das erschöpfte selbst - · pdf fileclaude lefort, ecrire.´ al’´`...

22
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1875 Das erschöpfte Selbst Depression und Gesellschaft in der Gegenwart Bearbeitet von Axel Honneth, Manuela Lenzen, Martin Klaus, Alain Ehrenberg 1. Auflage 2008. Taschenbuch. 335 S. Paperback ISBN 978 3 518 29475 8 Format (B x L): 10,7 x 17,7 cm Gewicht: 204 g Weitere Fachgebiete > Psychologie > Sozialpsychologie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

Upload: ngodang

Post on 06-Mar-2018

220 views

Category:

Documents


5 download

TRANSCRIPT

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1875

Das erschöpfte Selbst

Depression und Gesellschaft in der Gegenwart

Bearbeitet vonAxel Honneth, Manuela Lenzen, Martin Klaus, Alain Ehrenberg

1. Auflage 2008. Taschenbuch. 335 S. PaperbackISBN 978 3 518 29475 8

Format (B x L): 10,7 x 17,7 cmGewicht: 204 g

Weitere Fachgebiete > Psychologie > Sozialpsychologie

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

Leseprobe

Ehrenberg, Alain

Das erschöpfte Selbst

Depression und Gesellschaft in der Gegenwart

Aus dem Französischen von Manuela Lenzen und Martin Klaus

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1875

978-3-518-29475-8

Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1875

Die wachsende Ausbreitung von Depressionen, der steigende Konsum vonAntidepressiva und die Zunahme der Alkoholabhängigkeit in den westli-chen Gesellschaften sind für Alain Ehrenberg Reaktionen auf die allgegen-wärtige Erwartung eigenverantwortlicher Selbstverwirklichung. Damit hatdas Projekt der Moderne, die Befreiung des Subjekts aus überkommenenBindungen und Traditionen, eine paradoxe Verkehrung erfahren. War dieNeurose die pathologische Signatur eines repressiven Kapitalisms, so ist dieDepression die Kehrseite einer kapitalistischen Gesellschaft, die das authen-tische Selbst zur Produktivkraft macht und es bis zur Erschöpfung fordert.Ehrenberg untersucht in einer erhellenden Kombination von Psychiatriege-schichte und Zivilisationsdiagnose, welchen psychischen Preis die Indivi-duen für diese Verkehrung heute zu zahlen haben.

Alain Ehrenberg ist Soziologe und Leiter der Forschungsgruppe »Psycho-tropes, Politique, Societe« am Centre National de Recherche Scientifiquein Paris.

Alain EhrenbergDas erschöpfte Selbst

Depression und Gesellschaftin der Gegenwart

Aus dem Französischenvon Manuela Lenzen

und Martin Klaus

Suhrkamp

Die französische Originalausgabe erschien 1998 unter dem TitelLa Fatigue d’etre soi im Verlag Editions Odile Jacob.

Für die deutsche Übersetzung wurden geringfügige Kürzungenvorgenommen.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1875Erste Auflage 2008

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Campus Verlages© 2004 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfenvon Willy Fleckhaus und Rolf StaudtSatz: TypoForum GmbH, Seelbach

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-29475-8

1 2 3 4 5 6 – 13 12 11 10 09 08

Inhalt

Vorwort von Axel Honneth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Das erschöpfte Selbst

Einleitung: Das souveräne Individuum oderdie Rückkehr der Nervosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 3

I. Ein krankes Subjekt

Welche Geschichte der Depression? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 11. Die Genese des psychischen Wesens . . . . . . . . . . . . . . . . . 372. Elektroschock: Technik, Gemüt und Depression . . . . . . . . 693. Die Vergesellschaftung einer undefinierbaren Krankheit . . 99

II. Der Niedergang der Neurose

Die Krise der neurotischen Depression und die Veränderungin der Darstellung des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 374. Die psychologische Front:

Schuld ohne Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1425. Die medizinische Front:

die neuen Wege der Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 8 1

III. Das unzulängliche Individuum

Die pathologische Handlung. Oder: die zweite Veränderungim Bild des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 196. Der depressive Defekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2227. Das unbestimmte Subjekt der Depression und

die Individualität am Ende des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . 25 3Schluss: Die Last des Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

Vorwort

Es bedarf nicht vieler Worte, um zu begründen, warum die vorlie-gende Untersuchung in die neue Schriftenreihe des Instituts fürSozialforschung aufgenommen wurde. Seitdem wir uns entschlos-sen hatten, die Forschungsarbeit zukünftig auf die sozialen Parado-xien des gegenwärtigen Kapitalismus zu konzentrieren, trat verstärktdie alte Frage nach der gesellschaftlichen Lage und Befindlichkeitdes Subjekts wieder in den Vordergrund unserer Bemühungen;denn jene paradoxe Verkehrung von historisch erkämpfter Emanzi-pation in neue Abhängigkeiten, von Befreiung in Entmündigung,die wir meinten, als Kern der sozialen Folgen des aktuellen Struktur-wandels des Kapitalismus ausmachen zu können, offenbart sichwohl vordringlich an Veränderungen in den psychischen Dispositio-nen der Subjekte. Nun sind aber gerade solche Prozesse der sozialenVerursachung von Persönlichkeitswandlungen häufig der Gegen-stand von wildesten Spekulationen und theorieabhängigen Projek-tionen gewesen; wie jüngst Reimut Reiche in seiner Aufsatzsamm-lung »Triebschicksal der Gesellschaft«1

1 Reimut Reiche: Triebschicksal der Gesellschaft. Über den Strukturwandel der Psy-che. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Bd. 5, Frankfurt/New York 2004.

noch einmal vehement deut-lich gemacht hat, ist in den letzten Jahrzehnten eine dramatischeVerschiebung im Sozialcharakter nicht selten behauptet worden, woes sich tatsächlich nur um das Resultat veränderter Erfassungsme-thoden oder überverallgemeinerter Einzelbeobachtungen gehandelthat. Gleichwohl ist kaum von der Hand zu weisen, dass sich durchdie soziokulturellen und ökonomischen Wandlungen im letztenDrittel des 20. Jahrhunderts mit den individuellen Identitätsfor-mationen auch die Arten der psychischen Erkrankungen veränderthaben müssen; die wachsende Verbreitung von Depressionen, dersteigende Konsum von Antidepressiva und die Zunahme der Alko-holabhängigkeit sind Indikatoren, die nur auf den beherzten Zugriffeiner soziologischen Gesamtdeutung gewartet haben, um als Symp-tome einer neuen Befindlichkeit der Subjekte in den kapitalistischenDemokratien interpretiert werden zu können. Mit der vorliegendenStudie, deren Original unter dem leider unübersetzbaren Titel »LaFatigue d’etre soi« in Frankreich großes Aufsehen erregte, ist Alain

7

Ehrenberg eine solche soziologische Zeitdiagnose gelungen; darinwird die rapide Zunahme von depressiven Erkrankungen als dasparadoxe Resultat eines sozialen Individualisierungsprozesses ge-deutet, der die Subjekte dadurch, dass er sie aus traditionellen Bin-dungen und Abhängigkeiten befreit, im wachsenden Maße daranscheitern lässt, aus eigenen Antrieben und in vollkommener Selbst-verantwortung zu psychischer Stabilität sowie sozialem Ansehen zugelangen.

Allerdings ist Ehrenberg klug genug, nicht zu glauben, diese zen-trale These unvermittelt aus einer Sichtung nur von klinischen Be-richten und sozialstatistischen Daten gewinnen zu können. Weil ervielmehr davon überzeugt ist, dass sich im psychotherapeutischenVokabular einer Zeit häufig auch nur kurzsichtige Verallgemeine-rungen von aktuellen Neubeschreibungen spiegeln können, ergänzter seine soziologische Analyse um eine wissenschaftsgeschichtlicheRekonstruktion des Prozesses, in dem sich innerhalb der Psychiatriein den letzten Jahrzehnten die Kategorie der »Depression« als brauch-bares Instrument herausgebildet hat; mit Hilfe dieses wissenschafts-historischen Unterbaus soll sichergestellt werden, dass die zur Deu-tung herangezogenen Begriffe insofern tatsächlich theoretischenWert besitzen, als sie sich als Erträge eines innerdisziplinären Lern-vorgangs angesichts hartnäckiger, nicht wegzuleugnender Befundeinterpretieren lassen. Die Untersuchung von Ehrenberg stellt daherdas doppelte Unternehmen sowohl einer soziologischen Diagnoseder Ursachen für die Verbreitung von »Depressionen« als auch ei-ner Archäologie ihres wissenschaftlichen Auftauchens im psychiatri-schen Diskurs der vergangenen Jahrzehnte dar. Mit diesem zweiten,wissenschaftshistorischen Strang seiner Studie ist Ehrenberg vorEinwänden geschützt, wie sie etwa die kritischen Analysen von Rei-mut Reiche nahegelegt hätten; dem Autor lässt sich in der Tat nichtvorwerfen, dass er zur Diagnose eines psychischen Strukturwandelsnur deswegen gelangt sei, weil er die innerwissenschaftliche Diffe-renzierung eines Klassifikationssystems unbemerkt mit der sozialenRealität verwechselt hätte.

Der Befund, zu dem Ehrenberg dank der Verschränkung der zweiPerspektiven gelangt, wird von ihm in der Formel zusammengefasst,dass die Subjekte heute am Zustand der sozialen Defizienz ihrer Per-sönlichkeit leiden, während sie vor hundert Jahren am Konflikt mitden repressiven Normen der Gesellschaft erkrankten; war Freuds

8

Kategorie der »Neurose« nach seiner Auffassung der angemesseneSchlüssel für diese frühere Form der psychischen Pathologie, so siehter den Begriff der »Depression« als das geeignete Instrument an, umjene gegenwärtig vorherrschenden Formen der Erkrankung zu erfas-sen. Allerdings tritt die tatsächliche, nämlich normative Brisanz allseiner Befunde nur dann erst zu Tage, wenn sie vor dem Hinter-grund einer weiteren Fragestellung von Ehrenberg gesehen werden,die wohl als sein eigentliches Anliegen auf dem Feld einer soziologi-schen Erforschung des psychischen Strukturwandels in der Gegen-wart betrachtet werden muss2

2 Vgl. dazu auch Alain Ehrenberg: Le culte de la performance, Paris 1991; ders.: L’indi-vidue incertain, Paris 1995.

: Nach seiner Überzeugung gefährdetder Umstand, dass die psychische Struktur der Subjekte sich heuteohne fundamentale Reibung an sozialen Herausforderungen, ohneinneren Konflikt mit der Gesellschaft bildet, in bedenklicher Weisedie kulturellen Voraussetzungen einer zivilen Demokratie; dennderen Vitalität ist elementar auf das Engagement von Bürgerinnenund Bürgern angewiesen, die zur kontroversen Stellungnahme, zurMitwirkung am konfliktreichen Prozess der öffentlichen Meinungs-bildung nur dann in der Lage sind, wenn sie in ihrer eigenen Ent-wicklung die Erfahrung intrapsychischer Konflikte haben machenkönnen, die ihnen für die Tatsache des sozialen Dissenses gewisser-maßen einen Verständnishorizont verschafft. Auch in diesem Inter-esse an dem engen Zusammenhang, der zwischen Persönlichkeits-struktur und dem Gedeihen einer demokratischen Öffentlichkeitbesteht, kommt die Studie von Alain Ehrenberg der Forschungsar-beit in unserem Institut so weit wie nur eben möglich entgegen;wenn es nämlich ein gemeinsames Motiv gibt, aus dem heraus wirunter verschiedenen Aspekten die sozialen Paradoxien des gegen-wärtigen Strukturwandels kapitalistischer Gesellschaften untersu-chen, so ist es die normative Überzeugung, dass der Prozess deröffentlichen Willensbildung auf demokratische »Gewohnheiten«angewiesen ist, die in individueller Mündigkeit, Konfliktbereit-schaft und Fähigkeit zur Perspektivübernahme wurzeln3

3 Vgl. Martin Hartmann, Die Kreativität der Gewohnheit. Grundzüge einer pragma-tistischen Demokratietheorie, Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilo-sophie, Bd. 3, Frankfurt/New York 2003.

. Daher wares ein Glückfall für uns, dass sich der Campus-Verlag schnell bereitfand, uns bei der Verwirklichung der Pläne einer Veröffentlichung

9

der Studie von Alain Ehrenberg zu unterstützen; dem Verlag ge-bührt ebenso Dank wie den beiden Übersetzern, Manuela Lenzenund Martin Klaus, die allesamt zum zügigen Erscheinen des Buchesbeigetragen haben.

Axel HonnethFrankfurt am Main, 3. August 2004

10

Das erschöpfte Selbst

Für Pierre Chambat.Für Antonin, Jonathan und Judith.Für Corinne.

»[. . .] so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum dassouveräne Individuum, das nur sich selbst gleiche [. . .]«Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral (1887)

»Der Barbar, erkennen wir, hat es leicht gesund zu sein, fürden Kulturmenschen ist es eine schwere Aufgabe.«Sigmund Freud, Abriss der Psychoanalyse (1940)

»Unaufhörlich kehrt das Bild des Menschen in Bewegungwieder, ohne Führer, dessen Stolz es ist, zu denken, ohnedem Nihilismus anheim zu fallen.«Claude Lefort, Ecrire. A l’epreuve du politique (1992)

EinleitungDas souveräne Individuum oder

die Rückkehr der Nervosität

Der Begriff Depression steht heute für die verschiedensten Facettenpsychischen Leidens. In den 1940er Jahren galt die Depression dage-gen lediglich als ein Symptom, das die meisten Geisteskrankheitenbegleitet, und wurde kaum beachtet. 1970 war sie die am weitestenverbreitete psychische Störung der Welt, und die Psychiater ver-zeichneten eine deutliche Zunahme von Depressiven unter ihrenPatienten. Heute steht die Depression im Mittelpunkt des psychiat-rischen Interesses, so wie vor 50 Jahren die Psychosen. Das ist ihrErfolg in der Medizin. Gleichzeitig wird sie in Zeitungen und Zeit-schriften zu einer Modekrankheit, wenn nicht zur Jahrhundert-krankheit erklärt. Und obwohl die Begriffe Schwermut, Angst oderNeurose wegen der unspezifischen Erscheinungsform der Störun-gen, die sie bezeichnen, den gleichen Erfolg gehabt haben könnten,war es der Begriff Depression, der sich zu einem nützlichen Instru-ment wandelte, um zahlreiche Leiden zu bezeichnen und sie even-tuell auch zu beheben. Darin liegt der Erfolg der Depression in derGesellschaft.

Warum und wie hat sich die Depression als die am meisten ver-breitete psychische Störung durchgesetzt? In welchem Maße ist siecharakteristisch für die Veränderungen der Individualität zu Beginn

13

des 21. Jahrhunderts? Dies sind die beiden Fragen, auf die in diesemBuch eine Antwort gesucht wird.

Die Depression ist eine Krankheit, die sich außerordentlich gutfür das Verständnis der zeitgenössischen Individualität eignet, dasheißt der neuen Dilemmata, in denen sie steckt. In der Psychiatriehat die Depression die Rolle eines vagen Sammelbegriffs, und dasaus gutem Grund: Die Psychiater können sie nach wie vor nichtdefinieren. Daher kann der Begriff sehr flexibel verwendet werden.Dass die Wahl auf diesen Begriff fiel, resultiert aus der Kombinationvon psychiatrieinternen Elementen und tief greifenden normativenVeränderungen in unserer Lebensweise. Sie ist gewiss nicht die ersteModekrankheit. Die Hysterie und vor allem die Neurasthenie hat-ten Ende des 19. Jahrhunderts den gleichen Erfolg. Zudem gibt es inder Geschichte der Depression Verbindungen zu diesen beidenKrankheiten. Die Depressiven am Beginn des 21. Jahrhundertsscheinen von einem Leiden befallen zu sein, das ebenso wenig greif-bar ist wie ein Jahrhundert zuvor die Hysterie. Spielt die Depressionuns etwa einen ähnlichen Streich wie seinerzeit die Hysterie?

1898 konnte ein Arzt in einem populärwissenschaftlichen Buchschreiben: »Heute weiß jeder, was der Begriff Neurasthenie bedeu-tet – zusammen mit dem Wort Fahrrad ist es einer der gebräuch-lichsten Begriffe dieser Zeit.« (Fleury 1898, S. 316) Mit der Depres-sion verhält es sich genauso, und zwar dank eines außerordentlichberühmten Medikaments: Prozac.1

1 Prozac ist der einzige Markenname, der in diesem Buch erwähnt wird, denn er ist zueinem Symbol geworden. Für die anderen Psychopharmaka wird nur der Name desWirkstoffs angegeben. Der Wirkstoff von Prozac ist Fluoxetin.

In der Alltagssprache steht Prozac für Antidepressivum ebenso wieTesa für den Klebestreifen und Tempo für das Papiertaschentuch.Wie kommt es, dass ein Medikament allein die zweifellos unver-nünftige, aber völlig verständliche Hoffnung verkörpern kann, sichvom psychischen Leiden zu befreien? Heute, nicht in der Vergan-genheit. Damit ein Medikament ein derartiges Fantasma verkörpernkann, damit die Medikation so gut den gesellschaftlichen Erwartun-gen entsprechen kann, musste die Depression einen zentralen Ort inunserer Gesellschaft erringen.

Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in demdas disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritärund verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern

14

ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jedenzu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, er selbstzu werden. Die Konsequenz dieser neuen Norm ist, dass die Verant-wortung für unser Leben nicht nur in uns selbst liegt, sondern auchim kollektiven Zwischenmenschlichen. Dieses Buch wird zeigen,dass die Depression die genaue Umkehrung dieser Konstellationist. Sie ist eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühlder Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht voll aufder Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zumüssen.

Aber was bedeutet es, man selbst zu werden? Diese Frage ist nichtso einfach, wie sie aussieht. Sie stellt uns vor schwierige Probleme derGrenzziehung: zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen, demMöglichen und dem Unmöglichen, dem Normalen und dem Patho-logischen. Die Psyche muss heute mit instabilen Beziehungen zwi-schen Schuld, Verantwortung und Geisteskrankheit umgehen.

Mir geht es darum, die Konturen des zeitgenössischen Individuumsnachzuzeichnen, das heißt des Typs von Person, der sich in demMaße durchsetzt, wie wir aus der Klassengesellschaft heraustretenund die Art der politischen Repräsentation und der Verhaltensre-gulierung aufgeben, die damit verbunden war. In einer früherenUntersuchung (Ehrenberg 1991) habe ich zu zeigen versucht, wie dieneuen Ideale ökonomischer Konkurrenz und des sportlichen Wett-kampfs das Individuum auf den Weg zu einer eigenen Identität undsozialem Erfolg gedrängt haben, dazu, in einem unternehmerischenAbenteuer über sich selbst hinauszuwachsen. In einem späterenBuch (1995) beschrieb ich, wie dieser Prozess zu einem neuartigenBewusstsein vom psychischen Leiden führte. Dazu habe ich zweiPhänomene der Massengesellschaft analysiert: die Selbstinszenie-rungen in Fernsehsendungen, in denen einem gewöhnliche Schick-sale zum Fraß vorgeworfen werden, und das Doping im Sport, dieMöglichkeiten, mit Medikamenten die eigene Stimmung zu stimu-lieren und die eigenen Fähigkeiten zu steigern.

Nach diesen Arbeiten hat sich eine Studie über die Geschichte despsychiatrischen Begriffs der Depression geradezu aufgedrängt, denndie öffentliche Diskussion tendiert seit kurzem dazu, auf konfuseWeise Psychopharmaka zur Behandlung von psychischen Störungenmit illegalen Drogen zur Veränderung der Bewusstseinszustände in

15

eins zu setzen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Klassen vonWirkstoffen ist nicht mehr so klar wie es die Mediziner in den fünfzi-ger Jahren (zu Recht) annahmen, zu der Zeit, als die »Medikamentefür den Geist« entdeckt wurden. Wir werden mehr und mehr mitPsychopharmaka leben, die die Stimmung verbessern, die Selbstbe-herrschung erhöhen und vielleicht auch die Schrecken der Existenzabmildern. Es ist an der Zeit, die Lebensweise auszuloten, die sie ver-heißen.

Wie die ebenso wirren wie heißen Diskussionen zum Thema Pro-zac zeigen, ist der medizinische und gesellschaftliche »Erfolg« desBegriffs Depression nicht unproblematisch. Dem Glück auf Rezeptfolgt die Chemie der Verzweiflung; der Medikalisierung der Befind-lichkeitsstörung steht die Depression als echte Krankheit gegenüber;auf die Werbung, die ein wunderbares Medikament anpreist, rea-giert die Kritik, die von einer Droge spricht, diesmal ohne toxischeEigenschaften und ohne das Risiko, abhängig zu werden. Die Medi-kalisierung des Lebens ist ein allgegenwärtiges Phänomen, doch inder Psychiatrie wirft sie besondere Probleme auf.

Die Ambivalenz von Prozac liegt nicht darin, dass es, wie jedesMedikament, zugleich Heilmittel und Gift ist: An einer Überdosisdieses Antidepressivums stirbt man nicht, während die tödlicheDosis beim insofern viel gefährlicheren Aspirin schnell erreicht ist.Aspirin nehmen wir häufig und gern ein, warum sollte das bei einemAntidepressivum anders sein, wenn es doch ungefährlich ist? Dieneue Klasse von Antidepressiva, an deren Spitze Prozac steht, hebtdie Stimmung von Menschen, die nicht »wirklich« depressiv sind.So weckt sie die Hoffnung, jedes psychische Leiden zu überwinden,sie verkörpert, zu Recht oder zu Unrecht, die unbegrenzte Möglich-keit, unsere psychische Befindlichkeit so zu verändern, dass mansich besser als ohne sie fühlt. Man wird keinen Unterschied mehrmachen zwischen Sichpflegen und Drogennehmen. In einer Gesell-schaft, in der Menschen ständig psychoaktive Substanzen einneh-men und so künstlich ihre Stimmung verändern, kann man nichtmehr sagen, wer jemand selbst ist, ja nicht einmal, wer normal ist. Das»wer« ist hier das Schlüsselwort, denn es bezeichnet den Ort, an demes ein Subjekt gibt. Werden wir sein Verschwinden erleben?

Ein schwerer Verdacht ist aufgekommen: Ein künstlich herge-stelltes Wohlbefinden übernimmt allmählich die Stelle der Heilung.Das wirft eine Reihe von Fragen auf: Ist Leiden nützlich? Wenn ja,

16

wozu? Entwickeln wir uns zu einer Gesellschaft der bequemen Ab-hängigkeit, in der jeder täglich seine psychopharmazeutische Pillenimmt? Produziert man so nicht Hypochonder en masse? Kannman noch zwischen alltäglichem Unglück und alltäglichen Frustra-tionen und einem krankhaften Leiden unterscheiden? Muss mandas tun? Das ist eine heikle Frage, denn sie setzt eine solide Unter-scheidung zwischen dem, was eine »Krankheit« ist, und dem, was esnicht ist, voraus. Wenn das medizinische Berufsethos den Arztmoralisch dazu verpflichtet, Schmerzen auch dann zu lindern, wenner die Krankheit nicht heilen kann, warum sollte das bei psychischenLeiden anders sein?

Um mit diesen Fragen weiterzukommen, muss man die Kontro-versen über die medikamentöse Behandlung der Depression auseiner historischen Perspektive betrachten. Man muss die Wechsel-fälle der Verwendung des Begriffs Depression in der Psychiatrie abden 1940er Jahren verfolgen, dem Moment, in dem seine zeitgenös-sische Geschichte mit der Verwendung von Elektroschocks beginnt.Diese Perspektive bringt etwas Licht in das Dunkel der Entstehungder modernen Individualität, der Person. Die Transformationen desBegriffs der Person sind ein Aspekt der Geschichte der Demokratie.

Ich schlage hier zwei Hypothesen vor: Die erste betrifft den Ort, dendie Depression durch die Veränderung der sozialen Normen in derfranzösischen Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegseingenommen hat. Die zweite die Rolle, die die Depression in denVeränderungen der psychiatrischen Diagnostik individueller Patho-logien in derselben Zeit gespielt hat. Diese zwei Hypothesen werdenin Abhängigkeit von einem Interpretationsraster entwickelt, dessengrobe Linien im Folgenden angedeutet werden.

Nichts ist wirklich verboten, nichts ist wirklich möglich

Die 1960er Jahre haben die Vorurteile, Traditionen, Fesseln undGrenzen, die das Leben strukturierten, erschüttert. Die politischenDebatten, die rechtlichen Umwälzungen, die eine Folge dieser Ver-änderungen waren, sind die sichtbaren Zeichen für die tief gehendeErschütterung: Wir sind im eigentlichen Sinne des Wortes emanzi-piert: Das moderne politische Ideal, das aus dem gefügigen Unter-

17

tan des Fürsten einen autonomen Bürger gemacht hat, hat sich aufalle Bereiche der Existenz ausgedehnt. Das souveräne Individuum,das nur sich selbst gleich ist und dessen Kommen Nietzsche ange-kündigt hat, bestimmt nun die übliche Lebensweise.

Genau an diesem Punkt täuscht man sich für gewöhnlich überdas Individuum. Manche geben sich etwas zu leicht damit zufrie-den, über den nur allzu bekannten Orientierungsverlust des moder-nen Menschen, die daraus folgende Schwächung der sozialen Bin-dungen, die Privatisierung der Existenz und den Niedergang desöffentlichen Lebens zu klagen. Diese Stereotypen verleiten uns zudem bekannten Reden über die gute alte Zeit. Doch haben wir mitdieser neuen Freiheit nicht auch etwas gewonnen? Offensichtlichhaben wir es eher mit der Verwirrung zwischen mehreren Orien-tierungen als mit Orientierungsverlust zu tun (von neuen philo-sophischen oder religiösen Weisheiten bis hin zu den Fernsehpro-grammen, die Sinn stiften sollen). Ist das vergrößerte Angebot anOrientierungen nicht überhaupt eine Voraussetzung, ohne die dieseFreiheit gar nicht existieren könnte? Statt mit dem Niedergang desöffentlichen Lebens haben wir es mit einer Transformation der poli-tischen Bezüge und des öffentlichen Handelns zu tun, die im Kon-text des Massenindividualismus und der Öffnung der nationalenGesellschaften angesiedelt werden muss. Wollen wir zurück in dendisziplinierenden Kerker der alten Gesellschaftsordnung? Wie soll-ten wir das wollen können? Es ist Zeit, das Problem der Emanzipa-tion mit einem Minimum an historischem und praktischem Sinnanzugehen, statt in Selbstmitleid zu vergehen.

Diese neue Souveränität macht uns nicht allmächtig, sie machtuns nicht frei, zu tun, was uns gefällt, sie besiegelt nicht die Herr-schaft des Privatmenschen. Doch zwei grundlegende Veränderun-gen, die Bedeutung des Gesetzes und die Bedeutung der Disziplinbetreffend, gehen mit dieser Souveränität einher.

Das Erdbeben der Emanzipation hat zunächst kollektiv die Psy-che jedes Menschen erschüttert: Die demokratische Moderne – da-rin liegt ihre Größe – hat uns mehr und mehr zu Menschen ohneFührer gemacht, uns nach und nach in die Situation versetzt, für unsselbst entscheiden und unsere eigenen Orientierungen konstruierenzu müssen. Wir sind reine Individuen geworden, und zwar in demSinne, dass uns kein moralisches Gesetz und keine Tradition sagt,wer wir zu sein haben und wie wir uns verhalten müssen. Die Dicho-

18

tomie erlaubt – verboten, die das Individuum bis in die 1950er und1960er Jahre des letzten Jahrhunderts bestimmte, hat ihre Wirkungverloren. Das inflationäre Bemühen, wieder an das Gesetz zu erin-nern, das Gerede von der dringenden Notwendigkeit neuer struktu-rierender Bezugspunkte und von »Grenzen, die nicht übertretenwerden dürfen«, haben hier ihren Ursprung. Das Recht, sich seinLeben zu wählen, und der Auftrag, man selbst zu werden, verortendas Individuum in einer ständigen Bewegung. Damit stellt sich dasProblem der regulierenden Grenzen zur Aufrechterhaltung der in-neren Ordnung anders: Die Grenze zwischen dem Erlaubten unddem Verbotenen schwindet zugunsten der Spannung zwischen demMöglichen und dem Unmöglichen. Dadurch wird die Individuali-tät stark verändert, denn man kann Schuld nicht durch Verantwor-tung ersetzen, ohne die Beziehungen zwischen dem Erlaubten unddem Verbotenen durcheinanderzubringen.

Parallel zur Relativierung des Verbotsbegriffs schwindet auch dieBedeutung der Disziplin in der Beziehung zwischen Individuumund Gesellschaft. Es geht nun weniger um Gehorsam als um Ent-scheidungen und persönliche Initiative. Die Person wird nicht län-ger durch eine äußere Ordnung (oder die Konformität mit einemGesetz) bewegt, sie muss sich auf ihre inneren Antriebe stützen, aufihre geistigen Fähigkeiten zurückgreifen. Die Begriffe Projekt,Motivation, Kommunikation bezeichnen heute die neuen Normen.Sie sind in unseren Alltag eingegangen, sie sind eine Gewohnheitgeworden, an die uns anzupassen wir, vom oberen bis zum unterenEnde der sozialen Hierarchie, mehr oder weniger gut gelernt haben.Die öffentlichen und privaten Akteure stützen sich auf diese Be-griffe, man verwendet sie ebenso im Unternehmensmanagementwie in den Strategien der Resozialisierung.

Diese normativen Veränderungen müssen wir in unsere Überle-gungen einbeziehen, um verstehen zu können, wie sehr sich das Ver-ständnis von Ungleichheit, von Formen der Dominanz und desPolitischen gewandelt hat. Das ideale Individuum wird nicht mehran seiner Gefügigkeit gemessen, sondern an seiner Initiative. Hierinliegt eine der entscheidenden Veränderungen unserer Lebensweise,denn man kann sich nicht nach Belieben für oder gegen diese Regu-lationsmechanismen entscheiden, sie gelten für alle2

2 Wie sie ein jeder umsetzt, ist freilich ein anderes Problem.

, bei Strafe des

19

Ausschlusses aus der Gemeinschaft. Sie manifestieren den »allgemei-nen Geist« unserer Gesellschaften, sie sind die Institutionen desSelbst.3

3 »Institution« unterstreicht die soziale Natur der Begriffe »Selbst« oder »Man-selbst-Sein«. Ich beziehe mich auf Vincent Descombes’ Definition des Begriffs Institution,die von Wittgenstein und Mauss ausgeht. Der Begriff beinhaltet, »dass sich jedemvon uns diese Vorstellung als gut eingeführte Regel darstellt, die von keinem von unsin besonderer Weise abhängt« (1996, S. 288). Der Begriff »Person« ist neutral, indem Sinne, dass alle Gesellschaften einen solchen Begriff kennen, wie auch immerer genau bestimmt sein mag. Dagegen sind die Begriffe Persönlichkeit, Subjekt undIndividuum »modern«.

Daher nun meine erste Hypothese: Die Depression zeigt uns dieaktuelle Erfahrung der Person, denn sie ist die Krankheit einerGesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Dis-ziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative. Gesternverlangten die sozialen Regeln Konformismen im Denken, wennnicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative undmentale Fähigkeiten. Die Depression ist eher eine Krankheit derUnzulänglichkeit als ein schuldhaftes Fehlverhalten, sie gehört mehrins Reich der Dysfunktion als in das des Gesetzes: Der Depressive istein Mensch mit einem Defekt.

Die Depression ist ein Laboratorium für die Ambivalenzen einerGesellschaft, in der der Massenmensch sein eigener Souverän seinsoll. Sie macht die Veränderung der Beschränkungen sichtbar, diedas Individuum strukturieren: Nach innen hin verschwindet dieSchuld, von außen wird keine Disziplin mehr verlangt.

Aus der biografischen Perspektive des Individuums gesehen istes unwichtig, ob die Depression Lebenskummer oder eine echteKrankheit bezeichnet: Die Besonderheit der Depression liegt darin,dass sie die Unfähigkeit zu leben als solche zeigt, dass sie sich durchSchwermut, Asthenie (Erschöpfung), Gehemmtheit oder eine Apa-thie ausdrückt, die von Psychiatern auch »psychomotorische Ver-langsamung« genannt wird: Der Depressive, den eine Zeit ohneZukunft erfasst hat, hat keine Energie und verharrt in einem Zu-stand des »Nichts-ist-möglich«. Müde und leer, unruhig und heftig,kurz gesagt, neurotisch, wiegen wir in unseren Körpern das Gewichtder Souveränität. Das ist die entscheidende Verschiebung der schwe-ren Aufgabe, sich richtig zu verhalten, die nach Freud das Schicksaldes Zivilisierten ist.

20