreiheit verleiht mithin keinen Anspruch auf gesteigerte Einwirkung auf die
politische Willensbildung.1391
Darüber hinaus beinhaltet es kein Recht, in gewissensgemäßen
Verhältnissen leben zu können. Bei der Steuerzahlungsverweigerung aus Gewissensgründen
wird ein Mitbestimmungsrecht über die Mittelverwendung geltend gemacht. Dies umwandelt
die Gewissensfreiheit in ein Herrschaftsinstrument, was mit dem Demokratieprinzip als Mittel
kollektiver Selbstbestimmung unvereinbar ist.1392
Die Anerkennung des Rechts auf Steuerverweigerung aus Gewissensgründen lässt sich
schließlich mit den finanzrechtlichen Grundsätzen des parlamentarischen Konstitutionalismus
nicht vereinbaren.1393
Gemäß Art. 216 Abs. 1 Verf. werden die für öffentliche Zwecke
bestimmten Finanzmittel in der im Gesetz bestimmten Weise gesammelt und ausgegeben. Der
Staathaushalt wird in Form eines Haushaltsgesetzes für das Haushaltsjahr beschlossen (Art.
1389
H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der
Gewissensfreiheit (eText) (2001), http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf
(20.08.2010) 1390
S. Pau Agulles, La objeción de conciencia farmacéutica en España, Rom 2006, S. 35; U. Rühl, Das
Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York 1987, S. 314. 1391
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, Berlin 1989, S. 427. 1392
U. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, Frankfurt am Main, Bern, New York
1987, S. 315. 1393
Statt vieler: E. Schwierskott, Gwarancja wolności sumienia w systemach prawnych Polski i Niemiec, in:
Przegląd Sejmowy, Nr. 6, 2003, S. 64; B. P. Vermeulen, Scope and limits of conscientious objection, in: Council
of Europe, Freedom of Conscience, Strasburg 1993, S. 86.
362
219 Verf.). Die Kompetenz des Parlaments, finanzrechtliche Gesetze zu verabschieden,
interpretiert im Lichte des Prinzips der repräsentativen Demokratie in Verbindung mit
technischen Prinzipien des Budgetrechts (Fehlen der unmittelbaren Konnexion zwischen den
Beiträgen des Steuerschuldners und den konkreten Abgaben) macht die Abwägung mit
Gewissensfreiheit äußerst schwierig. Die Interessenabwägung zwischen der Gewissensfreiheit
und der Pflicht, zum Unterhalt der Streitkräfte finanziell beizutragen, wäre möglich nur dann,
wenn die verweigerten Beiträge automatisch für die Zwecke der zivilen Verweigerung
bestimmt würden. Von der Interessenabwägung kann dagegen keine Rede sein, wenn die
Steuerpflicht vor der Gewissensfreiheit gänzlich zurücktreten müsste, was der Fall wäre,
wenn die Beiträge den anderen als Verteidigungszielen zugeführt würden.1394
Das heutige
Finanz- und Steuerrecht sieht allerdings weder die Entscheidungsmöglichkeit des Einzelnen
im Bereich der Steuerbestimmung noch die Möglichkeit der Flexibilisierung der
Budgetausgaben vor. Die Interessenabwägung ist somit im polnischen Recht nicht
durchführbar. Der absolute Charakter der parlamentarischen Souveränität hinsichtlich der
Festlegung der staatlichen Abgaben auch im Bezug auf die Gewissensfreiheit ist somit
durchaus vertretbar.1395
Dem wurde entgegengehalten, dass die Unterstellung dem Verweigerer eines
Herrschaftsanspruches die Frage der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen in den
Bereich der Steuerverwendung rückt. Nach dem Trennungsprinzip kann der einzelne Bürger
hier in der Tat keine Einwirkung beanspruchen. Soweit aber der Verweigerer von der
Allgemeinheit lediglich verlangt, dass ihm aus Gewissensgründen Dispens von der
Steuererhebung erteilt wird, betrifft dies nach dem Trennungsgrundsatz die
Steuerverwendung überhaupt nicht. Überall dort, wo die Gerichte die Ablehnung des
Steuerverweigerungsrechts aus Gewissensgründen mit der Budgethoheit des Parlaments
begründen, geben sie zu erkennen, dass sie die Steuerverweigerung als eine Frage der
Steuerverwendung betrachten – ein schlichter Subsumtionsfehler. So gesehen wurde die Frage
der Steuerverweigerung gerichtlich noch gar nicht entschieden.1396
Dieser Argumentation
kann allerdings nicht gefolgt werden: es lässt sich nämlich nicht leugnen, dass der
Verweigerer durch die Ablehnung der Mitfinanzierung einer für moralisch verwerflich
1394
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 441. 1395
Ebenda, S. 442f. 1396
H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der
Gewissensfreiheit (eText) (2001), http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf
(20.08.2010).
363
angesehenen Staatsaufgabe einen – wenn auch indirekten und lediglich auf seine Person
beschränkten – Einfluss auf die Staatsaufgaben doch nehmen will. Der Anspruch auf
Befreiung von Steuerzahlung wird gerade wegen ihrer Verwendung geltend gemacht. Die
Loslösung der Steuererhebung und Steuerverwendung wirkt lebensfremd und daher kann
nicht bejaht werden.
Es ist daher anzunehmen, dass die Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen
wegen des Betrachtungshorizonts des Einzelnen d.h. seiner persönlichen Zurechnung der
Verantwortung, sowie wegen des Vorliegens der kumulativen Ursächlichkeit zwischen
seinem Beitrag und der Möglichkeit der Finanzierung der staatlichen Aufgaben durch den
Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit umfasst wird. Der
Verfassungsgrundsatz der repräsentativen Demokratie in Verbindung mit dem Grundsatz der
Budgethoheit des Parlaments, sowie den verfassungsrechtlichen Auftrag, die Streitkräfte zu
unterhalten, machen allerdings die eventuelle Abwägung der kollidierenden Interessen auf der
Schrankenebene nicht realisierbar. Die Gewissensfreiheit muss daher vor den genannten
Verfassungsgrundsätzen zurücktreten.
2.5. Rechtsvergleichende Bestätigung des erzielten Ergebnisses
Das erzielte Ergebnis findet seine Bestätigung in der Rechtsprechung anderer Länder und
deshalb lässt sich mittels der rechtsvergleichenden Auslegung untermauern. Als Beispiele
werden die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, der Europäischen
Kommission für Menschenrechte sowie des spanischen Verfassungstribunals skizierrt.
Aus der Rechtsprechung des BVerfG verdient die Bestimmung des Schutzbereichs der
Gewissensfreiheit anhand des negativen Abgrenzungskriteriums, dass sich die
Gewissensfreiheit ins Recht der Bestimmung über die Handlungen Anderer nicht umwandeln
kann, besondere Aufmerksamkeit. „Der Einzelne Bürger, der eine bestimmte Verwendung des
Aufkommens aus öffentlichen Abgaben für grundrechtswidrig hält, kann aus seinen
Grundrechten keinen Anspruch auf generelle Unterlassung einer solchen Verwendung
herleiten. Soweit diese Unterlassung mit seinem Glauben, seinem Gewissen, seinem
religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis unvereinbar ist, kann er jedenfalls nicht
364
verlangen, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen
oder ihrer Anwendung gemacht wird.“1397
Die Europäische Kommission für Menschenrechte legt dagegen den Schwerpunkt auf den
gewissensneutralen Charakter der Steuerpflicht: Sie hat nämlich die Beschwerden der
Abgabenverweigerer mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass Art. 9 EMRK nicht in allen
Fällen das Recht gewährt, sich in der öffentlichen Sphäre so zu benehmen, wie es der Glaube
erfordert. Geschützt wird danach nur das forum internum der Gewissensfreiheit und nur
solche Handlungen, die mit dem Glauben des Betroffenen eng verbunden sind und in einer
anerkannten Form wie Gottesdienst oder Anbetung diesen Glauben zum Ausdruck bringen.
Die Verpflichtung, Steuern oder Beiträge zur Pflichtversicherung zu zahlen, ist als eine
allgemeine, neutrale Pflicht zu qualifizieren, die keine spezifischen Implikationen für das
Gewissen des Einzelnen mit sich bringt. Die Kommission stellt abschließend fest, dass Art. 9
EMRK kein Recht gewährt, auf Grund der persönlichen Überzeugungen die Befolgung der
Gesetze zu vermeiden, die in allgemeiner und neutraler Weise im öffentlichen Bereich
Anwendung finden.1398
Der neutrale Charakter der Steuerzahlungspflicht zeigt sich auch
darin, dass kein Steuerzahler beeinflussen oder bestimmen kann, für welche Zwecke die
Steuern verwendet werden. Entsprechend kann auch die Steuerpflicht nicht die
Gewissensfreiheit verletzen, zumal in Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK die
Steuerhoheit der Staaten ausdrücklich anerkannt worden ist.1399
Das spanische Verfassungstribunal akzentuiert die Unvereinbarkeit des Rechts des Einzelnen,
über die Bestimmung eines Teils der Steuerschuld wegen seiner Weltanschauung zu
entscheiden, mit dem Prinzip des sozialen und demokratischen Rechtsstaates. Nach diesem
Prinzip „kommt die Interaktion zwischen dem Staat und der Gesellschaft in erster Linie durch
die Ausstattung des Parlaments, das das spanische Volk vertritt, mit der Zuständigkeit für die
Prüfung, Änderung und Verabschiedung des allgemeinen Budgets zum Ausdruck. Diese
Wechselwirkung wird weiter in das Bürgerrecht übertragen, an den öffentlichen
Angelegenheiten teilzunehmen, indem sie in periodischen Wahlen ihre Repräsentanten
1397
BverfGE, 67, 26, 37. 1398
App. 10358/83, DR 37, 142 (147); App. 10295/83; siehe auch: J. Frowein, Freedom of Religion in the
Practice of the European Commission and Court of Human Rights, in: ZaöRV, 1986, S. 254. 1399
App. 11991/86.
365
wählen, in denen sie mittels ihres Stimmrechts, ihre Billigung oder Missbilligung erteilen
können.“1400
2.6. Die Vorschläge de lege ferenda der gesetzgeberischen Ausgestaltung der
Steuerverweigerung aus Gewissensgründen
Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass sich das Recht auf die Steuerverweigerung
unmittelbar aus der verfassungsrechtlichen Verbürgung der Gewissensfreiheit nicht ableiten
ist; seine eventuelle Anerkennung in der Rechtsordnung bedürfte vielmehr der Tätigkeit des
Gesetzgebers. Die Befürworter der Gewährleistung des Steuerverweigerungsrechts aus
Gewissensgründen gehen davon aus, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit außer der
Sphäre der inneren moralischen Überzeugungen auch die Gewissensbetätigungsfreiheit
beinhaltet, die zwar kein Recht umfasst, von Anderen verlangen zu können, dass sie nach
Maßgabe des Gewissensurteiles des Verweigerers handeln, sie umfasst aber das Recht, zu
einem dem eigenen Gewissen widersprechenden Verhalten nicht gezwungen zu
werden.1401
Außerdem wird darauf hingewwiesen, dass die Gewissensfreiheit keinen numerus
clausus der geschützten Verweigerungstypen enthält. Deswegen kann es nicht darauf
ankommen, ob eine Gewissensentscheidung des Einzelnen den staatlichen Behörden
einleuchtet oder ob sie diese Entscheidung als wünschenswert ansehen.1402
Aus dem so weiten
Verständnis der Gewissensfreiheit wird gefolgert, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, durch
entsprechende Vorkehrungen, etwa durch Bereitstellung der gewissensschonenden
Alternativen, den effektiven Schutz der Gewissensfreiheit mit den staatlichen Interessen in
Einklang zu bringen. Wegen der objektiven Schutzgarantie der Gewissensfreiheit nimmt diese
Pflicht den Rang eines verfassungsrechtlichen Gebotes an.1403
Bezogen auf die Steuerweigerung aus Gewissensgründen wird vorgeschlagen, dass die
Rüstungsausgaben vom allgemeinen Budget herausgenommen werden und aus einem
Sondervermögen gedeckt werden, das über eine Zwecksteuer finanziert wird. Von dieser
1400
Urteil des spanischen Verfassungstribunals, ATC 71/1993 von 1. März 1993. 1401
S. Biały, Wybrane zagadnienia z bioetyki, Olecko 2006, S. 350f. 1402
D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 231; P. Tiedemann, Steuerverweigerung
aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S. 69f. 1403
P. Tiedemann, Kriegssteuerverweigerung und Friedenssteuerfonds, in: DStZ, 1986, S. 457; Derselbe,
Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S.71; H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die
Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der Gewissensfreiheit (eText) (2001),
http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf (20.08.2010).
366
Steuer könnte die Befreiung aus Gewissensgründen beansprucht werden. Um allerdings die
Belastungen der Verweigerer mit denjenigen der Nichtverweigerer auszugleichen, würde die
allgemeine Einkommensteuer der ersteren entsprechend erhöht. Auch verstärkte Berufung auf
das Verweigerungsrecht könnte die Streitkräfte nicht beeinträchtigen, wenn die Zwecksteuer
bei gleichzeitiger Senkung der allgemeinen Einkommensteuer erhöht würde.1404
Eine andere
Option wäre die Einführung einer Regelung, welche sich mit der in dem polnischen Recht
bereits vorliegenden Möglichkeit inspiriert, 1% der Einkommensteuer für die Einrichtungen
des Gemeinwohls nach der Wahl des Steuerschuldners zuzuwenden.1405
Die leztgenannte
Option stellt eine Variante des Vorschlags dar, spezielle Friedensfonds zu schaffen, durch
welche die verweigerten Gelder den Friedenszwecken zugeführt werden könnten. Die
gesetzliche Schaffung eines Fonds, dem die verweigerten Steuersätze zugeführt würden und
deren Prozentsatz jährlich im Haushaltsgesetz festgelegt würde, wäre nicht nur
verfassungsunwidrig, sondern vielmehr „mit dem Verfassungsgeist im größeren Maße
vereinbar.“1406
Auf diese Weise würde das Grundrecht der Gewissensfreiheit eine
begehrenswerte Schutzmodalität erhalten, ohne dass das Prinzip der parlamentarischen
Souveränität bei der Festlegung der öffentlichen Ausgaben durchbrochen würde. Die
Anerkennung der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen hätte zur Folge die
Einbeziehung in das demokratische System eines Partizipationselements. Damit würde die
Rigidität der in modernen politischen Systemen allanwesenden Option für die repräsentative
Demokratie überwunden. „Die Idee der Demokratie liegt nicht in der Notwendigkeit der
Anpassung an die Einschränkungen des Repräsentationsprinzips. Es muss vielmehr das
Konzept der Repräsentation an die Forderungen der Demokratie angepasst werden.“1407
Den dargestellten Vorschlägen der Anerkennung der Steuerverweigerung aus
Gewissensgründen lassen sich allerdings gewichtige Gegenargumente entgegenbringen. Da
aus der Gewissensfreiheit kein Recht ableitbar ist, eigene Gewissenspositionen für Andere
rechtlich verbindlich zu machen, hilft die Bereitstellung einer Handlungsalternative in diesem
Fall nicht weiter. Gerade wo der Gewissensträger seinen Standpunkt den Anderen auferlegen
1404
P. Tiedemann, Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, in: StuW, 1988, S. 70; P. Tiedemann,
Kriegssteuerverweigerung und Friedenssteuerfonds, in: DStZ, 1986, S. 458. 1405
I. M. Sanchis, La Objeción de conciencia, I. España, in: I. M. Sanchis, J. G. Navarro Floira, La libertad
religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 308; H. Maihold, Geld, Gesetz, Gewissen - Die
Steuerverweigerung aus Gewissensgründen als Sinnproblem der Gewissensfreiheit (eText) (2001),
http://www.gewissensfreiheit.de/Maihold_Steuerverweigerung.pdf (20.08.2010). 1406
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 445. 1407
J. J. González Encinar, Representación y partidos políticos, in: Garrorena Morales, El parlamento y sus
transformaciones actuales, Madrid 1990, S. 78.
367
will, erreicht die Interpretation der Gewissensfreiheit als Recht auf eine Handlungsalternative,
ihre Grenzen.1408
Darüber hinaus würde die Verabschiedung eines Gesetzes, welches durch
Schaffung eines Friedensfonds die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen ermöglichen
würde, die Steuerverweigerer für militärische Zwecke im Verhältnis zu denjenigen
Verweigerern privilegieren, welche die Finanzierung anderer Ausgaben (z.B. Abtreibung)
ablehnen, was mit dem Gleichheitssatz unvereinbar ist.1409
2.7. Fazit
Als Fazit ergibt sich, dass das Fehlen der objektiven Verbindung zwischen dem konkreten
Beitrag des Steuerverpflichteten und den Staatsausgaben, die soziologische Tatsache, dass es
sich um ein neues und äußerst marginales Phänomen handelt sowie die politische Motivation
der Verweigerer, grundsätzlich gegen die Anerkennung dieser Modalität der
Gewissensfreiheit spricht. Nur bei der „äußerst großzügigen Auslegung der ideologischen
Freiheit, die ohne Zweifel an ihre Entstellung grenzt“1410
, lässt sich die Verweigerung der
Steuerzahlung aus Gewissensgründen als eine grundrechtliche Betätigung der
Gewissensfreiheit charakterisieren.
3. Der Schutz der Gewissensfreiheit im Privatrecht
3.1. Die Drittwirkung der Grundrechte in der polnischen Verfassung
Inwieweit sich die Gewissensfreiheit im Privatbereich durchsetzen kann, ist die Frage der
Anerkennung der Drittwirkung der Grundrechte. Die horizontale Wirkung der Grundrechte ist
in der polnischen Lehre wie in der Lehre anderer Länder allerdings umstritten. Die
interpretatorische Entscheidung wird damit erschwert, dass die polnische Verfassung keine
ausdrückliche Bezeichnung der Subjekte enthält, an welche der Grundsatz der unmittelbaren
Anwendung der Verfassung gerichtet ist. Dies könnte zwar den Schluss nahelegen, dass die
Adressaten des Gebots der unmittelbaren Anwendung der Verfassung sowohl öffentliche als
1408
A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S.
38. 1409
B. P. Vermeulen, Scope and limits of conscientious objection, in: Council of Europe, Freedom of
Conscience, Strasburg 1993, S. 87. 1410
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 440.
368
auch private Subjekte sind, diese Auslegung ergibt sich aber aus der betroffenen
Verfassungsbestimmung nicht zwangsläufig und deshalb gibt einen Anstoß zur
Kontroverse.1411
Nach einer Ansicht wäre der Schluss aus der objektiv-rechtlichen Facette der Grundrechte auf
ihre unmittelbare Wirkung in den privatrechtlichen Verhältnissen zu weitreichend. Die direkte
Geltung der Grundrechte zwischen privatrechtlichen Subjekten würde ihnen die
Privatautonomie entziehen. „Denn die grundrechtlich gesicherte Freiheit der Bürger besteht
dem Grundsatz nach unter anderen gerade darin, nicht selbst unmittelbar an die Grundrechte
gebunden zu sein.“1412
Für den Ausschluss der horizontalen Wirkung der Grundrechte in der
polnischen Verfassung haben sich Banaszak1413
und Boć1414
ausgesprochen. Den Subjekten
des Privatrechts steht gemäß den zitierten Autoren kein Recht zu, sich in den durch das
Privatrecht normierten Rechtsverhältnissen unmittelbar auf die Verfassung zu berufen. Diese
Auffassung wird allerdings durch den Hinweis darauf abgemildert, dass der polnische
Verfassungsgerichtshof wie Verfassungsgerichte anderer Staaten, in deren Verfassungen die
Frage der Drittwirkung nicht ausdrücklich geregelt wurde, zur Ausdehnung der
Anwendbarkeit der Grundrechte auf die horizontale Ebene tendiert.1415
Die Pflicht, die Grundrechte der Verfassung (und Menschenrechte der völkerrechtlichen
Abkommen) zu schützen, ruht somit ausschließlich auf dem Staat. Seine Pflichten erschöpfen
sich jedoch nicht im Unterlassen, in die Grundrechtssphäre der Einzelnen einzugreifen. Der
Staat ist vielmehr verpflichtet, die Inanspruchnahme der Grundrechte effektiv zu machen. Ihm
obliegt daher, den Einzelnen mit geeigneten Maßnahmen gegen Eingriffe in die
1411
A. Łabno-Jabłońska, Zasada bezpośredniego obowiązywania konstytucyjnych praw i wolności jednostki.
Analiza prawnoporównawcza, in: L. Wiśniewski, Podstawowe prawa jednostki i ich sądowa ochrona, Warszawa
1997, S. 69. 1412
Ch. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der
Bundesrepublik Deutchland, Band VII, Heidelberg 1992, S. 221. 1413
B. Banaszak, M. Jabłoński, in: System ochrony praw człowieka, Kraków 2003, S. 54; B. Banaszak, Prawo
konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 452, Rn. 359. 1414
J. Boć, Konstytucje Rzeczypospolitej Polskiej oraz komentarz do Konstytucji z 1997 roku, Art. 8, Wrocław
1998, S. 32. 1415
B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 476. In diesem Zusammenhang wird auf die
Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (OTK –A 2002 Nr. 1, S. 33) hingewiesen: „Der Verfassungsgeber
hebt in Art. 51 Abs. 1 Verf. den Schutz des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Behörden hervor, Im Abs. 2
wurden die öffentlichen Behörden als verpflichtete Subjekte zur Verwirklichung der in dieser Vorschrift
genannten Rechte genannt. Art. 51 Abs. 1 bestimmt allerdings den zur Verwirklichung der in dieser Vorschrift
gewehrleisteten Rechte verpflichteten Subiekt nich eindeutig. Dies bedeutet, dass die genannte
Verfassungsvorschrift alle Fälle betrifft, in denen der Einzelne verpflichtet wird, Informationen über seine
Person anderen Subjekten also einschließlich der Privatsubjekte zu offenbaren.
369
Gewissensfreiheit seitens der Anderen, der Gruppen und Organisationen zu schützen.1416
Die
Umsetzung der grundrechtlichen Schutzpflichten obliegt dabei vor allem dem Gesetzgeber,
der bei der Ausgestaltung aller privatrechtlichen Gesetze die Grundrechte und damit auch die
Gewissensfreiheit zu berücksichtigen hat. Konkret ist der Gesetzgeber gehalten, nach
Möglichkeit die Eingriffe der privatrechtlichen Subjekte in die Gewissensfreiheit zu verbieten
und ihre Beeinträchtigungen für rechtswidrig zu erklären. Der Gesetzgeber ist auch
verpflichtet, die privatrechtlichen Normen präventiv derart auszugestalten, dass die Gefahr
von Beeinträchtigungen der Gewissensfreiheit gemindert und soweit möglich überhaupt
ausgeschlossen wird.1417
Darüber hinaus regelt die Verfassung keine Sanktionen für die
Verletzung der Grundrechte im privatrechtlichen Bereich. Die Normierung dieser Problematik
wurde dem Gesetzgeber überlassen. Aus dem Grundrecht auf die gerichtliche Verhandlung
lässt sich allerdings die effektive Schutzpflicht der Rechte und Freiheiten des Einzelnen gegen
Eingriffe seitens der privatrechtlichen Subjekte durch Aktivierung der staatlichen
Zwangsmittel ableiten.1418
Nach der anderen Meinung bildet der Grundsatz der unmittelbaren Anwendung der
Verfassung einen Anhaltspunkt für die Anerkennung der horizontalen Wirkung der
Grundrechte.1419
Dieser Grundsatz bedeutet, dass die Verfassungsnormen „eine reale und
selbstständige Grundlage für Lösung der verschiedenartigen individuellen Konflikte in allen
Typen der Rechtsverhältnisse“1420
bilden. Der Einzelne kann sich für den Schutz der
zivilrechtlich geschützten Rechte, etwa der persönlichen Rechtsgüter, zu denen auch die
Gewissensfreiheit gehört (Art. 23 Zivilgesetzbuch), unmittelbar auf die Verfassung berufen,
weil ihre unmittelbare Geltung zum Bereich der Rechte und Freiheiten nicht beschränkt ist.
Nach dem Inkrafttreten der „neuen“ Verfassung ist die unter Geltung der Verfassung von
1952 herrschende Meinung, wonach die verfassungsrechtlichen Bestimmungen in der
Rechtslösung konkreter zivilrechtlicher Rechtsstreite keine Anwendung finden, nicht mehr
1416
B. Dicuzzo, La libertà di pensiero, di coszienza e di religione, in: Defilippi, Bost, Harvey, La Convenzione
Europea dei Diritti dell‟ L‟Uomo e delle Libertà Fondamentali, Napoli 2006, S. 389f. 1417
M. Hilti, Gewissensfreiheit in der Schweiz, Dike, Zürich 2008, S. 225. 1418
K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik
Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 232. 1419
E. Dobrodziej, Ochrona dóbr osobistych, Aspekty prawne i praktyczne, Bydgoszcz 2003, S. 12; siehe auch:
S. Jarosz-Żukowska, Problem horyzontalnego stosowania norm konstytucyjnych dotyczących wolności i praw
jednostki w świetle Konstytucji RP, in: M. Jabłoński, Wolności i prawa jednostki w Konstytucji RP, Tom 1. Idee
i zasady przewodnie konstytucyjnej regulacji wolności i praw jednostki w RP, Warszawa 2010, S. 180. 1420
B. Banaszak, M. Jabłoński, in: System ochrony praw człowieka, Kraków 2003, S. 329.
370
beizupflichten.1421
Die Notwendigkeit der direkten Berufung auf die Verfassung kommt
allerdings nur ausnahmsweise vor, d.h. nur im Fall, wenn der ausreichende Schutz der
persönlichen Rechtsgüter durch den Gesetzgeber nicht gesichert wird.1422
Es ist deshalb
anzunehmen, dass obwohl die Verfassung eine „erhebliche Unterstützung“1423
für den Schutz
der persönlichen Rechtsgüter bietet, wird er weiterhin auf den zivilrechtlichen Bestimmungen
basieren. Dies erklärt sich damit, dass die Bestimmungen der Verfassung keine konkreten
Rechtsmittel im Fall ihrer Verletzung vorsehen.1424
Im Wege der Anwendbarkeit der Verfassungsnormen in privatrechtlichen Verhältnissen
scheint ihre Offenheit und Unbestimmtheit zu stehen. Dies hat zur Folge, dass die
Entscheidungsorgane bei der Abwägung der Interessen auf der Verfassungsebene, also ohne
Vermittlung des Gesetzgebers den weitgehenden Spielraum haben. Darüber hinaus macht die
Unbestimmtheit der grundrechtlichen Regelungen für den Einzelnen schwierig, die
Rechtsfolgen seines Verhaltens vorauszusehen, was die Gefahr für seine Rechte und
Freiheiten schafft. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass es Verfassungsvorschriften gibt,
welche die Voraussetzung der Bestimmtheit erfüllen. Andererseits ist diese Voraussetzung für
die Bestimmung der positiven Pflichten von größerer Bedeutung als im Fall der Bestimmung
der Unterlassungspflichten, welche in privatrechtlichen Verhältnissen Anwendung finden
können. Darüber hinaus werden die Verfassungsvorschriften auf der gesetzlichen Ebene nicht
immer näher konkretisiert. Dies betrifft auch die Fälle, wo der Gesetzgeber die
Achtungspflicht der Grundrechte auf privatrechtliche Subjekte ausdrücklich vorsieht. Dies ist
etwa bei dem zivilrechtlichen Schutz der persönlichen Rechtsgüter oder bei der
arbeitsrechtlichen Regelung des Gleichheitssatzes der Fall. Die nichtausreichende
Konkretisierung der grundrechtlichen Verbürgungen soll somit nicht hinwegtäuschen. Lassen
sich aus ihnen hinreichend bestimmte Verhaltensnormen ableiten, ist ihre unmittelbare
Anwendbarkeit in den privatrechtlichen Verhältnissen anzunehmen.1425
1421
S. Dmowski, S. Rudnicki, Komentarz do kodeksu cywilnego. Księga pierwsza. Część ogólna, Art. 23,
Paragraphnummer 3, Warszawa 2006, S. 98. 1422
P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, Warszawa 1995, S. 90. 1423
M. Pazdan, in: M. Sajan, System Prawa Prywatnego. Tom I. Prawo cywilne – część ogólna, Warszawa,
2007, S. 1115. 1424
S. Dmowski, S. Rudnicki, Komentarz do kodeksu cywilnego. Księga pierwsza. Część ogólna, Art. 23,
Paragraphnummer 4, Warszawa 2006, S. 98. 1425
K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik
Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 232f.
371
Neben dem Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit der Verfassung wird die horizontale
Wirkung der Grundrechte auch mit Hinweis auf die allgemeine Freiheitsklausel des Art. 31
Abs. 2 Verf. begründet. Gemäß Art. 31 Abs. 2 Verf. ist jedermann verpflichtet, die Freiheiten
und Rechte der Anderen zu achten. Daraus wird hergeleitet, dass die Grundrechte und
Grundfreiheiten sowohl vertikal, d.h. zwischen den Organen der öffentlichen Gewalt, als auch
horizontal, d.h. zwischen den natürlichen Personen sowie juristischen Personen des
Privatrechts gelten.1426
Die Gefährdung der individuellen Freiheit durch die privatrechtlichen
Subjekte rechtfertigt die Aktivität des Staates, notwendige Schutzmaßnahmen zu schaffen.1427
Andere Autoren beschränken die Achtungsfplicht der Grundrechte von privatrechtlichen
Subjekten auf diejenigen Grundrechte, aus deren Wesen sich ergibt, dass sie auf der
horizontalen Ebene ausgeübt werden können.1428
Dazu gehören die Grundrechte, welche von
den Dritten lediglich Unterlassung verlangen wie Verbot der Durchführung der medizinischen
Experimente ohne Einwilligung des Betroffenen oder das Folterverbot.1429
Diese
Beschränkung erklärt sich mit der Gegenüberstellung der Klausel der Freiheit (Art. 31 Abs. 2
Verf.) mit der Klausel der Menschenwürde (Art. 30 Abs. 1 Verf.): Die Pflicht, die
Menschenwürde zu schützen und zu achten, wurde lediglich den öffentlichen Gewalten
auferlegt. Die Tatsache, dass diese Pflicht auf Subjekte des Privatrechts nicht ausgedehnt
wird, erklärt sich mit ihrem positiven Charakter (schützen) und mit ihrer Unbestimmtheit. Die
jedermann auferlegte Pflicht, Freiheiten und Rechte Anderer zu achten, besteht darin, einen
Eingriff in die geschützten Rechtsgüter zu unterlassen.1430
Es ist der herrschenden Meinung in der polnischen Lehre beizupflichten, dass die Grundrechte
in den horizontalen Verhältnissen Anwendung finden, soweit sich aus den konkreten
Verfassungsvorschriften konkrete Verhaltensnormen ableiten lassen. Für die Drittwirkung der
1426
L. Wiśniewski, Zasady normatywnej regulacji wolności i praw człowieka, in: Konstytucja i Władza we
współczesnym świecie. Prace dedykowane Profesorowi Wojciechowi Sokolewiczowi na siedemdziesięciolecie
urodzin, Warszawa 2002, S. 114; derselbe, Zakres ochrony prawnej wolności człowieka i warunki jej
dopuszczalnych ograniczeń w praktyce, in: L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w
praktyce, Warszawa 2006, S. 23; K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w
Konstytucji RP, in: Kwartalnik Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 229. 1427
K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik
Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 240. 1428
L. Garlicki, Wolności, prawa i obowiązki człowieka i obywatela, in: L. Garlicki, Konstytucja
Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz III, Art. 31, Warszawa 2003, S. 11; K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar
praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S.
230. 1429
P. Winczorek, Prawo konstytucyjne Rzeczypospolitej Polskiej. Podręcznik dla studentów studiów
nieprawniczych, Warszawa 2003, S. 88. 1430
K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik
Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 231.
372
Grundrechte spricht, dass die Verfassung die Adressaten der Pflicht, die Grundrechte zu
verwirklichen, dahingehend differenziert, dass bei der Regulierung einiger Grundrechte die
öffentlichen Gewalten ausdrücklich als Pflichtadressaten bezeichnet werden, während in
anderen Fällen der Pflichtadressat nicht ausdrücklich genannt wird, was schließen lässt, dass
es sich um jedermann handelt. Die ausdrückliche Bezeichnung der öffentlichen Gewalten bei
den einigen Grundrechten lässt sich daher als Verengung des Kreises der Adressaten
interpretieren. Die Ausdehnung der Pflicht, die Grundrechte zu achten, auf alle Subjekte des
Rechtsverkehrs entspricht weiterhin der Axiologie der Verfassung: der Schutz der
Menschenwürde fordert, dass die Grundrechte in allen Rechtsverhältnissen geltend gemacht
werden können. Aus dem in Art. 5 Verf. verbürgten Staatszweck, die Freiheiten sowie
Menschen- und Bürgerrechte zu sichern, ergibt sich die Pflicht, die Verfassungsvorschriften
derart auszulegen, dass der möglichst weite Schutz der Grundrechte gewährleistet wird. Der
Gegenstand der Kontroverse kann somit nur die Art und Weise der Verwirklichung der
Grundrechte in den Verhältnissen zwischen den privaten Rechtssubjekten sein. Beizupflichten
ist dabei dem Ansatz der mittelbaren Drittwirkung, wonach das Gericht im Prozess der
Rechtsauslegung und Normfindung diejenige Interpretationsvariante wählen soll, die am
besten dem im entschiedenen Fall tangierten Grundrecht entspricht.1431
3.2. Die Auswirkung der Gewissensfreiheit im Zivilrecht
3.2.1. Die Gewissensfreiheit im Vertragsrecht
Neben der abwehrrechtlichen Funktion hat das Grundrecht der Gewissensfreiheit für das
Individuum auch eine schutzrechtliche Dimension gegenüber Beeinträchtigungen durch nicht-
staatliche Subjekte. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen verpflichtet, Schutznormen
zu schaffen, die gewährleisten, dass die Gewissensfreiheit in den gesellschaftlichen (privat-,
arbeits-, und wirtschaftsrechtlichen) Bereichen nicht leer läuft.1432
Soll die individuelle
Freiheit in Gefahr nicht geraten, ist der Grundrechtsschutz gegen die „sozialen Gewalten“
1431
P. Bachmat, Uwagi na temat horyzontalnego oddziaływania Europejskiej Konwencji Praw Człowieka, in:
PiP, Nr. 10, 2001, S. 81; zustimmend: S. Jarosz-Żukowska, Problem horyzontalnego stosowania norm
konstytucyjnych dotyczących wolności i praw jednostki w świetle Konstytucji RP, in: M. Jabłoński, Wolności i
prawa jednostki w Konstytucji RP, Tom 1. Idee i zasady przewodnie konstytucyjnej regulacji wolności i praw
jednostki w RP, Warszawa 2010, S. 92. 1432
D. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, in: BJ, Nr. 93, 2008, S. 229f.
373
etwa im Arbeitsrechtverhältnis unabweisbar.1433
„Auch wo sonst jemand einer überlegenen
oder einseitigen privaten Regelungsmacht, etwa dem Erziehungsrecht, eines anderen
ausgeliefert ist, verlangen Glaubens- und Gewissensfreiheit angemessene Beachtung.“1434
Die Berücksichtigung der Grundrechte im Privatrecht erfolgt durch grundrechtskonforme
Auslegung der privatrechtlichen Institutionen und nicht zuletzt dadurch, dass
wertausfüllungsbedürftige und wertausfüllungsfähige offene Rechtsbegriffe
grundrechtsorientiert und grundrechtsfreundlich interpretiert werden sollen.1435
Im polnischen
Recht ist vornähmlich auf die Generalklausel des Art. 5 Zivilgesetzbuch hinzuweisen, wonach
niemand von seinem Recht Gebrauch machen kann, der gegen die Grundsätze des
gesellschaftlichen Zusammenlebens verstößt. Durch diese Klausel findet der Schutz der
Menschenwürde und ihre Ausprägung in der Gewissensfreiheit den Eingang in das
Privatrecht. Zivilrechtliche Verträge, die darauf hinauslaufen, einer Partei die Freiheit ihrer
Entschlüsse in Gewissensfragen zu beschneiden, sind gemäß Art. 58 Abs. § 2 Zivilgesetzbuch
nichtig. Im Fall eines an sich rechtswirksamen Rechtsgeschäfts ist anzunehmen, dass ein
Verhalten einer Vertragspartei, das darauf bezweckt, den Vertragspartner zum Handeln gegen
sein Gewissen zu zwingen, gegen die Grundsätze des gesellschaftlichen Lebens verstößt.1436
Dem ist allerdings hinzufügen, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit in denjenigen
Fällen mittelbare Drittwirkung entfaltet, wo sich sein Kern mit dem Schutzbereich der
Menschenwürdegarantie deckt. Dies erklärt sich damit, dass die Menschenwürdegarantie
nicht nur den Staat verpflichtet, die Menschenwürde zu achten, d.h. selbst nicht zu verletzen,
sondern auch zu schützen, also die Verletzungen seitens anderer Subjekte abzuwenden. In den
Fällen der freiwillig übernommenen privatrechtlichen Verpflichtungen kommt der
1433
S. Jarosz-Żukowska, Problem horyzontalnego stosowania norm konstytucyjnych dotyczących wolności i
praw jednostki w świetle Konstytucji RP, in: M. Jabłoński, Wolności i prawa jednostki w Konstytucji RP, Tom
1. Idee i zasady przewodnie konstytucyjnej regulacji wolności i praw jednostki w RP, Warszawa 2010, S. 180. 1434
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 75; siehe auch: H. H. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in:
NvWZ, 1991, S. 1037. 1435
G. Quinn, Conscientious objection in labour relations (civil service and liberal professions), in: Council of
Europe, Freedom of conscience, Strasburg 1993, S. 120; K. Wojtyczek, Horyzontalny wymiar praw człowieka
zagwarantowanych w Konstytucji RP, in: Kwartalnik Prawa prywatnego, Nr. 1, 1999, Heft 2, S. 229f; U.
Steiner, Der Grundrechtsschutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. I, II GG), in: JuS, 1982, S. 164; H. H.
Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NvWZ, 1991, S. 1038; M. Hilti, Gewissensfreiheit in der
Schweiz, Zürich 2008, S. 226. 1436
Vgl. F. W. Bosch, W. Habscheid, Vertragsrecht und Gewissensfreiheit, in: JZ, 1954, S. 215, in Bezug auf
das deutsche Recht, die vorschlagen, dass in den beschriebenen Situationen jeweils § 138 I und 242 Anwendung
finden sollen.
374
Menschenwürdebestand der Gewissensfreiheit allerdings nicht in Frage; gerade die Achtung
der individuellen Autonomie und der Menschenwürde fordert, jedermann in seiner Fähigkeit,
Verpflichtungen einzugehen, ernst zu nehmen und ihn daher an freiwillig eingegangenen
Bindungen festzuhalten, auch an Bindungen, die der Staat nicht einseitig von sich seinen
Bürgern auferlegen dürfte.1437
Es ist nicht zu verkennen, dass die Vertragstreue einen
wichtigen Rechtswert darstellt. Darüber hinaus besteht eine Verbindung zwischen der
Vertragsfreiheit und der daraus resultierenden Vertragstreue einerseits und dem
verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht andererseits.1438
Die Verweigerung
aus Gewissensgründen kann daher im Vertragsrecht grundsätzlich nicht akzeptiert werden. Da
der Einzelne den Vertrag freiwillig geschlossen hat, haben die vertraglichen Verpflichtungen
im Vergleich zum gesetzten Recht stärkere rechtliche und moralische Geltungskraft. Auch die
soziale Erwartung der Pflichterfüllung ist in diesem Fall höher, als wenn dem Einzelnen eine
Rechtpflicht ohne seine Zustimmung auferlegt wird.1439
Es ist daher anzunehmen, dass die
verweigerte Rechtsnorm dem Einzelnen gegenüber weiter gilt, ihre Befolgung kann allerdings
wegen der Auswirkung des grundrechtlichen Schutzes im Privatrecht nicht erzwungen
werden. Für das Privatrecht hat dies zur Folge, dass ein Gewissenskonflikt den Schuldner von
der Leistungspflicht nicht befreit, schließt aber die Erzwingung der Leistung aus.1440
Die Pflicht zum Schadenersatz setzt aber das Verschulden einer Vertragspartei voraus. Nach
einer Ansicht ist das Verschulden nur dann zu bejahen, wenn der Schuldner beim
Vertragsabschluss erkannte oder bei genügender Sorgfalt hätte erkennen können, dass er den
Vertrag aus Gewissensgründen nicht würde einhalten können. Bei der Vorhersehbarkeit eines
Gewissenskonflikts treffen den Einzelnen im Zweifel alle Rechtsfolgen, welche das geltende
Recht an eine vom Vertragspartner zu vertretende verzögerte oder mangelhafte Erfüllung,
bzw. Nichterfüllung knüpft.1441
In den Fällen der auf Dauer angelegten Schuldverhältnisse
1437
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 53, Rn. 83; R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz
Kommentar, München 1993, Rn. 146. 1438
W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting decisions of
conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for Church-State
Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 41; H. Bethge, Das Grundrecht der
Gewissensfreiheit, in: J. Isensee, P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band
VI, Heidelberg 1989, S. 444. 1439
I. M. Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State Relations,
Conscientious objection in the EU countries, Milano 1992, S.108. 1440
A. Blomeyer, Gewissensprivilegien in Vertragsrecht, in: JZ, 1954, S. 312. 1441
F. W. Bosch, W. Habscheid, Vertragsrecht und Gewissensfreiheit, JZ, 1954, S. 215; Stein, Gewissensfreiheit
in der Demokratie, S. 56; R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens,- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der
Religionsausübung – Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner
375
kann die Verweigerung aus Gewissensgründen einen wichtigen Kündigungsgrund
darstellen.1442
Bei der Vorhersehbarkeit einer Verweigerung aus Gewissensgründen trifft den
Vertragsbrüchigen somit die Schadensersatzpflicht. Da der Gläubiger den Schuldner zur
Hinnahme des Schadenersatzes zwingt, kann von der Verletzung des Gleichheitssatzes nicht
die Rede sein, insbesondere in den Fällen, wenn sich der Schuldner selbst durch den
gedankenlosen oder zumindest voreilten Abschluss des Vertrages in diese Situation gebracht
hat.1443
Nur in den extremen Ausnahmefällen wäre mit Grundsätzen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens unvereinbar, jemanden gegen sein Gewissen an einer Vertragspflicht
festzuhalten und ihm einen wegen Nichterfüllung entstandenen Schaden aufzubürden. In
diesem Zusammenhang gibt Zippellius das Beispiel eines Naturwissenschaftlers an, der mit
Schrecken bemerkt, dass die Ergebnisse seiner Forschung unvorhersehbarer Weise zur
Herstellung der Vernichtungswaffe führen können. In diesem Fall verstößt gegen Treu und
Glauben, ihn vor der Alternative zu stellen, die Forschung dienstvertragsgemäß gegen sein
Gewissen fortzusetzen oder einen ihn ruinierenden Schadenersatz zu zahlen.1444
Nach einer anderen Ansicht ist die Vorhersehbarkeit einer Gewissensentscheidung als venire
contra factum proprium nicht anzusehen, weil niemand in seinem früheren Verhalten in
Widerspruch gerät, wenn er später eine sittliche Fehlentscheidung nicht bis zum Ende
verwirklichen will.1445
Nach dieser Ansicht wird der Schwerpunkt einseitig auf die
Gewissenslage des Grundrechtsträgers gelegt, während die sozialen Folgen seines Verhaltens,
insbesondere das freiwillige Eingehen in eine Verpflichtung und das daraus resultierende
Vertrauen Anderer außer Acht gelassen werden.
3.2.2. Die Gewissensfreiheit als persönliches Rechtsgut
Das polnische Zivilrecht kennt die Kategorie der sog. persönlichen Rechtsgüter. Damit
werden die durch die Gesellschaft und das Recht anerkannten immateriellen Werte und
Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 82; R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz
Kommentar, München 1993, Rn 142; M. Hilti, Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 228f. 1442
R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 147; F. Filmer, Das
Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 237. 1443
R. Herzog, Art. 4, in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 140. 1444
R. Zippellius, Artikel 4: Glaubens-, Gewissens-, und Bekenntnisfreiheit – Freiheit der Religionsausübung –
Kriegsdienstverweigerungsrecht in: R. Doltzer, Ch. Waldhoff, K. Graßhof, Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, Heidelberg 2008, Rn. 82 1445
W. Habscheid, Arbeitsverweigerung aus Glaubens- und Gewissensnot?, in: JZ, 1964, S. 247.
376
hochgeschätzten Zustände gemeint. Dazu gehört insbesondere die körperliche und psychische
Integrität des Menschen, seine Individualität, Würde, gesellschaftlicher Status und Ruf, sowie
sein kreatives Potenzial.1446
Der Katalog der persönlichen Rechtsgüter befindet sich in Art. 23
Zivilgesetzbuch. Danach stehen die persönlichen Rechtsgüter des Menschen unter dem
zivilrechtlichen Schutz unabhängig davon, ob ihr Schutz auch durch andere Vorschriften
vorgesehen ist. Die Aufzählung der persönlichen Rechtsgüter in Art. 23 Zivilgesetzbuch ist
dabei nicht enumerativ. Der Gesetzgeber hat die folgenden persönlichen Rechtsgüter
ausdrücklich erwähnt: die Gesundheit, Freiheit, Ehre, Gewissensfreiheit, der Name oder
Pseudonym, das eigene Bildnis, das Briefgeheimnis, die Unverletzlichkeit der Wohnung,
sowie die schöpferische Tätigkeit auf den Gebieten der Wissenschaft, der Kunst, des
Erfindungs- und Rationalisierungswesens. In der früheren Lehre und Rechtsprechung wurden
die persönlichen Rechtsgüter subjektiv d.h. als individuelle Werte der psychischen und
gefühlsmäßigen Innenwelt verstanden. Heutzutage überwiegt dagegen der objektive Ansatz,
wonach für die Erfassung des Wesens eines persönlichen Rechtsgutes und seiner Verletzung
auf objektive Maßstäbe, d.h. auf Kriterien, welche sich auf die in der Gesellschaft
anerkannten Wertungen beziehen, zurückzugreifen ist.1447
Wer durch eine fremde Handlung in ein persönliches Rechtsgut bedroht wird, kann die
Unterlassung dieser Handlung verlangen, es sei denn dass sie nicht rechtswidrig ist.
Charakteristisch für den Schutz der persönlichen Rechtsgüter ist dabei die Vermutung der
Rechtswidrigkeit ihrer Verletzung. Der Beklagte hat somit die Pflicht, die Rechtsmäßigkeit
des Eingriffs zu beweisen. Zu den Umständen, welche die Rechtswidrigkeit des Eingriffes
ausschließen, gehören vornehmlich: Einwilligung des Betroffenen zum konkreten Handeln
des Verletzers, das Handeln innerhalb der Rechtsgebote, sowie der Rechtsmissbrauch des
Geschädigten. In diesem Fall muss er die reale Möglichkeit des bevorstehenden Eingriffs
beweisen. Das Urteil kann sich dabei nicht auf ein allgemeines Verbot beschränken, das
persönliche Rechtsgut zu verletzen, sondern das konkrete Handeln angeben, das zu
unterlassen ist. Wenn dagegen die Verletzung eines persönlichen Rechtsguts bereits erfolgt
ist, kann der Geschädigte verlangen, dass der Verletzer die zu ihrer Beseitigung erforderlichen
1446
Z. Radwański, Prawo cywilne. Część ogólna, Warszawa 2009, S. 57, A. Cisek, in: E. Gniewek, Kodeks
cywilny. Komentarz, Warszawa 2004, Art. 23, S. 56, Rn. 2. 1447
K. Pietrzykowski, Kodeks cywilny. Komentarz. Tom I, Warszawa 2008, S. 83.
377
Maßnahmen ergreift. Der Berechtigte soll dabei die Art und Weise der Behebung des
Eingriffs angeben.1448
Wenn infolge der Verletzung eines persönlichen Rechtsgutes Vermögensschaden entstanden
ist, kann der Geschädigte Schadenersatz nach allgemeinen Grundsätzen verlangen. Die
anderen Vermögensansprüche wegen Verletzung eines persönlichen Rechtsgutes sind: ein
angemessener Geldbetrag als Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht, sowie – auf
Verlangen des Berechtigten – eine Geldleistung für ein sozialer Wohlzweck (Art. 448
Zivilgesetzbuch). Die Wiedergutmachung hat allerdings den fakultativen Charakter. Das
bedeutet, dass das Gericht nicht verpflichtet ist, die Wiedergutmachung zuzuerkennen, auch
wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Zuerkennung der Wiedergutmachung
hängt vielmehr von den Umständen des konkreten Falles ab; es wird etwa der Ausmaß des
Eingriffs und das Verschulden des Schädigers sowie eventuell der Ausmaß, in dem der
Geschädigte zur Verletzung des persönlichen Rechtsgutes beigetragen hat, in Betracht
gezogen. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Handlung bei gleichzeitiger Verneinung
des Verschuldens des Verletzers reicht für die Zuerkennung der Wiedergutmachung nicht aus.
Darüber hinaus wird die Zuerkennung der Wiedergutmachung weder von dem Typ des
persönlichen Rechtsguts noch von den verlangten und gewährten Schutzmitteln abhängig
gemacht.1449
Die Zahlung eines angemessenen Geldbetrages für einen sozialen Wohlzweck
kann unabhängig von anderen zur Beseitigung der Folgen der Verletzung des persönlichen
Rechtsgutes erforderlichen Maßnahmen, etwa neben der Geltendmachung des Anspruchs auf
Wiedergutmachung, verlangt werden.
Was die Auslegung der Gewissensfreiheit als persönliches Rechtsgut angeht, wird sie mit der
Religions- und Weltanschauungsfreiheit gleichgestellt, ohne dass das Recht auf ethische
Selbstbestimmung und auf Handeln gemäß anerkannten ethischen Werten erwähnt wird. Es
wird nämlich vertreten, dass obwohl unter den in Art. 23 Zivilgesetzbuch aufgezählten
persönlichen Rechtsgütern die Religionsfreiheit neben der Gewissensfreiheit überhaupt nicht
erscheint, steht außer Zweifel, dass die Glaubensfreiheit und deren Ausübung in diesem
Begriff umfasst ist.1450
Nach h. M. wird zwar aus Gewissensfreiheit der Schutz von Eingriffen
1448
J. Chaciński, Prawa podmiotowe. Ochrona dóbr osobistych, Lublin 2004, S. 135. 1449
E. Dobrodziej, Ochrona dóbr osobistych, Aspekty prawne i praktyczne, Bydgoszcz 2003, S. 28. 1450
H. Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 511.
378
„in die Welt der Begriffe, Anschauungen, Vorstellungen und Überzeugungen“1451
des
Einzelnen abgeleitet, der Schwerpinkt wird aber auf die Freiheit gelegt, eine Religion zu
bekennen oder nicht zu bekennen und die religiösen Sitten und Bräuche auszuüben oder nicht
auszuüben. Der Schutz der Gewissensfreiheit kann auch in Entgegenwirkung der
Diskriminierung wegen Nationalität, Rasse oder Anschauungen zum Ausdruck kommen.1452
Die Fokussierung auf die religiöse Facette bei der Auslegung der Gewissensfreiheit als
persönliches Rechtsgut hat zur Folge, dass sein zivilrechtlicher Schutz nur ausnahmsweise ins
Spiel kommt. Als geeignetes Schutzmittel in diesem Bereich dienen vielmehr die
strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Maßnahmen zum Schutz der
Religionsfreiheit.1453
Aus dem Gesagten ist sichtbar, dass obwohl die Gewissensfreiheit als
ein der persönlichen Rechtsgüter durch dem Gesetzgeber ausdrücklich erwähnt wurde und das
Konzept der persönlichen Rechtsgüter zum Schutz dieses Grundrechts in privatrechtlichen
Verhältnissen durchaus nützlich ist, kann wegen interpretorischen Reduzierung seines Gehalts
auf den Schutz des religiösen Glaubens nicht erwartet werden, dass dieses Schutzmittel zum
Schutz des Rechts auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung im Bereich des Ethischen
in absehbarer Zukunft zur Anwendung kommt.
3.2.3. Auswirkungen der Gewissensfreiheit im Arbeitsrecht
Die Pflicht des Arbeitgebers, die Menschenwürde und andere persönliche Rechtsgüter des
Arbeitnehmers zu achten, wurde durch den Gesetzgeber zum Rang des Grundsatzes des
Arbeitsrechts erhoben. Im Fall der Verletzung der persönlichen Rechtsgüter kann der
Arbeitgeber unabhängig von der Haftung wegen der Verletzung der Rechte der Arbeitnehmer
auch aufgrund der oben dargestellten zivilrechtlichen Regelungen zur Verantwortung gezogen
werden.1454
Damit wird die Verstärkung des Schutzes der persönlichen Rechtsgüter im
Arbeitsverhältnis erreicht. Die zivilrechtlichen Bestimmungen finden allerdings Anwendung
nur dann, wenn der Arbeitsgesetzbuch keine entsprechende Regelung bereitstellt (Art. 300
Arbeitsgesetzbuch).1455
1451
J. Chaciński, Prawa podmiotowe. Ochrona dóbr osobistych, Lublin 2004, S. 122; siehe auch: M. Pazdan, in:
M. Sajan, System Prawa Prywatnego. Tom I. Prawo cywilne – część ogólna, Warszawa 2007, S. 1120; E.
Dobrodziej, Ochrona dóbr osobistych, Aspekty prawne i praktyczne, Bydgoszcz 2003, S. 22; H. Szewczyk,
Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 511. 1452
E. Dobrodziej, Ochrona dóbr osobistych, Aspekty prawne i praktyczne, Bydgoszcz 2003, S. 22; H.
Szewczyk, Ochrona dóbr osobistych w zatrudnieniu, Warszawa 2007, S. 508, 516. 1453
P. Księżak, in: M. Pyziak – Szafnicka, Kodeks cywilny. Komentarz.. Część ogólna, Art. 23, Warszawa 2009,
S. 258. 1454
T. Zieliński, G. Goździewicz, in: L. Florek, Kodeks pracy. Komentarz, Kraków 2009, S. 89. 1455
T. M. Romer, Prawo pracy. Komentarz, Warszawa 2010, 4. Auflage, S. 111.
379
Im Arbeitsrecht werden die Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien durch den
Grundsatz der vernünftigen Anpassung und Rücksichtnahme bestimmt. Danach werden die
Schranken der Gewissensfreiheit nicht lediglich gemäß dem Vertrag bestimmt; es ist vielmehr
das Grundrecht des Arbeitnehmers mit dem Interesse des Arbeitgebers an Funktionsfähigkeit
des Unternehmens abzuwägen.1456
Aus der Perspektive des Grundsatzes der Rücksichtnahme
ist die eventuelle Entlassung des seine arbeitsrechtlichen Pflichten aus Gewissensgründen
verweigernden Arbeitnehmers differenziert zu betrachten. Dabei sind folgende
Gesichtspunkte zu berücksichtigen1457
:
Zuerst ist zu erwägen, inwieweit beim Vertragsabschluss die Vertragsparteien wussten oder
hätten wissen können, dass dessen Erfüllung den Arbeitnehmer in Gewissenskonflikte bringen
kann. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden:
1) Verpflichtet sich der Arbeitnehmer ausdrücklich, die im Arbeitsvertrag
niedergeschriebenen Tätigkeiten auszuüben, kann seine nachträgliche Verweigerung aus
Gewissensgründen als eine grobe Verletzung der grundsätzlichen Arbeitnehmerpflichten
betrachtet werden und die Entlassung ohne Einhaltung der Kündigungsfrist nach Art. 52,
Abs.1 Arbeitsgesetzbuch rechtfertigen. Dies setzt allerdings das Verschulden seitens des
Arbeitnehmers voraus, das lediglich im Fall der vom Arbeitgeber bewiesenen
Vorhersehbarkeit der Gewissenskonflikte des Arbeitnehmers zu bejahen ist. Wenn dagegen
das Verschulden des Arbeitnehmers nicht vorliegt, kann der Arbeitgeber auf die ordentliche
Kündigung zurückgreifen. Die Kündigung ist allerdings im Fall der Arbeitsverträge auf eine
bestimmte Zeit ausgeschlossen, wenn die Vertragsparteien die Möglichkeit der Kündigung
vertraglich nicht vorgesehen haben. Dem Arbeitgeber ist allerdings nicht zumutbar, negative
Folgen der Gewissensentscheidung seines Arbeitnehmers zu tragen. Deshalb kann das
Arbeitsverhältnis mit demjenigen, der die Verrichtung bestimmter Handlungen freiwillig
übernommen hat, und dann eine Gewissensentscheidung getroffen hat, welche ihm die
Erfüllung seiner Pflichten unmöglich macht, vom Arbeitgeber in Anlehnung an die Klausel
der Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens1458
aufgehoben werden.
1456
I. M. Sanchis, La Objeción de conciencia, I. España, in: I. M. Sanchis, J. G. Navarro Floira, La libertad
religiosa en España y Argentina, Madrid 2006, S. 303. 1457
A. Pyrzyńska, Kilka uwag na temat nadużycia klauzuli sumienia (Art. 39 ustawy o zawodach lekarza i
lekarza dentysty), in: J. Haberko, R. Kocyłowski, B. Pawelczyk B, Lege artis. Problemy prawa medycznego,
Poznań 2008, S. 16, Fn. 8; W. Habscheid, Arbeitsverweigerung aus Glaubens- und Gewissensnot?, in: JZ, 1964,
S. 247f; BAG, Urteil von 20.12.1984 – 2 AZR 463/83 – DuR 1985, S. 461ff. 1458
Die in Art. 5 Zivilgesetzbuch enthaltene Klausel hat den folgenden Inhalt: „Die Ausübung eines Rechts
entgegen seiner sozio-ökonomischen Zweckbestimmung oder den Grundsätzen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens ist unzulässig. Ein solches Tun oder Unterlassen des Berechtigten wird nicht als
380
2) Sind die verweigerten Tätigkeiten im Arbeitsvertrag nicht ausdrücklich festgelegt, d.h.
werden sie im Wege des Direktionsrechts des Arbeitgebers von dem Arbeitnehmer verlangt,
oder werden sie im Arbeitsvertrag nur implizite enthalten, soll das Anpassungsprinzip, das in
der Abwägung der Gewissensfreiheit des Arbeitnehmers mit der Funktionsfähigkeit des
Unternehmens besteht, zum Zuge kommen Es sind dabei folgende Gesichtspunkte zu
berücksichtigen:
- inwieweit die Tätigkeiten des Arbeitnehmers qualitativ und quantitativ vom
Gewissenskonflikt berührt sind. Wenn die Arbeitsleistung lediglich am Rande von
Gewissensbedenken des Arbeitnehmers tangiert ist, kann die Kündigung nicht gerechtfertigt
werden.
- ob es möglich ist, dem Arbeitnehmer die für ihn gewissensneutralen Pflichten statt der
verweigerten anzuvertrauen oder ob der Arbeitgeber aus betrieblichen Erfordernissen darauf
bestehen muss, dass gerade derjenige Arbeitnehmer, der sich auf sein Gewissen beruft, diese
bestimmte Arbeit ausrichten muss
- ob der Arbeitgeber in der Zukunft mit zahlreichen weiteren Gewissenskonflikten des
Arbeitnehmers rechnen muss
Zum Schluss ist zu bemerken, dass im Fall der Beamten die Berufung auf Gewissensfreiheit
nicht möglich ist, wenn dies mit seinen Pflichten kollidieren würde. Die strikte Beachtung des
Rechts in Diensten wie: Polizei, Militär, Gerichtsbarkeit oder zivile Verwaltung ist
unentbehrlich.1459
Es liegt „auf der Hand, dass die Funktionstüchtigkeit des Staates ernstlich
bedroht wäre, könnte ein Beamter sich unter bloßer Berufung auf sein Gewissen einer
dienstlichen Weisung entziehen. Jeder Beamte muss es grundsätzlich hinnehmen, dass ihm
Verhaltensweisen angesonnen werden (...), die dem durch seine von ihm nach seinem freien
Willensentschluss gewählte Laufbahn geprägten Berufsbild wesensmäßig sind.“1460
4. Die Auswirkungen der Gewissensfreiheit im Strafrecht
Es ist eine Konstellation möglich, dass der Einzelne ohne die Anerkennung des
Verweigerungsrechts erhalten zu haben, eine an ihn gerichtete Rechtspflicht verletzt und sich
Rechtsausübung angesehen und genießt kenen Schutz“. (Die Übersetzung nach: Polnische Wirtschaftsgesetze.
Aktuelle Gesetzestexte in deutscher Übersetzung, Warszawa 2010.) 1459
A. Ruiz Miguel, Sobre la fundamentación de la objeción de conciencia, in: Anuario de Derechos Humanos,
Madrid 1986 -87, S. 418f. 1460
BverwG 56, 227f.
381
erst im Strafverfahren auf die Gewissensfreiheit beruft. In diesem Fall ist das Verfahren nicht
auf die Erteilung einer Befreiung von der Rechtspflicht, sondern auf die Befreiung von den
strafrechtlichen Sanktionen bzw. von ihrer Milderung gerichtet.1461
Der strafrechtliche Schutz
eines Rechtsgutes indiziert dabei, dass der Gesetzgeber ihm einen hohen Wert zuschreibt,
deshalb muss angenommen werden, dass das Strafrecht grundsätzlich unter
Gewissensvorbehalt nicht steht.1462
Die Gewissensentscheidung des Einzelnen kann somit
keinen Rechtsfertigungsgrund darstellen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Grundrecht
der Gewissensfreiheit bei der richterlichen Strafzumessung unberücksichtigt bleiben darf.
Wegen der objektivrechtlichen Dimension der Gewissensfreiheit ist unerlässlich, ihre
Auswirkungen im Prozess der Strafzumessung zu erwägen.
Die Berücksichtigungspflicht der Gewissensentscheidung im Prozess der Rechtsanwendung
ergibt sich aus dem dem Grundrecht der Gewissensfreiheit entnommenen Wohlwollensgebot.
Danach ist ein schonender Ausgleich zwischen dem Gewissen des Einzelnen mit
gegenläufigen Interessen anzustreben. Das Wohlwollensgebot ermöglicht nämlich die
Gewissensentscheidung bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und der
Ausübung vom richterlichen Ermessen zu berücksichtigen. Es findet vornehmlich in den
Fällen Anwendung, wo sich das Gewissen des Einzelnen gegen zwingende Rechtsvorschriften
nicht durchsetzen kann. „Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gewährt nicht nur subjektive
Rechte, sondern ist zugleich eine wertentscheidende Grundsatznorm, und zwar höchsten
verfassungsrechtlichen Ranges, die bei Staatstätigkeit jeder Art – auch bei der
Strafzumessung im Strafverfahren – Wertmaßstäbe setzende Kraft entfaltet und Beachtung
verlangt.“1463
Diese Bemerkungen beziehen sich zwar auf das deutsche Rechtssystem, es
scheint aber nützlich, diesen Ansatz in die polnische Rechtsordnung zu rezipieren. Die
Übertragung der Lehre von dem Wohlwollensgebot als Interpretationsgrundsatz der
Grundrechte in die polnische Rechtspraxis würde nämlich die Verstärkung ihres Schutzes zur
Folge haben. Auf der strafrechtlichen Ebene können die objektivrechtlichen Auswirkungen
der Gewissensfreiheit durch Art. 53 des polnischen StGB, der die Regeln der richterlichen
Strafzumessung normiert, in die Rechtssprechungspraxis Eingang finden.
1461
M. Gascón Abellán, Obediencia al derecho y objeción de conciencia, Madrid 1990, S. 254. 1462
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, Berlin 1989, S. 500f. 1463
BverfGE, 23, 127, 134.
382
Unter den in Art. 53 Abs. 2 Strafgesetzbuch aufgezählten Kriterien der Strafzumessung
kommt die Motivation des Täters und seine „persönlichen Eigenschaften und Bedingungen“
als Anhaltspunkte für die Berücksichtigung der Gewissensnot des Täters in Frage. Die
Auslegung des Rechtsbegriffs „Motivation“ ist in der polnischen Lehre allerdings nicht
einheitlich. Nach einer Ansicht ist der Begriff der Motivation lediglich auf intellektuelle und
nicht auf emotionelle Sphäre des Täters zu beziehen. Die Motive beinhalten nach diesem
Ansatz die Erklärung, warum der Täter in eine bestimmte Art und Weise gehandelt hat und
die Artikulierung des Zweckes und Programms seines Verhaltens. Sie werden dabei von
emotionalen Beweggründen abgehoben, welche den Motivationsprozess initiieren und ihn
begleiten.1464
Da das Gewissen neben der rationalen auch die affektive, emotionale
Komponente hat, wobei die letztere in einigen Fällen sogar in Vordergrund treten kann,
müsste die Gewissensentscheidung nach diesem Ansatz als irrelevanter „Beweggrund“ und
nicht als Motiv eingestuft werden. Der zitierte Autor berücksichtigt aber die
Gewissensentscheidung bei der Auslegung eines anderen Faktores der Strafzumessung,
nämlich des Begriffes der „persönlichen Eigenschaften“ des Täters. Mit diesem
Strafzumessungskriterium wird die in eine bestimmte Art und Weise gebildete Persönlichkeit
des Einzelnen sowie der Zustand seiner intellektuellen Entfaltung und der psychischen
Gesundheit gemeint. Der Begriff „Persönlichkeit“ wird dabei nicht auf seine Bedeutung in der
Psychologie oder Psychiatrie verengt. „Dazu zählt auch das Wissen über die Wirklichkeit,
Lebenspläne, Interessen und Hobbys, Fertigkeiten, Leistungsfähigkeit des Handelns, das
Verhältnis zu anderen Menschen, Selbstachtung, Haltungen gegenüber den allgemein
anerkannten sozialen Werten, Gewissen, Willenskraft, Temperament (…).“1465
Obwohl die Subsumption des Gewissens des Täters unter „persönliche Eigenschaften“
vertretbar scheint, sind die Gewissensentscheidungen des Einzelnen aus sprachlichen
Gründen als Teil seiner Motivation anzusehen. Dies setzt allerdings die Einschließung der
emotionalen Aspekte in den Rechtsbegriff der Motivation voraus, was der alltagssprachlichen
Bedeutung dieses Wortes entspricht. Die Einbeziehung der emotionalen Komponente in den
Begriff der Motivation des Täters wird in der polnischen Lehre implizit vertreten. Einige
Autoren definieren nämlich den Begriff „Motivation“ zwar nicht, als Beispiele für Motive
1464
K. Buchała, Kommentierung des Art. 53, in: K. Buchała, A. Zoll, Kodeks karny. Część ogólna. Komentarz
do art. 1 / 116 Kodeksu karnego. Tom 1, Art. 53, Kraków 1998, S. 396, Rn. 26. 1465
Ebenda, S. 397, Rn. 30; W. Wróbel in: A. Zoll, Kodeks karny. Część ogólna. Komentarz, Tom 1, Warszawa
2007, S. 697. Rn. 100.
383
geben sie aber den Motiv der Rache,1466
Unrechtsgefühl, Provokation, wichtige persönliche
oder familiäre Bedürfnisse1467
an, was den Schluss erlaubt, dass auch affektive Aspekte im
Begriff der Motivation enthalten sind. Der Begriff: „persönliche Eigenschaften und
Bedingungen des Täters“ soll vielmehr als seine biologischen Eigenschaften wie Alter,
Geschlecht, Gesundheitszustand, Eigenschaften und Charakterzüge, welche die Beziehungen
des Täters zur Umgebung bestimmen, wie etwa Süchte, Konfliktsüchtigkeit, sowie seine
familiäre und berufliche Situation1468
verstanden werden.
Daraus ergibt sich, dass die Gewissensentscheidung unter dem Rechtsbegriff der Motivation
des Täters fällt. Ihre Berücksichtigung bei der Strafzumessung bedeutet allerdings nicht
notwendig die Strafmilderung. Der Einfluss der Gewissensentscheidung auf das Ausmaß der
Strafe hängt vielmehr von deren Inhalt ab. Die Motivation des Täters kann nämlich entweder
den positiven oder den tadelnswerten Charakter haben. Um den Grad der Schuld des Täters
festzustellen, wird dabei auf den dominierenden Charakter der Motivation und auf
Beschränkung seiner Entscheidungsfreiheit abgestellt.1469
1466
A. Marek, Prawo karne, Warszawa 2000, S. 346. 1467
T. Bojarski, A. Michalska-Warias, J. Piórkowska-Flieger, M. Szwarczyk, Kodeks karny, Komentarz,
Warszawa 2006, S. 117. 1468
A. Marek, Kodeks karny. Komentarz, Warszawa, Kraków 2007, 4. Auflage, S. 144. 1469
W. Wróbel, in: A. Zoll, Kodeks karny. Część ogólna. Komentarz, Tom 1, Warszawa 2007, S. 694.
Paragraphnummer 91f.
384
Kapitel IX
Schranken der Gewissensfreiheit
1. Allgemeines
Art. 53 Abs. 5 Verf. bestimmt, dass die Freiheit, die Religion auszuüben, nur auf dem
Gesetzeswege eingeschränkt werden kann, wenn die Einschränkung zum Schutz der des
Staatssicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, der Moral oder der Rechte und
Freiheiten Anderer notwendig ist. Obwohl die Voraussetzungen für die Einschränkung der
Religionsfreiheit weit formuliert sind, soll ihre Anwendung in Praxis keine Gefährdung der
Rechte des Einzelnen herbeiführen, weil die Verfassung zusätzlich vorschreibt, dass die
Einschränkungen notwendig, also verhältnismäßig sein soll und dass das Wesen der Rechte
und Freiheiten beachtet werden soll.1470
Die genannten Schranken beziehen sich allerdings nur auf die Freiheit der Religionsausübung.
Daraus könnte geschlossen werden, dass die Gewissensfreiheit schrankenlos gewährleistet ist.
Eine solche Annahme wäre allerdings mit dem Menschenbild der freiheitlich-demokratischen
Verfassung nicht vereinbar, welches nicht „das eines robinsonartig lebenden
Einzelgeschöpfes, sondern das eines in eine Gemeinschaft hineingeborenen animal
sociale“1471
ist. Die durch den Verfassungsgeber gewollte soziale Bezogenheit und
Eingebundenheit des einzelnen Menschen ergibt sich bereits aus dem Staatsmodell der
Verfassung, wonach die Republik Polen das gemeinsame Gut aller Bürger ist (Art. 1 Verf.).
Die soziale Eingebundenheit des Einzelnen kann auch aus dem Grundsatz der sozialen
Gerechtigkeit (Art. 2 Verf.), dem Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft, die unter anderen
auf dem Grundsatz der Solidarität beruht (Art. 20 Verf.) abgeleitet werden. Sie ist jedoch vor
allem der verfassungsrechtlich vorgesehenen Möglichkeit der Einschränkung der
Freiheitsrechte zwecks des Schutzes der Rechte und Freiheiten Anderer zu entnehmen. Diese
Möglichkeit ergibt sich schon aus dem Begriff der Freiheit, wonach sie nur mit der Freiheit
Anderer zusammen bestehen kann. Die Freiheit impliziert die Verantwortung. Daraus folgt,
1470
M. Pietrzak, Wolność sumienia i wyznania w Polsce. Tradycja i współczesność, in: Czasopismo Prawno –
Historyczne, 2001, Heft 1, Warszawa 1998, S. 128. 1471
R. Herzog, Art. 4 in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 150
385
dass die absolute Individualisierung der Gewissensfreiheit nicht möglich ist, wenn auch ihr
Schutzgegenstand gerade im Schutz der persönlichen Freiheit liegt.1472
Es steht somit außer Zweifel, dass keine der von der Verfassung verbürgten Freiheitsrechte
einschließlich der Gewissensfreiheit ohne jegliche Schranken zugunsten der Anderen oder der
Allgemeinheit bestehen kann. Fraglich ist allerdings, ob Art. 53 Abs. 5 Verf. im Bezug auf die
Gewissensfreiheit Anwendung findet, oder ob es vielmehr notwendig ist, auf die allgemeine
Schrankenklausel des Art. 31 Abs. 3 Verf. zurückzugreifen. In diesem Zusammenhang weist
Jabloński mit Recht darauf hin, dass die Problematik der Schranken der Gewissens- und
Religionsfreiheit in Art. 53 Abs. 5 Verf. nur zum Teil geregelt ist. Bei der Bestimmung der
Schranken scheint gemäß diesem Autor die Bezugnahme auf Art. 30 und 31 Verf.
notwendig.1473
Es wird allerdings nicht erklärt, worin die Berufung auf Art. 30 und 31 Verf.
und ihr Verhältnis zu Art. 53 Abs. 5 Verf. bestehen soll, Um diese Frage zu explizieren, muss
insbesondere das Verhältnis der allgemeinen Einschränkungsklausel des Art. 31 Abs. 3 Verf.
zu der speziellen Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit und ihre Wechselwirkung
untersucht werden.
2. Das Verhältnis der allgemeinen Einschränkungsklausel der Grundrechte
(Art. 31 Abs. 3 Verf.) zur speziellen Einschränkungsklausel der
Religionsfreiheit (Art. 53 Abs. 5 Verf.)
Wenn die Ansicht zu befürworten wäre, dass Art. 31 Abs. 3 Verf. eine selbständige
Grundlage für die Einschränkung der Grundrechte, darunter der Gewissensfreiheit darstellt,
erhebt sich die Frage, wie ist das Verhältnis dieser allgemeinen Einschränkungsklausel zu der
speziellen Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit nach Art. 53 Abs. 5 Verf. Darüber
hinaus ist zu erörtern, ob die spezielle Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit zur
Gewissensfreiheit Anwendung findet, obwohl sich die Erstreckung dieser Klausel auf die
Gewissensfreiheit unmittelbar aus dem Wortlaut nicht ergibt.
1472
B. Gronowska, T. Jasudowicz, M. Balcerzak, M. Lubiszewski, R. Mizerski, Prawa człowieka i ich ochrona,
Toruń 2005, S. 323. 1473
K. H. Jabłoński, Wolność sumienia i wyznania. Konstytucyjne prawo człowieka, in: Wiek XXI, Nr. 2/3,
2006, S. 48.
386
In Bezug auf das Verhältnis der genannten Einschränkungsklauseln zueinander gibt es drei
Interpretationsmöglichkeiten:1474
a) Zunächst könnte angenommen werden, dass die Voraussetzungen der
Grundrechtseinschränkung des Art. 31 Abs. 3 Verf. eine selbständige
Einschränkungsgrundlage derjenigen Grundrechte darstellen, bei denen keine speziellen
Einschränkungsklauseln vorhanden sind. Darüber hinaus stellen sie zusätzliche
Einschränkungsvoraussetzungen außer dem Einschränkungsbereich der speziellen
Einschränkungsklauseln dar, falls sie bei einem Grundrecht vorgesehen wurden. Für die
Feststellung der Verfassungsmäßigkeit einer Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit
würde danach ausreichen, wenn die Voraussetzungen entweder des Art. 53 Abs. 5 oder des
Art. 31 Abs. 3 erfüllt wären. In diese Richtung argumentiert auch Łopatka: nach seiner
Ansicht findet die Einschränkungsklausel des Art. 31 Abs. 3 neben den in Art. 53 Verf.
angegebenen Gründen der Grundrechtseinschränkung in Bezug auf Gewissens-, und
Religionsfreiheit Anwendung. Dies bedeutet vor allem, dass die Gewissensfreiheit zum
Schutz der Umwelt eingeschränkt werden kann, obwohl diese Einschränkungsvoraussetzung
in Art. 53 Abs. 5 Verf. nicht erscheint.1475
Gemäß Banaszak ergibt sich die Einschließung der
übrigen in Art. 31 Abs. 3 Verf. aufgezählten Einschränkungsgründe in die Rechtsgrundlage
der Einschränkung der Gewissens- und Religionsfreiheit aus der systematischen
Auslegung.1476
Das Problem mit der Anwendung dieses Ansatzes besteht darin, dass die
zusätzlichen Einschränkungsvoraussetzungen der speziellen Einschränkungsklausel im
Ergebnis entbehrlich sind, weil der Gesetzgeber auch auf allgemeine Einschränkungsklausel
ohne weiteres zurückgreifen kann. Dadurch würde er über weite Eingriffsmöglichkeiten in die
Sphäre der Grundrechte verfügen, was zu ihrer Relativierung führen könnte.
b) Eine andere Alternative ist die Zuerkennung dem Art. 31 Abs. 3 Verf. der Funktion der
selbständigen Einschränkungsgrundlage nur bezüglich der Grundrechte, für die der
1474
K. Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999,
S. 81 ff. 1475
A. Łopatka, Jednostka, jej prawa człowieka, Warszawa 2002, S. 125. 1476
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 275, Rn. 14.
387
Verfassungsgeber keine speziellen Einschränkungsklauseln eingeführt hat. Die speziellen
Einschränkungsklauseln wären nach diesem Ansatz lex specialis im Verhältnis zur
allgemeinen Einschränkungsgrundlage des Art. 31 Abs. 3 Verf. Die Anwendung der
allgemeinen Einschränkungsklausel in Bezug auf Religionsausübungsfreiheit wäre danach
ausgeschlossen. Eine solche Auslegung berücksichtigt zwar im größeren Maße die Rechte des
Einzelnen, die gänzliche Ausschließung der Anwendung des Art. 31 Abs. 3 Verf. hinsichtlich
der Grundrechte mit speziellen Einschränkungsgrundlagen würde aber zur Folge haben, dass
die sich aus Art. 31 Abs. 3 ergebenden wesentlichen Garantien der Rechte des Einzelnen wie
das Erfordernis der Berücksichtigung von Prinzipien des demokratischen Staates und die
Unantastbarikeit des Wesensgehalts der Grundrechte nicht zum Zuge kämen. In Bezug auf die
Grundrechte, die mit einer speziellen Einschränkungsklausel vorgesehen wurden, wäre die
Einschränkungskompetenz des Staates somit zu weitreichend. Die Verneinung jeglicher
Auswirkungen der Bestimmungen des Art. 31 Abs. 3 Verf. als Gestaltungselemente des
Einschränkungsumfangs der mit einer speziellen Einschränkungsklausel versehenen
Grundrechte würde mit der systematischen Auslegung der Verfassung nicht vereinbar: Art. 31
Abs. 3 ist nämlich in dem ersten Teil (Allgemeine Grundsätze) des zweiten Kapitels der
Verfassung situiert, der einen „allgemeinen Teil“ für alle grundrechtlichen Bestimmungen
bildet. Es ist bemerkenswert, dass zu diesem Vorschriftenkomplex nicht nur diejenigen
Bestimmungen gehören, welche den Schutzbereich der einzelnen Grundrechte beschränken,
sondern auch solche, die ihren Schutzbereich erweitern (können) wie vor allem die
allgemeinen Gewährleistungen der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und allgemeine
Garantie der Freiheiten und Rechte für alle, die unter der polnischen Gewalt stehen. Der
„allgemeine Teil“ der grundrechtlichen Verbürgungen der polnischen Verfassung gestaltet
somit den Inhalt und Umfang der einzelnen Grundrechte. Dies ist von erheblicher Bedeutung
für die Gewissensfreiheit, deren Konkretisierung im großen Maße mittels der Klausel der
Menschenwürde vorgenommen wird. Die Anwendung der allgemeinen Vorschriften in Bezug
auf ein Grundrecht kann allerdings nicht in dem Sinne selektiv sein, dass lediglich die
inhaltskonkretisierenden bzw. die den grundrechtlichen Schutzbereich erweiternden
Vorschriften herangezogen werden, während die inhaltseinschränkenden Bestimmungen
388
außer Acht gelassen werden. Die Verneinung der jeglichen Auswirkungen der allgemeinen
Einschränkungsklausel im Bereich der Religionsfreiheit trifft somit nicht zu.
c) Schließlich setzt die dritte mögliche Interpretationsmöglichkeit des Verhältnisses von
allgemeinen und speziellen Einschränkungsklauseln der Rechte und Freiheiten voraus, dass
Art. 31 Abs. 3 Verf. als selbständige Einschränkungsklausel in Bezug auf die Grundrechte
ohne speziellen Einschränkungsklauseln Anwendung findet. Zusätzlich bildet sie eine
absolute Grenze der Einschränkung für alle Grundrechte der Verfassung. Im Fall der
Grundrechte, für welche spezielle Ermächtigungen ihrer Einschränkung bestehen, muss der
Eingriff sowohl die Voraussetzungen der allgemeinen als auch der speziellen
Einschränkungsklauseln erfüllen. Die speziellen Einschränkungsklauseln dienen zur
Einengung des Spielraums des staatlichen Eingriffs im Verhältnis zu den
Einschränkungsvoraussetzungen der Grundrechte gemäß Art. 31 Abs. 3 Verf. Diese Lösung
entspricht am Besten den Anforderungen der systematischen Auslegung der Verfassung.
Gegen die Betrachtung des Art. 31 Abs. 3 Verf. als Höchstgrenze der Einschränkung aller
Grundrechte spricht allerdings der Inhalt einiger speziellen Einschränkungsklauseln (Art. 59
Abs. 3, Art. 61 Abs. 3 Verf.), die teilweise andere Einschränkungsvoraussetzungen vorsehen,
welche in der allgemeinen Einschränkungsklausel nicht vorkommen.
Zum Schluss ergibt sich, dass die Vorschrift des Art. 31 Abs. 3 Verf. die Funktion eines
allgemeinen Grundsatzes erfüllt, wonach die verfassungsrechtlich zulässigen
Voraussetzungen der Einschränkung der Grundrechte bestimmt werden. Sie findet
Anwendung in Bezug auf alle in der Verfassung geregelten Rechte und Freiheiten des
Einzelnen. Die Vorschrift richtet sich an den Gesetzgeber, weil die Einschränkungen der
Rechte und Freiheiten nur in einem Gesetz beschlossen werden können. Wenn ein in der
Verfassung vorgesehenes Grundrecht mit keiner speziellen Einschränkungsklausel
vorgesehen ist, bedeutet dies nicht, dass dieses Grundrecht schrankenlos gewährleistet ist. Das
Fehlen einer Einschränkungsklausel soll vielmehr als Verweis zum Art. 31 Abs. 3 Verf.
389
ausgelegt werden.1477
Der Ausschluss der Einschränkungen kann nur dann angenommen
werden, wenn in der Verfassung ein Grundrecht ausdrücklich als unantastbar verankert ist.
Was die Einschränkung der Gewissensfreiheit anbelangt, ist für ihre Einschränkung die
Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit entsprechend anzuwenden. Zusätzlich ist auf Art.
31 Abs. 3 Verf. ergänzend, insbesondere auf den dort verankerten
Verhältnismäßigkeitsprinzip, zurückzugreifen. Diese Vorgehensweise ist zwar wegen des
Wortlauts des Art. 53 Abs. 5 Verf. nicht unproblematisch, was bereits im Zusammenhang mit
der Schrankenproblematik der Gewissensfreiheit in Art. 9 EMRK dargelegt wurde1478
,
verhindert gerade die sprachliche Fassung der Schrankenklauseln die „dogmatisch saubere“
Lösung der Schrankenproblematik der Gewissensfreiheit.
3. Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der
Einschränkung der Gewissensfreiheit
3.1. Die Rolle des Gesetzgebers und der Gerichtsbarkeit im Prozess der Güterabwägung
Die polnische Lehre entnimmt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus dem
Rechtsstaatsprinzip des Art. 2 Verf., der Formulierung des Art. 31 Abs. 3 Verf., wonach die
Einschränkungen der Freiheitsrechte im demokratischen Staat zum Schutz der dort genannten
Rechtsgüter „notwendig“ sein sollen, sowie aus den speziellen Einschränkungsklauseln der
jeweiligen Grundrechte (Art. 53 Abs. 5, Art. 51 Abs. 2 Verf.). Nach dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss der Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen geeignet
sein, den legitimen Eingriffszweck zu erreichen und dabei das mildeste Mittel zur
Zweckerreichung darstellen, d.h. notwendig sein. Die Notwendigkeit bezieht sich auf die
Einschränkung eines Grundrechts in der gegenständlichen, subjektiven, zeitlichen und
räumlichen Hinsicht. Weiterhin muss die Schwere des Eingriffs in das Individualrechtsgut im
angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten berechtigten Zweck stehen, was im Wege der
Güterabwägung festzustellen ist. Das Gericht soll dabei die miteinander kollidierenden
1477
L. Wiśniewski, Zakres ochrony prawnej wolności człowieka i warunki jej dopuszczalnych ograniczeń w
praktyce, in: L. Wiśniewski, Wolności i prawa jednostki oraz ich gwarancje w praktyce, Warszawa 2006, S. 30;
siehe auch: das Urteil des Verfassungsgerichtshofs von 10. April 2002 (K 26/00). 1478
Siehe dazu: Kapitel IV, Punkt. 3.2.1.
390
Rechtsgüter bezeichnen, ihren Rang bestimmen sowie feststellen, in welchem Grad sie
verwirklicht (verletzt) werden. Demnächst soll es erwägen, ob der Grad der Verwirklichung
eines Rechtsguts Aufopferung in einem bestimmten Grad anderer Güter rechtfertigt. 1479
Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in den Fällen, wo die
Gewissensfreiheit ins Spiel kommt, wegen der Natur dieses Grundrechts, d.h. wegen der
Unbestimmtheit seines Schutzbereichs, von erheblicher Bedeutung. Aus der Annahme, dass
aus Art. 53 Abs. 1 Verf. ein allgemeines Recht auf Gewissensfreiheit abgeleitet werden kann,
ergibt sich nämlich, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen den Grundrechtscharakter
hat. Die Abwägungskompetenz zwischen der Gewissensfreiheit und anderen schutzwürdigen
Rechtsgütern obliegt zuerst dem Gesetzgeber, der entscheidet, ob die Regelung der
Verweigerung aus Gewissensgründen in einem Fall nötig oder sachgerecht ist. An der zweiten
Stelle sind dafür die Gerichte zuständig.1480
Die Verweigerer erfüllen dabei die Rolle eines
Wegweisers: wenn am Anfang ein Verweigerungstyp illegal und antisolidarisch zu sein
scheint, wird mit der Zunahme der Zahl der Verweigerer der Druck auf den Gesetzgeber
ausgeübt, was zu seiner gesetzlichen Regulierung führen kann. Dieser Prozess hat sich in
Polen im Fall der Wehrdienstverweigerung und im Fall der Verweigerung im Bereich der
Medizin vollzogen.
Da die Verfassung unmittelbar anwendbar ist, braucht der Gesetzgeber jedoch nicht, einen
konkreten Typ der Verweigerung zu normieren, damit der Einzelne zum Genuss der
Gewissensfreiheit gelangen kann. Die Interessenabwägung zwischen den kollidierenden
Rechtsgütern erfolgt dann durch die Gerichte.1481
Die Zunahme der Rolle der Gerichte und
ihrer kreativen Auslegung hat wesentliche Bedeutung für die Subjektstellung der
Gesellschaft.1482
Die eventuelle gesetzliche Regelung der einzelnen Modalitäten der
Verweigerung aus Gewissensgründen könnte den Richtern in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit
zwar mehr Sicherheit geben, sie ist aber nur in sozial relativ verbreiteten Typen der
Verweigerung möglich. Außerdem kommt die Tätigkeit des Gesetzgebers immer später,
nachdem sich viele konkrete Verweigerungsfälle vollzogen haben. Deshalb bedeutet die
1479
K. Wojtyczek, Zasada proporcjonalności, in: B. Banaszak, A. Preisner, Prawa i wolności obywatelskie w
Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 682ff., Rn. 19ff. 1480
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 242. 1481
J. Martínez Torrón, Las objeciones de conciencia en el derecho internacional y comparado, in: G. Sancho,
Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 116. 1482
J. Jabłońska-Bonca, Wstęp do nauk prawnych, Poznań 1996, S. 152.
391
Behandlung der Gewissensfreiheit die Annahme der Vermutung prima facie,1483
dass
derjenige, der sich auf ihre grundrechtliche Gewehrleistung beruft, rechtsmäßig handelt. Die
Verweigerung aus Gewissensgründen ist somit keine durch das Gesetz reglementierte
Ausnahme von der Rechtspflicht. Die Rechtspflichten sollen vielmehr als Beschränkungsfälle
der persönlichen Freiheit begriffen werden, welche ihrerseits als Regel aufzufassen ist. In
diesem Zusammenhang obliegt dem Richter, der den Konflikt zwischen der Rechtsordnung
und dem individuellen Gewissen zu lösen hat, zu prüfen, inwieweit die verweigerten
Rechtspflichten für den Schutz anderer Verfassungsgüter gerechtfertigt sind.1484
Da es keine
allgemeingültigen Kriterien gibt, die erlauben würden, den Konflikt zwischen dem Gewissen
und Recht zu lösen, müssen die kollidierenden Verfassungsgüter in konkreten Fällen
abgewogen werden.1485
Die Güterabwägung betrifft den Entscheidungsprozess in den Kollisionslagen der durch die
Verfassung geschützten Rechte und Interessen. Mangels der in der Verfassung bestimmten
Wertehierarchie der geschützten Rechtsgüter kann die Güterabwägung auf der
Prinzipienebene, d.h. als generell-abstrakte Gegenüberstellung der in einen Konflikt geratenen
Rechte und Gemeinschaftsgüter nicht stattfinden. Es ist vielmehr auf alle Umstände des
Einzelfalles abzustellen: „Die verfassungsrechtliche Antwort auf die kritische Situation,
welche durch die Forderung des Einzelnen entsteht, von der Erfüllung einer Rechtspflicht
dispensiert oder befreit zu werden, um das eigene Verhalten auf die dem religiösen Glauben
entstammenden ethischen Maßstäbe und Lebensentwurf auszurichten und mit ihnen in
Einklang zu bringen, kann lediglich als Resultat der Abwägung erfolgen, in welcher die
Einzelheiten jedes Sachverhalts gewürdigt werden.“1486
Die Rolle der Lehre in diesem
Zusammenhang besteht darin, allgemeine „Grundsätze der praktischen juristischen
Vernunft“1487
zu formulieren, welche bei der Interessenabwägung in konkreten Fällen
hilfreich sein können. Dabei wird weder von dem prinzipiellen Primat der Gewissensfreiheit
noch von anderen zu schützenden Rechtsgütern ausgegangen. Die einzelnen
1483
R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 77ff; F. Filmer, Das Gewissen als Argument
im Recht, Berlin 2000, S. 169. 1484
L. Prieto Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State
Relations, Conscientious objection in the EU countries, S. 95; S. Pau Agulles, La objeción de conciencia
farmacéutica en España, Rom 2006, S. 38, 83. 1485
L. Prieto Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State
Relations, Conscientious objection in the EU countries, S. 92. 1486
Urteil des spanischen Verfassungstribunals, 154/2002 von 18. Juli 2002. 1487
R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 22.
392
Abwägungskriterien müssen „aus der spezifischen Sachnähe“1488
gewonnen werden. Sie
lassen sich günstigenfalls in einem längeren Entscheidungsprozess in Form der falltypischen
Entscheidungsmuster in der Weise festlegen, dass der Vorgang der Rechtsanwendung
rationaler und rechtssicherer abläuft.1489
Im folgenden seinen einige der herauskristallisierten
Kriterien der Abwägung zwischen der Gewissensfreiheit und anderen schutzwürdigen
Rechtsgüter dargestellt.
3.2. Einzelne Kriterien der Güterabwägung
3.2.1. Allgemeine Kriterien der Güterabwägung
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass bei der Einschränkung der Gewissensfreiheit das
Gewicht des infolge ihrer Betätigung bedrohten Rechtsgutes und der Grad seiner Bedrohung
d.h. die Wahrscheinlichkeit der Verletzung dieses Rechtsgutes entscheidend ist.1490
Dabei soll
erwogen werden, ob das Rechtsgut, das durch die verweigerte Rechtspflicht geschützt werden
soll, den Verfassungsrang besitzt, welche Bedeutung die verweigerte Pflicht für den Schutz
dieses Rechtsguts hat, sowie inwieweit die Gewissensfreiheit aufgeopfert werden müsste, falls
die verweigerte Rechtspflicht von dem Einzelnen erfüllt wäre.1491
Escobar Roca schlägt
dagegen vor, bei der Interessenabwägung zwischen der Gewissensfreiheit und anderen
Rechtsgütern folgende Faktoren zu berücksichtigen:1492
a) Der Grad des Gewissenszwangs in der bestimmten Sachlage und die Möglichkeit, die dem
Grundrechtsträger infolge der Verletzung seiner moralischen Überzeugungen drohenden oder
entstandenen negativen Folgen zu mildern.
b) Der Rang der Rechtsnorm, in der die verweigerte Rechtspflicht und/oder das geschützte
Rechtsgut die Rechtsgrundlage hat. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Verletzung einer
verfassungsrechtlichen Rechtspflicht schwerwiegendere Konsequenzen als die Nichterfüllung
einer gesetzlichen Pflicht hat.
1488
F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten, H. J. Papier, Handbuch der
Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 612; siehe
auch: G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 223. 1489
R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 80. 1490
R. Herzog, Art. 4 in: T. Maunz, G. Dürig, Grundgesetz Kommentar, München 1993, Rn. 155. 1491
I. M. Sanchís, L`objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church and State
Research, Consciencious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 95. 1492
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 223f.
393
c) Das Verhältnis zwischen der verweigerten Rechtspflicht und dem durch die Verfassung
geschützten Rechtsinteresse sowie die objektive Einbuße, die durch die Nichterfüllung der
verweigerten Rechtspflicht entstehen würde.
d) Die Art der sprachlichen Fassung der verweigerten Rechtspflicht, die u.U. relativ vage
formuliert werden kann.
Im Einzelnen lassen sich folgende Erwägungsmaßstäbe herauskristallisieren, welche dem
Richter bei der Interessenabwägung behilflich sein können:
3.2.2. Das Verhältnis der Gewissensfreiheit zu anderen Verfassungswerten und anderen
formalen Grundsätzen
Die Ausübung der Gewissensfreiheit muss mit Verwirklichung anderer Verfassungswerte in
Einklang gebracht werden. Dazu gehören insbesondere:
a) Die Entscheidungskompetenz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers1493
und die
allgemeine staatsbürgerliche Pflicht zur Rechtsbefolgung.1494
Zwischen der Gewissensfreiheit und dem im demokratischen Verfahren verabschiedeten
Recht gibt es ein unlösbarer Konflikt. Die bereitwillige Inanspruchnahme des
grundrechtlichen Schutzes fördert die Rechtsstaatlichkeit nicht. Dieser sosehr wichtige Wert
für die Demokratie ist unerlässlich, um das gesellschaftliche Klima des Vertrauens zum Recht
zu fördern. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verschafft nämlich den Bürgern die
Gewissheit, dass ihre Rechte gebührend geschützt werden. Gleichzeitig garantiert er die
Erfüllung der Rechtspflichten. Die Berufung auf Gewissensfreiheit soll somit als ultima ratio
betrachtet werden; ihre Inanspruchnahme soll erst nach Ausschöpfung aller anderen Optionen
erfolgen.1495
In diesem Zusammenhang sei der im Schrifttum unternommene Versuch erwähnt, die
Gewissensfreiheit mittels des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, so weitgehend
einzuschränken, dass die potenzielle Gefahr der Untergrabung der Rechtsordnung beseitigt
1493
R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 89. 1494
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 284. 1495
K. Szewczyk, Bioetyka. Medycyna na granicach życia, Warszawa 2009, S. 227.
394
werden kann. Danach muss die Gewissensfreiheit des Einzelnen nicht nur im Fall aufgeopfert
werden, wenn ihre Ausübung „eine schwer zu wiedergutmachende Einbüße für ein Recht
eines Dritten nach sich zieht,“ sondern auch dann, wenn „die Allgemeingeltung des Rechts in
dem nicht zu tolerierenden Maße in Frage gestellt wird“1496
. Es ist zu untersuchen, „ob aus der
staatlichen Perspektive die absolute Beachtung einer Norm unerlässlich ist. Wenn sich diese
Allgemeingültigkeit als absolut notwendig erweist, ohne jegliche Ausnahmen zuzulassen,
weil sonst eine Vierteilung der Rechtsordnung mit dem Risiko ihrer Abreissung oder
Verletzung der Rechte Dritter eintreten würde, kann die Verweigerung aus Gewissensgründen
nicht anerkannt werden.“1497
Es sind zwar Situationen möglich, in denen absolute Befolgung
einer Rechtsnorm unabdingbar ist, um den Schutz eines gefährdeten Rechtsgutes zu sichern,
der allgemeine Hinweis auf Stabilität der Rechtsordnung wäre aber wegen des
Ausnahmecharakters der Grundrechtsschranken nicht akzeptabel. Es ist vielmehr auf konkrete
Einschränkungsvoraussetzungen anzuknüpfen,
b) Die Grundsätze der Menschenwürde und Freiheit
Bei der Interessenabwägung ist weiterhin darauf Rücksicht zu nehmen, dass die raison d‘être
des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes die maximale Sicherung der Freiheit und
Würde des Einzelnen ist. Die Verfassung baut weitgehend auf der Voraussetzung der
liberalen Philosophie vor allem auf dem Prinzip der individuellen Selbstbestimmung auf. Die
Grundsätze des Liberalismus haben daher einen hermeneutischen Wert bei der Konfliktlösung
zwischen der Gewissensfreiheit und anderen Rechtsgütern.1498
c) Der Gleichheit und der Grundsatz des Rechtsstaates
Die Befolgung der Rechtsordnung aus Gründen der Gleichheit der Bürger sowie der
Rechtssicherheit stellt einen Wert an sich dar, der bei der Güterabwägung neben den
materiellen Rechten und Gütern in Vordergrund tritt. „Wird dies entsprechend in der
gegebenenfalls erforderlichen Abwägung berücksichtigt, kommt es zur Durchbrechung der
Geltung der unterverfassungsrechtlichen Rechtsordnung nur in wohlbegründeten Einzelfällen,
in denen ausreichende Gründe hierfür vorliegen.“1499
1496
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 256. 1497
Ebenda, S. 256. 1498
I. M. Sanchis, L„objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church-State Relations,
Conscientious objection in the EU countries, Madrid 1992, S. 95f. 1499
M. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2009, S. 555.
395
d) Grundsätze der Demokratie und Volkssouveränität
Die Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen bedeutet die Durchbrechung des
Prinzips, dass das im politischen Willensbildungsprozess gesetzte Recht von allen Bürgern
ausnahmslos zu befolgen ist. Aus der anderen Seite wenn anzunehmen ist, dass der
Gewissensfreiheit neben der persönlichkeitsschützenden Funktion auch „meinungsbildender
Charakter in der Demokratie“1500
zukommt, fällt dies im Rahmen der Interessenabwägung
zugunsten der Gewissensfreiheit ins Gewicht.1501
Die Rolle des Demokratieprinzips bei der
Behandlung der Einschränkung der Gewissensfreiheit ist somit zweideutig. Da die
Gewissensfreiheit als Grundrecht von dem demokratischen Gesetzgeber in die Rechtsordnung
absichtlich en bloc integriert wurde, muss angenommen werden, dass er bestimmte
Ausnahmen von Rechtsbefolgung vorgesehen hat. Die materielle Rolle der Gewissensfreiheit
in der Gestaltung der demokratischen Prozesse scheint somit dem formalen Aspekt des
Demokratieprinzips und dem Prinzip der Volkssouveränität gegenüber zu überwiegen. Dies
hat zur Folge, dass die demokratiefördernde Funktion der Gewissensfreiheit als Argument
gegen ihre Einschränkung in einem konkreten Fall sprechen kann.
e) Das Prinzip, von einer tradierten Praxis nicht ohne Grund abzuweichen.1502
Die Befolgung dieser in der Lehre aufgestellten Direktive hätte zur Folge, dass die
Gewissensfreiheit in Polen weiterhin mit Religionsfreiheit verbunden wäre: die Verweigerung
aus Gewissensgründen, insbesondere wenn ihr Ursprung in einer Weltanschauung liegt, wäre
i.d.R. nicht anerkannt. Die Säkularisierung der polnischen Gesellschaft und die damit
zusammenhängende Pluralisierung der Moralvorstellungen rechtfertigt die Änderung der
bisherigen Auslegungspraxis der Gewissensfreiheit, vor allem ihre Emanzipierung von der
Religionsfreiheit.
f) Der Grundsatz pacta sunt servanda.1503
Für die Abwägung zwischen den kollidierenden Interessen, insbesondere im Vertragsrecht,
kann nicht ohne Bedeutung sein, ob sich der Grundrechtsträger „freiwillig und
gewissermaßen sehenden Auges in die Lage begeben hat, die ihm Gewissensnot bereitet.“1504
1500
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz Zürich 2008, S. 244 1501
Ebenda, S. 244; F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 152; D. Franke,
Gewissensfreiheit und Demokratie. Aktuelle Probleme der Gewissensfreiheit, in: AöR, Nr. 114, 1989, S. 13f. 1502
R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 89; F. Filmer, Das Gewissen als Argument
im Recht, Berlin 2000, S. 285. 1503
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 285.
396
3.2.3. Die Intensität des Eingriffs in das Grundrecht des Einzelnen
Bei der Erwägung der Einschränkung der Gewissensfreiheit ist zu erörtern, inwieweit die
Betätigung der Gewissensentscheidung des Einzelnen im konkreten Fall für die Bewahrung
seiner Identität von Bedeutung ist und ob eine Zuwiderhandlung gegen das Gewissen die
Desintegrierung seiner Persönlichkeit zur Folge haben kann. In diesem Zusammenhang ist
aber nicht auf eine psychologische Analyse zurückzugreifen, weil eine solche Prognose ex
ante kaum realisierbar ist. Es ist vielmehr auf objektive Maßstäbe abzustellen und daraus
Rückschlüsse für die möglichen Konsequenzen der Handlung gegen das Gewissen für den
Betroffenen zu ziehen. Aus dieser objektiven Perspektive ist z.B. anzunehmen, dass die
Zahlung einer Geldsumme für ein gewissenswidriges Ziel die Persönlichkeit weniger tangiert,
als das persönliche Tun.1505
Darüber hinaus ist zwischen der absoluten und relativen Verletzung der Gewissensfreiheit zu
unterscheiden. Die absolute Verletzung der Gewissensfreiheit besteht in der Auferlegung dem
Einzelnen einer Verpflichtung unter Androhung einer Sanktion, gegen sein Gewissen zu
handeln. Im Fall der relativen Verletzung der Gewissensfreiheit stellt dagegen das mit dem
Gewissen des Einzelnen unvereinbare Tun oder Unterlassen zwar keine Rechtspflicht dar, es
wird aber zur Voraussetzung für die Einräumung einer Begünstigung gemacht. Wenn auch
der Einzelne die Freiheit hinsichtlich der Erfüllung dieser Voraussetzung behält, ist seine
Position im Vergleich zu denjenigen ungünstiger, die seine Überzeugungen nicht teilen.
Nichtsdestoweniger ist der Eingriff in den Gewissensbereich des Individuums im Fall der
relativen Verletzung weniger schwerwiegend als im Fall der absoluten
Grundrechtsbeeinträchtigung. Deshalb lässt sich die Beschränkung der individuellen Freiheit
hinsichtlich der relativen Eingriffe leichter rechtsfertigen.1506
3.2.4. Ausweichmöglichkeiten eines Gewissenskonflikts
Aus dem Zweck des Grundrechts der Gewissensfreiheit, die Unversehrtheit der persönlichen
Integrität und Identität des Einzelnen zu schützen, ergibt sich das Postulat, dass sowohl der
1504
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, Berlin 1989, S. 501. 1505
R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVDStRL, Bd. 28, S. 23. 1506
R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,
S. 490.
397
Staat als auch der Einzelne gehalten sein soll, den Gewissenskonflikt möglichst zu vermeiden.
Die Beziehung des Staates und der Grundrechtsträger zueinander basiert auf gegenseitigen
Loyalitätspflichten; danach kann vom Staat erwartet werden, dass er dem Einzelnen ein
„System von Toleranzen und partiellen Entpflichtungen“1507
bereitstellt, während vom
Individuum zu erwarten ist, dass es im Rahmen der von der Rechtsordnung angebotenen
Möglichkeiten, den Gewissenskonflikt zu vermeiden strebt. „Wer ihn etwa suchen sollte,
begibt sich damit in eine von der Verfassung nicht gebilligte und mithin auch ihren Schutz
nicht genießende Position.“1508
Wenn dagegen feststeht, dass der Konflikt für den Einzelnen
unvermeidbar ist, muss geprüft werden, ob es in den konkretem Fall Handlungsalternativen
gibt und ob sie für das Gemeinwesen tragbar sind. Falls der Gesetzgeber die
Standardalternative nicht bereitstellt, müssen die Lösungen fallbezogen erarbeitet werden.
3.2.5. Art der verweigerten Rechtspflichten
Bei der Interessenabwägung der kollidierenden Rechtsgüter ist die soziale Begründung der
verweigerten Rechtspflicht von fundamentaler Bedeutung. Anhand der durch ihre Erfüllung
begünstigten Subjekte ergibt sich die folgende Kategorisierung:1509
a) paternalistische bzw. perfektionistische Rechtspflichten
Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist anzuerkennen, solange der Interessenbereich der
Betroffenen nicht überschritten wird. Im Fall der sog. paternalistischen oder
perfektionistischen Rechtspflichten, d.h. derjenigen, die ausschließlich dem Interesse der
Verpflichteten dienen, soll der Vorrang der Gewissensfreiheit eingeräumt werden. Ein
Beispiel dafür bildet die Verweigerung der Bluttransfusion aus Gewissensgründen von einem
erkenntnisfähigen Erwachsenen ohne familiäre Verpflichtungen gegenüber minderjährigen
Kindern.1510
Diese Lösung erklärt sich mit dem die ganze Rechtsordnung durchdringenden
Prinzip der individuellen Autonomie: „Wenn Ideale der Selbstbestimmung und Pluralismus
nicht ausreichend sind, um jemandem das Handeln in Übereinstimmung mit seinen
1507
A. Arndt, Das Gewissen in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung, in: NJW, 1966, S. 2004f. 1508
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, Berlin 1989, S. 500. 1509
I. M. Sanchís, L`objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church and State
Research, Consciencious objection in the EU countries, Milano 1992, S. 96. 1510
J. D. McClean, Protection of freedom of conscience in fields other than that of military service, in: European
Consortium for Church-State Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 292, 300.
398
moralischen Überzeugungen zu ermöglichen, und dadurch sich selbst zu gefährden, dann sind
sie wirklich nicht viel wert.“1511
b) Rechte und Freiheiten Anderer
Die Freiheit des Einzelnen in dem liberal-demokratischen Staat wird nur in möglichst seltenen
Fällen, d.h. wenn die wesentlichsten Interessen Anderer in Frage kommen, durch die
Rechtspflichten eingeschränkt. Wenn die verweigerte Rechtspflicht ein Reflex eines Rechts
der Anderen ist, soll die Gewissensfreiheit grundsätzlich zurücktreten: die Anderen müssen
die Kosten der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht tragen.1512
Wenn die
fundamentalen Interessen Anderer hinreichend bedroht oder verletzt sind, um den Eingriff in
den Bereich der individuellen Freiheit zu rechtfertigen, und wenn es keine andere Möglichkeit
der adäquaten Wiedergutmachung für erlittene Schäden vorhanden ist, kann die
Verweigerung des Einzelnen strafrechtlich geahndet werden. Die Sanktionierung erfolgt dabei
unabhängig von den Motiven des Täters,1513
obwohl im polnischen Recht die Motivation des
Täters bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist (Art. 53 Abs. 2 StGB). Dagegen im Fall
der Verletzung (Bedrohung) der weniger wichtigen Interessen soll sich die Auferlegung einer
Sanktion für die Verweigerung aus Gewissensgründen auf die zivilrechtliche Haftungspflicht
beschränken. Darüber hinaus hat die Anerkennung des Verweigerungsrechts im Fall der
zwangsfreien Einwilligung des Berechtigten für den Eingriff in seine Rechte viel stärkere
Grundlagen als wenn er gegen seinen Willen erfolgt.1514
c) Allgemeine Gemeinwohlinteressen
Wenn durch die verweigerte Rechtspflicht das allgemeine Gemeinwohlinteresse geschützt
wird, sollen verschiedene Aspekte in Betracht gezogen werden, wie etwa die
Ersatzmöglichkeit des Verweigerers, eine vorherige freiwillige Pflichtübernahme etc. In
Bezug auf die Rechtspflichten, welche zum Schutz der öffentlichen Interessen auferlegt
werden, sind die Argumente gegen die Anerkennung des Verweigerungsrechts weniger
aussagekräftig als im Fall des unmittelbaren Eingriffs in die Rechtsinteressen der Einzelnen.
1511
J. Raz, Autorytet prawa, Warszawa 2000, S. 285. 1512
I. M. Sanchís, L‟objection de conscience en Espagne, in: European Consortium for Church and State
Research, Consciencious objection in the EU countries, Madrid 1992, S. 96. 1513
J. Raz, Autorytet prawa, Warszawa 2000, S. 286. 1514
Ebenda, S. 286. Der zitierte Autor führt das Beispiel der Beihilfe zur Sterbehilfe oder zum Suizid an. Der
Täter, der glaubt – wenn auch irrend -, dass er moralisch verpflichtet ist, seinem Freund zum Freitod zu
verhelfen, soll nicht die ordentlichen Rechtsfolgen tragen. Sein Anspruch muss auch von denjenigen als sehr
stark begründet angesehen werden, die der Ansicht sind, dass die Strafsanktionen für die erwähnten Taten in der
Rechtsordnung vorgesehen sein sollen.
399
Es kommt dabei nicht darauf an, dass die unmittelbare Identifizierung des konkreten Vorteils
des Einzelnen im Fall der öffentlichen Interessen nicht immer möglich ist, weshalb sie
weniger schutzbedürftig als bestimmte Interessen konkreter Individuen sein sollten. Relevant
ist vielmehr, dass der Schutz der abstrakten öffentlichen Interessen den größeren
Handlungsspielraum und Anpassungsmaßnahmen seitens des Staates zulässt. Dies bezieht
sich auf die Sicherung der gemeinsamen Rechtsgüter, zu deren Zugang vom Beitrag des
Einzelnen nicht abhängig gemacht wird und wo der Beitrag des Einzelnen zu ihrer
Verfügbarkeit äußerst gering ist.1515
3.2.6. Handlungs- und Unterlassungspflichten
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines staatlichen Eingriffs in die Gewissensfreiheit
ist der Unterschied zwischen dem gewissensgetragenen Handeln und Unterlassen von
Bedeutung. Es ist zunächst grundsätzlich anzunehmen, dass die Verweigerung, eine
Handlungspflicht zu erfüllen, einen niedrigeren Grad der Gefährlichkeit für die Gesellschaft
aufweist als ein Verstoß gegen ein Handlungsverbot. Weiterhin ist dem Einzelnen
zumutbarer, die Einschränkung seines Grundrechts beim gewissenskonformen Tun
hinzunehmen als im Fall des gewissenskonformen Unterlassens. Zwischen Tun und
Unterlassen ergibt sich nämlich ein Unterschied: während das Tun in verschiedener Weise
verwirklicht werden kann, verfügt der Einzelne im Fall des Unterlassens über keine
Verhaltensalternativen. Bereits aus der subjektiven Perspektive ist die innere Dringlichkeit zu
einem gewissenskonformen Unterlassen intensiver als beim gewissensgemäßen Handeln.1516
Außerdem lässt sich der erhöhte Schutz des Unterlassens damit begründen, dass der Staat
besser in der Lage ist, sich auf einen Ausfall einer Leistung als auf ein aggressives Tun
einzustellen.1517
Das aktive Tun greift in der Regel einschneidender in die Rechtssphäre des
Einzelnen und in die öffentlichen Interessen als das bloße Unterlassen ein.1518
Es ist daher
vom allgemeinen Grundsatz auszugehen, dass die strafrechtlichen Normen, insbesondere die
Verbote, ausnahmslos zu behalten sind. Dies erklärt sich damit, dass die Existenz des Staates,
die Funktionsfähigkeit seiner Einrichtungen sowie das friedliche Zusammenleben und Einheit
1515
J. Raz, Autorytet prawa, Warszawa 2000, S. 287. 1516
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 163, 220. 1517
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 256. 1518
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 243; F. Filmer, Das Gewissen als Argument
im Recht, Berlin 2000, S. 220; M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des Rechts, Berlin 1989, S.
228.
400
der Gesellschaft eine unabweisbare Voraussetzung für den Schutz der Gewissensfreiheit
darstellen.1519
3.2.7. Die Gewissensfreiheit der Funktionsträger
Bei der Bestimmung der Ausübungsfreiheit von den individuellen Gewissensentscheidungen
ist in Betracht zu ziehen, ob der Verweigerer ein Amt bekleidet oder eine Funktion ausübt. Es
besteht zwar kein Zweifel, dass die Amtsträger das Grundrecht der Gewissensfreiheit
genießen, seine Inanspruchnahme unterliegt aber wegen der ausgeübten Funktion
weiterreichenden Beschränkungen. In diesem Fall rechtfertigt sich die
Grundrechtseinschränkung sowohl mit der Freiwilligkeit der Dienstannahme als auch mit
speziellen Loyalitätspflichten des Funktionsträgers bei der Ausübung seines Amtes,
insbesondere im Prozess der Rechtsanwendung, was durch den Eid oder Versprechen bei der
Annahme eines Amtes oder einer Funktion zum Ausdruck gebracht wird.
Im Allgemeinen ist anzunehmen, dass in den Fällen, in welchen keine Ersatzmöglichkeit des
Beitrages eines Funktionsträgers besteht, z.B. die Verweigerung des Präsidenten, ein Gesetz
zu unterzeichnen, kann die Freistellung von der Rechtspflicht wegen der Unersetzlichkeit
seiner Funktion nicht eingeräumt werden. Außer den klaren Fällen der Unersetzbarkeit der
Handlung eines Amtsträgers ist jedoch in der Lehre keine einheitliche Lösung für die
Behandlung der Ausübung der Gewissensfreiheit durch die Funktionsträger zu verzeichnen.
Diese Meinungsverschiedenheit sei am Beispiel der Richter gezeigt: Nach einer Ansicht
besteht die einzige Lösung für den Funktionsträger im Fall des Konflikts zwischen der von
ihm anzuwendenden Rechtsnorm und der im Gewissen anerkannten moralischen Norm in
Verzicht von der Ausübung seiner richterlichen Funktion.1520
Andere Autoren sind der
Auffassung, dass die einzelnen Verweigerungsfälle differenziert behandelt werden sollen.
Während es mit der besonderen Bindung des Richters an das Gesetz unvermeidbar wäre, dass
er eine generalisierte Verweigerung etwa gegen einen Strafentyp geltend macht. wäre
unverhältnismäßig, seine Verweigerung aus Gewissensgründen nicht anzuerkennen, wenn
feststeht, dass der Kern seiner moralischen Haltungen betroffen ist, die Verweigerung
sporadisch eintritt und die Funktionsfähigkeit der Gerichte durch die Betätigung des
1519
W. Loschelder, The non-fulfillment of legally imposed obligations because of conflicting decisions of
conscience – the legal situation in the Federal Republic of Germany, in: European Consortium for Church-State
Research, Conscientious objection in the EC countries, S. 38. 1520
W. Lang, Prawo i moralność, Warszawa 1986, S. 257.
401
Grundrechts nicht bedroht ist. Dies könnte etwa im Fall der Verweigerung, eine
Genehmigung für die Abtreibung im Falle einer Minderjährigen auszustellen, bejaht
werden.1521
Die Anerkennung des Verweigerungsrechts der Richter könnte auch auf verfahrensrechtliche
Gründe gestützt werden: es ist nämlich notwendig, vorzubeugen, dass ein Richter, den ihn
quälenden Gewissenskonflikt auf eine andere Weise zu lösen versucht, die sich auf
Durchführung seiner rechtsprechenden Aufgaben negativ auswirken kann. Dies könnte etwa
durch den gewissensschonenden Gebrach des durch das Recht vorgesehenen freien Ermessens
oder durch Manipulation mit Auslegungsregeln geschehen. Da der Gewissenskonflikt des
Richters seine Unparteilichkeit und Objektivität beeinflusst, wird vorgeschlagen, im Fall der
Verweigerung aus Gewissensgründen die Verfahrensvorschriften zum Ausschluss des
Richters aus dem Verfahren wegen seines möglichen Interesses an dem Rechtsstreitergebnis
anzuwenden.1522
Für die Interessenabwägung in dem Bereich der besonderen Verhältnisse wurde im
spanischen Schrifttum1523
eine Aufteilung der Verweigerungsfälle vorgeschlagen, in welcher
die einzelnen Sachverhalte nach dem Grad der Verbindung der verweigerten Pflicht mit der
ausgeübten Funktion differenziert werden. Sie wird wegen ihrer möglichen Übertragbarkeit in
das polnische Recht dargestellt. Die einzelnen Verwigerungsfälle werden wie folgt geteilt:
a) Sachverhalte, in denen die Verbindung zwischen der öffentlichen Funktion und der
verweigerten Pflicht eng ist und die Beeinträchtigung der Interessen der Allgemeinheit bei der
Nichterfüllung dieser Pflicht gravierend ist. Sie sind als Fälle der aktiven Treuepflicht
gegenüber der Verfassung zu betrachten, in den das allgemeine Interesse überwiegen soll. Die
eventuelle Verweigerung ist mit einer Sanktion zu belegen, wobei das Grundrecht der
Gewissensfreiheit bei der Strafzumessung berücksichtigt werden soll. Diese Situation betrifft
vor allem die Träger der politischen Funktionen und Richter.
1521
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 266. 1522
C. Pérez del Valle, Prevaricación judicial y objeción de conciencia, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y
función pública, Madrid 2007, S. 310; G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio
fiscal, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 270. 1523
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 252f.
402
b) Sachverhalte, in denen zwar eine enge Verbindung zwischen der ausgeübten Funktion und
der verweigerten Pflicht besteht, die Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen im Fall ihrer
Nichterfüllung ist aber nicht gewichtig. Hierher gehören die Fälle, wo sich die verweigerte
Pflicht nicht klar und ausdrücklich aus den das Rechtsverhältnis des Verweigerers regelnden
Normen ergibt. Das wichtigste Beispiel für diese Konstellation sind Arbeitsverhältnisse in der
Verwaltung, in welchen der Angestellte keine Funktion trägt. In dieser Situation ist geboten,
dem Betroffenen einen anderen Aufgabenbereich zuzuweisen und wenn dies nicht möglich
ist, sein Arbeitsverhältnis zu kündigen.
c) Sachverhalte, in denen die Konnexion zwischen der ausgeübten Funktion und der
verweigerten Rechtspflicht nur indirekt ist und dabei keine schwerwiegende Gefährdung der
öffentlichen Interessen vorliegt. In diesen Fällen überwiegt das Individualinteresse des
Gewissensträgers, deshalb soll seine Verweigerung nicht geahndet werden. Das Hauptbeispiel
bildet die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen durch das medizinische
Personal.
3.2.8. Erreichbarkeit des Zweckes der verweigerten Rechtspflicht
Der Staat kann bei der Anerkennung der Verweigerung aus Gewissensgründen großzügig
sein, wenn die Erreichung des durch das Gesetz zu verwirklichenden Zieles durch die
Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit nicht bedroht ist. Einer der Faktoren, welche bei der
Feststellung, ob die Allgemeingültigkeit der verweigerten Norm zu bewahren ist, in Frage
kommt, ist die Möglichkeit eines Ersatzverhaltens. Wenn die geforderte Handlung relativ
leicht zu ersetzen ist, nehmen die Gründe für die Beschränkung der Gewissensfreiheit ab. Del
Moral illustriert diese Ansicht mit dem Beispiel der Verweigerung eines Apothekers, dem
Patienten ein Mittel auszugeben, das Abtreibungswirkung haben kann. Er argumentiert, dass
die Anerkennung des Verweigerungsrechts in diesem Fall davon abhängen muss, ob ein
anderer Pharmazeut erreichbar ist, der bereit wäre, dieses Mittel zu verkaufen.1524
Ein anderes
Beispiel für die Anwendung dieses Ansatzes kann die Unterscheidung zwischen der
Verweigerung an der Schwangerschaftsunterbrechung teilzunehmen, die von einer
Krankenschwester und von einem Krankenhausdirektor geltend gemacht wird. Im zweiten
Fall ist durchaus vertretbar, die Freistellung von den gesetzlichen Pflichten nicht
1524
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 257.
403
einzuräumen, wenn angenommen wird, dass das im Gesetz zum Ausdruck gebrachte Ziel
darin besteht, die Abtreibungsbehandlungen zugänglich zu machen.1525
Bei der Bestimmung der Erreichbarkeit eines gesetzlichen Zweckes stehen Qualitätsaspekte
mit den Quantitätsaspekten in enger Verbindung. Wenn sich z.B. jemand im Normalfall aus
Gewissensgründen weigert, sich der Pflichtimpfung zu unterziehen, kann diese Entscheidung
unter Umständen berücksichtigt werden, wenn dadurch die Gesundheit der Allgemeinheit
nicht bedroht wird. Anders wäre jedoch im Fall einer Epidemie zu entscheiden, wo jeder
Einzelne als potenzieller Krankheitsverbreiter eine akute Gefahr für die Gesundheit Anderer
darstellen kann. Die Einschränkung der Gewissensfreiheit ist auch in den Fällen zu bejahen,
wo die Mehrzahl der Verpflichteten Impfungen verweigert. Dieses Beispiel ist zwar nur
theoretisch, zeigt aber, dass bei der Schrankenziehung der Gewissensfreiheit keine allgemeine
Formel zur Verfügung steht und deshalb ist in jedem konkreten Fall unter Berücksichtigung
aller Umstände nach einer geeigneten Lösung zu suchen. Darüber hinaus ergibt sich aus dem
dargestellten Fall, dass eine vermehrte Inanspruchnahme des Grundrechts der
Gewissensfreiheit imstande ist, die Gefährdung des geschützten Rechtsgutes zu intensivieren
oder sogar die Vereitelung des gesetzlichen Zweckes herbeizuführen, was lediglich mittels
der Grundrechtseinschränkung abgewendet werden kann. Die Pflicht der Rechtsanwender, die
gesetzliche Zwecke zu erreichen, findet ihre Rechtsfertigung u. a. mit der demokratischen
Legitimation des Gesetzgebers, die soziale Wirklichkeit nach seinem souveränen Willen
effizient zu gestalten.1526
4. Der Wesensgehalt der Gewissensfreiheit
Dem Gesetzgeber ist erlaubt, den Grundrechtsinhalt in dem durch die Verfassung
vorgegebenen Rahmen zu gestalten, zu konkretisieren und einzuschränken. Die
grundrechtseinschränkende Tätigkeit findet allerdings ihre Grenze in Art. 31 Abs. 3 Verf, der
bestimmt, dass bei der Einschränkung der Rechte und Freiheiten ihr Wesensgehalt nicht
angetastet werden darf. Die präzise Bestimmung des Wesensgehalts eines Grundrechts wurde
1525
J. D. McClean, Protection of freedom of conscience in fields other than that of military service, in: European
Consortium for Church-State Research, Conscientious objection in the EC countries, Milano 1992, S. 292, 298. 1526
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 257.
404
allerdings weder in der Rechtssprechung noch in der Lehre vorgenommen. Die Anwendung
dieser Norm in Praxis hat daher einen intuitiven Charakter.1527
Es steht allerdings fest, dass
unter dem Wesensgehalt derjenige Teil der grundrechtlichen Gewehrleistung zu verstehen ist,
der absolut notwendig ist, damit der Schutz der Rechtsinteressen, die zu raison d’être des
betroffenen Grundrechts werden, faktisch, effektiv und konkret gesichert wird.1528
Es wird
somit vorausgesetzt, dass jedem Freiheitsrecht ein bestimmter Minimalgehalt innewohnt,
dessen Beeinträchtigung zur Folge hat, dass dieses Recht gänzlich beseitigt wird, d.h. seinen
praktischen Sinn verliert.1529
Der Verfassungsgerichtshof hat dies wie folgt präzisiert: „(...) im
Rahmen des Schutzbereichs jedes konkreten Rechts und Freiheit können bestimmte
Grundelemente (Kern) abgesondert werden, ohne die dieses Recht oder Freiheit überhaupt
nicht existieren kann; es lassen sich auch gewisse Zusatzelemente abzuheben, welche in
verschiedener Weise aufgefasst und modifiziert werden können, ohne dass die Identität dieses
Rechts oder Freiheit nicht zunichte geht.“1530
In einer anderen Entscheidung hat der
Verfassungsgerichtshof darauf hingewiesen, dass die Einschränkung der Rechte und
Freiheiten „keine Vernichtung der Grundelemente eines subjektiven Rechts herbeiführen darf,
indem die Aushöhlung seines wirklichen Gehalts verursacht wird und indem das Recht oder
die Freiheit ins Scheinrecht verwandelt wird.“1531
Was die Bestimmung des Wesensgehalts der Grundrechte angeht, lassen sich zwei
Grundauffassungen unterscheiden: Die erste Auffassung geht davon aus, dass das Wesen der
Grundrechte einen stabilen, unveränderlichen und von den Umständen unabhängigen Wert
darstellt. Nach dem zweiten Ansatz erfolgt die Ermittlung des Wesens der Grundrechte
anhand des konkreten Tatbestandes und der Rechtslage in der bestimmten Zeit und Ort; sein
Inhalt ist somit veränderlich. Da der Verfassungsgeber den Wesensgehalt der Grundrechte
nicht bestimmt, ist dem zweiten Ansatz beizupflichten. Dabei ist nicht möglich, den
Wesensgehalt eines Grundrechts in abstracto festzulegen. Die Beurteilung, ob in einem
konkreten Fall die Verletzung des Wesensgehalts vorliegt, obliegt vielmehr dem
1527
P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, Warszawa 1995, S. 100. 1528
Das Urteil des spanischen Verfassungstribunal STC 11 1981 vom 8. April 1981; G. Escobar Roca, La
objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 454. 1529
B. Banaszak, Prawa człowieka i obywatela w Nowej Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej, in: Przegląd
Sejmowy, Nr. 5, 1997, S. 57; D. Dudek, Zasady ustroju III Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 2009, S. 107;
A. Łabno, Ograniczenie wolności i praw człowieka na podstawie art. 31 Konstytucji III RP, in: B. Banaszak, A.
Preisner, Prawa i wolności obywatelskie w Konstytucji RP, Warszawa 2002, S. 708; P. Winczorek, Komentarz
do Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997, Warszawa 2000, S. 49; P. Tuleja, in: P.
Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, Warszawa 1995, S. 99. 1530
Das Urteil von 25.05.1999; Signatur: OTK ZU Nr. 4, poz. 78, S. 411. 1531
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs von 12.01.2000, P 11/98, OTK ZU 2000, Nr. 1, poz. 3.
405
rechtsanwendenden Subjekt.1532
Bei der Ermittlung des Wesensgehalts der Freiheitsrechte
steht dabei dem Rechtsanwender kein operatives Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen
Hilfe seine Bestimmung möglich wäre. Darüber hinaus lässt der Wesensgehalt eines
Grundrechts keine Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Rechtsgütern zu. Dies führt
zum Ausschluss der Anwendbarkeit in diesem Bereich der Auslegungsregel der praktischen
Konkordanz.1533
Unter Berücksichtigung des oben Gesagten ist nun den Wesensgehalt des Grundrechts der
Gewissensfreiheit zu ermitteln. Der Anhaltspunkt dafür ist das durch die Gewissensfreiheit
geschützte Rechtsgut also die moralische Selbstbestimmung, Identität und Integrität des
Einzelnen. Es ist deshalb anzunehmen, dass das Grundrecht seine praktische Bedeutung
verlieren würde, wenn es so weitgehend eingeschränkt wäre, dass die Zuwiderhandlung gegen
das Gewissen mit einer großen Gefahr für die persönliche Autonomie verbunden würde sowie
gravierende psychische Schäden dem Betroffenen herbeiführen könnte. Dies ist vor allem in
denjenigen Fällen zu bejahen, wenn das Verweigerungsrecht gegen positive Rechtspflichten,
deren Erfüllung das Gewissen des Einzelnen unmittelbar verletzen würde, nicht gewährt wäre.
Beizupflichten ist daher der Meinung, wonach der Wesensgehalt der Gewissensfreiheit
„zumindest das Recht enthalten soll, diejenigen öffentlich-rechtliche Pflichten nicht zu
erfüllen, welche eine direkte Handlung des Einzelnen voraussetzen.“1534
Zum Wesensgehalt
der Gewissensfreiheit gehören somit die Verweigerungsfälle der Tötung und zwar sowohl im
Zusammenhang mit der Durchführung der Abtreibung (wenn keine direkte Gefahr für das
Leben der Schwangeren besteht), als auch in Verbindung mit dem Kriegsdienst in der
Kriegszeit. Weiterhin ist dem Wesensgehalt der Gewissensfreiheit die Verweigerung der
Bluttransfusion (im Fall eines Erwachsenen ohne familienrechtliche Verpflichtungen) sowie
die Verweigerung der Eidesleistung zuzuordnen. Im Gegenteil gehört nicht zum
Wesensgehalt der Gewissensfreiheit die Verweigerung der Erfüllung von privatrechtlichen
Pflichten, insbesondere denjenigen vom arbeitsrechtlichen Charakter, wenn sie freiwillig
eingegangen wurden. Ein Orientierungsmaßstab bei der Entscheidung, ob der Wesensgehalt
der Gewissensfreiheit in einem Fall berührt ist, bildet hier das Vorhandensein der
Ausweichmöglichkeit des Verweigerers. Dem Verweigerer, der in ein Rechtsverhältnis
1532
B. Banaszak, M. Jabłoński, in: System ochrony praw człowieka, Kraków 2003, S. 333; Moncada Zapata,
Principios para la interpretación de la Constitución en la jurisprudencia de la Corte Constitucional Colombiana,
in: Derecho PUC, Nr. 53, Jahr 2000, S. 157. 1533
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 452. 1534
H. Nogueira Alcala, Derechos fundamentales y garantías constitucionales, Tomo 2, Santiago de Chile 2008,
S. 14; G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la Constitución española, Madrid 1993, S. 454.
406
freiwillig eingegangen ist, steht die Möglichkeit offen, dieses Verhältnis aufzugeben.1535
Darüber hinaus bleiben außer dem Kernbereich der Gewissensfreiheit die sog. relativen
Pflichten, also die Erfordernisse, deren Erfüllung eine Voraussetzung für die Einräumung von
Vorrechten und Begünstigungen darstellen, sowie diejenigen Rechtspflichten, wie
Steuerzahlung und Wehrdienst in Friedenszeiten, bei deren Erfüllung die moralische
Selbstbestimmung des Einzelnen zwar beeinträchtigt, aber nicht zerstört wird.
Zum Schluss ist die von Hilti vertretene Konzeption des Wesensgehalts der Gewissensfreiheit
zu erwähnen. Danach ist der Wesensgehalt der Gewissensfreiheit grundsätzlich mit ihrem
forum internum identisch. Dieser Ansatz wird damit begründet, dass der interne Bereich der
Gewissensfreiheit absolut geschützt wird. Gemäß dem zitierten Autor wäre der Kernbereich
der Gewissensfreiheit auch dann verletzt, wenn eine Einschränkung des Rechts auf
Bekenntnis des Gewissensinhalts einer Zensur gleichkommen würde. Die Ausdehnung des
Wesensgehalts der Gewissensfreiheit auf das Bekenntnis der Gewissensentscheidungen ist
dabei die Konsequenz der Betrachtung dieses Grundrechts als ein
Kommunikationsgrundrecht. Die übrigen Betätigungsformen der Gewissensfreiheit werden
dagegen von Hilti außerhalb des Kerngehalts des Grundrechts situiert.1536
Dem zitierten Autor
ist dahingehend beizupflichten, dass der Schutz des inneren Bereichs des Gewissens mit der
Persönlichkeit des Individuums so eng verbunden ist, dass er dem Kerngehalt der
Gewissensfreiheit zuzuordnen ist. Es ist aber der Behauptung nicht zu folgen, dass das Recht,
den Inhalt der Gewissensentscheidung zu äußern, dem Wesensgehalt der Gewissensfreiheit
gehört und deshalb einen uneingeschränkten Schutz genießen soll. Im Fall der Einschränkung
der Äußerungsfreiheit in den moralischen Fragen ist der vom Einzelnen erlittene Schaden für
seine Identität oder die Beeinträchtigung seiner Autonomie nicht so tiefgreifend, um der
absolute Schutz dieses Rechts zu begründen.
5. „Weltanschauungsneutrale“ Gesetze als Grenze der Gewissensfreiheit
Der Verfassungsgerichtshof und die Konventionsorgane der EMRK unternehmen den
Versuch, den Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit durch die Art der
1535
G. Escobar Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 250. 1536
M. Hilti, Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Zürich 2008, S. 237.
407
kollidierenden Rechtspflichten einzugrenzen. Diesem Ansatz steht der Gedanke im
Vordergrund, dass dem Einzelnen nicht erlaubt sein soll, sich auf die Glaubens- und
Gewissensfreiheit zu berufen, um von der Befolgung der allgemeinen und für alle geltenden
Gesetze loszukommen; niemand soll die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten
verweigern können, die keine religiösen oder weltanschaulichen Implikationen aufweisen.1537
Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat wiederholt betont, dass Art. 9 EMRK
vor allem die private Sphäre der persönlichen Überzeugungen schützt. Das Recht, sich in der
öffentlichen Sphäre so zu benehmen, wie es der Glaube oder das Gewissen fordert, wird
dagegen nicht in allen Fällen gewährt. Dabei bezieht sich die Kommission auf die
„Arrowsmith“ Entscheidung,1538
in der festgestellt wurde, dass der Begriff „practice“ in Art. 9
Abs. 1 EMRK nicht jede Handlung erfasst, die von der Religion oder Weltanschauung
beeinflusst oder motiviert ist.1539
Bei der Einschränkung des Schutzbereichs der Glaubens-
und Gewissensfreiheit bedienen sich die Konventionsorgane des Begriffes „generally
aplicable and neutral laws“, ohne zu präzisieren, wie dieser Begriff zu verstehen ist.1540
Das
Hauptbeispiel für eine weltanschauungsneutrale Rechtspflicht ist die Steuerpflicht; in der
Rechtsprechung der Kommission wird sie als eine neutrale Verpflichtung bezeichnet, die
jedermann trifft und keine Implikationen für das Gewissen des Einzelnen mit sich bringt.
Diese Qualifizierung findet in Art.1 des 1. ZP, wo die Steuerpflicht als eine allgemeingültige
Rechtspflicht ausdrücklich anerkannt worden ist, ihre Bestätigung.
Die Frage der Auswirkungen der weltanschauungsneutralen Gesetze auf Religionsfreiheit
hatte auch der polnische Verfassungsgerichtshof zu erörtern. Der Beschwerdeführer hat
argumentiert, dass Art. 134 der Verordnung des Wehrministers von 19.12.1996 über
Wehrdienst der Berufsoldaten1541
, wonach die Kündigung des Wehrdiensts während der
Periode des sog. Pflichtdienstes von Berufssoldaten nur unter Voraussetzung der vorherigen
Rückerstattung der Studienkosten in der Militärschule möglich ist, u. a. mit Art. 53 Verf.
unvereinbar ist. Für den Beschwerdeführer, der den Militärdienst wegen der angenommenen
1537
L. E. Pettiti, La Convention européenne des droits de L‟homme et des libertés fondamentaux, commentaire
article par article Paris 1995, Art. 9, S. 355. 1538
Arrowsmith v UK (1978) 3 EHRR 218. 1539
App. 10358/83, DR 37, 142, 147. 1540
Z.B. C.v. United Kingdom, App. 10358/83, D.R. 37, para. 142; Konttinen v. Finland, App. 24949/94, D.R.
87 – A. 1541
Dz. U. von 1997 Nr. 7 poz. 38; die Änderung von 1998, Nr. 153, poz. 1004.
408
religiösen Grundsätze verlassen wollte, war diese Voraussetzung aus finanziellen Gründen
nicht erfüllbar. Der Verfassungsgerichtshof hat das Vorliegen des Sachzusammenhangs
zwischen der beanstandeten Vorschrift und der Religionsfreiheit mit dem Argument verneint,
dass die zitierte Verordnung die Problematik der Religionsfreiheit überhaupt nicht regelt. Bei
der Bestimmung der Rechtslage der Soldaten legt sie nämlich keine
weltanschauungsrelevanten Kriterien fest. Die Regelungen der Leistung des Kriegsdienstes
und seiner Verlassung wirkt zwar unmittelbar und beschränkend auf verschiedene
Freiheitsrechte der Betroffenen aus, der bestrittenen Vorschriften wohnt aber kein
spezifisches Element inne, das die Erörterung des Streits im Kontext der Religionsfreiheit
begründen würde.1542
In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, welche Gesetze als religiös und
weltanschaulich neutral bezeichnet werden können und ob dieses Kriterium überhaupt
geeignet ist, um den Schutzbereich der Gewissensfreiheit abzugrenzen. In erster Linie werden
aus diesem Bereich diejenigen Rechtsakte ausgeklammert, welche religiöse Angelegenheiten
und das mit einem Glauben oder Weltanschauung unmittelbar verbundene Verhalten
normieren. Zu der Kategorie der religions- und weltanschauungsneutralen Rechtsakte gehören
auch diejenigen Gesetze nicht, die durch ihren Zweck, Auslegung oder Anwendung eine
Religion oder Weltanschauung diskriminieren. Aus dieser negativen Ausgrenzung ergibt sich,
dass die religiös und weltanschaulich neutralen Gesetze diejenigen Rechtsakte sind, welche
beim Verfolgen eines legitimen, „weltlichen“ öffentlichen Interesses, das Gewissen oder den
Glauben des Einzelnen als Nebenfolge beeinträchtigen.1543
Die Übertragung dieser Ansicht auf das Recht auf Gewissensfreiheit hätte zur Folge, dass
dem Einzelnen, dessen Gewissensentscheidung mit dem Zweck des weltanschaulich neutralen
Gesetzes kollidiert, grundsätzlich keinen Anspruch auf Freistellung von allgemeinen
Rechtspflichten oder auf Bereitstellung von Alternativen zusteht. Wenn die weltanschaulich
neutralen Gesetze alle diejenigen Gesetze sind, die den Einzelnen Pflichten oder Verbote
1542
TK.16.02. 1999, SK 11/98. 1543
S. Stavros, Freedom of Religion and Claims for Exemption from Generally Applicable, Neutral Laws:
Lesson from Across the Pond?, in: European Human Rights Law Review, 1997, S. 610f.
409
auferlegen, ohne sich gegen eine bestimmte Religion oder Weltanschauung als solche zu
richten, findet der Schutzbereich der Religions- und Gewissensfreiheit seine Grenzen an der
allgemeinen gesetzlichen Ordnung.1544
Die Anknüpfung bei der Bestimmung des
Schutzbereichs der Gewissensfreiheit an neutrale Rechtsakte nähert sich damit dem Ansatz
Herdegens von dem normativ bestimmten Verantwortungsbereich des Einzelnen. Danach
kann eine vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfasste Gewissensentscheidung nur
dann vorliegen, wenn sie den vom positiven Recht bestimmten Verantwortungsbereich des
Gewissensträgers betrifft. Die Bestimmung des persönlichen Verantwortungsbereichs soll
gemäß dieser Auffassung in den kompetenzrechtlich abgesteckten Verantwortungsbereich
von Staatsorganen verortet sein, also nach objektiven Maßstäben erfolgen.1545
Dieser Lösung ist entgegenzuhalten, dass Grundrechte einen bestimmten Lebensbereich vor
den Eingriffen sowohl seitens der Exekutive als auch seitens der Legislative schützen sollen.
Dies ist besonders von Bedeutung, wenn in Betracht gezogen wird, dass in einem modernen
Staat das Normengeflecht immer enger wird, was zur Folge hat, dass sich der dem Einzelnen
zur freien Gestaltung seines Lebens gebliebene Raum verkleinert. Damit nehmen auch die
Möglichkeiten zu unterschiedlichen religiösen und gewissensgemäßen Lebensführungen ab.
Es soll dabei nicht darauf ankommen, ob diese Verengung des individuellen Freiraums von
dem Gesetzgeber absichtlich oder nicht gewollt ist; die Grundrechte müssen auch für nicht
zielgerichtete Eingriffe des Staates eine Abwehrmöglichkeit bieten. Darüber hinaus ist zu
berücksichtigen, dass die religiöse und moralische Homogenität der einzelnen Gesellschaften
infolge verschiedener Erscheinungen wie Ausländerzuzug, Auftreten neuer religiösen und
weltanschaulichen Gruppierungen oder größere Mobilität der Bevölkerung verloren geht. Die
genannten sozialen Veränderungen haben zur Folge, dass neue oder bisher unbekannte
Religionsausübungsformen sowie Gewissensentscheidungen auftreten (können), welche
besonders anfällig sind, mit den weltanschauungsneutralen Normen in einen Konflikt zu
geraten.1546
1544
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 85. 1545
M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des Rechts, Berlin 1989, S. 258. 1546
N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, S. 85f.
410
Gegen diesen Ansatz spricht auch die Tatsache, dass Regelungen, die keinen Bezug auf
Religion oder Weltanschauung nehmen und in diesem Sinne neutral sind, unter Umständen
die Ausübungsfreiheit einer Religion oder Weltanschauung wesentlich beschränken können.
In den demokratischen Staaten erfolgen die Verletzungen der (Gewissens-)Freiheit sowie die
Diskriminierung häufig nicht als direkte Eingriffe in den Bereich der Überzeugungen des
Einzelnen, sondern gerade als Nebenfolge der religionsneutralen Gesetzgebung.1547
Die
Verneinung der Existenz eines Konflikts zwischen einem neutralen Gesetz und der
Gewissensfreiheit ist weder akzeptabel noch notwendig. Die eventuelle Einschränkung der
Gewissensfreiheit ist vielmehr ausschließlich aus der Perspektive der Schrankenklausel zu
behandeln.1548
Das Kriterium der weltanschauungsneutralen Gesetze ist somit für die
Abgrenzung des Schutzbereiches der Gewissensfreiheit ungeeignet. Der Schutzbereich des
Grundrechts würde viel zu eng eingegrenzt, infolgedessen würde die Gewissensfreiheit ihre
Funktion, einen bestimmten Lebensbereich vor staatlichen Eingriffen zu schützen, nicht mehr
wirksam erfüllen. Bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit ist vielmehr
an die Art und Weise der Grundrechtsausübung selber anzusetzen. Wenn die
Gewissensfreiheit einen spezifischen Lebensbereich schützen soll, gilt es, diesen in seinen
Charakteristika zu erfassen und nicht auf grundrechtsexterne Momente wie gewissensneutrale
Gesetze abzustellen.
6. Einzelne Einschränkungstatbestände des Grundrechts der
Gewissensfreiheit
6.1. Allgemeines
Art. 53 Abs. 5 i. V. m. Art. 31 Abs. 3 Verf. gestattet den Eingriff in das Recht auf Ausübung
einer Religion oder Weltanschauung unter den dort aufgezählten Voraussetzungen: Der
Eingriff muss von einem Gesetz vorgesehen sein, einen bestimmten Zweck verfolgen sowie
„notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ sein. Die ansehnliche Abstraktheit der
einzelnen Einschränkungsgründe hat zur Folge, dass sie nach dem Grundsatz exceptiones non
1547
R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,
S. 487. 1548
J. Torrón Martínez, El derecho internacional y las objeciones de conciencia, in: Instituto de Investigaciones
Jurídicas UNAM, Objeción de conciencia, México D.F. 1998, S. 135.
411
sunt extendendae eng auszulegen sind. Zu den konkreten Voraussetzungen für die
Grundrechtseinschränkung können daher nur diejenigen Gründe werden, die sich deutlich aus
dem Wortlaut der Einschränkungsklausel ergeben, und welchen eine allgemeinübliche
Bedeutung zugeschriben wird.1549
6.2. Das geltende Recht
In der polnischen Lehre wurde die Ansicht geäußert, dass die Ausübung der Religions- und
Gewissensfreiheit auf die Verweigerung der Erfüllung der öffentlichen Pflichten nicht
ausgedehnt werden kann. Dies wird damit begründet, dass die in der Verfassung vorgesehene
Pflicht, das geltende Recht zu befolgen und die sich aus den Rechtsvorschriften ergebenden
Pflichten zu erfüllen, jedermann betrifft.1550
Diese Ansicht findet ihre Stütze in Art. 3 Abs. 2
des Gesetzes über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, wonach die
Inanspruchnahme der grundrechtlichen Gewehrleistungen zur Nichterfüllung der gesetzlichen
Pflichten nicht führen darf. Gemäß dieser Bestimmung kann daher keine ausdrücklich nicht
anerkannte Modalität der Verweigerung aus Gewissensgründen, eine gesetzliche Pflicht zu
erfüllen, durch Glaubens- und Gewissensfreiheit geschützt werden. In diesem Zusammenhang
erhebt sich allerdings die Frage, inwieweit sich die betroffene Regelung mit dem Grundrecht
der Gewissensfreiheit vereinbaren lässt.
Um diese Frage zu beantworten, ist davon auszugehen, dass die höchstrangige Stellung der
Verfassung innerhalb der Rechtsordnung die Notwendigkeit begründet, das
unterverfassungsrechtliche Recht in Einklang mit der Verfassung auszulegen. Der
Rechtsanwender soll nämlich diejenige Interpretationsalternative der gesetzlichen
Bestimmungen wählen, welche mit den Verfassungsnormen im höchsten Grade harmonisiert.
Dabei kommt die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Norm zum Zuge. Sie hat zum
Ziel, das Gesetzeswerk innerhalb des Möglichen zu erhalten und die Entstehung der
Gesetzeslücken zu vermeiden. Diese Vorgehensweise ist Ausdruck der Achtung der
1549
A. Redelbach, Prawa naturalne – Prawa człowieka – Wymiar sprawiedliwości, Toruń 2000, S. 353. 1550
M. Pietrzak, Demokratyczne, świeckie państwo prawne, Warszawa 1999, S. 284.
412
Gestaltungsfreiheit des demokratischen Gesetzgebers hinsichtlich des Inhalts des gesetzten
Rechts.
Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit des unterverfassungsrechtlichen Rechts findet
allerdings Anwendung nur hinsichtlich der Rechtsakte, die nach dem Inkrafttreten der
Verfassung verabschiedet worden sind.1551
Dieses Argument greift allerdings in Bezug auf
das Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht: dieses Gesetz
wurde zwar im Jahre 1989 also vor Inkrafttreten der Verfassung von 1997 verabschiedet,
wurde aber seither, auch unter Geltung der „neuen“ Verfassung, mehrmals novelliert. Dies
legt den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber die fragliche Vorschrift auch nach Inkrafttreten
der Verfassung beibehalten wollte. Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit ist daher auf
das Gesetz über die Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit zu erstrecken.
Weiterhin ist die Harmonisierung einer gesetzlichen Vorschrift mit der Verfassung möglich,
solange sie nicht unwiderleglich verfassungswidrig ist. Erst im Fall der offensichtlichen
Unvereinbarkeit einer unterverfassungsrechtlichen Norm mit der Verfassung ist sie als
verfassungswidrig anzusehen. Die Grenze der Auslegung gemäß der Verfassung ist erreicht,
wenn der Interpret durch die Änderung des eindeutigen Inhalts die „Vervollständigung“ der
Norm sucht, um sie an die Verfassung anzupassen.
Die Bestimmung des Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes über die Garantien der Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit macht den Schutzumfang der Gewissensfreiheit von den jeglichen Umfang
der gesetzlichen Pflichten abhängig und deshalb veränderlich. Infolge der Anwendung dieser
Vorschrift wäre der Schutz der durch das Gesetz nicht ausdrücklich anerkannten Modalitäten
der Verweigerung aus Gewissensgründen völlig ausgeschlossen. Da der Schutzbereich der
Gewissensfreiheit von der gesetzgeberischen Tätigkeit gänzlich abhängen würde, steht diese
Schranke der Gewissensfreiheit dem Gesetzesvorbehalt gleich. Gemäß Art. 53 Abs. 5 Verf.
steht jedoch die Religions- und Gewissensfreiheit unter keinem Gesetzesvorbehalt. Die
Einschränkungsklausel des Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes über die Garantien der Gewissens- und
Bekenntnisfreiheit lässt sich somit als zu weitreichend mit der verfassungsrechtlichen
Einschränkungsklausel der Religionsfreiheit nicht vereinbaren. Aus diesem Grund ist Art. 3
1551
H. Nogueira Alcala, Lineamientos de interpretación constitucional y del bloque constitucional de derechos,
Santiago de Chile 2006, S. 135.
413
Abs. 2 des Gesetzes über Garantien der Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als
verfassungswidrig anzusehen.
6.3. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage der Grundrechtseinschränkung
Art. 31 Abs. 3 Verf. bestimmt, dass Einschränkungen der Rechte und Freiheiten nur in einem
Gesetz beschlossen werden dürfen. Das Gesetz muss dabei hinreichend bestimmt sein, d.h. es
muss dermaßen präzise formuliert sein, sodass der Bürger sein Verhalten danach ausrichten
kann. Das Erfordernis, dass die Einschränkung der Rechte und Freiheiten nur durch das
Gesetz eingeführt werden kann, ist buchstäblich d.h. als Verbot der Subdelegation der
Kompetenz auf ein anderes Organ und als Ausschließung der Möglichkeit der Einschränkung
der Freiheitsrechte im Wege der das Gesetz vollziehenden Verordnung auszulegen.1552
Hat
aber der nationale Gesetzgeber einige seiner Kompetenzen auf die EU übertragen, ist als ein
„Gesetz“ nach Art. 9, Abs. 2 EMRK auch eine Verordnung oder Richtlinie der EU
anzusehen.1553
Nach einer anderen Ansicht umfasst die gesetzliche Grundlage der Grundrechtseinschränkung
nicht nur die Situationen, wo das Gesetz eine einzige Quelle der Einschränkung eines
Grundrechts darstellt, sondern auch diejenigen Fälle, in welchen das Gesetz nur
grundsätzliche Elemente der Einschränkung vorsieht, für ihre Entfaltung und Ergänzung
verweist es dagegen auf eine untergesetzliche Rechtsnorm.1554
Dem ist insoweit zuzustimmen,
dass die Regelung der Grundrechtseinschränkung auf der untergesetzlichen Ebene lediglich
zweitrangige, d.h. technische und organisatorische Aspekte enthalten darf.1555
Die
Voraussetzung der Bestimmtheit des grundrechtseinschränkenden Gesetzes bezieht sich auch
auf die Rechtsnormen, die den Behörden Ermessen einräumen; in diesem Fall muss die
Reichweite und Grenzen des überlassenen Spielraums angegeben werden. Das Gesetz muss
die Vorhersehbarkeit der möglichen Grundlagen und Maßnahmen der Einschränkung der
1552
Das Urteil des Verfassungsgerichshofs von 19. Mai 1998, U 5/97. OTK, von 30.06.1998, Nr. 4 (19); D.
Górecki, Polskie prawo konstytucyjne, Warszawa 2008, S. 90. 1553
A. Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht
der Kirchen, Köln, Berlin, Bonn, München, 1995, S. 127. 1554
B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, Warszawa 2009, S. 176, Rn. 6; K.
Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999, S. 110. 1555
P. Tuleja, in: P. Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, Warszawa 1995, S. 98.
414
Grundrechte und der Grundfreiheiten sichern.1556
Bei der Feststellung der Anforderungen der
Bestimmtheit kommt es auf Einzelfälle an.
6.4. Staatssicherheit
Der Begriff der Staatssicherheit bezieht sich auf Restriktionen, die zum Schutz der Existenz
des Staates, seiner territorialen Integrität, politischer Unabhängigkeit von einer fremden
Gewalt oder gegen Drohung der Gewaltanwendung dienen.1557
Nach einem weiteren
Verständnis der Staatssicherheit wird die Rechtseinschränkung auch im Fall der inneren
Gefahr bejaht. Es handelt sich dabei vor allem um Bekämpfung der Spionage- und
Diversionstätigkeit, die durch Aufklärungsdienst anderer Staaten vorgenommen wird.1558
Nach einem Ansatz wird die Bedeutung der ordnungsgemäßen Tätigkeit des Staatsapparates
stark hervorgehoben. Danach macht die Stabilität und Beständigkeit des Staates und seiner
institutionellen Organisation das Wesen der Staatssicherheit aus. Folglich sind unter der
Staatssicherheit diejenigen Bedingungen zu verstehen, die „den Frieden, Stabilität,
Unabhängigkeit und Souveränität des Staates sowie eine ruhige, freie Aktivität seiner
Repräsentanten, Funktionäre und Angestellten in der Ausübung ihrer Funktionen
garantieren.“1559
Die Bedrohung der Staatssicherheit kann danach auch potenzialen Charakter haben. Deshalb
können die Maßnahmen zur Gewährung der Staatssicherheit auch in Zeiten des Friedens, etwa
um das Wehrpotenzial des Staates zu sichern, gerechtfertigt werden. Die Bedrohung der
Staatssicherheit muss sich aber gleichzeitig auf alle konstitutiven Elemente des Staates
erstrecken. Es muss sich also nicht nur um etwa Sicherheit der Staatsgewalt, sondern auch des
Staatsgebiets und des Staatsvolkes handeln. Diese Voraussetzung dient der Vorbeugung des
1556
A. Redelbach, Sądy a ochrona praw człowieka, Toruń 1999, S. 321. 1557
S. Detrick, A Commentary on the United Nations Convention on the Rights of the Child, The Hague 1999, S.
27. 1558
E. Ura, E. Ura, Prawo administracyjne, Warszawa 1999, S. 327. 1559
C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso 2004, S. 121.
415
Missbrauchs der Einschränkungsklausel.1560
Art. 31 Abs. 3 Verf., bestimmt zusätzlich, dass
die Einschränkungen der Grundrechte zum Schutz der Sicherheit des demokratischen Staates
notwendig sein müssen. Dem ist zu entnehmen, dass der Begriff der Staatssicherheit die
Freiheit von gewaltsamer Bedrohung des demokratischen Systems beinhaltet. Die
Handlungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung unterliegen dem Schutz der
Gewissensfreiheit nicht. Dies erklärt sich damit, dass Grundrechte dem Einzelnen einen
rechtlichen Status zuweisen, der sich im Rahmen der Verfassungsordnung einfügt und zur
Disposition über diese Ordnung nicht befugt. „Der Gebrauch der vom Verfassungsstaat
gewährleisteten Grundrechte zum Zweck der Bekämpfung des Verfassungsstaates ist ein
Widerspruch in sich, den die Verfassung weder wollen kann, noch will.“1561
Die Einschließung der Einschränkungsklausel der Staatssicherheit in die
verfassungsrechtliche Verbürgung der Gewissens- und Religionsfreiheit wird gelegentlich als
Relikt des sozialistischen Systems, in welchem vom Vorrang des Staates über die Rechte des
Einzelnen ausgegangen wurde, kritisiert. Dabei wird darauf hingewiesen, dass durch ihre
Verankerung in der Verfassung von den in Art. 9 Abs. 2 EMRK festgelegten demokratischen
Standards abgewichen wurde, wonach die Beschränkung der Glaubensfreiheit zum Schutz der
öffentlichen Sicherheit und nicht zum Schutz der Staatssicherheit eingeschränkt werden
kann.1562
6.5. Öffentliche Ordnung
Im Schrifttum werden zahlreiche Definitionsversuche der „öffentlichen Ordnung“
vorgenommen. Nach einer Ansicht bezieht sich dieser Begriff auf die Einschränkung der
Freiheitsrechte im Interesse der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Institutionen, die für das
1560
K. Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999,
S. 186. 1561
H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Karl
Doehring, Berlin 1989, S. 498; Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ wird auch im polnischen Schrifttum
vertreten; siehe:Sarnecki, Prawo konstytucyjne RP, S. 98; J. Karp, Bezpieczeństwo państwa (Art. 26, 126), in:
W. Skrzydło, S. Grabowska, R. Grabowski, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz
encyklopedyczny, Warszawa 2009, S. 109. 1562
A. M. Abramowicz, Przedmiotowy zakres wolności religijnej, in: Studia z Prawa Wyznaniowego, 2007,
Band 10, S. 344; J. Krukowski, Polskie prawo wyznaniowe, Warszawa 2000, S. 62; H. Misztal, P. Stanisz,
Prawo wyznaniowe, Sandomierz 2003, S. 197.
416
Gemeinwesen erforderlich sind.1563
Nach einer anderen Meinung ist unter diesem Begriff der
faktische Zustand innerhalb eines Staates zu verstehen, „der durch Rechtsnormen aber auch
durch außerrechtliche Normen (z.B. sittliche Normen, „Grundsätze des gesellschaftlichen
Zusammenlebens“) geregelt ist und dessen Aufrechterhaltung das normale Zusammenleben
der Einzelnen im Rahmen der staatlichen Organisation ermöglicht.“1564
Es wird ebenfalls
vertreten, dass unter öffentlicher Ordnung eine Direktive derartiger Organisation des
öffentlichen Lebens zu verstehen ist, welche das minimale Niveau der Berücksichtigung der
öffentlichen Interessen, darunter auch der bestimmten wirtschaftlichen Interessen, sichert.1565
Die öffentliche Ordnung setzt die Organisierung der Gesellschaft auf der Basis der von ihr
geteilten Werte voraus.1566
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass lediglich diejenigen Werte die
öffentliche Ordnung zu konstituieren vermögen, die einen gewissen Grad an Beständigkeit
aufweisen.1567
Der Begriff der öffentlichen Ordnung bezieht sich auf das System der
öffentlich-rechtlichen Einrichtungen und sozialen Verhältnisse, dessen Zweck darin besteht,
das Leben, die Gesundheit und das Eigentum der Bürger zu schützen, die Funktionsfähigkeit
der öffentlichen und privaten Institutionen, Unternehmen und Anstalten zu sichern, sowie
verschiedenartige gefährliche und ungelegene Beschwerlichkeiten für die Gesellschaft und für
die Einzelnen zu beseitigen.1568
In allen dargestellten Definitionsversuchen der öffentlichen Ordnung treten das harmonische
Zusammenleben der Einzelnen in der Gesellschaft und das ordnungsgemäße Funktionieren
des Staates und der Gesellschaft als ihre konstitutiven Merkmale in Vordergrund. Der Begriff
der öffentlichen Ordnung bezieht sich somit sowohl auf Interessen des Einzelnen, die nicht im
Begriff „Rechte und Freiheiten Anderer“ umfasst sind, also den Charakter des subjektiven
1563
S. Detrick, A Commentary on the United Nations Convention on the Rights of the Child, The Hague 1999, S.
27. 1564
K. Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999,
S. 188. 1565
Ebenda, S. 190, 200. 1566
M. Wyrzykowski, Granice władzy, in: Obywatel – Jego wolności i prawa, Warszawa 1998, S. 50. 1567
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 255. 1568
S. Bolesta, Pojęcie porządku publicznego w prawie administracyjnym, Studia Prawnicze, Nr. 1, 1983, S.
236.
417
Rechts nicht innehaben, als auch auf die Interessen der Allgemeinheit (z.B. staatliches
Eigentum).1569
Nach einer Ansicht kann die Einschränkung der Verweigerung der Erfüllung von öffentlichen
Pflichten aus Glaubens- oder Gewissensgründen mit der Berufung auf den Schutz der
öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden.1570
Dem ist insoweit beizupflichten, dass die
Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit insbesondere von Funktionsträgern und Beamten zur
Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der staatlichen Organe und Behörden führen kann.
Der Rückgriff auf die öffentliche Ordnung darf sich allerdings nicht in die Einführung eines
allgemeinen Gesetzesvorbehalts umwandeln.
6.6. Gesundheit
Bei der Einschränkung der Gewissensfreiheit zum Schutz der Gesundheit ist vor allem an
solche Fälle zu denken, in denen Menschen gezwungen werden, schwere und ansteckende
Krankheiten behandeln zu lassen oder ihnen durch Impfungen vorzubeugen, obwohl sie aus
Glaubensgründen medizinische Eingriffe ablehnen.1571
Es kann sich ebenfalls um Sicherung
der Pflege für Kranke oder Verletzte handeln. Die Einschränkungsklausel der Gesundheit
deckt sich am häufigsten mit dem Einschränkungstatbestand des Schutzes der Rechte und
Freiheiten Anderer.
Fraglich ist allerdings, ob diese Einschränkungsgrundlage nur kollektive Gesundheit
beinhaltet oder ob sie ebenfalls auf den Schutz individueller Gesundheit auszudehnen ist, vor
allem in den Fällen, wo sich der Einzelne freiwillig den gesundheitsgefährdenden religiösen
Handlungen oder Riten unterwirft. Die polnische Verfassung enthält diesbezüglich keinen
Hinweis, weil dort lediglich von Gesundheit die Rede ist, ohne nähere Bestimmung, ob es
sich um öffentliche oder individuelle Gesundheit handelt.1572
In der Lehre wird gelegentlich
1569
K. Wojtyczek, Granice ingerencji ustawodawczej w sferę praw człowieka w Konstytucji RP, Kraków 1999,
S. 188. 1570
A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 45 – 46. 1571
P. van Dijk, G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the European Convention of Human Rights, Boston
1990, S. 301. 1572
In Art. 9 Abs. 2 EMRK ist dagegen zwischen dem französischen und englischen Originaltext eine
redaktionelle Unstimmigkeit zu sehen: Während die französische Fassung „la santé ou de la morale publiques“
lautet, was den Schluss nahelegt, dass Einschränkungen der Religionsausübungsfreiheit nur auf die öffentliche
418
vertreten, dass die Einschränkung der Religionsausübungsfreiheit zwecks des
Gesundheitsschutzes auch hinsichtlich des Einzelnen vorgenommen werden kann, wenn er
unter Hinweis auf Grundsätze seines Glaubens eine medizinische Behandlung wie etwa
Impfungen, Bluttransfusion oder chirurgische Eingriffe ablehnt.1573
Diese Ansicht trifft im
Hinblick auf die Kinder und andere Schutzbedürftige zu, die ohne hinreichende Erkenntnis
handeln. Mag ein Minderjähriger den Glauben der Eltern und damit die Überzeugung von der
Verwerflichkeit der modernen medizinischen Maßnahmen teilen, fällt die Abwägung
zwischen der Gewissensfreiheit der Eltern und Kinder sowie dem Leben und Gesundheit des
Kindes zugunsten der letztgenannten Rechtsgüter aus. Dagegen kann derartige Rechtfertigung
im Verhältnis zu den Erwachsenen im Hinblick auf die Notwendigkeit in einer
demokratischen Gesellschaft Bedenken verursachen:1574
„Wenn Ideale der Autonomie und
Pluralismus nicht dazu genügen, den Einzelnen zu befähigen, seinen moralischen
Überzeugungen auf eigene Kosten zu folgen, dann ist deren Wert wirklich gering.“1575
Der
medizinische Eingriff ohne Zustimmung des Patienten könnte als Verstoß gegen
Menschenwürde qualifiziert werden. Außerdem gewährt die Verfassung dem Einzelnen das
Recht auf körperliche Unversehrtheit, von dem abzuleiten ist, dass das Verhältnis zwischen
dem Arzt und dem Patienten durch den Grundsatz der Einwilligung des Letzten zu einer
Behandlung gestaltet wird. Dem trägt das polnische Strafgesetzbuch Rechnung, indem in Art.
192 die Durchführung einer medizinischen Behandlung ohne Zustimmung des Patienten
pönalisiert wird.1576
Es kommt auch in Frage, dass die Verfassung das Recht auf Leben
schützt und keine Pflicht zum Leben auferlegt. Demzufolge ist anzunehmen, dass sich die
Einschränkung der Gewissensfreiheit zum Schutz der Gesundheit in der Regel auf die
Gesundheit zu erstrecken sind, kommt in der englischen Version die Bestimmung „public“ im bezug auf „health
or morals“ überhaupt nicht vor. Die Kommission hat allerdings in einem Fall, wo sich der Beschwerdeführer
weigerte, bei Motorradfahren einen Sturzhelm aufzusetzen, weil er religiös verpflichtet war, einen Turban zu
tragen, die Einschränkungsmöglichkeit der Gewissensfreiheit auf den Schutz der Gesundheit des betroffenen
Grundrechtsträgers ausgedehnt. Dieses Ergebnis lässt sich jedoch dadurch erklären, dass die Konventionsorgane
nicht willig sind, anzunehmen, dass die Anwendung des allgemein geltenden und neutralen Rechts überhaupt zur
Verletzung der Religionsfreiheit führen kann. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass wenn auch die
Sicherheitsvorschriften ein zweckmäßiges Schutzmittel vor den Folgen des Leichtsinns und Sorglosigkeit der
Verkehrsteilnehmer darstellen, stößt deren Anwendung gegenüber denjenigen auf Bedenken, die diesen Schutz
wegen tiefer religiöser Überzeugungen ablehnen.
1573 A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 46.
1574 D. J. Harris, Law of the European Convention on Human Rights, London, Dublin, Edinburgh 1995, S. 370;
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999, S. 281; J.Torrón Martínez, El derecho
internacional y las objeciones de conciencia, in: Instituto de Investigaciones Jurídicas UNAM, Objeción de
conciencia, México D.F. 1998, S. 130. 1575
C. Evans, Freedom of Religion Under the European Convention of Human Rights, New York 2001, S. 156. 1576
A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 46.
419
„öffentliche“ Gesundheit bezieht. Die Gesundheit des betroffenen Grundrechtsträgers ist
grundsätzlich damit nicht erfasst.1577
Die Vorkehrungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit umfassen Vorbeugungs-,
Heilungs- und Kontrollmaßnahmen, die wegen des (potentiellen) mit bestimmten Krankheiten
verbundenen Risikos für die Bevölkerung unternommen werden (sollen). In diesem Fall
weicht das Recht des Patienten, eine Behandlung zu verweigern, dem Allgemeininteresse
gegenüber.1578
Im Fall der Kollision staatlicher Schutzpflichten der Gesundheit mit der
Gewissensfreiheit kann allerdings der Grundsatz der Berücksichtigung der
gewissensrelevanten Überzeugungen durch die staatlichen Stellen zum Zuge kommen. Der
Einzelne kann z.B. unter Umständen die Befreiung von der Impfungspflicht beanspruchen,
wenn der mit der allgemeinen Impfung verfolgte Zweck auch dann erreicht werden kann,
wenn einige Personen keinen Impfschutz haben.1579
In diesem Zusammenhang wird auch
vertreten, dass wenn in einem Ernstfall, in dem von einer konkreten Person tatsächlich eine
unmittelbare Ansteckungsgefahr ausgeht, ist an eine gewissensneutrale Alternative der
Quarantäne zu denken, soweit diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig ist.1580
6.7. Moral
Jede Rechtsordnung basiert unausweichlich auf bestimmten moralischen Grundsätzen und
anthropologischen Anschauungen. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates ist
aus diesem Grund mit Neutralität in Fragen der Moral oder mit ethischer Indifferenz des
Staates nicht gleichzusetzen.1581
Auch die staatliche Rechtssetzungstätigkeit, insbesondere
1577
B. G. Tahzib – Lie Bahia, The advancement of women‟s equal enjoyment of the right to freedom of religion
or belief, in: M. Junneke, M. Naber, Freedom of religion: a precious human right, Assen 2000, S. 57; G. Escobar
Roca, La objeción de conciencia en la constitución española, Madrid 1993, S. 355, 360; J. A. Souto Paz,
Derecho Eclesiástico del estado. El derecho de la libertad de ideas y creencias, Madrid 1993, S. 139. 1578
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creenicas, Madrid 1999, S. 279. 1579
M. Morlok, in: H. Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Art. 4, Tübingen 1996, S. 329, Rn. 113. 1580
U. K. Preuß, in: E. Denninger, W. Hoffmann-Riem, H. P. Schneider, E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz
für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Neuwied, Frankfurt, 1989, Art. 4, Abs. 1, 2,
S. 380, Rn. 46. 1581
G. del Moral, La objeción de conciencia de los miembros del ministerio fiscal, in: G. Sancho, Objeción de
conciencia y función pública, Madrid 2007, S. 239; F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin
2000, S. 100.
420
wenn sie elementare Ziele verfolgt, beruht auf der impliziten Erwartung, dass sie von den
Bürgern als „gesollt“ innerlich akzeptiert wird.1582
Die Verbindung zwischen der Rechtsordnung und der Moral kommt vornähmlich auf der
Ebene der Grundrechtsschranken zur Erscheinung. Die Verfassung sieht nämlich die
Möglichkeit vor, die Ausübung eines Freiheitsrechts zum Schutz der elementaren sittlichen
Grundsätze einzuschränken. Dabei wird zwischen der „öffentlichen Moral“ (Art. 31 Abs. 3)
und der „Moral“ (Art. 45 Abs. 2, 53 Abs. 5) unterschieden. Diese terminologische
Unterscheidung legt den Schluss nahe, dass der Begriff „Moral“ einen weiteren Umfang als
Begriff der „öffentlichen Moral“ hat. In beiden Fällen bildet aber der Bestand der politischen
Gemeinschaft, die auf der Basis der von ihr anerkannten Grundwertvorstellungen konstituiert
ist, das Schutzgut und Ziel der Grundrechtseinschränkung.
Nach einer Ansicht bezieht sich der Begriff der öffentlichen Moral auf sittliche
Wertvorstellungen, welche zwischenmenschliche Beziehungen sowohl im öffentlichen
Bereich als auch im Privatleben regeln. Deshalb wenn die Einschränkungsgrundlage der
Moral herangezogen wird, sind auch moralische Normen zu berücksichtigen, die sich auf
individuelle Muster der Vollkommenheit beziehen. Als Beispiel für die Einschränkung der
Gewissensfreiheit zum Schutz der nach diesem Ansatz verstandenen Moral kann die Pflicht
betrachtet werden, sein eigenes Leben zu erhalten. Die Verweigerung eines Patienten, sich
einer lebensrettenden medizinischen Behandlung zu unterziehen, müsste vor dem Grundsatz
der Unverletzlichkeit des Lebens zurücktreten.1583
Da „das soziale Gewissen“ das Recht auf
Leben im Verhältnis zur Gewissenfreiheit höher stellt, ist ihm im Fall der Kollision mit der
Gewissensfreiheit Vorrang einzuräumen.1584
Eine solche Auslegung der Moral lässt sich allerdings mit den Grundsätzen der Freiheit und
Pluralismus nicht in Einklang bringen. Die Gewissensfreiheit darf wegen der
perfektionistischen sittlichen Prinzipien, die lediglich für das persönliche Leben des Einzelnen
1582
F. Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht, Berlin 2000, S. 96. 1583
J. A. Souto Paz, Comunidad política y libertad de creencias, Madrid 1999. S. 335. 1584
I. C. Ibán, L. Prieto Sanchís, Lecciones de derecho eclesiástico, Madrid 1989, S. 166.
421
Bedeutung haben, nicht eingeschränkt werden. Deswegen ist der Auslegung der „öffentlichen
Moral“ nicht beizupflichten, wonach auf die Grundsätze abgestellt wird, die von der Mehrheit
der Gesellschaft als Normen des individuellen und sozialen Verhaltens akzeptiert werden,
wenn auch sie nicht immer rechtlich erzwingbar sind.1585
Nach einer anderen Auffassung1586
ist der Begriff „Moral“ mit dem Gehalt der Grundrechte
gleichzusetzen. Danach wäre die Verweigerung aus Gewissensgründen nur dann
anzuerkennen, wenn sie in einem Grundrecht (logischerweise mit Ausschluss der Glaubens-
und Gewissensfreiheit) eine inhaltliche Stütze finden kann. Mit anderen Worten müsste die
Moral des Einzelnen mit dem Inhalt der Grundrechte übereinstimmen. Soll jedoch in der
Gesellschaft ein Dissens über die Interpretation eines Grundrechts entstehen, könnte er unter
Umständen gerade in der Verweigerung aus Gewissensgründen zum Ausdruck kommen.1587
Dieser Ansatz sei mit dem Beispiel eines Beamten des islamischen Glaubens illustriert, der
sich mit Verweis auf sein religiöses Gewissen weigert, die Aufenthalts- und
Arbeitsgenehmigungsanträge der Juden zu erledigen. Da seine Verweigerung gegen den
Gleichheitssatz verstößt, der nicht nur rechtlichen, sondern auch moralischen Charakter
aufweist, kann sie nicht anerkannt werden. Im Gegenteil wenn sich ein Beamter weigert,
einen Verein in den Vereinsregister mit der Begründung einzutragen, dass dieser Verein die
Liberalisierung der Vorschriften zur Abtreibung und Sterbehilfe mit legalen Mitteln
propagiert, was sich mit seinem Gewissen nicht zu vereinbaren lässt, könnte die Anerkennung
einer solchen Verweigerung u.U. in Frage kommen. Einerseits findet sie in der durch die
Verfassung verankerten Achtung und Schutz des menschlichen Lebens seine Grundlage,
andererseits ist zugunsten des Grundrechtsträgers zuzurechnen, dass die Anschauungen zum
Ausmaß des verfassungsrechtlichen Schutzes des menschlichen Lebens und die mit dieser
Problematik verbundenen Postulate in der Gesellschaft divergieren.
1585
C. Mik, Wolność radia i telewizji w świetle Konwencji Europejskiej i prawa polskiego, in: PiP, Nr. 10, 1993,
S. 37. 1586
J. Buxadé Villalba, La objeción de conciencia en la función pública, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y
la función pública, Madrid 2007, S. 181f. 1587
I. Elósegui, La objeción de conciencia en un estado democrático de derecho y una sociedad plural: el
principio de igualdad en el acceso a la función pública, in: G. Sancho, Objeción de conciencia y función pública,
Madrid 2007, S. 201.
422
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Standpunkt des UN
Menschenrechtskomitees, dass Einschränkungen der Religionsausübungsfreiheit zwecks des
Schutzes der Moral lediglich mit denjenigen sittlichen Grundsätzen begründen werden
können, die nicht ausschließlich einer einzigen Tradition entnommen werden.1588
Daraus
ergibt sich etwa, dass die christliche, bzw. katholische Moral bei der Bestimmung des
Begriffs der öffentlichen Moral nur insoweit zu berücksichtigen ist, als diese Moralquellen in
der Gesellschaft eine reale Rolle spielen.1589
Darüber hinaus handelt es sich bei dem Begriff der Moral um einen sehr verschwommen
Einschränkungstatbestand der Grundrechte. Er umfasst „das gemeinsame ethische Element
des gesellschaftlichen Lebens“1590
d.h. den moralischen Mindeststandard bzw. den
moralischen gemeinsamen Nenner einer Gesellschaft, der aus der sozialen Perspektive nicht
unveränderlich, sondern vielmehr vielseitig relativiert ist. Um den jeweiligen Inhalt der Moral
und damit den Umfang der Einschränkung eines Grundrechts zu bestimmen, sind folgende
Faktoren zu berücksichtigen: Zeitpunkt und Ort des zu entscheidenden Falles,
Wertvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft, die Schutzbedürftigkeit einiger
Menschengruppen wie Jugend oder Gemütskranke, sowie den Grad der „öffentlichen“
Auswirkungen eines Sachverhalts.1591
Es fällt schwer, ein Beispiel für die Einschränkung der Ausübung der Gewissensfreiheit zum
Schutz der Moral anzugeben, wenn in Betracht wird, dass die Religionen und andere durch
Individuen anerkannte Moralquellen ihren Anhängern grundsätzlich „anspruchsvollere“
moralische Standards im Vergleich zur Rechtsordnung auferlegen.1592
Die meisten Fälle des
Zugriffs auf den Einschränkungstatbestand der öffentlichen Moral liegen bei der
Unmöglichkeit der plausiblen Darlegung der messbaren materialen Vorteile für die
Gesellschaft vor. Denkbar wäre z.B. der Fall der Ausbeutung der Sektenmitglieder durch die
Obrigkeiten einer Sekte.
1588
United Nation Human Rights Committee, General Comment No. 22 on Art. 18, para. 8. 1589
C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del Estado de Chile, Valparaíso 2004, S. 118. 1590
Urteil des spanischen Verfassungstribunals, STC 62/1982, FJ 3 B. 1591
R. Koering – Joulin, Public morals, in: M. Delmas – Marty, The European Convention for the Protection of
Human Rights, Boston, London 1991, S. 83 – 98; C. Salinas Araneda, Lecciones de Derecho Eclesiástico del
Estado de Chile, Valparaíso 2004, S. 117. 1592
A. Łopatka, Prawo do wolności myśli, sumienia i religii, Warszawa 1995, S. 46.
423
In der ausländischen Literatur wird argumentiert, dass die Einschränkungsgrundlage der
öffentlichen Moral in Bezug auf die Verweigerung aus Gewissensgründen der Bluttransfusion
angewendet werden kann. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Stellenwert des Lebens in
der säkularisierten Gesellschaft im Vergleich zu religiös geprägten Rechtsordnungen deutlich
zugenommen hat. Während der Verlust des irdischen Lebens aus der Perspektive des
jenseitigen Lebens lediglich relative Bedeutung hat, erwirbt das Leben als Folge der
Zurückweisung der religiösen Prämissen von Moral durch die modernen Rechtsordnungen
eine höchstrangige Position. Es handelt sich doch um das einzige Leben jetzt und hier, dessen
Verlust unersetzbar ist. Deshalb kann das menschliche Leben als das letzte sacrum der
säkularisierten Gesellschaft angesehen werden.1593
In diesem Zusammenhang ist allerdings
wie folgt zu differenzieren: „Im Absichtshorizont eines Selbstmörders steckt ein Gegenwert,
sich das Leben zu nehmen. In diesem Verhalten ist kein Wert ersichtlich, welcher seitens der
Gesellschaft Achtung und Schutz verdient, obwohl der Freitod per se nicht strafbar ist. Im
Fall eines Verweigerers, der eine medizinische Behandlung aus religiösen Gründen ablehnt,
gibt es Werte, die Respekt der Gesellschaft genießen sollen, obwohl sie mehrheitlich nicht
akzeptiert werden. Die Ablehnung einer medizinischen Behandlung bedeutet keinesfalls, dass
der Verweigerer bewusst den Tod sucht.“1594
Mit anderen Worten: in der Ablehnung der
Bluttransfusion aus Gewissensgründen ist die suizidale Absicht (intentio sese occidere,
intentio occessiva) nicht ersichtlich. Der Einzelne glaubt, sich im Bereich des moralischen
Unvermögens zu befinden, in dem ihm nicht möglich ist, sich vom Tode zu befreien.1595
6.8. Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer
Die Rechte und Freiheiten des Einzelnen können innerhalb einer Rechtsgemeinschaft nicht
grenzenlos gewährleistet werden. Sie sind vielmehr mit Rechten und Freiheiten Anderer in
Einklang zu bringen. Während mit den „Freiheiten“ grundsätzlich nur die Grundrechte der
EMRK und der nationalen Verfassungen gemeint werden, umfasst der Begriff „Rechte“ nicht
nur die sozialen Grundrechte der Europäischen Sozialcharta, sondern auch die Interessen, die
1593
R. Navarro Valls, La objeción de conciencia al aborto. Derecho comparado y derecho español, in: Anuario
de Derecho Eclesiástico del Estado 1986, S. 259f. 1594
R. Navarro-Valls, Las objeciones de conciencia, in: Derecho eclesiástico del estado español, Pamplona 1993,
S. 165; vgl: S. Mosquera Monelos, El derecho de a libertad de conciencia y religión en el ordenamiento jurídico
peruano, Lima 2005, S. 187. 1595
J. Hervada, Libertad de conciencia y error sobre la moralidad de una terapéutica, in: Persona y Derecho,
1984, S. 17f.
424
nach Ansicht des Gesetzgebers schutzwürdig sind.1596
Die Notwendigkeit der Einschränkung
eines Grundrechts, um dadurch Rechte und Freiheiten Anderer zu schützen, liegt im Fall der
sog. Kollision der Rechte vor. Darunter ist eine Situation zu verstehen, in welcher sich
verschiedene Rechtsubjekte zwecks des Schutzes ihrer Interessen auf verschiedene ihnen
zustehende Grundrechte berufen. Es geht hier um die Feststellung der Anwendungsbereiche
und Schranken der betroffenen Grundrechte.1597
Die Gewissensfreiheit des Einzelnen kann nicht nur zum Schutz anderer Grundrechte,
sondern auch durch dasselbe Recht der Anderen eingeschränkt werden. In diesem
Zusammenhang argumentiert das BverfG zu Recht, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit
nicht nur gegen Intoleranz der Mitmenschen schützt, sondern verpflichtet den Einzelnen,
ihnen die gleiche Duldsamkeit zu erweisen, „die er für seine eigene Überzeugung in Anspruch
nimmt.“1598
Ein Konflikt der Gewissensfreiheit eines Einzelnen mit der Gewissensfreiheit
eines anderen Individuums entsteht beispielsweise im Fall, wenn die Verweigerung eines
Patienten, sich der Bluttransfusion zu unterziehen, auf die Ablehnung des Arztes stößt, der ihn
eigene Gewissensentscheidung, sich unbedingt für die Rettung des menschlichen Lebens
einzusetzen, gegenüberstellt. Der Konflikt soll zugunsten des Patienten aus folgenden
Gründen gelöst werden:
a) Die Verweigerungsposition des Patienten scheint tiefgreifender im Vergleich zur
Gewissensüberzeugung des Arztes zu sein. Dies erklärt sich damit, dass die Konsequenzen
der Verweigerung des Patienten seine körperliche Unversehrtheit und gegebenenfalls sein
Leben betreffen.
b) Im Verhältnis zu Gewissensverboten genießen die Gewissensgebote wegen ihrer
Eingriffsfähigkeit in die durch das Recht geschützte Sphäre des Anderen in der Regel den
schwächeren Schutz.
1596
A. Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der
Kirchen, Köln, Berlin, Bonn, München 1997, S. 62. 1597
B. Banaszak, Sądownictwo konstytucyjne a ochrona podstawowych praw obywatelskich, RFN, Austria,
Szwajcaria, Wrocław 1990, S. 43ff. 1598
BverGE 15, 137.
425
c) Das Verhältnis zwischen dem Arzt und Patienten ist durch den Grundsatz der Zustimmung
des Letzteren für die medizinische Behandlung bestimmt, welche in dem Grundrecht der
körperlichen Unversehrtheit die verfassungsrechtliche Stütze hat.
7. Fazit
Wegen des gesellschaftorientierten Menschenbilds der Verfassung kann die Gewissensfreiheit
die uneingeschränkte Geltung nicht beanspruchen. Für ihre Beschränkung ist die
Schrankenklausel der Religionsausübungsfreiheit entsprechend anzuwenden, obwohl der
Wortlaut der betroffenen Verfassungsbestimmungen diesem Ansatz entgegenzustehen
scheint. Eine andere Lösung wäre die Rekurrierung für die Einschränkungsgrundlagen auf die
allgemeine Freiheitsklausel des Art. 31 Abs. 3 Verf. Da diese Vorschrift weitere, in der
speziellen Einschränkungsklausel nicht vorgesehenen Einschränkungsgrundlage beinhaltet, ist
die erste Lösung für den Einzelnen günstiger und daher steht mit dem Postulat der
Grundrechtseffektivität im Einklang. Auf die allgemeine Einschränkungsklausel der
Grundrechte ist nur ergänzend zurückzugreifen. Dies betrifft die Anwendung des dort
verankerten Verhältnismäßigkeitsprinzips. Mangels der in der Verfassung bestimmten
Wertehierarchie der geschützten Rechtsgüter ist bei der Güterabwägung auf alle Umstände
des Einzelfalles abzustellen. Die Rolle der Lehre in diesem Zusammenhang ist, allgemeine
Grundsätze der praktischen juristischen Vernunft aufzustellen, welche bei der
Interessenabwägung in konkreten Fällen hilfreich sein können. Dazu gehören insbesondere
die einzelnen Verfassungsgrundsätze (das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates, die
Klauseln der Freiheit, Gleichheit und Würde, der Grundsatz der Volkssouveränität), die durch
die Ausübung der Gewissensfreiheit betroffenen Rechte und Freiheiten Anderer und
Gemeinwohlinteressen, sowie der Charakter der Grundrechtsbetätigung (Handlung oder
Unterlassung, Ausweichmöglichkeiten eines Gewissenskonflikts). Darüber hinaus ist für die
Einschränkung der Abgrenzung des Schutzbereiches der Gewissensfreiheit das Kriterium der
sog. weltanschauungsneutralen Gesetze d.h. derjenigen, welche keinen zielgerichteten
Eingriff in die Gewissensfreiheit darstellen, ungeeignet. Dies wird damit begründet, dass in
einem modernen Staat das Normengeflecht immer enger wird, was zur Folge hat, dass sich
der dem Einzelnen zur freien Gestaltung seines Lebens gebliebene Raum verkleinert. Darüber
hinaus erfolgen die Verletzungen der (Gewissens-)Freiheit sowie die Diskriminierung häufig
426
nicht als direkte Eingriffe in den Bereich der Überzeugungen des Einzelnen, sondern gerade
als Nebenfolge der religionsneutralen Gesetzgebung, was vor allem die Minderheitsgruppen
betrifft.
427
Zusammenfassung
Der Begriff der Gewissensfreiheit ist in der polnischen Verfassungstradition seit der
Märzverfassung von 1921 in dem Begriffspaar „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit“ bzw.
„Gewissens- und Religionsfreiheit“ verankert. Allerdings wird ihm sowohl in der polnischen
Lehre als auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur geringe Aufmerksamkeit
geschenkt. Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist daher, die normative Rolle der
Gewissensfreiheit im Grundrechtssystem der Verfassung zu untersuchen. Insbesondere wird
geprüft, ob das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung im Bereich der
ethischen Angelegenheiten einschließlich des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen
durch die polnische Verfassung geschützt wird. Die Bestimmung des Schutzbereichs der
Gewissensfreiheit wird durch ihre enge Verflechtung mit der Religionsfreiheit bei
gleichzeitiger (in der Lehre vehement kritisierten) Fokussierung der Verfassungsregelung auf
den Schutz einzelner Modalitäten der Religionsausübung erschwert.
Gerade der Wortlaut der relevanten Verfassungsbestimmungen hat einige Autoren zu
behaupten veranlasst, dass die Freiheit areligiöser und antireligiöser Anschauungen und
Verhalten, darunter die mit keiner Religion verbundenen ethischen Positionen und ihre
Betätigung, aus dem grundrechtlichen Schutzbereich völlig ausgeschlossen ist. Als
Kontrapunkt zu dieser Meinung lässt sich aber die Auslegung der Gewissens- und
Religionsfreiheit als eine allgemeine Überzeugungsfreiheit gegenüberstellen. Danach umfasst
die Überzeugung nicht nur den religiösen und weltanschaulichen Glauben, sondern auch
ethische und sogar ästhetische Werte. Diese Ansicht bildet eine solide Grundlage dafür, das
Recht auf moralische Autonomie und Selbstverwirklichung in den grundrechtlichen
Schutzbereich einzubeziehen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei der Vorschlag, die
Vorschriften zur Religionsausübung auf den Schutz der Betätigung einer Weltanschauung und
einer Gewissensentscheidung analog anzuwenden.
Was die Auslegung des Begriffselements „Gewissensfreiheit“ angeht, lassen sich im
polnischen Schrifttum und Rechtsprechung zwei Interpretationstendenzen unterscheiden.
Nach einem Ansatz wird die Gewissensfreiheit mit dem forum internum sowohl der
Glaubens- als auch der Weltanschauungsfreiheit gleichgestellt. Die Bekenntnis- bzw.
Religionsfreiheit wird entsprechend mit der Ausübungsfreiheit des Glaubens und der
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Weltanschauung interpretiert. Sie wird dabei weit ausgelegt; sie umfasst nicht nur das Recht,
seine Überzeugung kundzutun, sondern auch das Recht, das gesamte Leben danach
auszurichten. Nach dem anderen Ansatz wird die Gewissensfreiheit als das Recht der
Nichtgläubigen, d.h. als Ergänzungsrecht im Verhältnis zur Religionsfreiheit angesehen, das
die Freiheit umfasst, eine bestimmte nichtreligiöse Weltanschauung anzunehmen und
auszuüben.
Viele Autoren unternehmen allerdings keinen Versuch, die einzelnen Betätigungsformen
unter die einzelnen Bestandteile des Begriffspaares „Gewissens- und Religionsfreiheit“
präzise zu subsumieren. Die Gewissensfreiheit als das von der Religionsfreiheit
verselbstständigte Recht, ethische Gewissensentscheidung zu treffen und gemäß dieser
Wahlentscheidung sein Verhalten zu gestalten, wird in der polnischen Rechtsprechung und
Schrifttum nur selten erwähnt (Schwierskott, Banaszak). Auch die Verweigerung aus
Gewissensgründen wird nur ansatzweise thematisiert, wobei die Meinungen zu ihrer
Schutzwürdigkeit auseinandergehen. Während die ältere Lehre den Schutz des allgemeinen
Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen verneint, lässt sich in der Rechtsprechung des
Verfassungsgerichtshofs Nachweise für seine Bejahung finden. Auch der neusten
Kommentierung der Verfassung von Banaszak kann entnommen werden, dass dieses Recht in
der polnischen Verfassung zumindest nicht ausgeschlossen ist.
Die Erwähnung der Gewissensfreiheit in der Verfassung, wenn auch lapidar, kann allerdings
als Synonym für Weltanschauung oder Religion nicht betrachtet werden. Bei der Auslegung
der Gewissensfreiheit wird daher von der These ausgegangen, dass der Begriff „Gewissens-
und Religionsfreiheit“ in der Verfassung von 1997 keine terminologische Einheit bildet. Er
besteht vielmehr aus zwei selbstständigen Formeln, bzw. zwei stilistischen Figuren. Daraus
ergibt sich, dass in der Formulierung „Gewissens- und Religionsfreiheit“ zwei getrennte
Freiheiten verborgen werden. Die Verbindung der beiden Elemente in einem Begriff verleiht
ihm keinen selbstständigen normativen Gehalt.
Die ausdrückliche Erwähnung beider Freiheiten und die Annahme ihrer Disjunktion und
eventuell ihrer Komplementarität begründet die Notwendigkeit ihrer autonomen Auslegung.
Die Interpretation sichert, dass das Recht seine Funktion der Regulierung des sozialen
Verhaltens erfüllt. Mittels der Auslegung wird das Rechtssystem dynamisiert. Dies betrifft
insbesondere die Grundrechte, welche aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit entbehren und
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deshalb bestimmungsbedürftig sind. Die Konsequenz des klauselartigen Charakters der
Verfassungsvorschriften ist das Bedürfnis einer solchen Auslegung, die im Wesentlichen in
Konkretisierung der den hohen Abstraktionsgrad aufweisenden Verfassungsnormen besteht.
Die offene Struktur der Verfassungsvorschriften, ihre synthetische Sprache und abstrakter
Charakter verleiht ihnen große Elastizität, was ihre Anwendung in unterschiedlichen
historischen Kontexten ermöglicht. Es soll dabei diejenige Auslegungsvariante gewählt
werden, welche die in der Verfassung für das Gemeinwesen konstituierte politische Ordnung
verstärkt. Es besteht daher ein Sachzusammenhang zwischen der Interpretation der einzelnen
Grundrechtsbestimmungen und den in der Verfassung zum Ausdruck gebrachten
Staatsauffassung sowie mit den Verfassungswerten wie Menschenwürde, Freiheit,
Gerechtigkeit oder Gleichheit. Der Interpretationsprozess beinhaltet aber auch das subjektive
mit dem Vorverständnis des Interpreten verbundenes Element; die von dem Interpreten
angenommenen Werte beeinflussen sowohl die Wahl der konkreten Interpretationsdirektiven
wie auch ihre Anwendungsart. Die interpretatorische Entscheidung soll sich deshalb im
Rahmen des Vertretbaren und rational Begründbaren halten, ohne nach dem einzig richtigen
Auslegungsergebnis zu streben.
Der Ausgangspunkt und unüberschreitbare Grenze der Auslegung ist allerdings der Wortlaut.
Die autonome von der Religionsfreiheit unabhängige Bedeutung des Begriffs der
Gewissensfreiheit ergibt sich bereits aus dem Verbot der Auslegung per non est, wonach jeder
Bestandteil der Vorschrift eine normative Bedeutung hat und kein Fragment der Vorschrift als
gegenstandslos und entbehrlich betrachtet werden darf. Die Auslegung der Gewissensfreiheit
wird mit der Aufklärung des Gewissensbegriffs begonnen, wobei vom Alltagsverständnis
dieses Begriffes ausgegangen wird, das seinerseits mit den Erkenntnissen der Psychologie und
Philosophie ergänzt wird. Der Vorrang der allgemeinen Standardsprache erklärt sich vor
allem mit der Natur der Verfassung, die nicht an eine enge Gruppe der Spezialisten, sondern
an die ganze Rechtsgemeinschaft gerichtet ist. Die Ausführungen zum Gewissensphänomen
haben gezeigt, dass es sich um eine höchstpersönliche Instanz handelt, welche ein Ausdruck
seiner moralischen Autonomie ist und daher die Identität des Einzelnen mitbestimmt. Das
konstitutive Merkmal der Gewissensentscheidung ist ihre sittliche und unbedingte
Verbindlichkeit. Darüber hinaus enthält das Gewissen ein Mindestmaß an Rationalität und
Verantwortung den Anderen gegenüber.
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Aus dem Prinzip der Unparteilichkeit der öffentlichen Behörden in religiösen und
weltanschaulichen Angelegenheiten ergibt sich, dass die Begriffsbestimmung des Gewissens
und der Gewissensentscheidung neutral, d.h. ohne Übernahme einer durch eine
philosophische Strömung erarbeiteten Gewissenskonzeption zu erfolgen hat. Dies bedeutet
jedoch nicht, dass die Rechtswissenschaft den Erkenntnissen anderer Geisteswissenschaften
immun sein muss. Sowohl Ethik (kategorischer Imperativ) als auch Psychologie
(Verantwortungsbewusstsein für Andere, Hinwendung zum Du als Ausgangspunkt der
Bildung und Internalisierung ethischer Normen) bieten nützliche Hinweise für das
Verständnis und Charakterisierung einer grundrechtsschutzwürdigen Gewissensentscheidung.
Der Beitrag der erwähnten Geisteswissenschaften zum Verständnis des Gewissensphänomens
resultiert in der Voraussetzung der Universalisierbarkeit der Gewissensnorm des Einzelnen
für die Einbeziehung seiner Gewissensentscheidung in den grundrechtlichen Schutzbereich.
Aus der grammatischen Auslegung des Gewissensbegriffs ergibt sich, dass das Gewissen eine
von jeglicher Religion unabhängige ethische Kategorie bildet. Durch die Ernsthaftigkeit der
Gewissensentscheidung, den Drang nach ihrer Durchführung sowie ihre emotionale
Aufladung wird jedoch die Gewissensfreiheit in der Nähe der Religionsfreiheit angesiedelt;
die Übertretung der Gewissensimperative kann nämlich für den Einzelnen ähnliche
Identitätskrisen hervorrufen wie der Verstoß gegen religiöse Gebote. Deshalb ist das
Gewissen des Einzelnen ebenso schutzbedürftig und schützenswert wie sein religiöser
Glaube.
Aus der Auslegung nach Wortlaut ergibt sich zwar, dass die menschliche Freiheit mi Bereich
des Ethischen geschützt wird, ihr Gehalt und Umfang bleiben aber unbestimmt, deshalb ist
notwendig auf systematische und teleologische Auslegung zurückzugreifen. Die Verfassung
wird dabei als Basis der materiellen Wertordnung für das Gemeinwesen betrachtet. Die
Handhabung der Verfassung als ein Rechtsakt, in dem Grundwerte verbürgt werden, und die
Berücksichtigung der daraus resultierenden Vorgaben für ihre Auslegung und Anwendung, ist
die einzige Vorgehensweise, welche die Rechtsordnung in einem demokratischen Staat
substanziell zu legitimieren vermag.
Die Stellung des Abschnitts: „Die Freiheiten, Rechte und Pflichten des Menschen und des
Staatsbürgers“ in Verbindung mit der Präambel, aus der das Gebot der wirksamen
Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte hervorgeht, bildet ein interpretatorisches
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Prinzip der Bevorzugung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen. Nach diesem Prinzip ist
bei der Interpretation der Verfassung diejenige der möglichen Auslegungsrichtungen
anzunehmen, die möglichst weiten Schutzbereich der Grundrechte voraussetzt. Darüber
hinaus gebietet die systematische Auslegung, dass die Grundrechte nicht isoliert, sondern im
Lichte des Systems der Grundrechte, dessen Zweck der Schutz der Menschenwürde und
Freiheit des Einzelnen ist, betrachtet werden. Bezogen auf die Gewissensfreiheit rechtfertigt
der Grundsatz der Grundrechtseffektivität, dass die Freiheit der Gewissensbetätigung durch
den Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfasst wird.
Wegen der tiefen und vielseitigen axiologischen Verwicklung der Verfassungsnormen nimmt
bei der Auslegung der Freiheitsrechte die teleologische Auslegung eine besondere Position
ein. Die Zwecke der Verfassung werden insbesondere in den Verfassungsgrundsätzen
niedergeschrieben, deshalb sind sie als interpretatorische Quelle und Bezugspunkt für
Gerichtsentscheidungen zu betrachten. Dabei wird davon ausgegangen, dass die dynamische
Auslegungsmethode der Verfassungsinterpretation im größeren Maße geeignet ist als der
statische Ansatz. Für die Anwendung des dynamischen Ansatzes bei der Interpretation der
Verfassung spricht der offene Charakter ihrer Vorschriften. Da die Verfassung ein auf Dauer
angelegtes Dokument ist, wohnt ihr eine Qualität inne, die sich an den sozialen Wandel
anpassen lässt, ohne dass ihre Normen verletzt werden. Ihre Beständigkeit ist ohne gewisse
Anpassungsfähigkeit nicht denkbar, weil sich die soziale Wirklichkeit schneller als die
normative ändert. Für die Auslegung der Gewissensfreiheit bedeutet dies, dass die polnische
Verfassung das hinreichende Potenzial hat, sich der fortschreitenden Säkularisierung der
Gesellschaft anzupassen d.h. die Betätigung ethischer Positionen weltlicher Provenienz in
ihren Schutz zu nehmen.
Eine solide Grundlage für die weite Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit bildet
insbesondere der Grundsatz der Menschenwürde als Quelle der Rechte und Freiheiten des
Individuums. Als Wesensmerkmal des Menschenwürdebegriffs in seiner ethischen Dimension
wird die Fähigkeit des Menschen angesehen, freie Entscheidungen zu treffen und für seine
Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Dies entspricht dem Zweck der
Gewissensfreiheit, der darin besteht, den Freiraum für reale moralische Selbstbestimmung
und Selbstverwirklichung zu sichern. Daraus ist sichtbar, dass das Gewissen des Menschen
den Wesensgehalt der Menschenwürdegarantie ausmacht. Gerade durch sein Gewissen erfährt
der Einzelne, dass er mit Menschenwürde ausgestattet ist.
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Darüber hinaus stellt die Freiheitsklausel des Art. 31 Abs. 1 Verf. ein beträchtliches
Argument für die Annahme des allgemeinen Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen dar.
Danach tritt das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen als eine Freiheit prima facie
in Erscheinung, die im Prozess der Güterabwägung wegen kollidierender Rechtsinteressen
eingeschränkt werden kann. Zugunsten des Einzelnen, welcher gemäß seinem
Gewissensgebot handelt, besteht somit eine Vermutung der Legalität, dass er innerhalb des
Schutzbereichs des Grundrechts handelt.
Aus dem Gleichheitssatz ergibt sich vor allem das Verbot, die Grundrechtsträger nach
Ursprung ihrer Gewissensentscheidungen zu differenzieren. Dies betrifft die in der polnischen
Rechtspraxis zu verzeichnende Benachteiligung der Grundrechtsträger, welche ihre
Gewissensentscheidung auf der Basis einer Weltanschauung gebildet haben. Die
Zugehörigkeit zu einer Konfession kann nur ein Indiz (aber nicht eine Voraussetzung) für
Anerkennung oder Zurückweisung des Verweigerungsrechts aus Gewissensgründen
darstellen. Jeder Automatismus in dieser Hinsicht führt zur Verletzung des Gleichheitssatzes.
Die Einbeziehung des Verfassungsgrundsatzes der Befolgung des die Republik Polen
bindenden Völkerrechts bringt für die Auslegung der Gewissensfreiheit keine eindeutigen
Resultate: in der Rechtsprechung der Konventionsorgane der EMRK wird das Recht auf
Verweigerung aus Gewissensgründen nur in einem sehr engen Abschnitt anerkannt. Auch in
der Lehre ist die Bejahung des Schutzes des forum externum der Gewissensfreiheit wegen des
unbestimmten Charakters des Schutzgegenstandes wie auch wegen des Wortlauts der auf den
Schutz der Religion zugeschnittenen Grundrechtsschranken umstritten. Allerdings lassen sich
gewichtige Gründe anführen, die den weiten Schutz dieses Grundrechts vornämlich mittels
der weiten Auslegung der Begriffe „belief“ und „practice“ sowie durch entsprechende
Anwendung der Schrankenklausel des Art. 9 Abs. 2 EMRK auf die Gewissensfreiheit
annehmen lassen.
Die rechtsvergleichende Untersuchung der Gewissensfreiheit zeigt zunächst, dass der
Wortlaut ihrer Formulierung in verschiedenen Verfassungen kein entscheidendes Kriterium
für ihre Auslegung ist; bei der Rekonstruierung des Schutzumfangs der Gewissensfreiheit
kommt vielmehr die wesentliche Rolle der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und Lehre
zu. Die Regelungen der Gewissensfreiheit als das separate, von Glaubensfreiheit völlig
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losgelöste Grundrecht in einigen lateinamerikanischen Verfassungen aus der 90er Jahren des
20. Jahrhunderts bezeugen zwar die allmähliche Tendenz zur Emanzipierung der
Gewissensfreiheit aus ihren religiösen Zusammenhängen, ihre Verselbstständigung setzt sich
aber nur ansatzweise durch, was die zahlreichen Beispiele für eine restriktive Auslegung
dieses Grundrechts zeigen. Die Gewissensfreiheit kann daher als das Grundrecht in statu
nascendi bezeichnet werden, dessen Verselbständigung von der Glaubensfreiheit noch nicht
eindeutig erfolgt ist und dessen Schutzbereich sich noch nicht herauskristallisiert hat.
Weiterhin findet die weite Auslegung der Gewissensfreiheit in den einzelnen
Grundrechtstheorien ihre Bestätigung. Gemäß der demokratisch-funktionalen
Grundrechtstheorie ist die Gewissensfreiheit ein Kommunikationsgrundrecht. Im
Vordergrund tritt die Forderung der Offenheit auf zwischenmenschliche Beziehungen und
Diskursbereitschaft des Grundrechtsträgers. Seine Gewissensposition muss daher rational
mitteilbar sein. Aus diesem kommunikativen und gesellschaftsorientierten
Gewissensverständnis ergibt sich, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit besonders
geeignet ist, einen wesentlichen Beitrag zur Konsolidierung der demokratischen Ordnung zu
leisten. Durch die Möglichkeit, gewissensgemäße Positionen zu äußern, zu verbreiten und in
Übereinstimmung mit ihnen zu leben, werden sie auch für die rechtliche und politische
Diskussion zugänglich. Der Verweigerer aus Gewissensgründen beteiligt sich an dem
demokratischen Prozess, indem er die ethischen Dissense in der Gesellschaft offenlegt und
den öffentlichen Diskurs stiftet. Die Gewissensfreiheit hat das Potenzial, dem
Mehrheitswillen und damit dem demokratischen Gemeinwesen vitale Impulse für seine
Weiterentwicklung zu geben. Sie ergänzt den institutionalisierten Prozess demokratischer
Willensbildung durch den freien öffentlichen Diskurs über ethische Grundlagen der Politik
und thematisiert moralische Fragen, die in der politischen Domain zu kurz gekommen sind.
Die aus den Gewissensentscheidungen der Einzelnen hervorgehenden Impulse für die
Weiterentwicklung des Gemeinwesens erlauben der Rechtsordnung, sich ständig der
verändernden Umwelt anzupassen. Dadurch leistet die Gewissensfreiheit einen Beitrag zur
Stabilität des Systems im Ganzen. Aus der demokratisch-funktionalen Perspektive erscheint
die Gewissensfreiheit als das Recht zur Mitverantwortung, welches zum Zweck hat, blinde
Befolgung des Rechts ohne Rücksicht auf seinen Inhalt vorzubeugen. Der demokratische
Verfassungsstaat gewinnt seine Legitimation, indem die Gewissensfreiheit von der Mehrheit
als Grenze des Rechtszwangs anerkannt wird.
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Problematisch bei der demokratisch-funktionalen Theorie ist allerdings, dass der Schwerpunkt
nicht auf das gewissensgemäße Handeln, sondern auf dessen Wirkungen im Bereich der
politischen Willensbildung gelegt wird. Das Streben des Einzelnen nach moralischer
Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des eigenen Handelns wird durch das Streben
nach gesellschaftlicher Mitverantwortung und Mitbestimmung ersetzt. Der Schutz des
Einzelnen von Gewissenskonflikten sowie die Bewahrung seiner Identität wird dagegen in
den Hintergrund gestellt. Der grundrechtliche Schutzbereich der Gewissensfreiheit und ihre
abwehrrechtliche Funktion sind nach diesem Ansatz daher weitgehend verkannt. Das
Anliegen, die Unversehrtheit des Gewissens des Einzelnen möglichst weit zu sichern,
entspricht der Staatsauffassung des liberal-demokratischen Rechtsstaates. Danach ist der Staat
des Menschen willen da, um seine Menschenwürde, Freiheit und Eigentum zu schützen. Das
Gewissen als das innerste Zentrum der Persönlichkeit und seine Freiheit ist dem Staat
vorgegeben, deshalb muss sie vom Staat geachtet und geschützt werden. Die institutionelle
Grundrechtstheorie fordert dagegen, dass wenn der Konflikt für den Einzelnen unvermeidbar
ist, muss geprüft werden, ob es in den konkretem Fall Handlungsalternativen gibt und ob sie
für das Gemeinwesen tragbar sind. Falls der Gesetzgeber die Standardalternative nicht
bereitstellt, müssen die Lösungen fallbezogen erarbeitet werden. Nach der Werttheorie wird
die Verfassung als ein integrierendes Instrument der Gesellschaft angesehen. Soll das
Grundrecht der Gewissensfreiheit zur Bewahrung der erreichten Wertekompromisse und
Stärkung der sozialen Integration beitragen, muss allen Gewissensentscheidungen unabhängig
von ihrer geistigen Quelle gleichwertiger Schutz eingeräumt werden.
Nach der Bestätigung mit Hilfe der Auslegungsmethoden, dass die Gewissensfreiheit in der
polnischen Verfassung garantiert wird, wird ihr Schutzbereich näher bestimmt. Zuerst wird
konstatiert, dass der grundrechtliche Schutz nur den natürlichen Personen zustehen kann. Dies
erklärt sich damit, dass das Gewissen Attribut des Einzelnen und nicht der Gruppen ist. Den
juristischen Personen sollte eigentlich das Recht eingeräumt werden, die Interessen seiner
Mitglieder auf ihrem Gesuch zu verteidigen. Diese Hilfsfunktion der juristischen Personen
würde wesentlich den Schutz der Rechte der Minderheiten verstärken.
Das forum internum der Gewissensfreiheit umfasst das Recht, moralische Überzeugungen zu
bilden und zu haben. Zum Schutzgegenstand wird die innerliche Auseinandersetzung mit sich
selbst (die innere Kommunikation) sowie die Hilfsmittel, welche diese Auseinandersetzungen
wiedergeben. Geschützt wird auch das Recht auf Geheimhaltung der Gewissensinhalte, es sei
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denn dass die Offenbarung der Gewissensentscheidung zur Ausübung anderer Rechte
notwendig ist. Den Kern des verfassungsrechtlichen Schutzes des forum internum bildet
allerdings die Freiheit vom Zwang in Gewissensfragen und von unzulässiger Beeinflussung,
insbesondere des Gewissensbildungsprozesses, obwohl die Abgrenzung zwischen erlaubten
und sogar unabdingbaren Maßnahmen des Staates und der verbotenen Indoktrinierung
schwierig sein mag. Das entscheidende Kriterium in den Zweifelsfällen ist der Zweck der
betroffenen Handlung oder Maßnahme, die Gewissensinhalte des Einzelnen zu gestalten.
Die Erstreckung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit auf das forum externum wird mit
dem Wesen der Gewissensentscheidung gerechtfertigt, welche nach ihrer Verwirklichung in
der Außenwelt drängt. Die Ausdehnung des grundrechtlichen Schutzes auf die
Betätigungsfreiheit ist allerdings nur unter Voraussetzung möglich, dass alle Ausübungsrechte
bereits im Begriff der Gewissens- und Religionsfreiheit enthalten sind, während den
Verbürgungen der einzelnen Ausübungsmodalitäten lediglich eine deklaratorische bzw.
klarstellende Funktion zugeschrieben wird. Die Bejahung einer solchen Auslegung wird mit
dem Wesen der menschlichen Freiheit bestätigt, die keinesfalls auf den innerlichen Bereich
reduziert werden kann. Da die Verfassung unmittelbar anwendbares Recht ist, braucht der
Gesetzgeber einen konkreten Typ der Verweigerung aus Gewissensgründen nicht zu regeln,
damit sich der Einzelne auf den Grundrechtsschutz berufen kann. Wegen der Singularität der
Anwendungsfälle der Gewissensfreiheit soll in der Mehrzahl der Fälle bei der Handhabung
dieses Grundrechts die entscheidende Rolle der Rechtsprechung zukommen. Dem Richter
obliegt, die gesetzlich nicht geregelten Tatbestände der Gewissensfreiheit zu identifizieren,
die Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Grundrechts festzustellen sowie die
notwendige Abwägung mit den kollidierenden Rechtsgütern vorzunehmen.
Die Gewissensfreiheit ist allerdings mit allgemeiner Handlungsfreiheit nicht gleichzusetzen.
Sie stellt vielmehr die Freiheit des Einzelnen im ethischen Bereich dar, also die Freiheit zur
moralischen Autonomie und Selbstverwirklichung. Sie ist die Grundfreiheit jedes Einzelnen
als Person in der Suche nach dem Guten, die Freiheit, ein eigenes moralisches Urteil als
persönlicher Gewissensakt zu haben, sowie das Recht, sein Verhalten an sein Moralurteil
anzupassen und sein Leben danach zu richten. Eine solche Auffassung der Gewissensfreiheit
lässt ihr Schutzbereich auf Abwehr der vom Staat herbeigeführten Zwangslagen nicht
reduzieren, obwohl gerade in diesen Situationen das Grundrecht am häufigsten in Anspruch
genommen wird.
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Der wichtigste Anwendungsbereich der Gewissensfreiheit in der polnischen
Sozialwirklichkeit ist die Verweigerung an Schwangerschaftsabbrüchen teilzunehmen, sowie
die Verweigerung, sich unter Berufung auf Gewissensgründe einer medizinischen
Behandlung, vor allem der Bluttransfusion zu unterziehen. Die Schutzgarantie im Fall der
Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen erstreckt sich nicht nur auf die mit ihrer
Durchführung unmittelbar zusammenhängenden Handlungen, sondern umfasst auch die
vorbereitenden Tätigkeiten, insbesondere die Anfertigung der Dokumentation. Der Schutz der
Gewissensfreiheit kann allerdings auf nachträgliche Handlungen nicht erstreckt werden. Die
Bedrohung des Lebens und Gesundheit der Schwangeren stellt dabei eine unüberschreitbare
Schranke des Verweigerungsrechts dar. Die Ausdehnung der Schranken der Gewissensfreiheit
auf den Fall der hypothetischen Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Patientin
würde allerdings den grundrechtlichen Schutz zu weitgehend verkürzen, insbesondere wenn
in Betracht gezogen wird, dass dem Recht der Patientin, eine Abtreibung zu bekommen, i.d.R.
die Pflichten der Gesundheitsanstalten und nicht der konkreten Ärzte oder anderer Mitglieder
des medizinischen Personals entsprechen. Für den wirksamen Schutz der Patientin sollten
allerdings Sicherungsmaßnahmen geschaffen werden, damit sie ihre Rechte wegen des
Ablaufs der gesetzlich vorgesehenen Fristen für die legale Abtreibung infolge der
Versäumnisse seitens des medizinischen Personals nicht verliert. In dieser Richtung soll der
gesetzliche Einschränkungsgrund der „anderen Dringlichkeitsfälle“ interpretiert werden. Dies
setzt die Schaffung eines minimales Verfahrens der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit
voraus, welches die Abgabe der Verweigerungserklärungen, ihren Widerruf regelt und die
Funktionsfähigkeit der Gesundheitsanstalten sichert. Wenn die Funktionsfähigkeit des
Gesundheitswesens es verlangt, soll der Verweigerer ausnahmsweise auf den anderen
Arbeitsplatz ohne Einbüße in seinem Rechtsstatus verlegt werden können.
Das Recht, eine medizinische Leistung aus Gewissensgründen zu verweigern, wird nach h. M.
aus der allgemeinen Freiheitsklausel und dem Recht auf Privatleben abgeleitet, obwohl seine
Inanspruchnahme vornämlich die Verweigerung der Bluttransfusion von Zeugen Jehovas
betrifft, also aus religiösen Gründen erfolgt. Die Bestimmung der Hierarchie der
kollidierenden Rechtsgüter (des Lebens und Gesundheit der Patienten einerseits und sein
Selbstbestimmungsrecht andererseits) soll dem Betroffenen überlassen werden. Weder der
Verfassungsgeber noch der Arzt ist zuständig, eine solche Wertung vorzunehmen. Einzige
Einschränkungsmöglichkeit der Gewissensfreiheit in diesem Bereich betrifft Minderjährige
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sowie Personen mit familiären Verpflichtungen. Die Problematik des sog. Lebenstestaments
ist zwar im polnischen Recht nicht geregelt, solche Erklärung wird aber sowohl in der
Rechtsprechung als auch in der Lehre für eine zulässige Ausübung des
Selbstbestimmungsrechts des Patienten gehalten.
Historisch war die Verweigerung aus Gewissensgründen die wichtigste Ausübungsmodalität
der Gewissensfreiheit. Nach der Einführung in Polen der Berufsarmee hat jedoch dieser
Verweigerungstyp die praktische Bedeutung verloren. Wegen der weiten Formulierung der
Anerkennungsgrundlagen in der Verfassung (religiöse und moralische Gründe) ist
anzunehmen, dass durch dieses Recht nicht nur die Grundrechtsträger geschützt werden,
welche den Krieg prinzipiell und absolut verweigern, sondern auch diejenigen, welche dies
aus situationsbezogenen moralischen Gründen tun.
Die Verweigerung der Steuerzahlung aus Gewissensgründen ist wegen des
Betrachtungshorizonts des Einzelnen d.h. seiner persönlichen Zurechnung der Verantwortung,
sowie wegen des Vorliegens der kumulativen Ursächlichkeit zwischen seinem Geldbeitrag
und der Möglichkeit der Finanzierung der staatlichen Aufgaben durch den Schutzbereich des
Grundrechts der Gewissensfreiheit umfasst. Der Verfassungsgrundsatz der repräsentativen
Demokratie in Verbindung mit dem Grundsatz der Budgethoheit des Parlaments, sowie dem
verfassungsrechtlichen Auftrag, die Streitkräfte zu unterhalten, machen allerdings die
eventuelle Abwägung der kollidierenden Interessen auf der Schrankenebene nicht realisierbar.
Die Gewissensfreiheit muss daher vor den genannten Verfassungsgrundsätzen zurücktreten.
Die Annahme der Anwendbarkeit der Gewissensfreiheit im Privatrecht beruht auf der
Bejahung der Drittwirkung der Grundrechte der polnischen Verfassung, welche ihrerseits mit
dem Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit der Verfassung und der Freiheitsklausel,
wonach sich die Pflicht der Achtung der Freiheiten des Einzelnen an alle Rechtssubjekte ohne
Rücksicht auf ihren privatrechtlichen oder öffentlichrechtlichen Status richtet, gerechtfertigt
wird. Die Berücksichtigung der Grundrechte im Privatrecht kann durch eine
grundrechtsorientierte Auslegung der privatrechtlichen Institutionen, insbesondere der
wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen offenen Rechtsbegriffe erfolgen. Im
polnischen Recht erfüllt diese Funktion vor allem Art. 5 Zivilgesetzbuch, wonach niemand
von seinem Recht Gebrauch machen kann, der gegen die Grundsätze des gesellschaftlichen
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Zusammenlebens verstößt. Weiterhin gehört die Gewissensfreiheit zum Katalog der
zivilrechtlich und arbeitsrechtlich geschützten persönlichen Rechtsgüter, deren Verletzung
den Anspruch des Geschädigten auf Unterlassung, bzw. auf Schadenersatz und
Wiedergutmachung auslöst. Allerdings wegen der im Kontext der Interpretation der
persönlichen Rechtsgüter herrschenden Gleichstellung des Gewissensbegriffs mit der
Glaubensfreiheit, insbesondere mit dem Verbot, religiöse Gefühle zu verletzen, ist nicht zu
erwarten, dass diese Rechtsfigur zum Schutz der Gewissensfreiheit im Bereich des Ethischen
in der Zukunft benutzt wird, obwohl sie zu diesem Zweck durchaus geeignet ist.
Die Berücksichtigung der Gewissensfreiheit im Strafrecht erfolgt durch die Einbeziehung der
Gewissensentscheidungen des Täters im Prozeß der Strafzumessung. Dies geschieht durch
ihre Subsumierung in den Rechtsbegriff „Motivation“, der zu Kriterien der Strafzumessung
nach dem polnischen Strafgesetzbuch gehört. Dies führt allerdings nicht zwangsläufig zur
Strafmilderung; Der Einfluß der Gewissensentscheidung auf das Ausmaß der Strafe hängt
vielmehr von deren Inhalt ab.
Wenn der Schutz der Gewissensbetätigungsfreiheit bejaht wird, stellt sich unweigerlich die
Problematik ihrer Schranken. Da die Gewissensfreiheit die unbegrenzte Geltung nicht
beanspruchen kann, ist für ihre Beschränkung die Schrankenklausel der
Religionsausübungsfreiheit entsprechend anzuwenden. Mag der Wortlaut der betroffenen
Verfassungsbestimmungen diesem Ansatz entgegenstehen, verhindert gerade die sprachliche
Fassung der Schrankenklausel die „dogmatisch saubere“ Lösung der Schrankenproblematik.
Darüber hinaus ist auf die allgemeine Einschränkungsklausel der Grundrechte, insbesondere
auf das dort verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip ergänzend zu rekurrieren. Mangels der in
der Verfassung bestimmten Wertehierarchie der geschützten Rechtsgüter ist bei der
Güterabwägung auf alle Umstände des Einzelfalles abzustellen. Die Rolle der Lehre in diesem
Zusammenhang ist, allgemeine Grundsätze der praktischen juristischen Vernunft aufzustellen,
welche bei der Interessenabwägung in konkreten Fällen hilfreich sein können. Dazu gehören
insbesondere die einzelnen Verfassungsgrundsätze (das Prinzip des demokratischen
Rechtsstaates, die Klauseln der Freiheit, Gleichheit und Würde, der Grundsatz der
Volkssouveränität), die durch die Ausübung der Gewissensfreiheit betroffenen Rechte und
Freiheiten Anderer und Gemeinwohlinteressen, sowie der Charakter der
Grundrechtsbetätigung (Handlung oder Unterlassung, Ausweichmöglichkeiten eines
Gewissenskonflikts). Darüber hinaus ist für die Einschränkung der Abgrenzung des
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Schutzbereiches der Gewissensfreiheit das Kriterium der sog. weltanschauungsneutralen
Gesetze d.h. derjenigen, welche keinen zielgerichteten Eingriff in die Gewissensfreiheit
darstellen, ungeeignet. Dies wird damit begründet, dass in einem modernen Staat das
Normengeflecht immer enger wird, was zur Folge hat, dass sich der dem Einzelnen zur freien
Gestaltung seines Lebens gebliebene Raum verkleinert. Darüber hinaus erfolgen die
Verletzungen der (Gewissens-)Freiheit sowie die Diskriminierung häufig nicht als direkte
Eingriffe in den Bereich der Überzeugungen des Einzelnen, sondern gerade als Nebenfolge
der religionsneutralen Gesetzgebung, was vor allem die Minderheitsgruppen betrifft.
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