das fraulein

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    Carlton OniveOttawa

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    Ivo Andric

    Das FruleinRoman

    Carl HanserVerlag

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    Aus dem Serbokroatischen bersetzt von Edmund SdineeweisTitel der Originalausgabe: Gospodjica

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    Gesetzt aus der Trump-MedivalSatz und Druck: Frhmorgen & Holzmann, MnchenPrinted in Germany

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    Wenn du arbeitest, so tu es in Gottes Namen! Doch wenn deinHerz mit totem Wachs versiegelt ist, dann lastet ein Fluchauf dir. Janko Veselinovic

    Verfludit ist und bleibt das Geld, das man nicht zum allge-meinen Nutzen des Volkes verwendet.

    Sima Milutinovi-Saiajliia

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    An einem der letzten Febniartage des Jahres 1935brachten alle Belgrader Zeitungen die Nachricht, daman in der Stigstrae Nr. i6a die Hausbesitzerin totaufgefunden habe. Sie hie Rajka Radakovic, stammteaus Sarajevo und lebte schon fnfzehn Jahre ganz zu-rckgezogen in diesem Hause; sie fhrte das Lebeneiner einsamen alten Jungfer und galt als geiziger Son-derling. IhrenTod entdeckte derBrieftrger jener Strae.Nachdem er zwei Tage vergeblich gelutet hatte, ginger um das Haus, schaute vom Hof ins Fenster, sahim Vorzimmer die alte Jungfer tot auf dem Rckenliegen und meldete die Beobachtung sofort der Polizei.Nach den damals herrschenden Sitten nahm die Kri-

    minalchronik in der Tagespresse einen groen Raumein. Alle Tageszeitungen schlachteten Morde, Ungld

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    Gange. Unser Berichterstatter am Tatort. Aber diesmalwar es den Zeitungen nicht beschieden, lange Berichtemit gruseligen Einzelheiten und Lichtbildern zu brin-gen. Die Kommission, die sich sofort in die Stigstraebegeben hatte, stellte rasch und einwandfrei fest, daes sich um kein Verbrechen handelte, sondern da diealte Jungfer eines natrlichen Todes an einem Herz-schlag gestorben war, da sich alles im Hause unbe-schdigt und an Ort und Stelle befand und nichts aufeinen Einbruch, einen Diebstahl oder irgendeine Ge-walttat hindeutete.

    Als die Nachricht vom Tode der alten Jungfer ver-ffentlicht wurde, kam der bekannte alte KaufmannDjordje Hadzi-Vasic mit seiner Frau in die Stigstrae.Das waren die einzigen Verwandten, welche die Ver-storbene in Belgrad hatte. Sie besorgten die Bestattungund bernahmen als ihre nchsten Verwandten dasHaus mit seinem Inventar bis zur Klrung der Erb-schaftsfrage.Die Zeitungen haben nie mehr den Namen Rajka

    Radakovic erwhnt. Weder ihr einstiges Leben noch ihrTod boten etwas, was die allgemeine Aufmerksamkeitauf sich gelenkt und die Phantasie der Leserschaft er-regt htte. Die folgenden Seiten jedoch werden Ihnenvon ihrem wirklichen Schicksal erzhlen.

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    Der Himmel ber Belgrad ist weit und hoch, rechtvernderlich; doch immer schn, auch whrend der win-terlichen Klarheit mit ihrer kalten Pracht; auch wh-rend der sommerlichen Gewitter, wenn er sich in eineeinzige dstereWolke verwandelt, die, gej agt von einemtollen Sturmwind, Regen bringt, vermischt mit demStaub der Pannonischen Ebene; auch im Frhling, wenner zugleich mit der Erde zu blhen scheint; auch imHerbst, wenn er schwer ist von den Schwrmen derherbstlichen Sterne. Immer schn und reich, dieser wun-derbaren Stadt ein Ersatz fr alles, was sie nicht besitzt,und ein Trost fr alles, was nicht sein drfte. Aber diegrte Pracht dieses Belgrader Himmels sind die Son-nenuntergnge. Im Herbst und im Sommer sind sie aus-gedehnt und strahlend wie eine Fata Morgana in derWste, im Winter hingegen abgeschwclit durch fin-stere Wolken und gelblidirote Nebel. Zu jeder Jahres-zeit gibt es sehr hufig Tage, an denen sich das Feuerdieser Sonne, die in der Ebene zwischen den Flssen,unterhalb Belgrads, versinkt, auf der hohen Himmels-kuppcl widerspiegelt, sich bridit und als roter Sclieinber die weit hingestreckte Stadt ergiet. Dann frbt die

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    Sonnenrte fr einen Augenblick auch die entlegenstenWinkel Belgrads und spiegelt sich selbst in den Fensternjener Huser, die sie sonst nur schwach bescheint.

    Dieses Licht beschien im Jahre 1935, am Abend einesdieser Februartage, auch die Vorderseite eines kleinen,verwahrlosten Fiauses in der Stigstrae. Bei der raschenEntwicklung der Strae stieen hier die Fiausnummernzusammen, und die amtliche Zhlung geriet durchein-ander, so da zwei Nummern 16 entstanden und einedavon zu i6a werden mute. Eben diese Nummer trgtjenes niedrige gelbe Fiaus, eingezwngt und verlorenzwischen zwei modernen hohen Gebuden der neue-ren Zeit. Das eingeschossige, unansehnliche Fiausstammt noch aus der Zeit vor den Balkankriegen, alsman von der Gegend sagte, sie liege hinter Gottes Rk-ken, als man hier fr den Quadratmeter Boden einenDinar zahlte, als die FFuser in dieser Strae noch sehrselten und alle so niedrig, doch durch ausgedehnte Gr-ten voneinander getrennt waren und mehr oder weni-ger hervorstanden oder versteckt lagen, je nach derLaune und den Bedrfnissen des Besitzers. Damals wa-ren die Hausnummern nicht so wichtig. Man wute,wem das Haus gehrte, und grtenteils kannten dieLeute einander, wenigstens dem Namen nach oder vomSehen. Sofern sie einander nicht kannten, suchten sieeinander auch seltener auf, und im Notfall fand mansich leichter als heutzutage.

    Solche Huser des Belgrader Vorkriegstyps sind ge-genwrtig noch hufig in den entlegeneren Straen Bel-grads anzutreffen. Sie gleichen sich alle, nicht der Gre,sondern der Form und dem Material, der Raumvertei-lung und mehr oder minder auch der inneren Einrich-

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    tung nach. Zwei oder vier Fenster blicken auf die Strae,je nachdem ob das Haus zwei oder drei Zimmer hat.Unter den Fenstern ist im Mrtel irgendein sezessioni-stisches Motiv oder ein vereinfachtes geometrisches Or-nament aus der ewig gleichen Form irgendeines Mei-sters aus Crnotrava angedeutet. Das eiserne Tor, des-sen obere Hlfte aus Draht geflochten und oben miteisernen Stacheln verziert ist, fhrt in einen kleinenHof mit winzigen Pflastersteinen und einem schmalenBlumenbeet lngs der Mauer, an der sich Weinrebenoder Kletterrosen emporwinden. Hier ist in der Mittedes Hauses der Eingang mit ein oder zwei Steinstufen,berdeckt von einem kleinen hlzernen Dach, das beiden reicheren Leuten aus dickem Milchglas besteht. Wei-ter hinten liegt der Garten mit dem Nubaum in seinerMitte, oft auch mit einem Ziehbrunnen daneben undmit frhreifen Pflaumen und Pfirsichen an dem Zaun,der das Anwesen von den Grten und Hfen der Nach-barn trennt. Auch im Innern ist die Raumverteilungfast immer gleich: ein groes Vorzimmer und rundher-um drei bis vier Zimmer und eine Kche.

    In allem gleich, unterscheiden sich diese Huser jetztblo durch ihr ueres. Die einen sind getncht, offen-bar gut gepflegt und regelmig ausgebessert; das eiser-ne Hoftor ist mit heller lfarbe gestrichen; die Fenstersind geputzt und mit feinen weien Vorhngen ver-hllt. Solche Huser zeigen, da ihre Bewohner mit derZeit Schritt halten, da sie arbeiten und verdienen, dasie vom Leben etwas verlangen und auch bekommen.Andere Huser dagegen sind verwahrlost und hlich.Der Rand des Daches weist Lcken auf, die Dachrinnensind verschoben, die Farben verblat, die Simse und

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    primitiven Ornamente brcl

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    wichtigste Frage, die man sich hier bei jedem einzelnenstelh und unermdUch wiederholt, bis man eine Ant-wort darauf gefunden oder ersonnen hat.) Die alten Be-wohner der Stigstrae fanden einst heraus, da jenesFrulein von einer Rente und von Ersparnissen lebt.Die einen behaupten, da sie reich sei und auf demGeld liege, die anderen, da sie arm sei und darbe. Imbrigen kmmert sich schon seit vielen Jahren in dieserlebendigen und bunten Welt niemand sonderlich umdas alte Frulein, das ganz zurckgezogen lebt.Auch war sie in den letzten Jahren selten zu sehen.Nur von Zeit zu Zeit besucht sie den Markt auf demKalenicplatz, und im Winter geht sie hinaus, um ganzallein vor dem Haus den Schnee vom Gehsteig zu fegen.Sie ist eine groe, hagere, alte Jungfer hoch in den Vier-zigern. Ihr Gesicht ist gelb und von vielen Runzelndurchfurcht. Diese Runzeln sind ungewhnlich tief,und auf der Stirn, unmittelbar ber der Nase, kreuzensie sich und bilden ein regelmiges Dreieck, das diestarken Augenbrauen verbindet. In diesen Runzelnliegt wie eine schwarze Ablagerung ein feiner Schatten.Dadurch erhlt ihr ganzes Gesicht einen dsteren undgequlten Ausdruck, den auch der Blick ihrer Augennicht aufheitert, denn aus ihnen schlgt Finsternis. Aberihre Haltung ist aufrecht und verrt nichts von der Un-sdilssigkeit, die vereinsamte, krnkliche und armeMenschen in allem aufweisen, und ihre Bewegungensind rasch und heftig. In der schwarzen Jacke und demungewhnlich langen Rock, wie ihn heute niemandmehr trgt, in den abgetragenen Schuhen und den dik-ken Strmpfen, mit der Wollmtze auf dem angegrau-ten Haar ist sie jenseits aller Zeiten und Moden ge-

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    kleidet. Die heutige Welt, die so schnell dahinlebt, daihr die Eile schon zur Gewohnheit geworden ist, beach-tet die groe, ungewhnliche Gestalt der mageren,schwarzen Frau so gut wie gar nicht.Auch an diesem Februarabend sitzt das Frulein am

    Fenster und stopft Strmpfe. Nachmittags mute siewegen irgendwelcher Besorgungen das Haus verlassen,aber sie kehrte noch bei Tageshelle zurck, na unddurchfroren vom Februarwind, der Schnee und Regenzugleich brachte. Sie zog ihre alten Galoschen aus undlegte den langen schwarzen Wintermantel ab; er waraus grobem Tuch, hnlich dem der Soldatenmntel, ge-fertigt und jetzt vom Wasser ganz durchnt. Sie fateden alten Kleiderstock, zog ihn aus der Ecke in dieMitte des Vorzimmers und hngte ihren Mantel darum,damit er schneller trockne. So stand er da wie ein groerMann ohne Kopf, der ins Haus getreten und inmittendes Vorzimmers stehengeblieben war. Dann trat sie insZimmer, das ihr, der so Durchfrorenen, warm erschien,nahm ihre Handarbeit auf und setzte sich.

    Jene Abendrte, die ber Belgrad, wie mir scheint,lnger andauert und strker leuchtet als ber anderenStdten, bestrahlt auch ihr Fenster. Bei den letzten, rt-lichen Strahlen der schon unsichtbaren Sonne kannman noch schn arbeiten, doch nur, wenn man sich ansFenster setzt, denn im Hintergrund des Zimmers greiftschon ein zartes Halbdunkel um sich. In diesem Dm-merlicht unterscheidet man einen kleinen eisernenOfen zwischen rmlichen Mbeln: einem Kleider-schrank, einem Regal und einem hlzernen Bettgestell,ber das eine Kamelhaardecke gebreitet ist. Alles in

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    diesem Zimmer, von den Wnden bis zu den Mbeln,trgt den Stempel der Nachlssigkeit und Verwahrlo-sung, als ob hier ein Blinder lebte oder jemand, der vl-lig gleichgltig gegen die Dinge dieser Welt ist und sichihrer bedient, weil er mu, und nur, soweit er mu, denes jedoch ganz und gar nicht interessiert, wo etwas stehtund wie es aussieht. Dieser rtliche Widerschein des Bel-grader Vorabends verleiht den rmlichen, verwahrlo-sten Rumen ein noch traurigeres Aussehen, wie er auchdie schnen und gepflegten noch angenehmer macht.

    In diesem freudlosen Zimmer verbringt das Fruleinden grten Teil ihrer Zeit, denn es ist der einzigeRaum, der geheizt wird. Hier schlft sie, hier verbringtsie den Tag und arbeitet sie, hier kocht sie auch aufdem kleinen Ofen ihr karges Mittagsmahl, das gleich-zeitig auch ihr Abendessen ist. Das Frulein verschwen-det nicht viel Zeit fr solche Arbeiten wie den Hausputzund das Kochen, schon deshalb nicht, weil sie Ver-schwendung berhaupt nicht liebt, auch nicht das Wortverschwenden, in keiner Verbindung und keinerForm. Anders ist es mit der Arbeit, die sie jetzt tut, mitdem Stopfen. Das ist eine angenehme und ntzliche Ar-beit; man verliert zwar Zeit dabei, und die Augen er-mden, aber man spart alles andere. Zeit und Augen-licht hat der Mensch im berflu, jedenfalls mehr alsdas brige. >Stopfen und Dulden erhalten das HausStop-fen und Dulden

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    liedes wiederholen, das an und fr sich unbedeutendund wei Gott wo und wie entstanden ist, in dem siejedoch seltsamerweise ein lebendiges Bild und einenklaren Ausdruck ihrer tiefsten Wnsche entdecken.

    Stopfen! Das ist ein Hochgenu. Das ist wahrhaftewiger Kampf und ermdendes berlisten eines mch-tigen, unsichtbaren Feindes. In diesem Kampf gibt esnchterne, schwere, scheinbar ausweglose Augenblicke,es gibt auch Niederlagen und Entmutigungen, aber vielhufiger sind die lichten Augenblicke ergebenen, heili-gen Dienstes und sieghafter Begeisterung. Eine Stelle anirgendwelchen Pantoffeln oder an einem Wschestckwird dnn und zerreit, so da man den Gegenstandweder tragen noch wegwerfen kann. Aber hier, woandere Frauen nachlassen und sich der allmchtigenKraft ergeben, die alles am Menschen verzehrt unddnn macht, die jedes menschliche Leben und jede Be-wegung begleitet wie ein Fluch, der mit der Erbsndeauf das menschliche Dasein gefallen ist, da beginnt frdas Frulein erst der richtige Kampf, da erffnen sich ihrAussichten auf mhsame und weit entfernte, aber gln-zende, groe Siege. Mit all ihren stillen und unsicht-baren, doch gewaltigen, zhen jungfrulichen Krftenstrzt sie sich auf diesen Gegenstand und lt ihn nichtaus den Hnden und Augen, bis er genht und ausge-bessert ist fr einen langen neuen Gebrauch. >Jede an-dere an meiner Stelle wrde das wegwerfen, aber ichwerfe nichts weg. Bei mir gibt es weder Schaden nochVerlust. < So spricht das Frulein zu sich selbst, und mitBegeisterung und Liebe betrachtet sie diesen Pantoffel,der gerettet und jener feindlichen Kraft entrissen ist, diealles an uns und um uns benagt, anbohrt, zerreit und

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    auflst. Zwar ist der Pantoffel nicht mehr schn anzu-sehen, und auch sonst hat er sich verengt und ge-krmmt; er drckt und kratzt und verwundet die Hautdes Fues, aber was ist das gegen das Vergngen, wel-ches dieser Sieg und diese Ersparnis bereiten? Soll erschmerzen und verwunden, es ist ein ser Schmerzund eine glckhafte Wunde. Sie ist bereit, viel mehrals das zu ertragen. Und was die Schnheit betrifft, sosorgt sie sich noch weniger. Die Schnheit ist ein teu-res, ein unerhrt teures und dabei nichtiges, trgeri-sches Ding. Es gibt keinen schlimmeren Verschwenderund keine grere Verblendung. Sie hat sie nie sehrgeliebt, sondern sich immer vor ihr gescheut, und dieLebenserfahrung hat sie noch darin bestrkt. Niemalshat sie recht verstanden, warum die Menschen einensolchen Unterschied zwischen dem machen, was schnist, und dem, was nicht schn ist, und was es denn ist,das sie so hinreit und trunken macht, da sie um des-sen twillen, was sie Schnheit nennen, ihre Gesundheitzugrunde richten und Geld verschwenden, mchtiges,heiliges, groes Geld, das ber allem steht und mit demsich keine Schnheit annhernd messen kann. Aberjetzt, da sie in die Jahre kommt und sich ihr die unge-ahnten und unbersehbaren Schnheiten und Wonnender Sparsamkeit immer weiter und klarer erffnen, be-ginnt sie diese Schnheit immer strker und bestimm-ter zu hassen wie etwas Ketzerisches, wie ein bses,feindliches Idol, das die Menschen auf traurige Abwegefhrt und sie von der einzig echten Gottheit, der Spar-samkeit, ablenkt. Stopfen und Flicken, das ist der stille,gerechte Dienst an dieser Gottheit. Es bedeutet Kampfgegen den Verfall, bedeutet die Ewigkeit in ihrer Dauer

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    untersttzen. Deshalb ist diese unscheinbare, winzigeArbeit so gro und heihg und erfllt die ganze Seelemit Ruhe und Zufriedenheit. Darum lohnt es, sich einwenig abzumhen und allerhand auf sich zu nehmenund zu erdulden.Dulden! Auch das ist eine Lust. Das wei sie, denn

    sie hat in ihrem Leben viel gelitten und hat viel Genug-tuung darob versprt. Und warum soll der Menschnicht etwas erdulden, wenn er wei, da er dadurch einviel greres bel vermeidet und sich ein weit greresGut erkauft? Der Mensch wre kein vernnftiges We-sen, wenn er nicht einshe, wie ntzlich und sicher eineArbeit ist, die er so verrichtet. Denn was sind die klei-nen Leiden und Entbehrungen, die wir im Dienste derSparsamkeit ertragen, gegenber dem, was sie uns gibtund wovor sie uns rettet? Sie erhlt um uns herum Le-ben und Dauer, bereichert uns stets und verleiht sozu-sagen all dem Ewigkeit, was wir besitzen; sie bewahrtuns vor Unkosten, Verlusten und Unordnung, vor Ver-armung, vor dem Elend, das am Ende kommt undschlimmer und schwrzer ist als der Tod, eine wahreHlle schon auf Erden und bei Lebzeiten. Und wennder Mensch bedenken wrde, wie alles um uns stndigund unbemerkt schwindet und vergeht, zerreit, sichaufbraucht und verfllt, wie klein und schwach allesist, was wir zu tun vermgen und im Kampf dagegenunternehmen und leisten knnen, dann wrde er jedesLeiden und jede Entbehrung auf sich nehmen, nur umdiesem bel Einhalt zu gebieten, dann mte er sichjedes Augenblickes der Erholung schmen, weil er ihnfr Zeitverschwendung, und jedes Bissens, weil er ihnfr einen Luxus hielte. Mit dem fanatischen Mut eines

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    Mrtyrers mu man in dem aussichtslosen Kampf allesertragen.

    Bei diesen begeisterten Gedanken luft dem Fruleinein richtiger Schauder ber den Rcken. Sie erzittert undsteckt die Nadel in den Strumpf, erhebt sich dann ganzsteif und schwer und geht, um nach dem Feuer im Ofenzu sehen. Es ist eigentlich kein Feuer, sondern eher einkrgliches Flmmchen, das niemals imstande sein wird,die Stube zu erwrmen, das aber, so scheint es demFrulein, Holz und Kohle schluckt wie der Vesuv undder tna oder wie jener amerikanische Vulkan, an des-sen Namen sie sich nicht mehr erinnert, von dem sie je-doch wei, da er noch mehr verschlingt und mit seinerFlamme in Brand setzt als unsere bekannten Vulkane.Sie geht, um noch etwas Kohle nachzulegen, aber esgibt ihr einen Ri, als ob sie ein groes und nicht wie-dergutzumachendes bel anriditen wollte; sie beitdie Zhne zusammen und kehrt mutig an ihren Platzzurck. Dort fhrt sie fort, den Strumpf zu stopfen. Sieist zufrieden mit sich selbst und dieser Welt, in der esberall und immer etwas zu sparen gibt. (Sie erinnertsich, da sie einmal irgendwo in der Zeitung gelesenhat, da fr die Kasernenrume whrend der Winter-monate eine Temperatur von 15^ Celsius vorgeschrie-ben ist.) Beim Gedanken daran sprt sie die Klte kaumnoch. Es wrmt sie auch jenes Schufeichen Kohlen, dassie nicht verbraucht hat. Dabei sind ihre Hnde blau,die Lippen grau und die Nase rot. Manchmal geht vorKlte ein tiefes, inneres Zittern durcli ihren ganzen Kr-per. Trotzdem gibt das Frulein nidit nadi und verltihren Platz nicht. hnlich knnen audi gute, tchtigeKrieger in Augenblid

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    tern nicht entgehen, aber sie berwinden es mutig undstrmen vor.Und so stopft und duldet das Frulein, ohne zu kla-gen und in ihrem Eifer zu erlahmen. Durchfroren undsteif, macht sie die schadhafte Stelle des Strumpfes fest,zieht den Faden sorgfltig zwischen den Fden durch,die nachgelassen haben und auseinandergercl

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    Faden zu Faden, und heute abend zieht das ganze Lebenan ihr vorber.Die Kindheit, jene frhe Kindheit, von der die Philo-

    sophen und Dichter sagen, da sie die glcklichste Zeitim Leben des Menschen sei, diese harmlose Zeit, da derMensch weder vom Geld v/ei noch von der Anstren-gung, es zu verdienen, noch von dem Bemhen, es nichtzu verlieren, hat fr sie nicht bestanden. Diese Zeit istin ihrem Bewutsein ein leerer, farbloser Fleck. Ihr Le-ben beginnt etwa mit ihrem fnfzehnten Lebensjahr.Es beginnt mit einem dunklen Punkt, mit einem bitte-ren Augenblick.Das war vor ungefhr dreiig Jahren. Ihr Vater, der

    Gazda Obren Radakovic, war damals einer der ange-sehensten serbischen Kaufleute in Sarajevo. Er stammtenicht aus Sarajevo, sondern von der Militrgrenze. Inseiner Jugend, gleich nach der Besetzung durch ster-reich, kam er nach Sarajevo und wurde dort durchGlck und Geschick bald zu einem der besseren Ge-schftsleute. Er heiratete die schne, zarte, blonde Ra-dojka, die aus der alten, angesehenen Familie Hadzi-Vasic in Sarajevo stammte. Das festigte seine Stellungin der Carsija, dem Marktviertel. Gleich am Eingang inden Veliki Curciluk befand sich das Geschft GazdaObrens. Er handelte mit Pclzwaren en gros, aber mit derZeit dehnte er seine Geschfte auch auf andere Gebieteaus. So war er ein Hauptaktionr der ersten Bierbrauereiin Kovacici und Mitglied verschiedener Aufsichtsrte.Das Frulein glaubt sich an ihren Vater zu erinnern,

    seit sie denken kann. Auch in den frhesten Erinnerun-gen ist er die widitigste Gestalt. Aber wenn sie an ihndenkt, sieht sie ihn immer so, wie er im letzten Jahre

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    seines Lebens war. Sie lebten damals in ihrem neuen,gerumigen Haus, unmittelbar am Ufer der Miljacka,unterhalb der protestantischen Kirche. Rajka ging ge-rade in die vierte Klasse des Lyzeums. Sie sieht ihn ganzdeutlich vor sich, und sie wird ihn so bis zu ihrer Sterbe-stunde sehen. Gro, aufrecht und schlank, hager; derSchnurrbart angegraut, das Haar an den Schlfenschlohwei. Auf dem Kopf ein schwarzer Halbzylinder,dazu ein heller aschfarbener Anzug und ein tadellosweies, steifes Hemd mit hohem Kragen und einer blauund schwarz gestreiften Seidenkrawatte. Auf der Brusteine goldene Uhrkette, an der Hand zwei schwere gol-dene Ringe, ein Ehe- und ein Siegelring, an den runden,gestrkten Manschetten groe, runde Knpfe aus Gold.Und auf der Strae bewegte er sich so aufrecht undstolz, da er aussah wie ein Denkmal, das sich wedervorbeugen noch setzen kann. Sein Gesicht war ernstwie das eines Heiligen. Er lachte nicht und sprach nicht,sondern gab nur kurze Hinweise und Anordnungen.Und dieser in ihren Augen so groe und herrliche Maiuiwar ihr Vater, er nahm sie nach dem Mittag- undAbendessen auf den Scho, als wre sie noch immersechs Jahre alt, streichelte ihr Haar und fragte mit war-mer Stimme:Was hast du heute gemacht, meine Kleine?Und whrend sie von ihren Arbeiten und Erlebnis-

    sen des Tages erzhlte, schaute er durch das Fensterirgendwohin und schien nur ihr leises Geplapper zuvernehmen. Aber fr sie gehrte auch das zur unbegreif-lichen Gre ihres Vaters, da er auf das, was man ihmerzhlte, gar nicht richtig achtete, sondern gedankenver-loren durch das Fenster in die Ferne schaute. brigens

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    verhielt er sich den Erwachsenen gegenber genauso.Er sprach niemals ber sich selbst, sondern stellte bloFragen und hrte sich zerstreut die Antworten an wieein Mensch, dem alles, was die Leute sagen knnen,lngst bekannt ist und der die Zeit, whrend sie spre-chen, dazu bentzt, um nachzudenken und das zu er-raten, was die anderen spter auf seine Fragen antwor-ten werden.

    Ihr groer, mchtiger Vater blieb sich immer gleich,wenigstens glaubte sie es, er war ein Geschpf ohnemenschliche Schwchen und niedere Bedrfnisse, ohneSorgen und Schmerzen, wie sie ein jeder hat, und jenetiefen Falten im Gesicht und das graue Haar schienenihr nur ein Zeichen einer besonderen Wrde und vor-zglichen Gre zu sein. Einzig den olympischen Gt-tern, von denen sie diesen Herbst in der Schule erstmalsgehrt hatte, konnte sie ihn vergleichen, wenn auchnicht vllig gleichstellen.Und gerade damals, in jenem Herbst, wurde ihr Vaterpltzlich, ohne jeden bergang, von seinem Piedestalgestrzt. Da erlitt auch ihr Schicksal einen Ri und eineWendung. Wie sich ein heller Tag verdunkelt, so ver-dsterte sich ihres Vaters Gesicht. Er blieb mehr undmehr zu Hause, aber dafr kamen gewisse Leute zuihm, schlssen sich mit ihm im Zimmer ein und fl-sterten und rechneten stundenlang.

    Ihre Mutter, Frau Radojka, eine blonde, arglose, anSeele und Krper weiche und schwaclie Frau, wute vonnichts und konnte ihr nichts erklren. Trotzdem wurdeRajka alles in seiner ganzen unfabaren Schwere offen-bar. Aus irgendeinem unbedeutenden Anla geriet siemit einer ihrer Mitschlerinnen in Streit, einem gesun-

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    den und zankschtigen Mdchen, das wie alle Kinderder Neureichen nicht auf seine Worte zu achten brauch-te. Kinder sind in ihren uerungen oft so rcksichts-los, wie es Erwachsene nur in Gedanken sein knnen.Diese fr ihre Jahre ungewhnlich dicke und unbehol-fene Klassenkanieradin fiel pltzlich beim Spiel hin,und Rajka lachte sie aus. Da stand das Mdchen rot vorWut auf und sagte ihr vor allen anderen ins Gesicht:Was lachst du? Lache lieber ber deinen Vater, der

    ist seiner ganzen Lnge nach hingefallen.Die Kleine wurde pltzlich ernst wie vor einem Hei-ligtum: Mein Papa fllt nicht.

    Jetzt lachte das dicke Mdchen boshaft:Dein Vater ist bankrott. Alle sagen es. Und er ist

    nicht allein gefallen, sondern hat auch andere mitge-rissen. Frage, wen du willst!Das sind so die kurzen, dummen Streitereien auf dem

    Schulhof und die ersten absonderlichen, beleidigen-den Worte, die man niemals mehr vergit, denn alle,die spter kommen, reien die alte Wunde nur wei-ter auf.

    Bankrott! Ihr Vater war gefallen, und alle sprachendavon, nur sie wute es nicht und ahnte nichts. Wasfr ein Fall war das, und wo hrte er auf? Was geschahmit denen, die so fielen? Und gar aus dieser Hhe, ausder ihr Vater strzen mute.Mit einer kurzen, dsteren Falte zwischen den Au-

    genbrauen kam sie an diesem Tage nach Hause, betrach-tete aufmerksamer als gewhnlich ihre Mutter, die frsie schon damals ein schwaches und unerfahrenes Kindwar, und begegnete ihrem Vater zum erstenmal alseinem gestrzten Mann. Wie, wo und warum er gefal-

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    len war, das konnte sie nicht erkunden, doch fand siejetzt immer mehr Beweise fr das Schreckliche und Un-glaubhche, was sie erfahren hatte. In jenen Tagen hrteder Vater auf auszugehen, und der Arzt begann insHaus zu kommen. Der Vater verHe das Zimmer nicht,er ordnete mit dem BuchhalterVeso irgendwelche Schrif-ten und Papiere, fhrte unhrbare Gesprche mit denKaufleuten, die seine Kompagnons waren. Aber dannhrte auch das auf. Auer dem Arzt und den nchstenVerwandten kam niemand mehr zu ihnen. Die Mutterweinte den ganzen Tag, ohne ihre Trnen zu verber-gen. Und als man zum erstenmal den groen irdenenOfen heizte, legte sich der Vater ins Bett. Sobald Rajkaaus der Schule heimkam, setzte sie sich neben ihn. Erwar abgemagert und dster geworden und sah sonder-bar aus, so unrasiert, mit dem nacl

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    und es wird die Zeit kommen, da du es besser verstehenwirst. Nein, weine nicht, sondern hre und merke, wasdein Vater zu dir sagt. Du bist dir von nun an Vater undMutter, denn du weit, wie die Mutter ist: gut, aberweich. Ich werde keine Schande ber euch bringen,denn ich habe auch jene Verpflichtungen erfllt, die ichnicht zu erfllen brauchte, das merke dir gut, aber ichkann euch nichts hinterlassen auer dem Haus, in demwir leben, dem Laden im Veliki Curciluk und deinerVersicherung bei der >Adria

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    Umfang das Geheimnis des menschlichen Daseins inder Gesellschaft offenbarte.Du bleibst allein, denn die Mutter wird nicht fr

    dich sorgen, sondern du fr sie, deshalb sollst du wissenund dir gut merken, was ich dir zu sagen habe. Ein frallemal sollst du wissen und niemals vergessen, dajeder Mensch, der es nicht versteht, das Verhltnis zwi-schen seinen Einknften und Ausgaben so zu regeln,wie es das Leben von ihm verlangt, von vornherein zumUntergang verurteilt ist. Es ntzt dir nichts, zu erben,zu erwerben, zu besitzen, wenn du das andere nichtverstehst. Deine Einknfte hngen nicht blo von dir,sondern von verschiedenen anderen Menschen undUmstnden ab, deine Sparsamkeit jedoch hngt alleinvon dir ab. Darauf mut du deine ganze Aufmerksam-keit und Kraft richten. Du mut gegen dich und andereunbarmherzig sein. Denn es gengt nicht, an deinenWnschen und Bedrfnissen zu sparen,- das ist der ge-ringere Teil der Sparsamkeit; vielmehr mu man inerster Linie und fr immer in sich all jene sogenanntenhheren Rcksichten tten, die noblen Gewohnheitender inneren Vornehmheit, des Gromuts und des Mit-leids. Mit diesen Schwchen, welche die Menschen, umuns zu tuschen, mit den schnsten Namen belegen,rechnet jeder, der zu uns kommt; sie schlucken alleFrchte unserer Fhigkeiten und Anstrengungen undsind am hufigsten die Ursache unserer lebenslngli-dien Armut oder gar unseres vlligen Untergangs. Allesdas mu man sich rd

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    bin ich zugrunde gegangen. Aber jetzt, da ich sehend ge-worden bin, mchte ich, da dir mein Untergang alsBeispiel und Mahnung diene. Ich wei, da alles in dirund in deiner Umgebung auf dich einreden und dichdrngen wird, anders zu handeln, aber du darfst nichtnachgeben. Arbeite, soviel du kannst und willst, aberspare, spare immer, berall und mit allem und km-mere dich um nichts und niemand. Denn unser Lebenhienieden ist so, da sich die Menschen nicht durch dieArbeit erhalten und hochkommen, sondern durch dieSparsamkeit. Du mut wissen, da die Menschen gutund gewissenhaft gegenber jenen sind, die nicht vonihnen abhngen und nichts verlangen, aber sobald dudich bindest und in Abhngigkeit gertst, hrt alles auf:Gott und Seele, Verwandtschaft und Freundschaft, Ehreund Rcksicht. Sie machen nur halt vor dem, was dufest in deinen Hnden hltst, und auch das nur entspre-chend der Gre deines Besitzes und der Geschicklich-keit und Kraft, mit der du ihn htest und bewahrst.Merke dir gut: Alle unsere Gefhle und Rcksichtensind nur Schwchen, und auf sie lauert und zielt allesum uns. Von klein an gewhne dich daran, da es dirnicht schmeichle, wenn sie dich loben, und da es dichnicht im mindesten stre, wenn sie dich ein geiziges,herzloses und selbstschtiges Geschpf nennen. Erste-res ist ein Zeichen, da du auf der Hut sein mut, daszweite, da du auf dem richtigen Wege bist. Nicht derhat bei den Menschen Glck, der gut und freigebig ist,sondern der fhig ist, weder das eine noch das anderezu sein, und dem die Menschen nichts anhaben knnen.Und da die Menschen gute und freigebige Leute loben,kommt daher, da sie von ihnen und ihrem Unter-

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    gang leben. Du aber lerne rechtzeitig, dich niemals irre-machen und durch Reden ablenken zu lassen; achteblo auf die Sache, um die es sich handelt; den Namen,mit dem die Leute sie benennen, berlasse jenen, dieihn ausgedacht haben, um deine Aufmerksamkeit zutuschen. Wer sich selbst achtet und das Seine behtet,den schonen und ehren alle; auf etwas anderes kannstdu dich nicht verlassen. Deshalb achte auf das Deine,so da womglich nichts, was dir gehrt, je auch nurfr einen Augenblick vom guten Willen anderer ab-hngig sei. Es tut mir weh, da ich dich so jung undnoch so unerfahren in dieser Welt zurcklassen mu,die ich erst jetzt, am Ende meines Lebens, kennenge-lernt habe, aber du kannst mir den Schmerz erleichtern,wenn ich sehe, da du meinen Rat begriffen hast, undwenn du mir das Versprechen gibst, da du ihn dirmerken und immer und in allem beherzigen willst.Da schluchzte der Kranke auf, und das Mdchen, dasdie Trnen nicht mehr zurckhalten konnte, begannzu weinen, er aber zog sie pltzlich an sich, und sieschwor ihm, in seinen Armen zitternd, da sie hart undunbarmherzig sparen werde, solange sie bei der Muttersei, und auch spter, wenn sie verheiratet oder alleinsein werde, ohne Rcl

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    gespielt und welch gefhrliches Vermchtnis der Vaterseiner Tochter hinterlassen hatte.Damals begann ein neues Leben. Das Mdchen, das

    erst das fnfzehnte Lebensjahr vollendet und bis dahinzurckgezogen gelebt hatte, wurde noch ernster und zogsich ganz in sich zurck. Am Ende des Schuljahres ver-lie sie das Lyzeum mit dem Abgangszeugnis der fnf-ten Klasse. Nach einem Jahr lie sie fr ihren Vaterdie Seelenmesse lesen, legte ihre Trauerkleidung ab,machte ihre alten Kleider lnger und begann, bevor sierichtig zum Mdchen herangewachsen war, einem her-ben, egozentrischen Wesen zu gleichen, das wute, wases wollte, und blo diesem Wollen Rechnung trug,ohne darauf zu achten, was die Welt ihm anbot oderaufzudrngen suchte.Die Verwandten bemhten sich, sie aufzurtteln, zuerheitern und von diesem Wege abzubringen. Sie ludensie ein, fhrten sie in andere Huser, auf Krnzchen undFamilienfeste. Einige Zeit gab sie nach. Sie verkehrtemit ihren Altersgenossinnen und Altersgenossen undlauschte mit zusammengepreten Lippen ihren Lie-dern, die ihr fremd und unverstndlich blieben, undihrem Lachen, jenem ansteckenden, grundlosen Lachen,das eine wertvolle Wrze der Jugend ist und dessenWert man blo mit dem der Gesundheit vergleichenkann. Auch sie lachte, aber nur mit den Gesichtsmus-keln, ohne jede innere Regung, vielmehr geistesab-wesend und unaufrichtig. Die kurze, schwarze Faltezwischen ihren Augenbrauen blieb davon unberhrt.Ebenso konnte sie niemand bewegen, tanzen zu lernen,ihre Freundinnen zu einem Krnzchen bei sich einzu-laden oder sich neue Kleider anzuschaffen, wie sie die

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    Mode schon lngst forderte. Noch so jung, stand sie un-ter ihren Altersgefhrtinnen schon wie der fertige undabgeschlossene Typ einer Frau da. Nach einer son-derbaren Logik des gesellschaftlichen Lebens und derweiblichen Natur wirkte sie auf ihre Freundinnen nichtabstoend, sondern im Gegenteil, je rmlicher undaltmodischer ihre Kleidung aussah und je wenigerweiblich und anziehend ihre Haltung war, um somehr wuchs die Sympathie, die ihre schnen, geputz-ten Freundinnen ihr entgegenbrachten. Glattgekmmt,ohne Puder im Gesicht, ohne Handschuhe, immer indemselben altmodischen Kleid und in abgetragenenSchuhen wurde sie gelobt und geliebt; sie war vielleichtdas einzige Mdchen in Sarajevo, dem niemand etwasbelnehmen oder nachsagen konnte. Trotzdem ge-whnten sich alle sehr bald daran, sie nicht mehr alsjunges Mdchen zu betrachten und sie bei der Vorbe-reitung von Bllen und bei Liebesintrigen zu berge-hen, auch bei jenen so vernderlichen, aber ernst ge-meinten Verlobungs-und Heiratskombinationen. Dennwer sich selbst von der Gesellschaft absondert, denschliet die Gesellschaft ohne Mitleid und irgendwel-che Umstnde aus, ja sie sorgt noch dafr, da ihm dieRckkehr fr immer unmglich gemacht wird, selbstwenn er sich eines Besseren besinnen sollte.Noch einige Jahre bemhten sich die Verwandten

    und manche Freundin, sie umzuwandeln und zu ber-reden, sie mge ihr sonderbares Wesen aufgeben undmit den brigen Altersgenossinnen Schritt halten, so-lange es Zeit sei. Sie zuckte blo die Achseln, lchelteund setzte unbekmmert ihre Lebensweise fort.Unter denen, die sich am meisten bemhten, sie in

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    die Gesellschaft einzufhren und sie an das gesellschaft-liche Leben und an Unterhaltungen zu gewhnen, warihr Onkel Vladimir Hadzi-Vasic, Onkelchen Vlado,wie sie ihn zu nennen pflegte.

    Ihre Mutter hatte vier Brder. Der lteste, Djordje,war schon in frher Jugend nach Belgrad gegangen;dort erwarb er Vermgen, erffnete ein Geschft undheiratete. Die beiden anderen, Vaso und Risto fhrtengemeinsam die alte Firma in Sarajevo weiter und leb-ten so, wie die Alten gelebt hatten. Der jngste Bruder,Vladimir, beendete die Handelsschule, aber er dachtenicht daran, mit den lteren Brdern zusammenzu-arbeiten, sondern lebte als kleiner Herr, der teure Un-terhaltungen und sonstige schne Dinge schtzte. Erwar nur vier Jahre lter als Rajka, denn er wurde dreiJahre vor der Heirat seiner Schwester, Rajkas Mutter,geboren. Solche Flle gab es bei uns einst hufig, als dieFrauen viele Kinder zur Welt brachten und die Md-chen jung heirateten. Sie sieht ihn als Kind vor sich,aber am hufigsten erscheint er in ihrer Erinnerung alsJngling von neunzehn Jahren, gro, blond, schn, la-chend, herzlich und voller Leben. Das war in den erstenJahren nach dem Tode des Vaters.

    Sie waren damals innige Freunde. Er war gut undaufmerksam zu ihr, umgab sie mit brderlicher Zrt-lichkeit und vterlicher Frsorge. Mit ihm ging sie zuden ersten Abendgesellschaften und Vergngungen beiVerwandten und Freunden, von ihm erhielt sie dieschnsten Geschenke. Weder vorher noch nachher hatsie einen Menschen gesehen, der so leidenschaftlich zuschenken liebte und der es so geschickt verstand, frjeden das Geschenk auszuwhlen, das seinen Wn-

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    sehen am besten entsprach und ihm die grte Freudebereitete. Ja, er war wunderbar, aber von Gott verlas-sen, denn er war jedem Freund, nur nicht sich selbst.Noch heute, nach mehr als dreiig Jahren, erbebt sie,wenn sie an diesen Unglcklichen denkt, und ist traurigbei dem Gedanken an seine ungesunde und unbezhm-bare Leidenschaft, sich zu verschenken und Kraft, Ge-sundheit, Geld und Gut zu verschwenden, an jeneselbstmrderische Schnelligkeit, mit der er das alles vonsich warf, besessen von dem unverstndlichen Wunsch,alles loszuwerden und nackt und allein zu bleiben; alsob jede Sache, die er besa, fr ihn erst ihren vollenWert erhielt, wenn er sie verschenkte und in fremdenHnden sah. Selbst jetzt kann sie noch jene mtterlicheZrtlichkeit verspren, die sie fr ihn hegte,- noch jetztkann sie jener leichte Schwindel berfallen, der sie an-gesichts dieses lebendigen Wirbels von Vergeudung,nrrischer Verschwendung und leichtsinnigem Hinaus-werfen erfate. Denn obwohl er ihr Onkel und etwaslter war als sie, erschien er ihr immer wie ein kleines,schwaches Kind, das sich allein nicht zu raten und zuhelfen wute, dem man nur die Hnde zu reichenbrauchte, damit es aus diesem Wirbel herauskme, aberdas vermochte und verstand niemand, auch sie selbstnicht. Und doch war es traurig und sndhaft zuzusehen,wie er zugrunde ging.Der herrliche Jngling mit dem liederlichen Leben

    und dem engelgleichen Aussehen verbraditc so einigeJahre, und whrend dieser Zeit gelang es ihm, seinVermgen und sein Leben zu vergeuden. Im dreiund-zwanzigsten Lebensjahr starb er an Tuberkulose,- es wareine Gnade des Schicksals und ein groes Glck fr ihn.

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    denn man kann sich schwer vorstellen, wie sein Lebenohne die Mglichkeit, zu verschwenden und zu ver-schenken, ausgesehen htte. Und er stand schon amRande des Ruins.

    In der ganzen Familie lebte die Erinnerung an ihnals ein abschrecl

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    zwischen die Fden dringt, die sie abwechselnd hebtund Hegenlt, taucht Onkelchen Vlado auf, undzwar wie immer weder traurig noch unglcklich,wie er eigentlich sein mte, sondern herrlich, miteinem freudigen, gutmtigen Lcheln, selbstlos, wahn-witzig und verderbt. Sie blickt ihn scharf an, traurigund ohne jedes Verstehen, aber auch ohne Angst. Ererscheint als das, was er immer war und ewig bleibenwird ein Snder! Seine blauen Augen voll unruhigenGlanzes blicken auf sein Gegenber, als wnschten sie,sich aufzulsen und zu verschenken; und jene Wellehellen Haares ber der Stirn leuchtet und flimmert, alswolle sie zerflieen und sich schonungslos im Rumeverstreuen.Wie in einem ungewhnlichen Traum sieht sie ihn

    klar vor sich. Sie fhlt das Bedrfnis, zu schreien, ihnzu rufen und auf diesem Weg der Selbstvernichtungaufzuhalten, er aber geht vorber, lchelnd, leicht, nichtzurckzuhalten in dem selbstmrderischen Entschlu,sich in seinem Irrsinn ganz zu verschenken, auf dieschlimmste und unwrdigste Art und Weise, an den,der es braucht, und den, der es nicht braucht.Und das Frulein kreischt wirklich leicht auf, dennals sie nach einem Faden des Strumpfes greift, sticht siesich mit der Nadel in den Zeigefinger der linken Hand.Das verscheucht den Schatten der Jugendzeit, erwecktsie aus ihrem Traum und fhrt sie im Nu in die Gegen-wart und Wirklichkeit zurck.Im Zimmer greift das Halbdunkel um sich. Khl und

    de ist alles nach der hellen Vision. Schwacli und ohn-mchtig erscheint jedes Bemhen, zu bewahren und zusparen, wenn zur selben Zeit so viele andere schonungs-

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    los verschwenden, abzwacken und wegnehmen. Es isttraurig und hoffnungslos, dagegen anzukmpfen, aberebenso unmglich ist es, vom Kampf abzulassen undsich zu ergeben. Wieder beginnt sie zu stopfen. DasFeuer im Ofen erlischt. Die Finsternis macht sich imZimmer breit. Das Frulein rckt immer mehr zumFenster, aber davon wird ihr immer klter. Sie denktdaran, Licht zu machen, aber sofort besinnt sie sich, be-herrscht sich, setzt die Arbeit fort und strengt die Augenim Kampf mit der Finsternis an. So vergehen fnfMinuten. Die Uhr gibt laut die ersparten Sekundenwieder. Mit Vergngen denkt sie: >Htte ich soebendem ersten Wunsch nachgegeben und das Licht ange-zndet, so htte es bis jetzt schon fnf Minuten unntzgebrannt; aber siehe da, mit etwas Anstrengung kannman auch jetzt noch jeden Faden sehen und unterschei-den. < Ach das wei sie gut, immer kann man etwassparen, von allem kann man etwas abknappen: von derZeit, von der Wrme, vom Licht, von der Nahrung, vonder Rast. Immer, auch dann, wenn es ganz unmglicherscheint.

    Bei solchen Gedanken vergeudet das Frulein mitWonne ihr Augenlicht statt des elektrischen Lichts, bisihr die Trnen kommen und das Dunkel die Fden ver-mischt. Jetzt sieht man wirklich nichts mehr. Doch be-vor sie das Licht einschaltet, bleibt sie einige Augen-blicke so sitzen, die Flnde ber ihrer Arbeit gekreuzt,durchdrungen von dem schmerzlichen und zugleichfeierlichen Gefhl, da die uersten Grenzen der Spar-samkeit letztlich unerreichbar sind. Das macht sie nurtraurig, es entmutigt sie nicht. Wie weit und unerreich-bar die Grenzen sein mgen, so verdienen sie doch weit

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    mehr Anstrengung, Entsagung und Opfer als irgend-ein anderes Ziel, das der Mensch sich stellen kann. Jetzt,im ersten Dunkel, erscheint ihr das vollkommen klarund verstndlich, offensichtlicher als bei Tage, wenndie Sonne scheint, oder in der Nacht, wenn das Lichtbrennt.

    In ihrem jetzigen Leben, das aller ueren Gescheh-nisse und sichtbaren Vernderungen entbehrt, ist allesklar wie am hellichten Tage, und das Ferne erscheintnah. Und in diesem Halbdunkel neben dem erlosche-nen Ofen, ber der beendeten Arbeit, wird alles nochklarer und lebendiger. Die Vergangenheit rckt nher,die Erinnerungen kommen von selbst zum Vorschein.Ihr ganzes Leben, von den ersten Anfngen, das heitvom Tod des Vaters an, zieht an ihr vorber. Sie er-innert sich gern dieser Anfnge. Es war die lyrische Zeitihres Lebens.Auch die grten Wsten haben ihren Frhling, mag

    er noch so kurz und unmerklich sein.Damals ergriff ein Traum von ihr Besitz und erflltesie mit Phantasien. Natrlich nicht mit Phantasien von

    Liebe oder Kurzweil, sondern von Mitteln und Wegen,Geld zu gewinnen und das Gewonnene zu mehren undzu wahren.Aber Erinnerungen machen, einmal in Bewegung ge-raten, nicht bei den Anfngen halt.

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    II

    Die ersten Monate nach dem Tode des Vaters warentraurig, aber erhaben wie die Musik eines Totenmar-sches, die traurig und freudig zugleich klingt, weil dasLeben so beschaffen ist, da man leben und doch zuTode betrbt sein kann.Schon in diesen Tagen begann das Leben Rajkas sei-nen Weg zu nehmen, unerwartet, pltzlich und unab-nderlich.Damals war es noch sehr ungewhnlich, da ein

    weibliches Wesen, dazu in diesem Alter, seine Geschfteselbst erledigte, persnlich die Behrden aufsuchte undmit Geschftsleuten verhandelte. Aber ihr Fall wurdeals Ausnahme betrachtet und als solche hingenommen.Alle kannten gut das magere Mdchen mit den feurigenschwarzen Augen in dem gelben Gesicht, rmlich undgegen alle Mode gekleidet, ohne das weibliche Bedrf-nis, sich zu schmcken und zu verschnen. Alle wuten,da ihr Vater, Gadza Obren, als Opfer seiner Gte undseiner strengen, alten Auffassung von der Kaufmanns-ehre zugrunde gegangen und gestorben war. Und siealle behandelten sie dementsprechend rcksichtsvoll.Sie ntzte das in gehrigem Mae aus. Ohne ein ber-

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    flssiges Wort und das geringste Lcheln wandte sie sichan jeden mit bescheidenen Bitten oder bestimmtenWnschen. Und jeder bemhte sich, diesem traurigenMdchen, dessen Haus das Schicksal so arg mitgespielthatte, entgegenzukommen und zu helfen. So gelang esihr, manche gnstige Konversion durchzufhren undmanche Hrte des Gesetzes zu umgehen. Fr das Fru-lein ergaben sich die gnstigsten und mildesten Lsun-gen, die mglich waren, man gab ihr ntzliche Rat-schlge, wie man sie einem Geschftsmann niemals zugeben pflegt. Auf diese Weise gelang es ihr mit der Zeit,den Vermgensstand, den der Vater hinterlassen hatte,recht befriedigend zu ordnen, viele zweifelhafte Postenin seiner Buchfhrung zu sichern, Forderungen einzu-treiben, die man schon lngst verloren geglaubt hatte,und Papiere zu Geld zu machen, die bei anderen tot inder Kasse lagen.

    Bei diesen Geschften waren ihr der Vormund undPate, Gadza Mihailo, und der Direktor der Union-Bank,Dragutin Pajer, eine groe Hilfe.Gadza Mihailo war ein krnklicher und mderMensch, Nachkomme einer alten Kaufmannsfamilie inSarajevo, in der die Tuberkulose ihre stndigen Opferfand, obwohl es ihr nie gelang, die Familie ganz auszu-rotten. Immer hielt sich jemand aus der Familie zur Kurin irgendeinem Sanatorium der sterreichisdien Alpenoder an der See auf, meistens eine von den Tchternoder einer von den Shnen, aber jetzt auch von denEnkeln. In geschftlicher Beziehung war die Lage desHauses ebenfalls schwierig und verwid

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    begabte junge Mann mit dem zarten, schnen Krpereines Heiligen, doch mit einem sehr unruhigen Geist,galt in den ersten sechs Jahren als der beste Schler desGymnasiums in Sarajevo, als ein rechtes Wunderkind;dann jedoch begann er Verse zu schreiben, vernachls-sigte die Schule und lief noch vor der Reifeprfung nachSerbien davon. Jetzt lebte er in Belgrad als Dichter undBohemien. Lange Zeit hatte der Vater einen umfang-reichen und vergeblichen Briefw^echsel mit dem Sohngefhrt, aber jetzt war diese Verbindung lngst abge-rissen. Die Krankheit, die Trauer um den Sohn und diegeschftlichen Sorgen schwchten Gazda Mihailo undzehrten ihn aus, aber sie verliehen seiner ganzen Er-scheinung eine schmerzliche Wrde; das Gesicht mitden groen braunen Augen, die stets von all dem glnz-ten, w^as einen Menschen bedrcken und schmerzenkonnte und was Ansehen und Anstand ihn verschwei-gen hieen, erinnerte an die Bilder der spanischenMaler des Goldenen Zeitalters.

    Dieser Gazda Mihailo tat alles, da die Witwe GazdaObrens und ihre Tochter nicht ohne Dach und Brot blie-ben und da sie das Unglck, welches sie betroffenhatte, mglichst wenig versprten. Darin untersttztenihn alle serbischen Kaufleute der Carsija von Sarajevo,alle Verwandten, Freunde und Verehrer des unglck-lichen Gazda Obren. Unter ihnen tat sich besonders einAuslnder hervor, Direktor Pajer von der Filiale derBudapester Union-Bank. Dieser Mann mit dem eigent-lich deutschenNamen war in Wirklichkeit von ganz un-bestimmter Rasse und ohne richtige Nationalitt. SeinVater war ein Deutscher aus dem Banat, der sich inOsijek angesiedelt hatte, seine Mutter eine Kroatin aus

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    einer adeligen Familie, die sehr auf ihren Adelstitelhielt. Ihre Gromutter vterlicherseits hingegen wareine Rumnin und die Gromutter mtterlicherseitseine Ungarin. Gewhnlich kmpfen und ringen in sol-chen Menschen die verschiedenen unvershnlichenBlutstrme miteinander, doch in diesem Menschenflssen sie ruhig nebeneinander her und ergaben einungewhnliches und harmonisches Ganzes.

    Er war ein groer, schner Mann mit schtterem, an-gegrautem Haar, groen Augen und breiter, weicherGangart und Sprechweise. Verheiratet war er mit einerUngarin, einer reichen und verschrobenen Frau, dienicht bei ihm, sondern irgendwo auf ihrem vterlichenGut in Ungarn lebte. Sie hatten einen einzigen Sohn,einen schnen Jungen, der ebenfalls in einem Pensio-nat in Ungarn weilte. Seinen Fhigkeiten und Verbin-dungen nach knnte Pajer schon lngst eine hhereStellung bekleiden als jetzt, vielleicht knnte er einerder leitenden Direktoren in der Budapester Zentraleseiner Bank sein, aber er unterlie es nicht nur, sich dar-um zu bemhen, sondern blieb auf eigenen Wunsch indiesem Sarajevo, mit dem er vllig vertraut und ver-wachsen war. Er hatte eine reich und geschmackvoll ein-gerichtete Wohnung in der Logavina-Strae. Pajer warein leidenschaftlicher Jger und guter Tennisspieler. Erbesa eine schne Sammlung alter Waffen und volks-tmlicher Stickereien und eine gute Bibliothek mit B-chern der verschiedensten Sprachen,- er kaufte alte Bil-der und untersttzte junge einheimische Knstler, ohneje zu sagen, was er von ihren Arbeiten hielt. Die Lei-tung der Bank, die zu den ersten in Sarajevo gehrte undan der Uferstrae ein schnes, eigenes Gebude hatte,

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    betrieb er gewissermaen als Nebenbeschftigung; erarbeitete mit aller Ruhe, doch gut und sorgfltig.Der Direktor hatte nicht nur in geschftlichen Bezie-

    hungen zu Gazda Obren gestanden, sondern war ihmauch in langjhriger, aufrichtiger Freundschaft verbun-den gewesen. Nach Gazda Obrens Tode hielt er es frseine Pflicht, dessen Witwe und Tochter zu unterstt-zen und ihnen zu helfen, da sie sich zurechtfanden.Das tat er einfach, ruhig und ohne viele Worte, wie auchalles andere in seinem Leben.Dank diesen Leuten und dank der mnnlichen Aus-dauer Rajkas wurde die Hinterlassenschaft des GazdaObren Radakovic mit der Zeit auf die gnstigste Weiseliquidiert und die Frage nach der Existenz und dem Le-bensunterhalt seiner Familie glcklich gelst.Alle Geschfte Gazda Obrens auerhalb Sarajevoswurden eingestellt, und die Firma Radakovic in Sara-jevo bernahm dessen langjhriger GeschftsfhrerVeso Ruzic unter der Bedingung, mit den Erben aufden dritten Groschen zu arbeiten. Die Geschfte lie-en naturgem nach und gingen immer mehr zurck,aber beim Eingang in den Veliki Curciluk verblieb einkleiner Laden, eng, sauber, halbdunkel und fast leer,mit der groen alten berschrift oberhalb der Tr:Obien Radakovic Kommissions- und Agentaigeschft.Zu beiden Seiten stand noch in einem goldenen Kreisgeschrieben: Gegrndet iSS^, und darunter war in klei-nen, bescheidenen Buchstaben hinzugefgt: Eigen-tmei Veselin Ruzic.Dieser Veso vom Gazda Obren, wie ihn alle Leute

    seit jeher nannten und den auch jetzt niemand GazdaVeso nannte, hatte sein Leben an der Seite seines Herrn42

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    zugebracht und sah es als natrlich an, auch weiterhinim Schatten seines Namens zu bleiben, zu behten, wasbriggeblieben war, und der Familie zu dienen. Veso,ein Waise unbekannter Abkunft er stammte irgend-woher vom Lande , wirkte unreif, war klein, rundlich,pausbckig und ohne Schnurrbart; er hatte eine feineStimme und einen groen Kopf mit einem roten, vor-zeitig gefurchten Gesicht. Dieser kleine Mann, der ne-ben seinem mchtigen Gazda wie ein Wesen ohne eige-nen Willen und selbstndiges Denken ausgesehenhatte, war in Wirklichkeit ein ausdauerndes, verschwie-genes Buerlein. Seine Kleidung sah schlicht, aber rein-lich und nett aus. Seine Frau Soka war ebenso klein,blond und rundlich wie er. Sie lebten im oberen Teil derStadt in einem kleinen Huschen, das vor Sauberkeitund Ordnung glnzte; es war wei getncht und gutinstand gehalten, in den Fenstern und auf dem winzi-gen Hof sah man Blumen. Die beiden hatten keine Kin-der und lebten friedlich und eintrchtig wie zwei Tur-teltauben miteinander.

    Jetzt, nach dem Tode des Herrn, sa er den ganzenTag im Laden, sorgenvoll und einsam wie ein Waisen-kind. Ohne die Untersttzung seines Gazda fhlte ersich verlassen und schwach, doch sein Verstand arbei-tete, so schnell er nur konnte, und die uglein und klei-nen roten Hnde waren unaufhrlich in Bewegung.Auch in diesem Unglck zeigte er sich nicht nur an-hnglich, sondern auch auf seine Art und Weise klug und geschickt.Schon in den ersten Wochen ging Rajka tglich in den

    Laden. Dort sah sie mit Veso die Bclier und Reclinun-gen durch und besprach alles Ntige. Ohne zu reden.

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    dster und gelassen^ machte sie sich mit der Buchhal-tung, der Handelskorrespondenz und der ganzen Artder Geschftsfhrung bekannt. Vergeblich sagte manihr, da das keine Beschftigung fr ein weibliches We-sen sei, noch dazu in ihrem Alter. Sie brachte hier tg-lich ein bis zwei Stunden neben Veso zu, nicht etwa,weil sie kein Vertrauen zu ihm hatte, denn so etwaswre keinem Menschen eingefallen, auch nicht, weildie Geschfte es verlangten, denn soviel war jetzt nichtzu tun, sondern weil sie lernen, Erfahrungen sammelnund sehen wollte, wie von dieser Seite der Mechanis-mus aussah, in dem ihr Vater umgekommen war undden sie jetzt immer besser kennenlernte, da sie die Ban-ken und mter aufsuchte und ihr und der Mutter klei-nes, ungesichertes Vermgen in Ordnung brachte. Undschon das bloe Sitzen in dem halbdunklen, khlen La-den neben diesem Veso, der wie eine lebende Erinne-rung an Gazda Obren aussah, kam ihr vor wie einDienst an dem Vermchtnis, das ihr der Vater hinter-lassen hatte.Aber neben dem Laden und neben ihren Verhand-

    lungen mit Geschftsleuten und mtern verga Rajkanicht ihr Haus. Auch hier begann sie mit der Zeit ihreneigenen Willen durchzusetzen.

    >}etzt ist das Haus in meinen Hnden

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    soweit er sich auf sie bezog und soviel sie von ihmwissen mute.

    Es ist Vaters Wunsch, da wir sparen und wenig-stens auf diese Weise das bel gutmachen, das uns dieLeute zugefgt haben. Das habe ich ihm versprochen.Wir mssen gleich damit beginnen. Von jetzt an wirddas groe Besuchszimmer nicht mehr geheizt, auch derLehmofen im Vorzimmer nicht. Wir heizen dein Schlaf-zimmer, in dem du auch sonst die Tage verbringenwirst. Fr Bedienung, Kost und alles brige sorge vonnun an ich. Du ruhe dich aus und kmmere dich umdeine Handarbeiten.

    Frau Radojka weinte, so wie sie in diesen Tagen beralles weinte, was man zu ihr sagte. Sie hatte die Bedeu-tung dieser Worte noch nicht voll erkannt.Im folgenden Monat rief das Frulein Simo zu sich,den Burschen, der das Pferd und die Kuh besorgte, Holzspaltete, Wasser zutrug und all jene groben Arbeitenverrichtete, die im Hause eines Kaufmanns zu tun sind.Seit der Hochzeit Gazda Obrens lebte er hier im Hause.Er war allein, ohne Frau und Familie, ein krftiger,schlichter und gutmtiger Mensch, wie geschaffen, ewigDiener zu sein und das Leben seiner Herrsdiaft zu le-ben. Er trat vor sie, whrend er sich mit der linken Handber den braunen, lockeren Schnurrbart strich.Simo, ich habe dich gerufen, um dir zu sagen, dasich seit dem Tode meines Vaters in unserem Hause al-les gendert hat. Die Leute haben uns genommen, wasihnen und was uns gehrt. Deshalb mssen wir jetzt anuns denken und uns berlegen, wie wir zu Rande kom-men und uns einsdirnken knnen.

    Schn, Frulein Rajka, lassen Sie uns berlegen.

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    Wir werden, fuhr das Frulein fort, als ob sie ihnnicht gehrt htte, auch das Pferd und die Kuh ver-kaufen und deshalb keinen Burschen mehr brauchen.

    Wie?Ich wollte dir sagen, da du bis zum i. Januar hier-

    bleiben kannst und da du dir schon jetzt eine Stellesuchen sollst.Simo wandte sich um und schaute in die Runde, als

    suchte er einen erwachsenen und verstndigen Men-schen neben diesem Mdchen, das nicht wute, was essprach.Und ich habe geglaubt, da Sie gerade jetzt ein

    Mannsbild im Hause brauchen. Ich frage nicht nach derBezahlung. Am Demetriustag waren es siebzehn Jahre,da ich zum seligen Herrn gekommen bin. Seinetwe-gen mchte ich Sie und die Frau nicht um alles in derWelt verlassen, und sollte ich selbst von Wasser undBrot leben.

    Seine Stimme wurde dunkel, und seine Augen um-sdiatteten sich.Das Mdchen fhlte, wie in ihrer Brust etwas erbebte,

    etwas Ses und Gefhrliches zugleich; es war ein Ge-fhl, als beugte sie sich ber einen tiefen AbgRind. Dasbrachte sie ins Wanken, doch gleich darauf dachte sie,da es einer jener Augenblicke der Schwche sei, vondenen der Vater auf dem Totenbett gesprochen hatte,-sie hob ihren Kopf noch hher und sagte khl undschrfer als beabsichtigt:

    Ich wei, Simo, da du immer ein guter Menschwarst und da dich mein Vater gern hatte, aber jetztkommen fr uns solche Zeiten, da es besser ist, wenndu dich mglichst bald nach einer Stelle umsiehst.

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    Der vierschrtige Mensch ging verwirrt und traurighinaus, und das Mdchen rief nach der Kchin Rezika.Auch sie war schon sechs Jahre im Hause, eine krftigeFrau, etwas schroff und eigenwillig wie alle guten K-chinnen in der Welt. Das Mdchen wurde noch steiferund richtete sich noch mehr auf, wie zu einer General-probe.

    Rezika, du weit, da wir mit dem Vater alles ver-loren haben. Auch das Leben im Hause mu sich n-dern. Es wird bei uns keine Gste und kein groes Ko-chen mehr geben. Deine Arbeit wird von nun an gerin-ger sein, und auch ich will im Hause helfen. Teure Be-dienung knnen wir uns nicht mehr leisten. Simo habeich bereits gekndigt. Dich knnten wir behalten, aberfr zwanzig Kronen monatlich statt vierundzwanzigwie bisher. Wenn es dir so recht ist, knntest du blei-ben. berlege es dir bis morgen und gib mir dann Be-scheid. Das Geld fr die huslichen Bedrfnisse ver-walte von nun an ich. In der ersten Zeit gehen wir je-den Morgen gemeinsam auf den Markt.Bestrzung und wahrer Aufruhr machten sich "breit,nicht nur im Hause, sondern auch in der Nachbarschaftund bei den entferntesten Verwandten und Bekannten.Verschiedene Verwandte ermahnten die Mutter, nichtzuzulassen, da dieses unreife und eigenwillige Md-chen im Hause herrsche. Aber die Mutter konnte nurweinen oder lcheln. Gazda Mihailo kam und riet,nichts zu bereilen, denn die Vermgenslage sei zwarschwierig, die Not jedoch nicht so gro, da man dasHaus ganz zusperren msse. Das Mddien antworteteruhig, da sie am besten wisse, was der Vater in derSterbestunde zu ihr gesagt habe, und wenn sie auch

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    noch nicht volljhrig sei fr andere Entscheidungen, soknne sie doch in ihrem Hause schalten und walten,wie sie wolle.Zu Neujahr verlie Simo tatschlich das Haus. Re-zika blieb noch zwei Monate bei geringerem Lohn, ln-ger konnte sie es nicht aushalten. Das Frulein pflegtemit ihr auf den Markt zu gehen, wo sie mit jedem Tagdie Ausgaben weiter verringerte und zugleich dieMenge und Gte der gekauften Lebensmittel herab-setzte. Schlielich lief Rezika die Galle ber. Weinendverabschiedete sie sich von der Frau, und dann erzhltesie in den Nachbarhusern, da sie lieber einer Eska-dron Husaren diene als diesem Ungeheuer von einemKind, das noch in die Sagenwelt eingehen werde, wennes so weitermache.Das Frulein nahm ein Mdchen fr die gesamte

    Hausarbeit. Sie fhrte jetzt mit der Mutter die Kche.Die Verwandten und Freundinnen, die ihr zu BeginnRatschlge erteilt hatten, wurden ihrer Halsstarrigkeitbald mde und lieen sie nach ihrem Kopf wirtschaf-ten. Und sie arbeitete planvoll und mit Geduld. Jedenihrer Entschlsse fhrte sie schnell und unerbittlich aus,aber sie dachte lange darber nach, bevor sie ihn fate,und zwischen den einzelnen Entschlssen lie sie gen-gend Zeit verstreichen; die Zeit half ihr, gefate Ent-schlsse zu verwirklichen und neue zu fassen.Solange ihr Onkel Vlado lebte, konnte er ihr man-cherlei bertreibungen ihrer Sparsucht ausreden undsie dazu bewegen, die Verbindung zur Welt nicht ganzabzubrechen. Seiner Schwester, ihrer Mutter, brachte erGeschenke, damit sie die zugedrckte Hand und diestrenge Gemtsart ihrer Tochter mglichst wenig fhle.

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    Mit ihm konnte man noch lachen und scherzen, denn erwar einer von jenen Menschen, denen man einenWunsch schwer abschlgt und eine Snde leicht ver-zeiht. Selbst der Kampf, den er und Rajka ununterbro-chen ihrer Sparsamkeit und seiner Verschwendung we-gen fhrten, hatte etwas Frhliches und Gutmtiges.Wenn sie ihn am wenigsten erwarteten, kam er her-eingeschneit. Er traf Rajka bei schwerer Arbeit an, miteinem Tuch um den Kopf, staubig und ruig bis zu denEllenbogen.Komm, mach dich fertig! Ich bin gekommen, um

    dich zu einem Gefrorenen im >Benbasa< einzuladen.Eine ganze Gesellschaft ist da.

    Gott mit dir, du siehst, wie ich ausschaue! So einschner Tag, da habe ich begonnen, den Dachboden zuentrmpeln und zu reinigen.Der Boden luft dir nicht davon. Also, zieh dich an!

    Die Droschke wartet.Droschke, sagst du? Oh, bei Gott, du bist reif fr die

    Irrenanstalt!Sie schaute durchs Fenster und sah eine neue, gln-zende Droschke und einen Kutscher mit rotem Fes aufdem Kopf und mit einer Blume auf der Peitschenspitze.Schon der Gedanke, da der Kutscher stundenweise be-zahlt werde und da mit jeder Minute die Ausgabewachse, fgte ihr einen unertrglichen Schmerz zu, alsverlre sie ihr Blut tropfenweise. Sie bedecl

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    Komm, wenn dir etwas an meinem Leben liegt!Wenn du so bist, wre es besser, du lebtest nicht.Aber wer konnte sich in seinem Beisein wirklich r-

    gern und ernst bleiben?Im Zimmer begann ein Laufen, Lachen und Sich-

    struben. Schlielich einigten sie sich: Er wrde denKutscher entlassen (denn das teure Warten konnte sienicht ertragen), und sie wollte sich waschen und anklei-den. Dann gingen sie zu Fu durch die Stadt. Er schn,lchelnd, im weien Anzug aus japanischer Seide, miteiner Rose im Knopfloch, sie dagegen finster, abgezehrt,mit einer Frisur, die keinen Namen hatte, und einemRock, der hinten lnger war als vorn.

    Es geschahen noch dmmere und wunderlichereDinge, denn bei ihm war kein Wunder ausgeschlossenund unmglich. Eines Morgens erschien er bei ihnen imHause, unausgeschlafen, staubig, lchelnd, mit einemkleinen Lamm im Arm.Immer sagt ihr mir, da ich nicht arbeite und nichts

    verdiene, meinte er lachend, aber seht, ich habe michim Ernst dem Handel und der Landwirtschaft geweiht.Hier bringe ich euch die erste Frucht meiner Arbeit.Doch als er sich gesetzt und alles erzhlt hatte, sah

    man, worum es sich handelte.Mit zwei Freunden, solchen wie er, war er zur Bosna-

    quelle gefahren. Dort hatten sie bei Musik und Zech-gelage die ganze Nacht verbracht. (Was ist eineSommernacht? Nichts. Wenn du dich umdrehst, ist sievorber!) Bei Sonnenaufgang fuhren sie in einer Kut-sche zurck nach Sarajevo. Unterwegs stieen sie aufeine ganze Herde Schafe, von denen einige erst kurzvorher gelammt hatten. Ihr Kutscher kam nur schwer

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    durch die dichte, wogende Masse, die nach Wolle, Milchund Staub roch. Zuerst rgerten sie sich darber, schlie-lich aber kam ihnen das Ganze amsant vor.

    Junge Leute, die eine ganze Nacht mit Gesang undTrunk verbracht haben, besitzen an solchen sommer-lichen Sonnenaufgngen ein weites Herz und versp-ren groes Verlangen nach khnen Streichen. Es gibtkeinen Gedanken, der ihnen in diesen Stunden nichteinfiele und den sie nicht bereit wren auszufhren.Einer von den Freunden machte den Vorschlag, dieganze Schafherde gemeinsam zu erwerben, nach Sara-jevo zu treiben, dort zu verkaufen und den Gewinn zuteilen. Alle drei waren begeistert. Der Mann, der dieHerde trieb, war ein Lohnknecht, er sagte ihnen, dasein Herr in Alipasin Most zu finden sei. Als sie insGasthaus von Alipasin Most kamen, trafen sie dort aufeinen dicken, verschlagenen Dorfspekulanten, der denVorschlag der lustigen herrschaftlichen Burschen ab-lehnte. Als sie aber ernsthaft und zh auf dem Geschftbestanden, begann er den Preis zu steigern. Die Sacheendete mit einer phantastischen Verkaufssumme, diewenigstens dreiig Prozent ber dem Marktpreis lag.Die jungen Leute schtteten ihr ganzes Geld aus, dassie bei sich hatten, kauften einundsechzig Schafe undelf Lmmer und trieben ihr Vieh auf Sarajevo zu. Abersdion unterwegs flaute ihre Begeisterung ab, und sie be-reuten ihr Tun, noch ehe sie die Stadt erreicht hatten.Da Markttag war, begaben sie sich auf den Viehmarkt.Dort sahen sie erst, da es niclit leicht war, soviel Viehauf einmal zu verkaufen. Als sie es satt hatten, lieensie einen Mann zurdc, da er den Verkauf durchfhre.Natrlich mit einem unvermeidlichen Verlust.

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    Rajka lachte ber diese Dummheit und weinte vorZorn ob des leichtsinnigen Verlustes und der Verspielt-heit dieser jungen Leute, die bereits Geschftsinhaberund Hausherren sein mten. Immerfort wollte sie wis-sen, wieviel sie fr ein Schaf gezahlt htten undwie groder Verlust sein werde. Aber Vlado lachte nur, und stattzu antworten, hielt er ihr sein weies, friedliches Lammins Gesicht.

    DiesesLamm blieb in ihrem Hause,wurde ganz zahmund lebte bei ihnen wie ein Hndchen. Sie gewannendas Tier so lieb, da sie es nicht bers Herz brachten, eszu schlachten, sondern es einem Fleischer verkauften.Dann kam das letzte Jahr Onkel Viados, sein drei-undzwanzigstes Lebensjahr, eine hliche, schwereZeit voller Schulden, Prozesse und Pfndungen; sein Le-ben wurde immer unerquicklicher, und zum Schlukam noch Krankheit hinzu. Er starb in Dubrovnik ganzeinsam in einem Hotel; am zweiten Tag nach seinerAnkunft erstickte er an einem Blutsturz. Das Hotelper-sonal schleppte die wenigen wertvollen Gegenstndefort, die er noch besa. Auch zum Sterben hatte er sichdie teuerste Art und Weise ausgesucht, die es gab!Rajka wurde danach immer einsamer, sie wute

    selbst nicht, wie, wann und warum. Auch die nchstenAltersgenossinnen bekamen sie immer seltener zu Ge-sicht. Die Freundinnen ihrer Mutter kamen noch eineZeitlang zu Besuch. Als Rajka jedoch sah, wieviel Kaf-fee und Zucker bei diesen migen Gesprchen vergeu-det wurde, begann sie den Kchenschrank abzusperrenund den Schlssel bei sich zu tragen. So stellten auch sieallmhlich ihre Besuche ein. Nur die Verwandten v-ter- und mtterlicherseits verkehrten immer noch bei

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    ihnen gem den mchtigen Gesetzen der verwandt-schafthchen Bindungen, die bei uns auch dann nochgelten, wenn alles andere nachlt, sowie gemdem alten Grundsatz all unserer brgerlichen Familien:Mag er sein, wie er will, er ist einer der Unsrigen. Siekamen unmutig und mit mannigfaltigen Befrchtun-gen, und sie fragten sich stets, welch unangenehmeberraschung sie diesmal erleben wrden. Denn die-ses Haus, das einst in jenem warmen berflu strahlteund glnzte, der nicht so sehr vom Reichtum als viel-mehr vom Herzen und dem angeborenen Edelmut desHausherrn herrhrte, wirkte jetzt von Jahr zu Jahr kh-ler und unfreundlicher. Kein Gegenstand war aus demHause getragen worden, doch alles, was durch Gebrauchabgentzt und was beiseite gelegt werden konnte, warden menschlichen Hnden, Fen und womglich denBlicken entzogen. Dem Frulein schien es, als spartendie in den Schrnken und Truhen eingeschlossenen Sa-chen zusammen mit ihr, whrend jene, die in Gebrauchwaren, tglich etwas verloren, denn jede Berhrung,jeder Blick fremder Augen nahm ihnen etwas. Die er-steren kamen ihr vor wie ein Kapital, das sich im Ver-borgenen mehrte, all die anderen wie eines, das sich,offen und unverteidigt, wie es war, verringerte und zer-schmolz, sich selbst verzehrte und weitere Auslagen ver-ursadite. Aber auch das, was in Gebrauch blieb, vern-derte sich auf unerklrliche Weise. Alles stand da, alswre es miteinander verfeindet.Man konnte nicht sagen,da das Haus unrein oder verwahrlost gewesen wre,aber es war weit von jener hellen und gesunden Rein-lichkeit entfernt, die in glcklidien Husern zu beob-achten ist, denn der Geiz ist eine von den Leidenscliaf-

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    ten, die mit der Zeit auch den physischen Schmutz nachsich ziehen. Hier lebte man noch von der frherenReinhchl

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    brgerliche Gesellschaft hat das nicht so angesehen. Frsie waren das Menschen Gottes, ein Gegenstand all-gemeiner Sorge und Verpflichtung. Waisenkinder, vonGeburt an verkrppelt und unglcklich, mit ausge-streckter Hand und unstetem, mal bsem, mal furchtsa-mem Blick. Taubstumme, geistesschwache oder sonst-wie unglckliche Frauen, die nicht arbeiten knnenoder nach allgemeiner Auffassung und mit allgemeinerZustimmung nicht zu arbeiten brauchen. Hinfllige,doch heiter dreinblidcende Greise, das Gesicht vom Bartumwuchert, in Kleidern, die aus lauter Flicken zusam-mengesetzt sind, mit einem Brotsack auf dem Rckenund einem Stab in der Hand; sie gleichen dem liebenGott aus den Legenden, wie er als Bettler verkleidetdurch die Welt wandert, um die Herzen der Menschenzu prfen, um zu erforschen, wer wrdig ist, reich undglcklich zu sein, und wer nicht. Sie alle stellen fr je-des reiche oder auch nur vermgende Haus eine Art gu-ter Geister dar, einen lebendigen Beweis, da Wohl-stand und Aufschwung in diesem Hause von Dauersind. In ihnen sehen die vermgenden Leute eineBesttigung der unbegreiflichen, doch ewigen Rat-schlsse einer gttlichen Vorsehung, der zufolge dieeinen alles haben und immer haben werden, whrenddie anderen nichts haben und nie etwas haben werden,obwohl die ganze Welt sie um Gottes Lohn beschenkt.Da sie ihren festen Wege- und Zeitplan haben, er-scheinen sie in den einzelnen Husern an bestimmtenTagen oder sogar zu bestimmten Stunden, empfangenihien Kreuzer oder ihr Stck Brot als Teil dieses Gutesund Besitzes, auf das sie ein unverbrieftes, doch heiligesRecht haben, und ziehen weiter, whrend sie den Haus-

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    Vtern ihre Segenswnsche schenken, die mehr sind alsleere Worte, und sie noch mehr das Glck und dieFreude ber das empfinden lassen, was Gott gegebenhat, was die Menschen und das Unglck nicht habennehmen knnen und was das Almosen dieses Lse-geld schtzt und erhlt.

    Dieses Betteln hat bei uns nicht denselben Sinn unddie gleiche Bedeutung wie in den Lndern Westeuropas.Die Bettler dort sind grtenteils lasterhafte Menschen,Schmarotzer und Betrger, die nach Opfern suchen,whrend unsere Bettler (wenigstens nach unserenorientalischen Begriffen) selbst Opfer sind, Geschpfe,die auf ihrem Rcken einen unvermeidlichen Teil desgesellschaftlichen Elends tragen, eben dadurch zu Glu-bigern aller anderen werden und am Gldc der Glck-lichen und am Reichtum der Reichen teilhaben. DasBetteln bei uns lt (oder lie) sich nur im engsten Zu-sammenha-ig mit unserer brgerlichen und kaufmn-nischen Auffassung vom menschlichen Schicksal undmit unserer Lebens- und Erwerbsweise erklren. Esstellt einen notwendigen, alten und bestndigen Aus-tausch zwischen den Besitzenden und jenen dar, die un-glcklich und bedrftig sind, eine natrliche und aner-kannte Art, zu ersetzen und wiedergutzumachen, wasman anders nicht gutzumachen vermochte oder ver-stand. Infolgedessen wurde die Bettelei nach stiller,alter berlieferung als etwas Heilsames und Gerechtesangesehen, als etwas, das gleichermaen notwendigwar fr die Gebenden wie fr die Nehmenden.

    In dem Hause waren die Bettler in den letzten acht-zehn Jahren herzlich aufgenommen und reich be-schenkt worden. Das wute man. Jetzt begann sich

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    auch das zu ndern. Nur sah das Frulein ein, da manhierbei nicht so schroff und grob verfahren knne wiein der Dienstbotenfrage. Ihre Mutter, die in allem nach-giebig war, zeigte sich in dieser Angelegenheit lange wi-derspenstig. Fr sie war das Beschenken der Bettler einetiefvei'wurzelte, heilige Pflicht; diese Auffassung hattesie aus ihrem Vaterhaus mitgebracht und auch in demFfause vorgefunden, in das sie geheiratet hatte. Siekonnte sich nicht denken, da man an dieser so heih-gen Einrichtung rhrte, solange auch nur ein StckchenBrot im Hause war. Deshalb konnte Rajka diesenBrauch nicht pltzlich abbrechen, doch nahm sie vonnun an das Beschenken der Bettler wie alles brige inihre Hand.Die Bettler sprten sofort diese Hand. Sie empfing sie

    jetzt auf ihre Art und Weise: streng, khl, mit scharfemBlick prfend, wer Hilfe verdiente und wer nicht; siesuchte in den Lumpen der Bettelnden Spuren heim-tdvisch verborgenen Reichtums und in ihren Krper-fehlern Unaufrichtigkeit und Verstellung zu ent-decken. Die meisten von ihnen hatten sie schon alsKind gekannt und grten sie, indem sie ihr mit derHand winkten, einen Gru murmelten oder ein arm-seliges Lcheln aufsetzten und vergeblich darauf war-teten, da auch sie lchle.Wenn sie feststellte, da der Bettler wirklich alt undschwach war und da sie keine Ausrede hatte, ihn ab-weisen zu knnen, schlo sie die Haustr ab und gingin die Kche. Dort nahm sie ein Stdc altes Brot undharten Kse und kam zurcl

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    sie sich erst im Gang, da irgendein noch bedrftigererBettler kommen knne, kehrte in die Kche zurck undHe den Kse im Schrank. Sie nahm nur das rot mitsich, aber als sie es unterwegs betrachtete, kam ihr dasStck zu gro vor; wieder ging sie nun in die Kche,halbierte das Brot und lie die Hlfte im Korb. Als sieschon mit dem, was sie schlielich fr den Bettler be-stimmt hatte, gehen wollte, gab es ihr einen Ri, sienahm wiederum das Messer und schnitt auch von die-sem Stck eine dnne Scheibe ab. Und als sie dem Bett-ler das Stck in die Hand gab, betrachtete sie noch im-mer das Brot und den Gesichtsausdruck des Bettlers, umabzuschtzen, ob sie sich nicht etwa getuscht und zu-viel gegeben habe.

    Jeder Anla war fr sie gut und hinreichend genug,einen Bettler abzuweisen und davonzujagen. Einerhatte vergessen, das Hoftor zu schlieen, ein andererhatte mit seinen bloen Fen Straendreck hereinge-tragen und das feine, weie Pflaster beschmutzt, dasihren Hof vor allen Kaufmannshfen in Sarajevo aus-zeichnete. Eines Tages las sie wieder in der Zeitung, dain Paris eine Bettlerin in Elend und Lumpen gestorbensei und da man spter in ihrem Strohsack Ersparnissein Hhe von 250 000 Franken gefunden habe. Dasdiente ihr als Vorwand, eine ganze Woche alle Bettlerabzuweisen, indem sie sie beschimpfte, sie verstelltensich nur, und in Wirklichkeit lgen sie auf dem Gelde.

    So ging es Tag fr Tag, Monat fr Monat. Schlielichgeschah etwas, was fr ein Kaufmannshaus, in demnoch ein menschliches Wesen lebte, unerhrt und un-denkbar war. Die Bettler kamen immer seltener, bis sieschlielich ganz wegblieben. Frau Radojka beklagte sich

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    bitter, da kein Mhseliger und kein Beladener berdie Schwelle ihres Hauses komme. Oft stand sie amFenster und schaute erschrocken und besorgt auf dieStrae, dann konnte sie mit eigenen Augen sehen, wiebekannte Bettlergestalten vorbeischlpften und um ihrHaus einen Bogen machten, als sei es verpestet oderausgestorben. Sie weinte und grmte sich darber, alsmte sie selbst auf etwas verzichten, ihr war, als httesie ein schwerer, unberwindlicher Fluch getroffen.Planmig und nacheinander befreite sich das Fru-

    lein von allem, was sie ihrer Meinung nach auf ihremWege behinderte, dessen Endziel sie niemandem ver-riet und auch sie selbst nicht klar und vollstndig vorsich sah. So kam der Termin heran, da ihre Versiche-rung ablief. Mit Beginn des neuen Jahres sollte dasFrulein zwanzigtausend Kronen von der Versiche-rungsgesellschaft in Triest erhalten.Ende Januar erschien bei ihnen dann auch tatschlich

    Gazda Mihailo, Rajkas Vormund einfach und ruhigwie immer, doch etwas feierlicher als sonst, fast ge-rhrt. Er atmete schwer, denn sein Asthma machte ihmstark zu schaffen und behinderte ihn bei der Arbeit.Er kam, um ihr mitzuteilen, da die Gesellschaft ihreVersicherungssumme ausgezahlt habe und der Betragauf ihren Namen in der Union-Bank eingezahlt wor-den sei.Das Frulein nahm die Nachricht ohne die mindeste

    Aufregung entgegen. Nur die Falte zwischen den Augenverdoppelte sich und zeigte, da sie angestrengt nach-dachte.Der Vormund zeigte ihr die Papiere, aus denen zuersehen war, da die Gesellschaft die ganze Summe

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    nach Abzug von sechsundsiebzig Kronen fr Gebhrenund Spesen ausgezahlt hatte. Gleichzeitig teilte er ihrmit, da die Gesellschaft, die sich in allem sehr entge-genkommend gezeigt habe, erwarte, das Frulein werdegestatten, da in den Zeitungen Sarajevos die blicheAnerkennung fr die rasche Erledigung und die kulanteAuszahlung erscheine.

    Ich erlaube es, doch unter der Bedingung, da dieGesellschaft die sechundsiebzig Kronen Spesen auf sichnimmt. Sonst nicht.Gazda Mihailo schaute das Mdchen berrascht anwie ein Mensch, der seinen Ohren nicht traut und mitseinen Augen das Gehrte berprfen will. Er bemhtesich, ihr sorgfltig auseinanderzusetzen, da es nurrecht und billig sei, wenn sie ihre Zustimmung gebe,da diese ffentliche Danksagung in den Zeitungen er-scheine, und da es unmglich sei, dies mit den Spesenzu verbinden, die nach den Statuten der Versichertetragen msse. Alle tten es, und die Gesellschaft habees vollkommen verdient; auerdem koste es Rajkanicht das geringste.Mich kostet es nichts, aber die Gesellschaft hat einen

    Nutzen davon, und deshalb mu sie mir etwas zahlen,wenn sie will, da die Anzeige in den Zeitungen er-scheint.Gazda Mihailo verlie hstelnd das Haus, und die

    seltsamsten Gedanken ber dieses Mdchen gingenihm durch den Kopf.Die Danksagung erschien nicht. Aber Gazda Mihailo

    sollte noch grere berraschungen mit seinem Paten-kind erleben.

    Eines Tages, kurze Zeit darauf, erschien das Frulein

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    in Gazda Mihailos Laden^ und da sie ihn allein antraf,teilte sie ihm kurz und bndig mit, da sie beabsichtige,von dem Gesetz Gebrauch zu machen, das ihr die Mg-lichkeit gebe, sich mit Rcksicht auf besondere Verhlt-nisse bereits mit achtzehn Jahren fr volljhrig erklrenzu lassen. Sie zhlte alle Grnde auf, die sie dem Ge-richt angeben wolle: das Geschft, das nach dem Todedes Vaters mit Schulden belastet sei, die Krankheit desVormunds und seine Inanspruchnahme durch eigeneGeschfte, die alte Mutter, die sie unterhalten msse,ihre Erfahrung und ihren Willen, die Geschfte selbstzu fhren, die in diesem Falle lebendiger und besserverlaufen wrden. Und jetzt bitte sie um sein Einver-stndnis.Gazda Mihailo sah sie mit seinen mden und vor-

    zeitig gealterten Augen an, in denen sich schmerzlicheberraschung und Verwunderung spiegelten. Er be-gann sich eine Zigarette zu drehen, schaute auf seineFinger und sagte ruhig: Gut, mein Kind, aber habe icheure Geschfte bisher schlecht gefhrt?Nein, Pate Mihailo, da sei Gott vor! Doch du siehstselbst, wie unsere Sache steht. Und warum sollst dudich auch noch mit unseren Sorgen herumqulen,whrend ich doch so jung und gesund bin? Idi werdestets deinen Rat einholen, aber es ist besser, wenn ichunsere Geschfte selbst erledige. Das war auch VatersWunsch.Gazda Mihailo schaute das Mdchen an, als erblickte

    er es jetzt zum erstenmal, und suchte angestrengt in sei-nem Gesicht die Zge des Kindes zu entdedcen, das ereinst gekannt hatte.

    Schlielich stimmte er zu. Alles andere besorgte

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    Rajka. Sechs Wochen nach dieser Aussprache brachte ihrder Rechtsanwalt den Gerichtsbeschlu, auf Grund des-sen sie fr volljhrig erklrt wurde.Als es Gazda Mihailo mitgeteilt wurde, nahm er die

    Sache gut auf; er zeigte keine Spur von Unmut undverbarg seine Besorgtheit.Du hast, sagte er leise und feierlich, nach dem Ge-

    setz die Freiheit, das Deine zu verwalten, aber fr michbist du wie mein eigenes Kind, und ich mache keinenUnterschied zwischen dir und meinen Kindern. Wasimmer ihr braucht, an meiner Hilfe und meinem Ratsoll es nicht fehlen. Damit du es weit!Das Frulein dankte ihm, aber sie uerte sich nicht

    ber die Art und Weise, wie sie das Geld, das sie vonder Versicherung erhalten hatte, einzuteilen und zuverwenden gedachte. berhaupt hatte sie in der letz-ten Zeit mit ihrem Vormund immer weniger ber ge-schftliche Dinge gesprochen. Jetzt wich sie einem sol-chen Gesprch geradezu aus. Sie sprach nur mit denen,die sie brauchte, und nur ber das, worber sie sprechenwollte. Ohne Not wnschte sie niemand auch nureinen guten Tag, schon frher nicht und jetzt, da sie zuihrem Geld gekommen war, erst recht nicht.

    Nicht nur Gazda Mihailo, sondern auch DirektorPajer und die ltesten und erfahrensten Kaufleute wun-derten sich sehr, mit welcher Umsicht Rajka ihr Geldvon der Versicherung bernahm, wie sie es schnell,klug und unbemerkt anlegte, nach allen geheiligtenRegeln kaufmnnischer Wirtschaft. Und sie ging ihrenWeg, auf dem sie sich weder von Schmeichelei und Ta-del verwirren oder erschttern noch durch Rcksichtenaufhalten lie. Ihr Geld begann zu arbeiten.

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    In Wirklichkeit hatte es schon seit einiger Zeit zu ar-beiten begonnen.Mit der Zeit merkten alle, da das Frulein schon

    lngst nicht mehr um die Liquidation des vterhchenErbes und die Sicherung ihres Hauses bemht war, son-dern sich in ganz neuen Geschften bettigte, die sieselbst ersann und durchfhrte. Dennoch kamen ihr alleauch weiterhin entgegen und empfingen sie als dieWaise Gazda Obrens immer auer der Reihe und unge-whnlich liebenswrdig.Da aber ihr Kapital jetzt pltzlich anwuchs, hatte sie

    es weniger ntig, an fremden Schwellen zu bitten. Inden wenigen Jahren hatte sie Menschen, Einrichtungenund Geschfte kennengelernt; jetzt konnte sie selbstNeuigkeiten und Vernderungen auf dem Geldmarktvon Sarajevo verfolgen, und z^var nicht auf jenem gro-en, ffentlichen, sondern auf jenem kleinen und ge-heimen, aber uerst lebhaften Geldmarkt, der fr diemeisten Menschen unsichtbar bleibt, den jedoch un-glckliche und lasterhafte Menschen, die Sklaven hoherZinsen und unerbittlicher Termine, nur zu gut kennen.Im brigen begannen jetzt die Menschen sie aufzu-

    suchen.

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    III

    Sarajevo um das Jahr 1906! Eine Stadt, in der sichEinflsse kreuzen, Kultursphren mischen und verschie-dene Lebensweisen und einander widersprechende Auf-fassungen zusammenstoen. Aber alle diese verschie-denen Klassen, Konfessionen, Nationalitten und ge-sellschaftlichen Gruppen haben eins gemeinsam: allebrauchen Geld, und zwar viel mehr, als sie besitzen.Vor allem gibt es eine groe Zahl von einfachen Men-schen, die nicht einmal das Notwendigste haben. IhrLeben ist nichts anderes als ein unendliches Verlangenund eine ewige Jagd nach Geld. Aber auch von denen,die etwas haben oder so aussehen, als htten sie etwas,wnscht jeder mehr und Schneres zu besitzen, als erhat. Von alters her war Sarajevo eine Stadt des Geldesund des Geldhungers, aber zu dieser Zeit ist sie es mehrdenn je. Unsere brgerliche Welt, die ohnehin mit dentrkischen Gewohnheiten der Faulheit und dem slawi-schen Bedrfnis nach Ausschweifungen erblich belastetist, hat dazu noch die sterreichischen formalen Be-griffe von der Gesellschaft und den gesellschaftlichenVerpflichtungen bernommen, nach denen das persn-liche Ansehen und die Klassenwrde des Menschen auf

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    einer bestimmten Zahl unntzer, sinnloser Ausgaben,oft auf einem leeren, lcherlichen, geist- und geschmack-losen Luxus beruhen.Man kann sich schwer eine Stadt vorstellen, dieweniger Geld und geringere Erwerbsquellen, aber

    einen greren Geldhunger, weniger Arbeitslust undErwerbsgeschick, aber mehr Wnsche und Gelste auf-weist. Die Vermischung von orientalischen Gewohn-heiten und mitteleuropischer Zivilisation schafft hiereine besondere Form des gesellschaftlichen Lebens, inder die Einheimischen mit den Zugewanderten in derSchaffung neuer Bedrfnisse und neuer Anlsse zurVerschwendung wetteifern. Die ehemaligen Gewohn-heiten der Armen, sich zurckzuhalten, und der besit-zenden Klassen, zu sparen, sind vollstndig verblat.Soweit es noch Menschen mit den alten kaufmnni-schen Gewohnheiten der Bescheidenheit und demGrundsatz gibt, wenig zu verdienen, jedoch viel zu spa-ren, stehen sie abseits von allem gesellschaftlichen Ver-kehr als lcherliche berbleibsel lngst vergangenerZeiten.

    Inmitten einer Gesellschaft, in der der dringende undgroe Geldhunger ein unsichtbares, doch dichtes undunentwirrbares Netz von Schulden und Darlehen injeder Hhe und in den verschiedensten Formen geflodi-ten hatte, begann das Frulein ihr Kapital anzuhufen.Menschen wie sie, die weniger brauchen, als sie haben,gab es so wenige, da man sie an den Fingern einerHand abzhlen konnte, dagegen gab es solche, die Geldbrauchten, weil sie nicht das Notwendigste besaenoder mehr verschwendeten, als sie sich leisten konnten,zu Tausenden. Sie drang nicht tiefer in die gesellschaft-

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    liehen Verhltnisse ein und forschte auch nicht nachdem tatschlichen Zusammenhang zwischen Ursachenund Folgen, sondern zog ihre Schlsse auf Grund des-sen, was an der Oberflche zu sehen war, wie es Frauenund berhaupt alle Menschen zu tun pflegen, die voneiner groen Leidenschaft beherrscht werden,- auf dasFrulein traf das eine wie das andere zu. Sie brauchtenicht viel, um diese ganze Stadt und das ganze Lebenringsum als ihr Jagdgebiet zu betrachten und alles berihrer Beutegier zu vergessen.Schon in den ersten Jahren hatte das Frulein ange-fangen, im Laden ihres Vaters Mnner und Frauen zuempfangen, die rasch Geld brauchten. Die Sache begannbescheiden und harmlos, entwickelte sich jedoch schnellund nahm gefhrliche Ausmae an, besonders spter,als sie das Geld aus der Versicherung erhielt und gro-jhrig wurde. Whrend Veso, der nicht an ihre Plnedachte, im kleinen Geschfte machte und mit Bauernum zwei bis drei Fuchspelze feilschte, begann das Fru-lein die Wonne zu spren, die solchen Menschen wieihr jenes heckende Geld bereitet jene khle Trun-kenheit, die die Wucherer in ihren feuchten Lden bes-ser als die Sonne und schner als der Frhling heimlichwrmt und bestrahlt. Und als sich das Verleihgeschftzu verzweigen anfing und die Zahl der Besucher wuchs,ging sie dazu ber, sie nicht nur im Laden, sondern auchzu Hause zu empfangen. Natrlich galt das nur fr aus-erwhlte, bedeutendere und profitablere Kunden.Das de, traurige Haus ohne Lachen und Unterhal-

    tung, ohne Wrme und Schmuck, um das selbst dieBettler einen Bogen machten, empfing jetzt neue, unge-whnliche Besucher. Da konnte man sehen, wie ver-

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    ihn streng und verwundert nach seinem Begehr, so alshtte er sich in der Haustr und in der Person, mit derer sprach, geirrt.

    In den meisten Fllen endete die Aussprache tatsch-lich damit, da der Besucher mit leeren Hnden weg-ging, nachdem er vor dem Frulein seine ganze Not undPein ausgeschttet hatte. Bei jenen seltenen Kunden,die etwas bei ihr erreichten, wurde die ganze Angele-genheit auf den anderen Tag verschoben. Am nchstenTag konnten sie auf ihrem Schreibtisch ein Papier mitden Bedingungen fr ein kurzfristiges Darlehen finden.Je nach der Lnge der Frist lautete die Verpflichtungimmer auf eine Summe, die um zehn bis dreiig Pro-zent hher lag als die, welche der Schuldner wirklicherhielt. Die brigen Bedingungen stimmten vllig mitdem Gesetz berein, das heit, sie bewegten sich anseiner uersten Grenze. Die Auszahlung erfolgte nie-mals hier im Hause, sondern in Vesos Laden oder sogardurch einen Dritten,- sehr oft auf dem Umweg berirgendeinen Geldwechsler am Platz vor der Armen-kche oder einen unansehnlichen, kleinen Kaufmann,der in einem halbleeren, de und rmlich aussehendenLaden sa. Denn tief unter der sichtbaren und strmi-schen Oberflche der Gesellschaft, die lebt und Geldausgibt, geniet und verschwendet, besteht auch einunsichtbares und dnnes, sthlernes und festes Netzdes Wucherertums, eine stumme, namenlose, mchtigeOrganisation jener, die alles im Leben, was berflssigund nebenschlich ist, hinter sich gelassen und denWeg zu dem gefunden haben, was nach ihrer Auffas-sung in der Gesellschaft von wesentlicher und grund-stzlicher Bedeutung ist, jener Menschen, die ihre ein-

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    zige Leidenschaft auf Kosten der unzhligen kleinenund groen Leidenschaften und Bedrfnisse der gesam-ten brigen Welt befriedigen.

    Bei der Mehrzahl der Besucher kam es jedoch nichtzu sachlichen, ernsten Verhandlungen. Einem uner-klrlichen, aber sicheren Instinkt folgend, unterbrachdas Frulein ihr Gegenber mitten in dessen Darlegun-gen mit ihrer starken, helltnenden Stimme und bedeu-tete ihm, man sei falsch unterrichtet, sie besitze zwaretwas Geld, habe es jedoch bereits Freunden geliehen.Gewhnlich verlie dann die andere Partei diesen eis-kalten und im Sommer schwlen Raum, enttuschtvom Mierfolg, doch zufrieden, von der Anwesen-heit dieses steifen Mdchens mit dem durchbohren-den Blick und dem athletischen Hndedruck befreitzu sein.Nur in Ausnahmefllen verlief die Unterredung an-

    ders. Und diese Flle merkte sie sich lnger.An einem Februartag kam zu ihr eine schne, statt-liche Frau in einem langen Mantel aus schwarzem Tuch,der am Kragen und an den rmeln mit kostbarembra