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Linda Becherer, Fabio Ioppolo, Magdalena Nauderer, Jenny Hecht, Franziska Prokopetz, Lilith Kappelmann, Raphael Schünemann, Yasin Osman, Barbara Sedlmeir, Sophia Krösche, Andreas Klindt Ein Projekt der Studenten aus dem Seminar Judentum im Nahen Osten: Juden unter islamischer Herrschaft Prof. Dr. Ronny Vollandt & Yossi Brill M.A. Redaktion: Sophia Krösche Titelgestaltung: Raphael Schünemann, Linda Becherer, Andreas Klindt Layout: Andreas Klindt Sommersemester 2017

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Linda Becherer, Fabio Ioppolo, Magdalena Nauderer, Jenny Hecht,Franziska Prokopetz, Lilith Kappelmann, Raphael Schünemann, YasinOsman, Barbara Sedlmeir, Sophia Krösche, Andreas Klindt

Ein Projekt der Studenten aus dem Seminar

Judentum im Nahen Osten: Juden unter islamischer HerrschaftProf. Dr. Ronny Vollandt & Yossi Brill M.A.

Redaktion: Sophia KröscheTitelgestaltung: Raphael Schünemann, Linda Becherer, Andreas KlindtLayout: Andreas Klindt

Sommersemester 2017

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung- Sophia Krösche; [email protected] 1

Türkei. Eine Führung durch Istanbuls jüdische Viertel- Magdalena Nauderer; [email protected] 2

Türkei. Die Dönme, eine Sekte zwischen Religionen und Verschwörungstheorien- Linda Becherer; [email protected] 6

Libyen. Ein wenig Tripoli in den Straßen von Rom- Fabio Ioppolo; [email protected] 10

Marokko. Die Mellahs von Fes und Casablanca- Raphael Schünemann; [email protected] 14

Jemen. Ihr Gesang hallt nach- Lilith Kappelmann; [email protected] 18

Jemen. Gemeinsam bis ans Ende der Welt- Franziska Prokopetz; [email protected] 22

Tunesien. Eine jüdische Wallfahrt- Barbara Sedlmeir; [email protected] 27

Ägypten. Die letzten Juden in Ägypten- Yasin Osman; [email protected] 30

Irak. Die Auswanderung aus Babylon- Jenny Hecht; [email protected] 34

Irak. Literatur und Kultur im jüdischen Bagdad- Magdalena Nauderer; [email protected] 37

Iran. Jüdisches Leben im Iran- Andreas Klindt; [email protected] 40

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Der Todayla. Eine jüdische Reisevon gestern nach heute.

J emenitische Sängerinnen aus Tel Aviv, einRundgang durch jüdische Viertel in Istanbulund die Reise von Benjamin von Tudela im

12. Jahrhundert haben eins gemeinsam: Sie be-richten uns auf vielfältige Weise vom Leben derJuden im Nahen Osten.

Wir, die Studenten des Seminars „Judentum imNahen Osten: Juden unter islamischer Herrschaft“folgten ein Semester lang Benjamin von Tudela aufseiner Reise durch den Nahen Osten des 12. Jahr-hunderts und seinen Berichten über das Leben derJuden dieser Zeit. Wir folgen dem jüdischen Lebenin die Vergangenheit und fragten uns: Was würdeBenjamin von Tudela heute über seine Glaubens-brüder berichten? So entstand die Idee zu dieserZeitschrift und ihrem Titel: „Der Todayla. Eine jü-dische Reise von gestern nach heute.“

Unsere gesammelten Erkenntnisse wollen wir inForm dieser Zeitschrift allen Interessierten zugäng-lich machen und so einen Einblick in das Leben derJuden im Nahen Osten in der Vergangenheit undin der Gegenwart ermöglichen und zeigen, wie sichdieses Leben im Laufe der Zeit verändert hat.

Wir lernen die jemenitischen Juden und das Ver-wirrspiel um gleich drei Messiasse kennen und be-gleiten sie bis zur Operation Fliegender Teppich,durch die 50000 Juden und damit so gut wie diegesamte jüdische Gemeinde ihre jemenitische Hei-mat zwischen 1948 und 1950 verließen. Unsere Rei-se führt uns in das Bagdad des frühen 20. Jahrhun-derts, wo die jüdische Gemeinde die größte ein-heitliche Gruppe bildete und eine wichtige Positi-on im politischen und gesellschaftlichen Leben derHauptstadt einnahm. Im Jahr 1947 wurde die Toch-ter einer einflussreichen jüdischen Familie sogar

die erste irakische Schönheitskönigin. Daneben er-warten uns Verschwörungstheorien um die Dön-me, eine Sekte, die ihre Anfänge bereits im 17. Jahr-hundert hat und die die Türkei noch heute beschäf-tigt.

Die Zeitschrift soll keine abschließende Behand-lung des Thema bieten, sondern einen Einstieg indie Betrachtung des jüdischen Lebens im NahenOsten liefern. Darum enthalten alle Texte weiter-führende Hinweise, die den Leser dazu einladen,sich vertieft mit den Inhalten auseinanderzusetzen.Denn schlussendlich steht für uns fest: das Lebender Juden im Nahen Osten war und ist vielfältigund voller Facetten.

Wir wünschen viel Freude beim Lesen!

Informationen zum SchwerpunktJudentum im Nahen Osten:

http://www.naher-osten.uni-muenchen.de/institut/judaistik/index.html

LeitungProf. Dr. Vollandt, RonnyTelefon: 0049-89-2180-2892E-Mail: [email protected]

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Eine Führung durch Istanbulsjüdische Viertel.Galata – Hasköy – BalatMagdalena Nauderer

I stanbul – Konstantinopel – Byzanz. Die Stadtverfügt über eine überaus lange Geschich-te, zu der auch die des Judentums gehört.

Vor allem während des Osmanischen Reiches be-fand sich dort eine der wichtigsten Gemeindender jüdischen Diaspora. Nach der ReconquistaSpaniens durch die Katholischen Könige floh derHauptteil der sephardischen Juden nachOsten inden Schutz des osmanischen Sultans und ließ sichim Osmanischen Reich und dessen Hauptstadtnieder. Dort wurden sie mit der Zeit zu Beraternder Armee, zu Soldaten, Ministern sowie Ärztenam Hofe und prägten so das Osmanische Reichdurch ihr Wissen bzw. handwerkliches Können.Die jüdischen Gemeinden genossen weitgehen-de religiöse Freiheiten, die es ihnen beispielswei-se unter der Auflage einer Sondersteuer erlaub-te, Grundbesitz frei zu erwerben, sodass Istan-bul bereits im 16. Jahrhundert über zahlreicheSynagogen und andere jüdische Bauten und Ein-richtungen verfügte. Wenn auch heute nur nochrund 17000 Juden in der Metropole leben, so zeu-gen doch die zahlreichen Synagogen und andereEinrichtungen von der jüdischen Vergangenheit,der man bei einem Spaziergang durch die älterenStadtteile Istanbuls nachspüren kann.

Sephardim sind Juden, die bis zu ihrer Vertrei-bung Ende des 15. Jahrhunderts auf der iberischenHalbinsel lebten. Ein Großteil von ihnen floh nachNordwestafrika und ins Osmanische Reich.

Galata

Ein guter Ausgangspunkt für eine Erkundungs-tour durch das jüdische Istanbul ist das JüdischeMuseum nicht weit vom berühmten Galata-Turm,das im Gebäude der ehemaligen Zülfaris Synago-ge untergebracht ist. Dort kann man zusätzlichzu Sonderausstellungen einen ersten Überblicküber die Geschichte der türkischen Juden erhalten.Gleich nebenan befindet sich die Neve Shalom Syn-agoge, das größte Gotteshaus der Juden in der Tür-kei, das im März 1951 nach den Plänen von ElioVentrua und Bernard Motola fertiggestellt wurdeund heute Zentrum einer starken jüdischen Ge-meinde ist. Dieser Ort verdeutlicht die schwierigeLage der türkischen Juden – allein seit ihrer Eröff-nung wurden drei terroristische Anschläge auf dieGemeinde verübt. Von dort gelangt man schnellzur Italienischen Synagoge (Kal de los Francos), diesich gleich in der nächstenQuerstraße befindet. Siefällt vor allem durch ihre neogotische Fassade undeine kleine Kuppel auf, die zu ihrer Bauzeit eigent-

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Eine Führung durch Istanbuls jüdische Viertel.Galata – Hasköy – Balat

Der Thoraschrein der aschkenasischen Synagoge

©WikipediaCo

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lich ein Privileg muslimischer Gebetshäuser war.Gebaut wurde sie von italienischen Juden im 19.Jahrhundert, nachdem diese (bisher der sephardi-schen Gemeinde zugehörig) eine eigene Gemeindegegründet hatten. Die Synagoge fasst 300-400 Per-sonen und gilt auch heute noch als eines der Istan-buler Zentren jüdischen Lebens.

Geht man am Galata-Turm über die steileYüksekkaldırım-Straße hinunter Richtung Galata-Brücke, sieht man auf der linken Seite, halb ver-steckt hinter Elektrik- und Schlossereigeschäften,das imposante rotweiße Gebäude der Ashkena-zi Synagoge mit ihrer achtzackigen Stern-Rosette.Durch ihren Baustil und ihre europäische Fassadeunterscheidet sie sich von den traditionellen se-phardischen und Romania-Synagogen. Sie wurdeim September 1900 von deutschsprachigen Judenösterreichischer Herkunft eröffnet und ist das letz-te aktive aschkenasische Gotteshaus Istanbuls. DerStil dieses prunkvollen Gebäudes ist orientalisch-eklektizistisch. So erinnert beispielsweise die Te-wa (Gebets- und Lesepult) und der Tora-Schrankaus Ebenholz an eine fernöstliche Pagode. Auchder polnische Ehal – der Schrank, indem eine Ko-pie des handgeschriebenen Alten Testaments auf-

bewahrt wird – verdient bei einem Besuch beson-dere Aufmerksamkeit.

• Jüdisches MuseumBüyük Hendek Caddesi 39Mo-Do 10-16 Uhr, Fr 10-13 Uhr, So 10-14 Uhr

• Neve Şalom Sinagogu שלום) נווה הכנסת (ביתBüyük Hendek Caddesi 61

• Italienische Synagoge – Kal de los FrancosŞair Ziya Paşa Caddesi 23

• Aschkenasische SynagogeBanker Sokak 10

Von der Synagoge läuft man einen kleinen Um-weg über die Camondo-Treppen, die 1870-1880 vonAbraham Salomon Camondo, dem Mitglied ei-ner berühmten Istanbuler jüdischen Bankiersfami-lie, in einem einzigartigen Mix aus Neo-Barockund Art Nouveau erbaut wurde, Richtung Galata-Brücke nach Eminönü, von wo aus man mit derFähre nach Hasköy fahren kann. Vom Wasser auskann man außerdem einen Blick auf den ehemali-gen Sitz der Familie, den Camondo-Palast, werfen.

Hasköy

Als im späten 16. Jahrhundert die jüdische Ge-meinde von Eminönü demBau der NeuenMoschee(Yeni Çami) weichen musste, zog sie in den Istan-buler Bezirk Hasköy um, der zu der Zeit haupt-sächlich von Armeniern und Christen bewohntwar. Nicht weit vom Ufer entfernt liegt die ehema-lige Mayor Synagoge. Sie wurde laut dem Histori-ker Lorans Tanatar Baruh bereits in byzantinischerZeit als größte Synagoge des Bezirks (lat. maior= größer) erbaut, wohingegen andere Quellen be-haupten, sie sei erst vor 300-500 Jahren von Judenaus Mallorca gebaut worden. Heute dient der Baujedoch als Lagerplatz, Workshop-Haus und Bil-lardhalle. Folgt man der Straße und biegt dann indie nächste Querstraße links ein, gelangt man zurKaräischen Synagoge (Kal Ha Kadoş), dem einzigenGotteshaus der Karäer-Gemeinde in Istanbul. Be-reits um 1500 ließ Fatih SultanMehmet eine bedeu-tende Anzahl von turkstämmigen Karäern nach Is-

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Eine Führung durch Istanbuls jüdische Viertel.Galata – Hasköy – Balat

tanbul bringen, nach denen der heutige StadtteilKaraköy (Dorf der Karäer) benannt wurde. Mögli-cherweise existierte die Karäer-Synagoge in Has-köy aber auch schon vor der Ankunft der turkme-nischen Karäer, da ihre Geschichte manchen His-torikern zufolge bis in die byzantinische Zeit zu-rückreicht. Heute ist die Karäer-Gemeinde, wel-che vom 16. Jahrhundert an stetig gewachsen war,nur noch sehr klein und die Synagoge öffnet nurnoch anmanchen Feiertagen und zu speziellen An-lässen ihre Pforten. Geht man wieder zurück undfolgt der Aziz-Straße, gelangt man nach wenigenhundert Metern zurHasköyMaallem Synagoge, dereinzigen Synagoge Hasköys, die bis heute ihrenBetrieb aufrechterhalten hat. Ihr genaues Entste-hungsjahr ist unbekannt, doch wurde sie zunächstwohl von der romaniotischen Gemeinde genutzt.Erst im 19. Jahrhundert erhielt sie dann ihr heuti-ges Aussehen, das eigentlich typisch für Synago-gen in Balat und die osmanische Architektur abdem 16. Jahrhundert ist. Das Gebäude wurde näm-lich ausHolz und Backstein gebaut und besitzt eineunter einem Schrägdach gebaute Gipskuppel. Ver-schiedene florale Darstellungen und Landschafts-bilder, von denen einige wohl Szenen aus dem Al-ten Testament bzw. Paradies darstellen sollen, er-kennt man, wenn man einen Blick in die Kuppelwirft.

Romanioten: Juden, welche in byzantinischerund osmanischer Zeit vom Balkan nach Istanbulmigrierten und einen jüdisch-griechischen Dialekt(Jevanisch) sprachen.

Etwa 1,5 km weiter nördlich an der stark befah-renen Istanbul Çevre Yolu befindet sich der ehe-malige jüdische Friedhof, der auch das Mausole-um Abraham Salomo de Camondos enthält. DasAreal gilt zwar als der größte Friedhof Istanbuls,doch heute ist er eine eher traurige Erscheinung.Obwohl er 2010 restauriert werden sollte, ist einGroßteil der Grabsteine verwüstet und weite Stre-cken des Areals sind vermüllt. Vom Friedhof ausgeht es wieder zurück zur Fähr-Haltestelle, von woaus man ans andere Ufer nach Balat (bzw. Ayvan-saray) übersetzt.

• Mayor SynagogeAziz Sokak 2

• Karäische Synagoge (Kal Ha Kadoş)Mahlul Sokak 4

• Maallem SynagogeHarapçeşme Sokak 15-17

Karäer in Istanbul

©WikipediaCo

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Balat

Balat kann neben Hasköy (und früher Eminönü)als das eigentlich ursprünglich jüdische Viertel ge-sehen werden. Hier siedelte Sultan Bayezid II se-phardische Juden an, die er nach derenVertreibungEnde des 15. Jahrhunderts aus Spanien holen ließ.So war Balat spätestens ab dem 17. Jahrhundertbis zur Gründung Israels ein überwiegend jüdischgeprägtes Viertel mit mindestens elf Synagogen.

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Eine Führung durch Istanbuls jüdische Viertel.Galata – Hasköy – Balat

Auch heute noch kann man bei einem Streifzugdurch die verwinkelten kleinen Straßen des Vier-tels an vielen Häusern den Davidstern als Zeugeder jüdischen Vergangenheit erkennen. Hier stehtauch eine der ältesten Synagogen Istanbuls, dieAhrida Synagoge. Von der Haltestelle geht man inRichtung Süden auf der Ayvansaray Caddesi. Vonder Mürselpaşa Caddesi biegt man dann rechts abund sucht die Hausnummer 5 in der Lavanta So-kak, die die kleine Yanbol Synagoge beherbergt. ImVorbeigehen ist sie leicht zu übersehen, denn nurein steinernes Tor ist von der Straße aus zu se-hen. Sie wurde von sephardischen Juden erbaut,die während des 15. Jahrhunderts aus der bulga-rischen Stadt Yambol nach Istanbul kamen, wes-halb sie manchmal auch „Bulgarische Synagoge“genannt wird. Das heutige Gebäude wurde dannim 18. Jahrhundert errichtet, wobei im Laufe derZeit einige bauliche Veränderungen stattfanden.Heute hat sie nur noch für Shabbat geöffnet. Vonhier ist es nun nicht mehr weit zur bereits erwähn-ten Ahrida Synagoge. Auch hier zeigt der Nameden Ursprung der Gemeinde an, die aus dem ma-zedonischen Ohrid stammte. Die Synagoge wurdeschon 1427 – also vor der Eroberung Konstantino-pels durch die Osmanen – erbaut und ist seitdemdurchgehend in Benutzung. Das Gebäude wurdemehrmals durch Erdbeben und Feuer schwer be-schädigt, weshalb das heutige Gebäude aus demspäten 17. Jahrhundert stammt, was man am ba-rocken Stil dieser sogenannten Tulpenzeit erken-nen kann. Mit der Zeit kamen auch sephardischeElemente hinzu, so zum Beispiel das Symbol desSchiffes, das an die Ankunft aus Spanien erinnernsollte. Früher konnte man viele dieser Schiffssym-boliken an den Hauswänden Balats erkennen, heu-te findet man sie kaum noch auf der Straße. ImInneren der Synagoge erinnert jedoch die prunk-volle Kanzel (Teva), die in Form eines Schiffsbugsgebaut ist, an die Sephardim. Zum 500-jährigen Ju-biläum ihrer Ankunft in Istanbul wurde die Syn-agoge 1992 aufwendig renoviert und steht heuteunter dem Schutz der türkischen Generaldirekti-on für Kulturerbe. Obwohl heute in Balat kaumnoch Juden wohnen, ist die 500 Personen fassendeSynagoge an jüdischen Feiertagen sowie an Shab-bat gut gefüllt, da sich Menschen aus der ganzenStadt hier treffen. Neben der romaniotischen undsephardischen Vergangenheit, war die Synagoge

auch das Zentrum einer weiteren jüdischen Grup-pe, den Anhängern des Shabbatianismus. So solldieAhrida Synagoge die einzige Istanbuler Synago-ge gewesen sein, in der Shabbtai Zvi gepredigt hat.

• Yanbol SynagogeLavanta Sokak 5

• Ahrida SynagogeKürkçü Çeşme Sokak 9

Hier sind wir vorerst am Ende unserer kleinenStadtführung angelangt, obwohl wir damit nureinen kleinen Teil der noch existierenden Syn-agogen Istanbuls abgedeckt haben. Auch in denrestlichen (v. a. älteren) Stadtvierteln findet manbei genauem Hinsehen Synagogen, Wohnhäusermit dem Davidstern an der Fassade oder andereZeugnisse des regen jüdischen Lebens im Istanbulder letzten Jahrhunderte. Es lohnt sich also, dieAugen offen zu halten!

Achtung!Wer eine der Istanbuler Synagogen alsTourist besichtigen möchte, muss seinen Besuchfür gewöhnlich (aus Sicherheitsgründen) im Vor-aus anmelden.

Weiterführende Information

Die offizielle Webseite der türkischen jüdischen Ge-meinde enthält zahlreiche Informationen auf Tür-kisch, allerdings nur wenige auf Englisch. Den-noch ist die Seite sehr hilfreich dabei, die verschie-denen Synagogen Istanbuls ausfindig zu machen.url: http : / / www . turkyahudileri . com /index.php/en/.

Diese Seite bietet zahlreiche Informationen (Stand-ort, Öffnungszeiten, …) für die Istanbuler Syn-agogen – auch für modernere Synagoge in denanderen Stadtvierteln. (Erlebnisse → Sehenswür-digkeiten → Gotteshäuser → Synagogen). url:http : / / www . istanbul - tourist -information.com.

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Die Dönme. Eine Sekte zwischenReligionen und Verschwörungs-theorienLinda Becherer

I m Jahre 2003 veröffentlichte der türkischeSchriftsteller Yalçın Küçük das Buch „DerMonopolstaat“. Der Inhalt des Buches

sorgte für Aufsehen, wurde aber auch zumVerkaufsschlager in der Türkei im selben Jahr.Küçük beschreibt in seinem Buch wie die Türkeidurch Juden angeführt werde – mit Erdoğanan deren Spitze. Die Türkei sei eine Kolonie.Sie werde durch die Vereinigten Staaten vonAmerika kontrolliert und die Kontrolle von denFreimaurern ausgeführt. Die Freimaurer, ur-sprünglich ein ethischer Bund freier Menschen,heute durch deren Verschwiegenheit und Wah-rung der Privatsphäre Mittelpunkt zahlreicherVerschwörungstheorien, wird – laut Annahme –von Amerika, Großbritannien und Israel unter-stützt und finanziert. Doch sind die Freimaurernicht die einzige zentrale Gruppierung, an derKüçük seine Darstellung fest macht. Er ist derAuffassung, dass die Mitglieder in den Schuleneiner Gruppe ausgebildet wurden, die sich im 17.Jahrhundert geformt hat. Eine Gruppe, die alseine Sekte verstanden wird, die vom Judentumzum Islam konvertierte – die Dönme.

Doch wer sind die Dönme überhaupt? Werfenwir einen kurzen Blick in die Geschichte. Im Mit-telpunkt des Geschehens steht Shabbtai Zvi, ein Ju-

de aus dem Südwesten der Türkei, der im 17. Jahr-hundert lebte. Shabbtai Zvi wurde traditionell jü-disch erzogen, wobei man ihm neben dem Talmudauch die Kabbala lehrte.

Kabbala: eine mystische Tradition des Juden-tums. Der Mensch sucht nach der unmittelbarenBeziehung zu Gott.

Laut Überlieferung fiel sein Geburtstag auf den9. Av - der Tag des Fastens in Gedenken an den zer-störten Tempel sowie der Tag, an dem der Messi-as geboren werden soll. Shabbtai zeigte schon sehrfrüh die Tendenz zur Abstinenz und Verborgen-heit. Er zog sich sehr bewusst von der Gesellschaftzurück. Im Jahre 1648 verbreitete er die erstenmes-sianischen Behauptungen über sich selbst. Auf ei-ner Reise nach Jerusalem traf er auf den Theolo-gen Nathan von Gaza. Er erklärte Shabbtai Zvi amShavu’ot-Abend des Jahres 1665 zum Messias. Na-than von Gaza schrieb zahlreiche Briefe, die nebender Proklamation des Messias auch kabbalistischeDarstellungen sowie einen politischenHandlungs-plan enthielten. Sein Ziel war es, die osmanischeRegierung in der Türkei ohne Krieg zu überneh-men.

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Die Dönme. Eine Sekte zwischen Religionen und Verschwörungstheorien

Shavu’ot: Fest zu Erinnerung an den Empfangder 10 Gebote durch Moses.

Als Shabbtai Zvi mit der Krone des Messias undeiner Gruppe von ersten Anhängern nach Izmirzurückkehrte, stieß er nicht, wie zu erwarten wä-re, auf Ablehnung. Im Gegenteil zeigte die musli-mische Regierung Interesse an ihm. Dennoch wur-de Shabbtai Zvi wegen einigen Misstrauens aufseinem Weg nach Istanbul auf einem Schiff ver-haftet und später ins Gefängnis nach Edirne ge-bracht. Dort stellte man ihn vor die Wahl – entwe-der die sofortige Exekution oder der Übertritt zumIslam. Shabbtai Zvi entschied sich für die Konver-tierung und nahm den Namen Aziz Mehmet Efendian. Die Nachricht sorgte für weitverbreitetes Ent-setzen. Viele seiner Anhänger konvertierten ausEnttäuschung zurück zum ursprünglichen Juden-tum. Einige entschieden sich jedoch, mit ihm ge-meinsam zum Islam zu konvertieren, da sie dies alseine Stufe auf dem Weg zu seinem messianischenZiel auslegten.

Eine dieser Gruppen, die mit Shabbtai Zvi zumIslam konvertierten, befand sich im griechischenSaloniki – das heutige Thessaloniki. Diese in Salo-niki konvertierte Gruppe wurde als die Sekte derDönme bekannt.

Das Wort „Dönme“ stammt aus dem Türkischenund bedeutet so viel wie „konvertieren“ oder „vonetwas abfallen“. Sich selbst bezeichneten die Dön-me als ma’aminim. Die Gruppierung der Dönmegehört den sogenannten Kryptojuden an. Dies sinddiejenigen Juden im islamischen Raum, die ihreReligion nach innen hin auslebten, nach außen hinjedoch vorgaben, Muslime zu sein. Betrachtet mandie Geschichte des Shabbtai Zvi und seiner Anhän-ger fällt jedoch auf, dass sie sich in einem Punktunterscheiden: Zwar entspringen auch sie dem Ju-dentum, allerdings bleiben sie nicht wie die Kryp-tojuden im Verborgenen Juden, sondern wendensich dem Islam vollständig zu.

ma’aminim: Hebräisches Wort für Gläubige.

Am Anfang umfassten die Dönme etwa 200 bis300 Familien aus Saloniki. Innerhalb eines Jahr-hunderts stieg diese Zahl auf etwa 600 Familien an.Bis 1923 zählte man rund 10.000 Dönme.

Das Besondere an den Dönme ist, dass sie einenkabbalistischen Mystizismus praktizieren, der mitElementen des Sufismus verschmolzen ist. Durchden Übertritt zum Islam hatte Shabbtai Zvi en-gen Kontakt zu einigen Sufis, die, genauso wie dieKabbalisten, die direkte Beziehung zu Gott such-ten. Die Glaubenslehre der Dönme beruht auf den18 Geboten des Shabbtai Zvi. Die Zahl 18 erin-nert an das jüdischeAchtzehngebet. Sie entsprichtaußerdem dem Zahlenwert des hebräischen Wor-tes )חי sprich: Chaj), was übersetzt „Leben“ bedeu-tet. Zum anderen ist sie die heiligste Zahl der Su-fis, wodurch eine Verbindung zwischen den beidenmystischen Glaubensrichtungen geschaffen wird.

Sufismus: Mystische Strömung im Islam, be-zieht sich ebenso auf unmittelbare Verbindung zuGott.

Achtzehngebet: Jüdisches Tagesgebet, das nachdem Jahr 70 n. Chr., dem Jahr der Zerstörung desZweiten Tempels, entstanden ist.

Diese Gebote befassen sich vor allem damit, wieman ein authentischerMuslim ist undwieman sei-ne Aufrichtigkeit beweist. Dennoch grenzten sichdie Dönme von den Muslimen ab, indem eine Hei-rat mit Muslimen verboten war. Sie etablierten ei-gene kommunale Gerichte, Gebetsorte und Fried-höfe. Es gab zudem einen eigenen religiösen Füh-rer.

Als Saloniki 1912 an Griechenland fiel, wurdendie Dönme in die Türkei umgesiedelt, wo sie sichvor allem in Istanbul in geschlossenen Vierteln an-siedelten. Die Toleranz gegenüber dieser Sekte ver-schwand mit dem endgültigen Untergang des Os-manischen Reiches und der Ausrufung der Türki-schen Republik 1923. Nach dem Ende des zweitenWeltkrieges wurden die Dönme offiziell säkularetürkische Staatsbürger.

Diese Periode vom 19. Jahrhundert bis zum En-de des ZweitenWeltkrieges ist auch die Zeit, in derdie Verbreitung von Verschwörungstheorien überdie Juden in der Türkei einenHöhepunkt erreichte,deren zentraler Dreh- und Angelpunkt die Entste-hung der Dönme ist. Die ersten Behauptungen ei-ner antisemitischen Verschwörung gehen auf dasspäte osmanische Reich zurück.

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Die Dönme. Eine Sekte zwischen Religionen und Verschwörungstheorien

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundertsexistierte eine Gruppe von Journalisten um Der-viş Vahdeti, die in ihrer Zeitschrift Volkan (Vul-kan) Dönme als atheistische Juden bezeichneten,die Unmoral und Irreligiosität durch Freimaure-rei verbreiten und von ausländischen Mächten un-terstützt würden. Vahdeti ging noch einen Schrittweiter und behauptete, die Dönme entlarvt zu ha-ben, da sie in ihrer eigenen Zeitschrift Zaman dasWort gavur (ungläubig) als yavur schrieben, wasVahdeti auf ihren judeo-spanischen Hintergrundzurückführen wollte. Zur gleichen Zeit, 1908, kames zur konstitutionellen Revolution durch die soge-nannten Jüngtürken, die mit ihrer Partei Komiteefür Einheit und Fortschritt den letzten einflussrei-chen Sultan Abdülhamid II stürzten und somit denGrundstein für die säkulare Türkische Republiklegten. Angeblich waren viele der Mitglieder ein-flussreiche Freimaurer sowie Juden und Dönme.Die Jüngtürken formierten sich genauso wie dieDönme in Thessaloniki, was für manche den Ver-dacht einer Parallele zwischen den beiden Grup-pen nahelegte. Auch der Staatsgründer der Türkei,Mustafa Kemal Atatürk, stammte ausThessaloniki.Ihm wurde nachgesagt, er sei ein Kryptojude, derdie geheime jüdische Agenda erfüllen sollte. DasZiel sei demnach die Zerstörung der türkischenKultur, Nation und des türkischen Volkes. So ei-ne Theorie, die erstmals durch osmanische Musli-me aufkam und später von türkischen Antisemitenund Nationalsozialisten ausgeweitet wurde.

„Es ist nicht der jüdische Charakter, derAntisemitismus provoziert, sondernviel mehr ist es der Antisemit, derden Juden kreiert.“

Jean-Paul Satre

Im 20. Jahrhundert waren es vor allem rechtsra-dikale Gruppierungen, die weitere solcher Theori-en in Umlauf brachten. Die Grundlage dafür bil-dete in erster Linie das Aufkommen eines Anti-semitismus, der seinen Ursprung im 19. Jahrhun-dert hat. Es handelt sich hierbei um einen Begriff,den Wilhelm Marr 1879 prägte. Antisemitismuswird dabei als eine moderne, rassistische Form vonFeindlichkeit gegenüber Juden verstanden, die in

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstan-den ist, basierend auf dem modernen Konzept derRasse. Juden formen eine moralisch unterworfeneRasse; sie tragen biologische Charaktereigenschaf-ten, die nicht geändert werden können. Es wirdihnen vorgeworfen, dass durch sie das Teuflischeauf der Erde ankommt. Diese Form des Antisemi-tismus ist nicht auf Theologie gegründet oder aufpolitische und ökonomische Rivalität mit osmani-schen und später türkischen Muslimen. Er ist we-der antijüdisch noch anti-zionistisch. Dieses An-tisemitismuskonzept, das im 20. Jahrhundert vonrechtsgesinnten Personen aufgegriffen wurde, isteben jenes, auf das auch Adolf Hitler im selbenJahrhundert seine nationalsozialistische Ideologiestützte.

Der Antisemitimus von rechts wurde allerdingsim darauffolgenden 21. Jahrhundert durch einenAntisemitismus von links abgelöst. Diese Formwurde vor allem in der Türkei von einigen Auto-ren aufgegriffen und auf ihre eigene Art undWeisein deren Büchern dargelegt.

Bereits zu Beginn wurde von einem Autor unddessen Buch gesprochen, das Anfang des jetzigenJahrhunderts für Furore sorgte - Yalçın Küçük und„Der Monopolstaat“. Küçük wird in dem Essay „AnEnemy Old and New: The Dönme, Anti-Semitism,and ConspiracyTheories in the Ottoman Empire andTurkish Republic“ von Marc David Baer, einemProfessor für internationale Geschichte in Lon-don, als ein anti-islamischer und extrem säkularerNationalist beschrieben. Zudem bezeichnet Küçüksich selbst als linkszugehörig sowie als Marxist.Auf Küçüks Buch aus dem Jahre 2003 berufen sichzwei weitere türkische Autoren, die 2004 und 2007weitere antisemitische Verschwörungen zu erklä-ren und verbreiten versuchten. Das zuerst erschie-nene Buch von Soner Yalçın „Efendi: Beyaz Türkle-rin büyük sırrı“ (Das große Geheimnis des weißenTürken) erläutert die Zusammenhänge zwischendem jüdischen Hintergrund der Dönme und dertürkischen säkularen Elite des osmanischen Rei-ches, ähnlich der bereits im 19. und 20. Jahrhun-dert zirkulierten Annahme. Ergün Poyraz veröf-fentlichte drei Jahre später das Buch „Musa’nın ço-cukları Tayyip ve Emine„ (Moses’ Kinder Tayyipund Emine), das in diesem Jahr in der Türkei amhäufigsten verkauft wurde. In Poyraz’ Buch erklärter den Zusammenhang zwischen den Freimaurern

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Die Dönme. Eine Sekte zwischen Religionen und Verschwörungstheorien

und den Islamisten. Diese etwas bizarre Erklärunglässt sich in etwa so zusammenfassen, dass dieFreimaurer wie bereits erwähnt durch amerikani-sche, britische und israelische Gelder unterstütztwerden. Diese drei Mächte stellen die Drahtzieherdes islamischen Sufiordens dar, welcher wiederumdie Islamisten leitet. Soweit so gut. Nun ist es so,dass Erdoğan und seine Partei, die AKP, bekann-termaßen eine eher konservative Doktrin mit ei-ner Neigung zur Reislamisierung der Türkei ver-folgen. Dennoch behauptet Poyraz auf der ande-ren Seite, dass Erdoğan ein Jude sei – der Sohneiner jüdischen Frau aus Georgien. Bestätigt siehtder Autor diese Annahme dadurch, dass ErdoğanAntisemitismus ablehnt. An die Macht kam er an-geblich durch die mächtigste jüdische Organisati-on derWelt – die Antidefamationsliga – welche ei-nige politische Parteien in der Türkei zu kontrol-lieren scheint. Dies solle dem Ziel der Juden die-nen, das säkulare Regime in der Türkei zu stürzenund durch ein islamistisches zu ersetzen. Nachvoll-ziehbar, nicht wahr? Neben Küçük werden auchYalçın und Poyraz von Baer als anti-islamistischsowie als säkular und nationalistisch ausgerichtetbeschrieben. Yalçın sieht sich ebenso als politischlinks. Alle drei Autoren verfolgen somit eine sehr

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eskikitap.ist

ähnliche politische Linie, die sich gegen das Re-gime von Recep Tayyip Erdoğan richtet. Um dieserAblehnung Ausdruck zu verleihen, versuchen sieeine Rechtfertigung in der Geschichte der Türkei

zu finden, die gleichzeitig antisemitische Tenden-zen aufweist. Den Sündenbock für das zeitgenössi-sche politische Geschehen in der Türkei sehen siein den ursprünglich jüdischen Dönme. Durch dasintensive Studium der Dönme und deren Einflussin der Türkei, so Soner Yalçın, hätten linksgerich-tete Autorenwie er selbst oder Poyraz imVergleichzu den rechtsgerichteten und islamistischen, einewissenschaftliche Grundlage geschaffen.

Ob dieses intensive Studium tatsächlich als einBeweis gelten kann, dass die Dönme, die sich selbstnicht einmal als Juden, aber genauso wenig alsMuslime verstehen, mit den politischen Verhält-nissen in der Türkei und auf der ganzen Welt zutun haben, bleibt fraglich. Besinnt man sich zurückauf den Plan Shabbtai Zvis und Nathan von Gazas,das osmanische Reich zu übernehmen, lässt sichzumindest eine Argumentationslinie erkennen, dieder der Verschwörungstheorien aus dem endenden19. und beginnenden 20. Jahrhundert nahe kommt.Betrachtet man die Tatsache, dass die Dönme seit1945 als säkulare Staatsbürger in die Türkei auf-genommen wurden, stellt sich die Frage wie eben-so säkulare, linksorientierte Autoren auf die Ideekommen, diese Gruppierung sei für die islamisti-schen Tendenzen der Türkei verantwortlich.

Letztlich ist es ganz gleich, ob Poyraz behaup-tet, dass Erdoğan Jude sei oder Küçük und Yalçın,dass etliche türkische Staatsoberhäupter den Dön-me angehörten – sie alle schafften es, Bestseller-werke zu schreiben, die von dem größten Unter-nehmen fürMainstreammedien der Türkei vertrie-ben wurden. Außerdem konnten sie einem über-durchschnittlich großen türkischen Lesepublikumglaubhaft machen, dass die Dönme, die zudem ver-mutlich nur den wenigsten tatsächlich bekanntsind, die Türkische Republik im Namen andererGroßmächte anführen. Was sollen wir bloß glau-ben?

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Ein wenig Tripoli in den Straßenvon RomFabio Ioppolo

D ie warme Sonne die über der großenKuppel des Petersdoms aufgeht und ihrLicht auf die Fassade des Kolosseums

wirft, zieht seit jeher die Menschen in den Bannder ewigen Stadt. Rom ist ein Zusammenspielvon Moderne und Jahrtausende alter Kultur,Hauptstadt eines der größten Reiche der Ge-schichte undWiege einerWeltreligion. Das Röh-ren der Motoren, die Sirenen einer modernenPolizei und das Chaos einer viel zu überfülltenStadt verschmelzen in perfekter Harmonie mitdem Circus Maximus, legendärer Austragungs-ort von Wagenrennen, und der Schweizergardedie, mit ihren farbenfrohen traditionellen Uni-formen, Touristen wie magisch zu einem Fotoverführt. Es sind jedoch die Kleinigkeiten, dieRom so besonders machen, denn birgt sie bei ge-nauerem Betrachten weitaus mehr als das, wasdas geblendete Auge vorerst zu sehen vermag.

Im Nordosten der Stadt, unweit von der bekann-testen Universität Roms La Sapienza, trifft man ineiner kleinen nicht allzu befahrenen Straße aufein Restaurant mit dem Namen „Little Tripoli„.Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, wennman bedenkt, dass heutzutage jede große Haupt-stadt die kulinarische Vielfalt aller Herren Länderaufweist, und klingt es noch weniger exotisch be-denkt man die geografische Nähe der italienischenHalbinsel zum afrikanischen Kontinent. Es ist le-diglich ein kleines Zertifikat im Schaufenster, daseine weitaus größere Geschichte erahnen lässt, als

man sie im ersten Moment erwarten würde. Das ineinem fremden Alphabet verfasste Zertifikat ent-hält nur einWort in lateinischen Buchstaben: Kos-her.

Kosher kommt aus dem Hebräischen und be-deutet wörtlich übersetzt „in Ordnung“ oder „pas-send“. In der jüdischen Religion wird dieses Wortgenerell zur Kennzeichnung verwendet, um auf ei-ne rituelle Reinheit, oder besser eine Gebotskon-formität hinzuweisen, die nicht nur, aber vor al-lem bei der Zubereitung von Lebensmitteln eineausschlaggebende Rolle spielt.

Wie kommt ein libysch-jüdisches Restaurantnach Rom?

Die Geschichte des libyschenJudentums

Die Geschichte des libyschen Judentums ist ei-ne lange und bewegte. Es war aufgrund seinergeografischen Lage vielen Umbrüchen und Herr-schaften ausgesetzt und sah sich deswegen mitimmer neuen kulturellen Einflüssen konfrontiert.Den ersten Nachweis einer jüdischen Familie inLibyen findet man auf der griechischen Inschrifteiner Grabstele aus der Kyrenaika (Ostlibyen), da-tiert auf das erste Jahrhundert vor unserer Zeit-rechnung.

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Ein wenig Tripoli in den Straßen von Rom

Jüdische Stele©W

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Nach Puniern und Römern spielt vor allem diearabische Eroberung Nordafrikas eine wichtigeRolle in der Geschichte der libyschen Juden, denndiese brachte neben der arabischen Sprache auchdie islamische Religion in das Land. Der Islam be-trachtet Juden als dhimmi, und somit bot er ih-nen eine für die damalige Zeit vorteilhafte Lage.Auch unter der darauf folgenden osmanischen Be-satzung genossen Juden weiterhin den dhimmiStatus, und konnten in der Regel ungestört fortbe-stehen. Unter islamischer Herrschaft nahmen Ju-den aktiv an der Gesellschaft teil, ein eigentlich imganzen arabisch-islamischen Raum stark verbrei-tetes Phänomen. Sie bekleideten nicht nur hoheÄmter zu Hofe, wie die der Hofärzte, sondern wa-ren auch stark an der Wirtschaft als Händler betei-ligt.

dhimmi, Schutzbefohlene im Islam (z.B. Juden,Christen)

Als 1911 Italien nach dem Krieg gegen das os-manische Reich das Land besetzte, waren die liby-schen Juden ein weiteres Mal einem starken Um-bruch ausgesetzt und sahen sich erstmals mit einerwestlich geprägten Kultur konfrontiert. Währenddes faschistischen Regimes wurde Libyen 1934 zuritalienischen Kolonie deklariert und Italo Balboals Gouverneur eingesetzt. Die darauffolgendenModernisierungsmaßnahmen sollten das Land aufdie bevorstehende Kolonisierung vorbereiten undgleichzeitig der italienischen Vorstellung anpas-

sen. Somit entstanden in Libyen neben den erstenbeleuchteten Straßen, Gebäuden im italienischenStil und der atemberaubenden Strandpromenadein Tripoli auch erste Freizeitstätten wie Kinos, Re-staurants und Theater.

Um auch die jüdische Gemeinde zu moderni-sieren, brachten die italienischen Besatzer Rabbi-ner aus Italien nach Libyen und beauftragten die-se mit der Umstrukturierung der dortigen jüdi-schen Gemeinde. Somit traf die jüdisch-libyscheBevölkerung erstmals auch auf Religionsgenossenaus einem völlig anderen kulturellen Hintergrund,die neben einem anderen Ritus auch eine kom-plett neue Denkweise und äußeres Erscheinungs-bild mit sich brachten. Die libysche Gemeinde re-agierte gespalten auf die von Italien eingeführtenNeuerungen. Die eine Seite befürwortete den ita-lienischen Einfluss wegen der mitgebrachten mo-dernen europäischen Denkweise und erhoffte sichaußerdem gute Kontakte zum italienischen Fest-land, die es ihnen ermöglicht hätte ihre Arbeit zusichern, und die Geschäfte vielleicht sogar aus-zuweiten. Diese pro-italienische Seite schickte ih-ren Nachwuchs auf italienische Schulen, lernte dieSprache und nahm den italienischen Kleidungs-stil an. Ihr entgegengesetzt war hingegen der ab-lehnende Teil der Gemeinde, der den italienischenEinfluss als Fremdkörper betrachtete, der den liby-schen Juden ihre Tradition und Kultur wegnahm,und sie mit den neu eingeführten Vorstellungenvon einem frommen jüdischen Leben abhielt.

Einer der berühmtesten Streitpunkte war dieArbeit am Shabbat. Um die Wirtschaft in Libyenanzukurbeln hatte Italo Balbo alle dazu verpflich-tet Geschäfte auch samstags offen zu lassen undzwang somit die jüdische Bevölkerung direkt ge-gen eine Halakha zu verstoßen.

Halakha, religiöses Gebot im Judentum.

Der befürwortende Teil der Gemeinde hatte Ver-ständnis für Balbos Vorhaben und hielt die Lädenoffen oder ließ jemanden das Geschäft stellvertre-tend für sie führen, um somit trotzdem dem Gebotfolge zu leisten. Die Gegner hingegen weigertensich strikt und wurden dafür meist hart bestraft.Die Verbesserung der wirtschaftliche Lage unterItalo Balbo führte jedoch sogar zur einer Renovie-rung des alten hara in Tripoli, das zu einem neuen

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Ein wenig Tripoli in den Straßen von Rom

Strandpromenade in Tripoli 1935

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und modernen Viertel mit neuen Synagogen um-gestaltet wurde.

Shabbat, siebter Wochentag, beginnt am Frei-tag nach Sonnenuntergang und endet am Samstagnach Sonnenuntergang. An diesem Tag darf keineArbeit getätigt werden.

hara, arabisches Wort für Wohnviertel.

Als Italien nach dem zweiten Weltkrieg die Vor-herrschaft in Libyen verlor, erschwerte sich dieLage der libyschen Juden, denn der aufkommen-de Panarabismus betrachtete die jüdische Bevöl-kerung größtenteils als italianisiert und somit demArabischen nicht zugehörig.

Panarabismus, arabischer Nationalismus.

Die Situation spitzte sich nach der Staatsgrün-dung Israels 1948 immer weiter zu und so sah sich

die jüdische Bevölkerung gezwungen das Landzu verlassen. Die Auswanderung fand in mehre-ren Phasen statt, die größte Auswanderungswellestellte jedoch die zwischen 1949 und 1951 dar, inder von den 38.000 libyschen Juden 30.000 auswan-derten.Die Zweite große Welle stellt die nach demSechstagekrieg dar, bei der ungefähr 6.000 Judenflohen. Spätestens mit der Machtübernahme Mua-mar al-Ghaddafis hatte sich die Situation so starkverschlechtert, dass bis auf einzelne Personen auchdie übriggebliebene Gemeinde das Land verließ.Wohin flohen aber diese ganzen Menschen?

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Ein wenig Tripoli in den Straßen von Rom

Mitglieder des Benghazi Komitees und des Rabbi-nats, 1920

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Auswanderung

Auch wenn der größte Anteil nach Israel auswan-derte, entschloss sich ein kleinerer Teil, vor al-lem während der Auswanderungswelle nach demSechstagekrieg, nach Italien zu fliehen, da ihnender italienische Staat diese Möglichkeit bot und sieohnehin bereits die Sprache beherrschten. Als dieFlugzeuge in den 1960er Jahren in Rom landetenhatten die meisten kaum Besitz dabei, da die da-malige libysche Regierung es untersagte Eigentumund vor allemGeld bei der Auswanderung aus demLand zu schaffen, so dass sie gezwungen waren al-les zurück zu lassen. Ein libyscher Zeitzeuge, dernach Rom kam, erzählt:„Ich erinnere mich wie wir am Flughafen in Rom

landeten. Dort waren schon die heimischen Juden,die sich bemüht hatten uns zu empfangen und zuhelfen, da waren auch internationale Organisatio-nen die Zimmer in Hotels organisiert hatten; unsbrachten sie zu siebt, also unsere ganze Familie, ineinem Zimmer unter. Dort blieben wir ungefähr zweiWochen und dann mieteten wir eine Wohnung, viel-mehr ein Zimmer in einer Wohnung, wo wir, wieauch davor, zu siebt darin schliefen. Dort bliebenwir mehrere Monate, eine lange Zeit, währenddes-sen kam ich auf die Schule, die jüdische Schule vonRom, die besondere Klassen für die libyschen Kindereingerichtet hatten, nicht wirklich besonders, abersie bestand zu 90% aus libyschen Kindern und zweioder drei heimischen ’Tauben’, um mit der Integra-

tion und der Eingewöhnung an der Schule zu begin-nen. Es war ein großer Moment der Angliederung.„

Einmal angekommen blieben diejenigen, dienicht vor hatten nach Israel oder in die VereinigtenStaaten weiter zuziehen, einfach in der Hauptstadtund begannen dort ein neues Leben. Hauptansied-lungsgebiet war dabei ein Viertel im Norden derStadt in der nähe der Piazza Bologna der später als“afrikanisches Viertel„ bekannt wurde. Hier ist bisheute das jüdische Tripoli in all seinen Facetten er-halten geblieben, und besteht in perfekter Harmo-nie mit der Stadt fort. Geschäfte, koschere Metz-gereien und Restaurants bewahren, zusammenmitden vier Synagogen mit libyschen Ritus, die Tra-dition der alten Heimat. Das libysche Judentumist heutzutage fester Bestandteil der jüdischen Ge-meinde in Rom und prägt weiterhin das jüdischeStadtbild, so dass man sagen kann, dass das afri-kanische Viertel zusammen mit dem antico ghettoals Zentrum jüdischen Lebens in Rom angesehenwerden kann.

Am 10. Oktober 2003 zieht die 81-Jährige RinaDebash zu ihrer Familie nach Rom und damit ver-lässt auch die letzte Jüdin Libyen. Im Gegensatz zuanderen arabischen Ländern, in denen vereinzeltnoch Juden leben, ist Libyen das einzige arabischeLand, in dem das jüdische Leben vollkommen ver-schwunden ist. Umso erleichternder ist es zu wis-sen, dass trotz allem das libyschen Judentum nichtkomplett erloschen ist, sondern ihre Nachfahrenund Traditionen in den kleinen alten Gassen derewigen Stadt fortbestehen.

Weiterführende Literatur

Felice, Renzo de. Jews in an Arab Land. Libya, 1835-1970. Texas, 1985.

Roumani, Maurice M. The Jews of Libya. Coexis-tence, Persecution, Resettlement. Sussex, 2008.

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DieMellahs von Fes und Casablancaund das jüdische Leben in marokka-nischen StädtenRaphael Schunemann

D ie Mellah, das jüdische Stadtviertel, istein Teil vieler größerer Städte in Ma-rokko. Die jüdischen „Ghettos“ europäi-

scher Städte werden oft als Äquivalent zu denMellah genannt. Die erste jüdische Mellah wur-de Mitte des 15. Jahrhunderts auf einem Salz-sumpf neben der Stadt Fes gegründet. Wohl ausdiesem Grund wurde dieser Stadtteil nach demarabischenWort für Salz – milḥ – benannt. DieseBezeichnung für das jüdische Viertel einer ma-rokkanischen Stadt wurde im ganzen Land über-nommen, obwohl keine andere auf einem Salz-sumpf erbaut wurde.

An den in Marokko andauernden Herrschafts-streitigkeiten zwischen den Mariniden und denWattasiden, zwei islamischen Berber-Dynastien,beteiligte sich auch eine jüdische Gruppierung, de-ren Loyalität angezweifelt wurde. So kam es imJahr 1437 zur fraglichen Entdeckung der Grabstät-te des Sultan Idris II., des Gründers von Fez, sodassdie Altstadt als heiliger Boden erklärt wurde undalle „Ungläubigen“, also Nicht-Muslime, aus ihrverbannt wurden. So entwickelte sich die Mellah,anfangs noch ein Teil der Neustadt, schnell als neu-es Wohngebiet für die Juden. Al-Ḥasan al-Wazzān,ein im Anfang des 16. Jahrhunderts reisender Geo-graph berberischer Abstammung, beschrieb dieUmsiedelung so: „Die Juden wurden nach dem Tod

des Königs Abu Sa’id Uthman III (1420/1421) in dieNeustadt umgesiedelt und ihr jährlicher Tribut wur-de verdoppelt. Sie besiedeln eine lange Straße, in dersie ihre Läden und Synagogen haben und ihre An-zahl hat sich seit der Vertreibung aus Spaniendrastisch erhöht.„

Vertreibung aus Spanien: Im Jahr 1492 trat inden Königreichen Kastilien und Aragon, deren Ge-biete zu der Zeit fast ganz Spanien umfassten, dassogenannte Alhambra-Edikt in Kraft, das besagte,dass alle Juden aus den Gebieten verstoßenwerdensollten, sofern sie nicht zum Christentum konver-tierten.

Die Mellah von Fes

Die Mellah von Fes war nun der dritte Teil derStadt. Fās al-Bāli, die Altstadt, besteht seit dem9. Jahrhundert und war das Zentrum des Handelsund der Religion. Im 13. Jahrhundert wurde nebender Altstadt die Fās al-jadīd, die Neustadt, gegrün-det, um Platz für den Hof des Sultans zu schaf-fen. Erst nach 1912 kam noch ein Teil dazu: dieville nouvelle, die französische Neustadt. Die Mel-lah bedeckte eine Fläche von etwa fünf Hektar,eine Haupthandelsstraße zog sich von Ost nach

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Die Mellahs von Fes und Casablanca und das jüdische Leben in marokkanischen Städten

Karte von Fes

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West. Von dieser zweigten kleinere Seitenstraßenab, an denen die Wohnhäuser standen. Bis zumEnde des 19. Jahrhunderts wuchs die Bewohner-zahl auf 6000 heran, was etwa einem Zehntel dergesamten Stadt Fes entsprach. Wie die Altstadt,war auch die Mellah von Fes von hohen Mau-ern umgeben. Auch wenn die Isolation die Ein-wohner vor gewaltsamen Zwischenfällen schüt-zen sollten, diente die Ummauerung des Stadtvier-tels eher der Abtrennung der Juden von der musli-mischen Gesellschaft. Vermutlich geschah dies alsFolge der Auseinandersetzungen zwischen Musli-men und Juden, um den jüdischen Einfluss in Feszu beschränken.

Obwohl der einzige Ein- und Ausgang der Mel-lah von Soldaten bewacht wurde, gab es immerwieder Fälle der Gewalt gegen die jüdischen Be-wohner. Die meisten Übergriffe waren wohl vonräuberischer Natur. Die jüdische Gemeinde galtaus der Sicht Außenstehender als überfülltes, aberschlecht bewachtes Schatzhaus. Doch nicht nurNachbarn oder nomadische Völker der Umgebungmachten sich dies zum Vorteil. Auch die muslimi-

schen Autoritäten sahen die Mellah als bodenlo-se Geldquelle und bereicherten sich immer wiederdurch Erhöhungen der ǧizya oder Forderungenvon Zusatz-Zahlungen. Das Begleichen der unre-gelmäßig geforderten Zusatz-Zahlungen war einegroßen Herausforderung für die jüdische Gemein-de und verlangte ihnen oft kurzfristig große or-ganisatorische Leistungen ab. Da die Forderungenan die gesamte Gruppe gestellt wurden, musstensich die Juden selbst organisieren, um sie zu stem-men. Es war eine Gelegenheit für die Oberhäup-ter, sich mit dem Organisieren der Eintreibung zubeweisen und ihre innerpolitische Position zu si-chern, aber auch eine Gelegenheit derWohlhaben-den, sich einen hohen gesellschaftlichen Status zuerkaufen. Selten wurde die jüdische Gemeinde inmuslimische Zeremonien eingebunden. Der soge-nannte šaiḫ al-yahūd, das offizielle muslimischeOberhaupt der Juden, führte an besonderen musli-mischen Feiertagen oder am Tag der Geburt oderder Hochzeit eines Prinzen eine jüdische Delegati-on an, die Geschenke brachten oder Beglückwün-schigungen aussprachen. Die Lebensumstände der

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Die Mellahs von Fes und Casablanca und das jüdische Leben in marokkanischen Städten

Friedhof der Mellah von Fes

©WikipediaCo

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Mellah-Bewohner wandelten sich über die 600 Jah-re des Bestehens. So schrieb Luis de Marmol, einspanischer Chroniker, der Fes in den 1540er Jah-ren besuchte:“Das Viertel hat einen großen Platzmitviele Geschäften, Synagogen und gut gebauten Häu-sern. Viele der Juden sind Goldschmiede, die in Fāsal-jadīd arbeiten und andere haben hohe Positionenim Palast besetzt.„

Die ǧizya, ist eine von Muslimen erhobeneKopfsteuer, die von Christen und Juden in musli-mischen Gebieten bezahlt werden musste. Die Hö-he dieser Steuer variierte in verschiedenen Gebie-ten und Zeiten enorm.

In einem Brief aus dem Archiv der AIU, einerinternationalen Organisation für jüdische Kultur,wird die Mellah von Fes im Jahr 1910 beschrieben:“Der äußerliche Anblick der Fez ist zutiefst beunru-higend; die stinkenden, dreckigen Straßen sind ge-füllt mit Scharen von in Lumpen gekleideten Kin-dern, Frauen und Männern, deren Gesichter kränk-

lich und bleich wirken. (...) In jeder Straßeneckehäuft sich der Müll, die Mauern sind von Jahrhun-derten Schmutz schwarz gefärbt. Die Mellah ist einObjekt der Verachtung und des Ekels der reichenMuslime (…), die niemals einen Fuß hinein setzenwerden.“

Obwohl nicht geklärt ist, in welchem Maße dieBerichte der Wirklichkeit entsprachen, ist festzu-stellen, dass die Mellah im 16. Jahrhundert we-sentlich positiver beschrieben wird als im 20. Jahr-hundert. Der begrenzte Raum, die Überbevölke-rung und die ungenügende Hygiene in einem ab-geschotteten Bereich mit wenig Verbindung zurrestlichen Stadt formten dieMellah von Fes immerweiter zu einem von Außenstehenden gemiedenenOrt, der kaum mehr als Teil von Fes zu bezeichnenwar. Das Viertel wurde immer weiter isoliert unddie Lebensumstände immer miserabler. Zum Bei-spiel gibt es einen Bericht aus dem Jahr 1889, nachdem es den Bewohnern nicht gestattet war, ihrenAbfall selbst zu entsorgen. Das war einigen ara-

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Die Mellahs von Fes und Casablanca und das jüdische Leben in marokkanischen Städten

bischen Offiziellen vorbehalten, die im Gegenzugeine große Geldsumme verlangen konnten.

Die Mellah von Casablanca undihre Bewohner

In Casablanca liegt das jüdische Viertel südwest-lich der arabischen Altstadt. Obwohl auch das gan-ze Viertel als „Mellah„ bezeichnet wurde, deutetedieser Begriffmeist auf den reicheren Teil des Vier-tels hin. Im Schatten der Häuser der privilegierte-ren Juden befindet sich die Bhira. In dem weiterstadtauswärts gelegenen Teil des jüdischen Vier-tels war die weniger wohlhabende Schicht vor-zufinden. In den Holzhütten und deren zeltför-migen Anbauten wohnten viele einfache Bauern,die kaum mehr als ein oder zwei Milchkühe be-saßen. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es großeDifferenzen innerhalb der Mellah von Casablanca.Grob eingeteilt waren es drei Gruppierungen, diesich hauptsächlich durch die ihre Herkunft und ih-re Muttersprache unterschieden, aber auch sonstkaum gemeinsame Identität zeigten. Die “Shyl-loks“, die Nachkommen der Juden, die schon vorder zweiten Tempelzerstörung im Jahr 70 n.Chr. indenMaghreb immigrierten, sahen sich als jüdischeUrbevölkerung in diesem Gebiet. Sie ähnelten denBerber-Nomaden, lebten meist auf dem Land, sel-tener in der Bhira. Die meisten der Rumīs (von „Rö-mer“), die „ausländischen Juden“, kamen nach 1492aus Spanien nach Marokko und sprachen haupt-sächlich Spanisch. Die dritte Gruppierung warendie sogenannten „Forasteros„ (span.: Fremde), dieim Maghreb beheimatet waren und Arabisch spra-chen. Der Begriff “Forastero“ stellt, vor allem voneinem Rumī ausgesprochen, eine grobe Beleidi-gung da. Vor allem zwischen den Forasteros undden Rumīs kam es aufgrund halachischer und kul-tureller Unterschiede hauptsächlich in den anfäng-lichen Zeiten zu langwidrigen Streitigkeiten. DerKonflikt zwischen diesen Gruppen innerhalb Mel-lah und Bhira in Casablanca war größer als derzwischen den Juden und Christen oder Juden undMuslimen ebenda. Die Einwohner in derMellahs inMarokko unterschieden sich in einigen Aspektenstärker oder weniger stark voneinander, doch dieGemeinschaft in Casablanca ließ sich wohl kaumals solch eine sehen, da die drei Gruppen sich mehrunterschieden als glichen.

Weiterführende Literatur

Brauch, Julia. Jewish Topographies. Visions of Space,Traditions of Place. Aldershot, 2008.

Ernst, Petra. Jewish Spaces. die Kategorie Raum imKontext kultureller Identitäten. Insbruck, 2010.

Hull, Richard W. Jews and Judaism in African His-tory. Princeton, 2009.

Rodrique, Aron. Jews and Muslims. Images of Se-phardi and eastern Jewries in Modern Times. Se-attle, 2003.

Susan Gilson Muller Attilo Petruccioli, Mauro Be-tagnin. »Inscribing Minority Space in the Is-lamic City:.The Jewish Quarter of Fez (1438-1912)«. In: Journal of the Society of ArchitecturalHistorians. Bd. 60. Betagnin, Sep. 2001, S. 310–327.

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Ihr Gesang hallt nachLilith Kappelmann

S ommer 2015. In einem Lieblingslokal im Sü-den von Tel Aviv. An der Bar ist immerder beste Platz, wenn man mitten im Ge-

schehen sein will. Kellnerinnen mit mühelos fri-siertem, lockigem Haar bewegen sich leichtfüßigdie Treppe hinauf, aus dem Lokal auf die Ter-rasse. Der Blick in die Küche ist verheissungs-voll: Sattrote Tomatenberge. Hauchdünne, knusp-rig gebratene Auberginenscheiben. Grün glän-zende Chillischoten, die hier jedem Gericht denletzten Schliff verpassen. Der Duft von Olivenöl,frischen Zitronen und der Honignote des Weiß-weins umwehen die Nase. Ein junges Paar er-freut sich schon an einem ganzen Blumenkohl,zupft die butterweichen Dolden genüsslich mitden Händen ab. Gläser klirren, ein Name wirdgerufen „Tamar!„. Das Zischen der Pfannen. Vor-freude. Langsam wird das Licht gedimmt, derAbend ist noch jung.Ein Song setzt ein. Die Lautstärke wird gleich

darauf hochgedreht. Die Kellner blicken sich an,klatschen im Takt, lachen, tanzen um die Bar, sin-gen den Refrain. Die Gäste bewegen so gut es gehtihre Oberkörper auf den Stühlen, heben die Ar-me zum Beat. Ein Raum voll positiver Energie. Ei-ne kleine Gemeinschaft freut sich in diesem Au-genblick am arabischen Gesang einer brandneu-en Band. A-WA. Das sind die drei Schwestern Ta-ir, Liron und Tagel Haim. Ihr Nachname bedeutet“Leben„ auf Hebräisch und “A-WA„, im Ägyptisch-Arabischen “Ay-Wah„ heißt “Ja„, beides sehr be-zeichnend, denn ihr Lied „Habib Galbi“ verbreitetLebensfreude ohne Ende.Ursprünglich handelt es sich um ein traditio-

nelles jemenitisches Lied, das die Schwestern frü-her gemeinsam gesungen haben. Jetzt haben siees “verfremdet„, in unsere Zeit gebracht, die Me-

lodie mit Hip-Hop-Noten und Electro-Beats unter-legt, und das funktioniert nicht nur erstaunlich gut,es ist auch unglaublich eingängig.

Tair, Liron und Tagel sind in Israel aufge-wachsen, haben jedoch jemenitische Wurzeln. Ih-re Großeltern väterlicherseits kamen im Zuge derOperation “Fliegender Teppich“ vom Jemen nachIsrael. Dabei wurden 50.000 jemenitische Judenzwischen 1948 und 1950 in das junge, neu gegrün-dete Land eingeflogen.

Man kann sich vorstellen, dass eine derartigeUmsiedlung nicht wenige Schwierigkeiten mit sichbringt. Die Mehrheit der jemenitischen Juden hat-ten in ihrer Heimat ein traditionell- religiöses Le-ben in kleinen, stammes-ähnlichen Gemeinden ge-führt und es gab hierarchische Strukturen in ihrerGesellschaft. Frauen durften am öffentlichen undkultischen Geschehen nicht teilhaben, sie waren al-lein für den privaten Haushalt und die Kinderer-ziehung zuständig. Die familiäre Autorität sowieder Eigentumsbesitz lagen in der Hand des Man-nes. Jegliche Aufgaben waren den Geschlechternklar zugeschrieben und diese Rollenverteilung soll-te strikt eingehalten werden. Dieses patriarchaleLebenskonzept war in Israel schwer aufrecht zu er-halten: Nachdem die jemenitischen Juden im An-schluss an ihre Ankunft in Transit-Camps unter-gebracht worden waren, siedelte ein Großteil vonihnen in sogenannten moshavim an.

Diese neu gegründeten Dörfer stützten ihren Le-bensunterhalt auf die Landwirtschaft und beruhtenauf einer kooperativen Lebensweise der einzelnenMitglieder. Zwei große Anforderungen, denen sichdie Juden des Jemen stellen mussten und die einegewisse Assimilation an die vom Westen gepräg-te Lebensweise in Israel voraussetzten. Denn in ih-rer Heimat waren sie nicht befugt landwirtschaft-

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Ihr Gesang hallt nach

lichen Tätigkeiten nachzugehen, sie verdienten ihrGeld meist als Handwerker und später als Händler,es fehlte ihnen also schlichtweg die Erfahrung imAgrar-Bereich.Sehr wichtig ist zudem, dass die moderne,

westlich orientierte Gesellschaft in Palästina/Israelrechtlich den Bestimmungen des Britischen Man-dats folgte und damit gingen auch Regelungen vonEigentum und Erbschaft einher: Männer und Frau-en sollten das gleiche Recht auf Erbe haben. Dieswar neu für die jemenitischen Einwanderer. Eigen-tumwurde traditionell nur untermännlichen Fami-lienmitgliedern weitergegeben. Auch, um die Ge-fahr zu meiden, der Besitz könnte mit der Heirateiner Tochter an einen anderen Stamm übergehen.Diese rechtliche Veränderung in der neuen HeimatIsrael wandelte die Rolle der Frau zusehends, wurdeaber nicht ohne weiteres in den jemenitischen Fa-milien akzeptiert. Viele der Frauen kämpften langedarum, ihr Eigentumsrecht durchzusetzen und ihrlegitimes Erbe zu erlangen.Zudem forderte das ideologische Konzept des

moshav für Frauen die volle Teilhaberschaft anlandwirtschaftlicher Arbeit und sozialen Aktivi-täten. Dies sollte die gewohnte Lebensweise derjemenitischen Juden stark beeinflussen, denn dieFrauen entwickelten einen ausgiebigen Unterneh-mergeist und formten eine Art informellen Wirt-schaftszweig. Während die Männer für den genos-senschaftlichen Handel innerhalb des Dorfes zu-ständig waren, reisten die Frauen in Städte, ver-kauften ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse understanden wiederum neue Produkte für den Haus-halt und die Arbeit auf dem Land. Diese Tätigkeitverstärkte den Einfluss der weiblichen Familien-mitglieder aus dem Jemen innerhalb ihrer Gemein-schaft und machte außerdem eine Vernetzung mitFrauen anderer moshavim möglich. Damit wurdensie ein zentraler ökonomischer Faktor der Familie,gleichzeitig fungierten sie durch ihre neu gewon-nenen Kontakte als eine Art Motor zur Sozialisie-rung der Familie.Wie bereits erwähnt, sah die konventionelle

Sozialstruktur eines jemenitisch(-jüdischen) Haus-halts die Trennung der Aufgabenbereiche vonMann und Frau vor. Eine solche Zweiteilung lässtsich interessanterweise auch in der traditionel-len jüdisch-jemenitischen Volksmusik beobachten.Dies ist ein besonderes Phänomen, das keine ande-re jüdische Gemeinde aufweist.Einerseits umfasst die Volksmusik der Juden im

Jemen den semi-religiösen Gesang, der allein vonMännern praktiziert wird, andererseits die pro-fanen Lieder der Frauen. Sie unterscheiden sich

grundlegend, fast so, als würden Frauen und Män-ner in verschiedenen Welten leben.

Die Texte der „Männerlieder„ greifen religiöseThemen auf und werden auf Hebräisch und Ara-mäisch gesungen. Ein Hauptsänger gibt die Melo-die vor und ihm folgenmeist zwei wechselnde Chö-re. Dabei ist zu beachten, dass ein häufiges Ändernder Melodie sehr beliebt war und demHauptsängergroßes Ansehen verlieh.

Die Frauen hingegen singen auf Arabisch. Siekönnen kein Hebräisch, weil sie am kultischen Le-ben in der Synagoge nicht teilhaben dürfen. Siesind vom spirituellen Kreis der Männer ausge-schlossen, also praktizieren sie ihren Gesang wäh-rend sie häusliche Tätigkeiten verrichten. Melo-disch lassen sich keine Ähnlichkeiten zu den Lie-dern der Männer erkennen.

Das Leben der beiden Geschlechter scheint invielen Bereichen sehr deutlich getrennt gewesen zusein. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Hoch-zeit. Traditionelle jemenitische Hochzeiten wurdennämlich vonMännern und Frauen an separaten Or-ten gefeiert, was ein Mitgrund dafür sein könnte,dass sich ihre Volkslieder so grundlegend unter-scheiden.

Die Melodien der Frauen sind einfacher und ihrGesang von häufigen Wiederholungen geprägt. Ih-re Lieder handeln von Liebe, Ehe, Geburt, Tod,von den Freuden und Leiden der heimischen Welt.Die Volkslieder waren die einzige Möglichkeit fürdie jemenitischen Jüdinnen ihre Gefühle auszudrü-cken, da sie weder lesen und schreiben konnten,noch am Gebet der Männer teilhaben durften. DieLieder wurden von Generation zu Generation wei-tergegeben und bilden einen integralen Bestandteilder jemenitischen Kultur.

“Habib Galbi„, das erfolgreiche, arabische Liedder Band A-WA ist eines dieser Volksmusikstückeund handelt von einer verlorenen Liebe. “HabibGalbi„ bedeutet übersetzt “Liebe meines Herzens„und wird aus der Perspektive einer Frau gesungen,deren Mann sie verlassen hat.

Die drei Schwestern wollen die traditionellenGesänge ihrer Vorfahrinnen wieder neu auflebenlassen und treten damit in die Fußstapfen einer sehrbekannten jüdisch-jemenitischen Sängerin aus Is-rael: Ofra Haza. Sie wurde in Tel Aviv als Toch-ter von jüdischen Immigranten geboren und be-sann sich mit ihrer Musik auf ihre orientalischenWurzeln im Jemen, indem sie (doch) einen einzig-artigen Stil schuf, der östliche und westliche, al-te und neue Klänge verschmelzen ließ. Ofra Ha-za trat meist in folkloristischen Gewändern aufund trug typisch jemenitischen Schmuck, benutz-

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Ihr Gesang hallt nach

Die drei Schwestern der Band A-WA in ihrem Musikvideo zur Single “Habib Galbi“

te aber westliche Instrumente und erlangte für ih-re einzigartigen Musikstücke internationale Aner-kennung und viele Ehrenpreise. Dennoch steht siefür eine Generation von Mizrachim, die mit stän-digen Diskriminierungen von Seiten der Ashkena-sim zu kämpfen hatten. So weigerten sich in den1970ger und -80ger Jahren einige Musikproduzen-ten wegen ihrer orientalischen Herkunft, mit Hazazusammenzuarbeiten. Diese Herabwürdigung hat-te zu Folge, dass viele der jemenitischen Juden inzweiter Generation, die also schon in Israel geborenwaren, dazu tendierten, sich zu assimilieren, sichvoll in die israelische Gesellschaft zu integrieren.Sie sahen die Assimilierung als Mittel, den Ernied-rigungen entgegenzuwirken. So auch die Eltern derSchwestern A-WA. Sie entschieden sich nur Hebrä-isch zu sprechen, nicht Jemenitisch - Arabisch. So-mit haben sie sich in ihrem Sprachgebrauch an dieisraelische, hebräischsprechende Gesellschaft an-gepasst.Doch Tair, Liron und Tagel verspürten einen tie-

fen Drang, ihre Wurzeln zu ergründen und sahendie Möglichkeit, dies über das ihnen vertraute Me-dium der Musik zu versuchen. Sie wollen mit ih-ren Liedern weniger eine politische, als eine sozia-le Signalbotschaft senden. Sie möchten den Texten,die von ihrer Großmutter und den vielen Genra-tionen von Frauen im Jemen hervorgebracht wur-den, Gehör verleihen. Sie möchten daran erinnern,dass diese Frauen kaumRechte besaßen, aber in der

Musik eine Ausdrucksweise gefunden hatten. Je-des ihrer Lieder erzählt die individuelle Geschichteeiner Frau, ob unglücklich verliebt, verlassen oderzu früh verheiratet. A-WA vertreten damit auch ei-nen feministischen Standpunkt, sie wollen daraufhinweisen, dass Frauen allgemein heute noch im-mer nicht so wertgeschätzt werden, wie es der Fallsein sollte. Dennoch: für ihren unverwechselbarenSound werden die Schwestern hoch geschätzt.

Die Band wurde für ihre Single “Habib Galbi„vom amerikanischen Sender National Public Radiozu einem der zehn weltweit besten Musikergrup-pen im Jahre 2015 ernannt und ihr Song verzeichnetmittlerweile mehr als acht Millionen Aufrufe aufYouTube. Und vielleicht ist ihre Botschaft als stär-kende Kraft für junge Frauen überall im Nahen undMittleren Osten sogar bereits angekommen, wie Li-ron in einem Interview erzählt: “vor einiger Zeiterreichte uns eine Nachricht von einem Mann ausJemen, er schrieb: „little girls here (in Yemen) lookup to you because you present a free-spirited way ofbeing women.„ Unbestritten stehen sie in der Tra-dition einiger jüdisch jemenitischer Sängerinnen,die den kulturellen Bereichmaßgeblich mit geprägthaben, der heute als “israelische Unterhaltungsmu-sik„ bezeichnet wird.

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Gemeinsam bis ans Ende der Welt.Jüdischer Messianismus im Jemenund seine Beeinflussung durch diemuslimische TraditionFranziska Prokopetz

A lle Blicke sind nach oben gerichtet. AmHorizont zeigt sich ein kleiner Punkt.Langsam gewinnt er an Größe und Ge-

stalt und bald kündigt ein unheimlich lautesBrummen die näher kommende Rettung an. Brei-te Flügel lassen sich erkennen. Sie spannen sichüber denHorizont, glitzern in der Sonne und ver-heißen die lang ersehnte Erlösung. Die Köpfe indie Nacken gelegt und die Hände an die Ohrengepresst zum Schutz vor dem Lärm, verfolgendie vielenWartenden die Ankunft des immer nä-her kommenden Giganten. Kinder pressen ihrekleinen Köpfe an die Brust der Mütter, hier unddort dringt ein ängstliches Wimmern durch dasGedröhne. Monate- und jahrelanges Ausharrenhat für manche von ihnen nun ein Ende. Staubwirbelt auf, brennt in den Augen und treibt densonst so reglosen Körpern Tränen in die Augen.Mit einem dumpfen Schlag setzt das Flugzeug amBoden auf, als wolle es damit ein letztes Mal be-weisen, dass es König der Lüfte ist. Schlagartigkehrt wieder Ruhe ein. Es riecht nach Kerosin.Langsam entspannen sich die Gesichter. Die war-tende Menge beginnt sich zu bewegen, hier undda zeichnet sich ein Lächeln auf den erschöpftenGesichtern ab.

Ähnlich emotional muss wohl die Ankunft einesjeden Flugzeuges in ’Adan zwischen 1948 und 1950zur Rettung der jemenitischen Juden gewesen sein.In einer geheimen Operation wurden auf Initiati-ve des israelischen Staates und mit Hilfe von jü-dischen Organisationen und den Regierungen aus’Adan und dem Jemen fast 50.000 Juden, also bei-nahe die gesamte jüdische Gemeinde nach Israelausgeflogen. Dabei ist der Begriff „Operation flie-gender Teppich“ als Bezeichnung für die wohl be-kannteste Aliya in die Geschichte eingegangen. Erhielt Einzug in der Literatur, als Straßenname inbeinahe jeder größeren israelischen Stadt und so-gar im kollektiven Gedächtnis der jemenitischenMigranten in Israel selbst.

Wörtlich bedeutet der Begriff Aliya im Deut-schen so viel wie „Aufstieg“. Gemeint sind da-mit grundsätzlich alle Einwanderungsbewegun-gen aus der jüdischen Diaspora nach Palästina,ganz gleich aus welchen Beweggründen. Ganzgrob unterscheidet man aber zwischen der Aliyavor dem Zionismus und nach dem Zionismus.

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Gemeinsam bis ans Ende der Welt. Jüdischer Messianismus im Jemen und seine Beeinflussung durch diemuslimische Tradition

©WikipediaCo

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Mythos „Operation FliegenderTeppich„

Doch der Begriff erzählt nicht nur die emotiona-le Geschichte der Rettung und Einwanderung je-menitischer Juden nach Israel. Sondern er stelltauch die Geschichte von Orientalismus innerhalbder israelischen Gesellschaft dar, in der die Asch-kenasim die Mizrachim stigmatisieren. In Berich-ten des JDC (=American Jewish Joint Distributi-on Committee), das an der Rettung unmittelbarmitgewirkt hat, werden die jemenitischen Judenals rückständig und naiv beschrieben. Es heißt, siehielten das Flugzeug für ein Wunder oder gar fürdie Gestalt des Messias. Wobei sie sich hierbei aufden Exodus 19, Vers 4 gestützt haben sollen: “Ihrhabt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe,wie ich euch auf Adlerflügeln getragen, und hier-her zu mir gebracht habe„. Auch deswegen wirddie Rettungsaktion offiziell “Operation on Wings

of Eagles„ genannt. Durch das zusätzliche Auf-greifen solcher Bilder und Vorstellungen durch dieisraelische und internationale Presse, entwickeltesich ein Mythos, der eine orientalistische Sicht-weise verbreitet. Dabei werden die Schattenseitendieser Rettungsaktion meist komplett außer Achtgelassen. Bedingt durch die vielen unerwartetenAnkömmlinge im Auffanglager in ’Adan, verlorenviele jemenitische Juden aufgrund von Nahrungs-mangel und fehlender medizinischer Versorgungihr Leben. Diemeisten auf RettungWartenden hat-ten tatsächlich noch nie ein Flugzeug gesehen undgleichzeitig spielten messianische Vorstellung imJemen seit langer Zeit eine große Rolle im religiö-sen Alltag. Trotzdem sollte man bei dem Begriff“Operation fliegender Teppich„ Edward Saids Kri-tik amOrientalismus imHinterkopf haben und diedamit erzeugten Bilder kritisch hinterfragen.

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Gemeinsam bis ans Ende der Welt. Jüdischer Messianismus im Jemen und seine Beeinflussung durch diemuslimische Tradition

©WikipediaCo

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Der Begriff des Orientalismus wurde von Ed-ward W. Said geprägt. Said äußert damit Kritik ander europäischen Sichtweise auf den Orient, dieseit der Antike geprägt war von der Vorstellung ei-nes “Märchenlandes voller exotischer Wesen„. DerOrient dient so dem Westen als ein Gegenbild sei-ner eigenen Kultur.

Der Begriff Aschkenasim bezeichnet Juden undihre Nachfahren aus Nord-, Mittel-, und Osteuro-pa. Der Begriff Mizrachim bezeichnet Juden undihre Nachfahren aus Asien und dem Nahen Osten.

Muslimischer und jüdischerMessianismus in Jemen

Wie bereits erwähnt, waren messianische Vorstel-lungen im Jemen keine Seltenheit. Besonders im19. Jahrhundert wurde der Messianismus beina-he schon zum Alltag, da sich zu dieser Zeit dreiJuden als Messias bezeichneten und damit zum

Teil internationale Bekanntheit erlangten. Der be-kannteste unter ihnen ist wohl Shukr Kuhayl I.Er begann seine Karriere als Botschafter, der inṢanʿāʾ die messianische Botschaft von einer bal-digen Erlösung verkündete. Daraufhin wanderteer zwei Jahre lang durch das Land und versuchteso vor allem in den ländlichen Gebieten die Bu-ße der Bevölkerung und somit die Erlösung vor-anzutreiben. Am Ende seiner Karriere ließ er sichauf dem Berg Tiyal nieder und bezeichnete sichselbst nicht mehr bloß als Botschafter der nahenApokalypse, sondern auch als den Messias selbst.Interessant ist aber, dass sich solche Vorstellun-gen einer endzeitlichen Erlösung keineswegs nurin der jüdischen Bevölkerung im Jemen abspielten.Auch in der muslimischen Gesellschaft gab es zudieser Zeit intensive apokalyptische Erwartungenund auch hier zwei Muslime, die sich ihrerseits alsMahdī verstanden. Die jüdischen Siedlungen in-mitten dermuslimischenMehrheitsgesellschaft er-laubten einen regenAustausch, sogar im religiösenBereich. Und so kam es dazu, dass sich endzeitli-che Erwartungen nicht nur nebeneinander entwi-ckelten, sondern gegenseitig verstärkten und da-

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Gemeinsam bis ans Ende der Welt. Jüdischer Messianismus im Jemen und seine Beeinflussung durch diemuslimische Tradition

mit muslimische Vorstellungen sogar Einzug in jü-dische Messias-Literatur hielten.

Historischer Kontext

Die Frage, warum apokalyptische Vorstellungen indiesen Zeiten überhaupt so populär waren, ist da-mit aber noch nicht beantwortet. Hier lohnt sichein Blick auf die geschichtlichen Ereignisse der da-maligen Zeit. Im 19. Jahrhundert besetzten gleichzwei Großmächte den Jemen. Im Süden errich-tete Großbritannien ein Protektorat und machte’Adan zum wichtigsten Flottenstützpunkt auf demWeg zur Kronkolonie Indien. Parallel dazu kehrtenauch die Osmanen, nachdem sie im 17. Jahrhun-dert eigentlich vertrieben wurden, wieder in denJemen zurück und besetzten verschiedene Gebie-te im Norden, unter anderem Tihāma und den Be-reich zwischen Ṣanʿāʾ und Taʿiz. Politisch gesehenwar das Land dadurch in einer unheimlich instabi-len Phase. Das Leben der meisten sozialen Grup-pen - Muslime wie Juden - verschlechterte sich zu-sehends und so begann die jemenitische Bevölke-rung die Erlösung allen Übels in der Erwartung desMessias zu suchen. In der muslimisch und jüdi-schen messianischen Literatur zeichnen sich des-halb die sozialen und politischen Begebenheitendes 19. Jahrhunderts ab: Die interne politische In-stabilität wurde als apokalyptischer Kampf darge-stellt und die eingedrungenen Großmächte als an-timessianische Kräfte.

Einfluss der muslimischenTradition

Wirft man einen Blick in jüdische Messias-Literatur zu dieser Zeit, stellt man sehr schnellfest, dass es sich um keine traditionellen apoka-lyptischen Werke handelt. Hier stehen muslimi-sche Vorstellungen gleichberechtigt neben den jü-dischen Traditionen und es entsteht mitunter so-gar eine Mischung aus beiden. Muslimische lite-rarische Traditionen werden auf verschiedene Ar-ten übernommen: Entweder sie wurden einfachzu den bekannten jüdischen Traditionen hinzuge-fügt, oder beide Vorstellungen wurden ineinan-der verwebt. Die Ankunft des jüdischen Messiasstellt letztendlich gar keinen integralen Bestand-

teil mehr in der jüdischen Literatur dar. Vielmehrwird sie als abschließende Begebenheit behandelt.Ein Beispiel ist hierfür die für den Islam heilige

Stadt Mekka. Denn neben Figuren aus der musli-mischen Apokalypse hält auch sie Einzug in vielenjüdischenWerken. Dabei steht dieḤaǧ, also die Pil-gerfahrt der Muslime nach Mekka, oft am Anfangaller apokalyptischen Ereignisse, wie auch bei demmessianischen Werk zum Botschafter und späte-ren Messias Shukr Kuhayl I.Aber auch apokalyptische Figuren aus dem Is-

lam finden ihren Platz in der jüdischen Litera-tur. Der Mahdī tritt meistens als eine Art Vor-bote und auch Vorbereiter des jüdischen Messi-as auf, der zwar mit seinem Auftauchen immerbesiegt und gelegentlich auch getötet wird. Ab-solut erwähnenswert ist jedoch, dass in keinemder jüdischen Werke aus dem Jemen ein bewaff-neter Kampf oder gar Krieg zwischen der mus-limischen und jüdischen Figur beschrieben wird.Hingegen üblich ist es in der traditionellen jüdi-schen Messias-Literatur, dass der Messias in denKampf gegen die apokalyptischen Figuren aus denanderen Religionen zieht. In der Literatur zu ShukrKuhayl I wird seine Beziehung zum König, der ausMekka kam und noch vor dem jüdischen Messiasden Jemen besetzte, einfach ganz außer Acht gelas-sen und gar nicht thematisiert. Grundsätzlich kannman also feststellen, dass den Traditionen aus bei-den Religionen ein gleicher Wert zugeschriebenwird.Während man bei den meisten jüdischen apo-

kalyptischen Werken aus dem Jemen davon aus-gehen muss, dass diese Übernahme muslimischerTraditionen und die Überlagerung beider Überlie-ferungen eher unbewusst von statten ging, sprichtman bei der messianischen Literatur zu ShukrKuhayl I von einer bewussten Nutzbarmachungder muslimischen Bilder, um die Unterstützung fürseinen Verkünder – also Shukr Kuhayl I selbst –zu vergrößern. Das Bild von dem muslimischenKönig, der an der Spitze seines Heeres die Kaʿbaverlässt, wird mit der traditionellen jüdischen Vor-stellung von der Verbannung in das Exil und demGebet zurMilderung der Strafen zusammengefügt.Die Messias-Figur Shukr Kuhayl I ist damit auchdas beste Beispiel für diese Vertrautheit, die unterden einzelnen Traditionen der verschiedenen Re-ligionen bestand. Denn nicht grundlos benutzt ein

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Gemeinsam bis ans Ende der Welt. Jüdischer Messianismus im Jemen und seine Beeinflussung durch diemuslimische Tradition

jüdischer Messias muslimische Vorstellungen derEndzeit, um seine eigene Anerkennung in der je-menitischen Bevölkerung auszudehnen.Am Ende wird ihm aber der große Zuspruch,

auch auf Seiten der muslimischen Bevölkerungzum Verhängnis. Shukr Kuhayl I wurde 1865 vonArabern am Berg Tiyal getötet und sein Kopf nachṢanʿāʾ gebracht. Hinter diesem Attentat stecktevermutlich die ʿulamāʾ, die religiöse Elite der Mus-lime, die seinen Erfolg unter den dort ansässigenMuslimen als Gotteslästerung empfand.Nicht nur der Messias Shukr Kuhayl I hat sich

also letztendlich als falsche Hoffnung auf die Er-lösung entpuppt. Auch die Rettung der jemeniti-schen Juden hat grundsätzlich wenig mit der An-kunft eines Messias gemein.

Weiterführende Literatur

Klorman, Bat-Tsiyon Eraki. The Jews of Jemen inthe Nineteenth Century. A portrait of MessianicCommunity. Leiden, 1993.

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Eine jüdische WallfahrtBarbara Sedlmeir

A uf der tunesischen Insel Djerba befindensich zwei jüdische Dörfer: Hara Kebira(das große Dorf), mit elf Synagogen, und

einem Marktplatz, sowie Hara Seghira (das klei-ne Dorf), das heute Er-Riadh heißt. Am Ortsrandvon Er-Riadh befindet sich auchdie „Wundertäti-ge“, die Ghriba-Synagoge. Die jüdische Gemein-de Djerbas ist die älteste Diasporagemeinde imMittelmeerraum. Durch die günstige Lage der In-sel entlang zentraler Handelswege konnten sichdie Juden auf Djerba aktiv am Handel im Mittel-meerraum beteiligen.In Hara Seghira, das sich längst zu einem pro-

peren muslimischen Viertel im maurischen Stilentwickelt hat, wohnen nur noch etwa 50 nichteben betuchte jüdische Familien, angeblich alle-samt Nachkommen der Kohanim, des Priesterge-schlechts. Die Mehrzahl der Juden, viele von ih-nen Goldschmiede, wohnt inHara Kebira. Die jüdi-sche Gemeinschaft ist immer noch eineMinderheitauf der Insel. Lange Zeit existierte eine ökonomi-sche Kooperation und Arbeitsteilung zwischen Ju-den und Muslimen, doch in weniger als einem hal-ben Jahrhundert verschwand die jüdische Gemein-de aus Tunesien, diemit ihrer Präsenz ganz tief undandauernd das Land prägte. Damit wurde mehroder weniger die gemeinsame Geschichte und Ko-existenz von Juden und Moslems auf tunesischemBoden für immer begraben. Trotz der zweitausend-jährigen jüdischen Präsenz, die sowohl die viel-fachen archäologischen Spuren als auch die al-ten Berichte bestätigen, hatten nur 20 Jahre in derMitte des 20. Jahrhunderts für die Auswanderungder Mehrheit der jüdischen Gemeinde ausgereicht.

Man kann von einem Exodus der tunesischen Ju-den sprechen, denn sie machten sich massenweisein kurzer Zeit entweder ins Exil Richtung Frank-reich auf oder bildeten einen Teil der Aliyot-Wellenin Richtung des neu gegründeten Staates Israel. Indiesem kurzen Zeitraum reduzierte sich die Anzahlder Juden in Tunesien von 150.000 auf den heuti-gen Stand von 2.000 Juden, wovon die meisten aufDjerba wohnen und dort auch ihr tunesisches Ju-dentum so gut es geht zu bewahren und ihren Kin-dern weiterzugeben vermögen.Um die Synagoge ranken sich viele Geschichten.

Einem Mythos zufolge fand eine Priester-Gruppenach der Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusa-lem (900 v. Chr.) ihren Weg nach Djerba. Sie setz-ten eines der Tore des zerstörten Jerusalemer Tem-pels in das Fundament einer Synagoge auf Djerba,die sie „El Ghriba“–„Die Wundertätige“ nannten.Das allein erklärt schon die große Anziehungs-kraft, die die Synagoge über Jahrhunderte hinwegauf ihre Besucher ausübt. Demnach ist sie eine derältesten Synagogen von Afrika und gehört auchzum Kreis der ältesten Synagogen weltweit. Dergrößte Schatz der Synagoge ist eineThorarolle, diezu den ältesten der Welt zählt. Während der all-jährlichen Wallfahrt wird die Rolle in einer feierli-chen Prozession um die Synagoge und durch denOrt getragen. Eigentlich gibt es im Judentum seitder Zerstörung des zweiten Tempels durch die Rö-mer im Jahre 70 unserer Zeitrechnung keine Wall-fahrt mehr, denn der Tempel war das Ziel derWall-fahrt. Doch auf Djerba hat sich diese Tradition er-halten. Eine andere Legende, die der Wallfahrt zu-grunde liegt, handelt von einemMädchen, genannt

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Eine jüdische Wallfahrt

La Ghriba Synagoge in Djerba

©Citiz

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„al Ġarība“, die Fremde, die sich fern des Ortes ineinem Haus niederließ. Dieses brannte ab, jedochblieb Ihr Körper unversehrt. Sie galt deshalb alsHeilige und an der Stelle ihres Hauses wurde dieEl-Ghriba-Synagoge errichtet, ihr Leichnam liegthier beerdigt und wird wie ein Reliquienschreinverehrt, obwohl das Judentum weder Heilige nochReliquien kennt. Wiederum eine andere Legendebesagt, dass ein Meteorit an dieser Stelle einge-schlagen haben soll, wo später die Synagoge erbautwurde. Diese Synagoge wurde 2002 zum Ziel einesterroristischen Anschlags, kurz vor dem traditio-nellen jüdischen Fest, dem „Lag ba-Omer“, welcherdie Juden und örtliche Muslime aber nicht davonabhielt dort gemeinsam zu feiern.

Juden und Muslime feiernzusammen

DieWallfahrt zur Synagoge El-Ghriba ist Volksfest,Heiratsmarkt, Familientreffen von Juden, die imAusland leben – Frankreich, Israel, Kanada, Eng-land, Belgien - gut 3.000 Juden aus der ganzenWelt

versammeln sich auf der 514km² großen Insel. Seit-dem der Staat Tunesien auch israelische Staatbür-ger problemlos einreisen lässt, kommen zusätzlichHunderte von jüdischen Israelis zu dieser Zeit insLand. Die Attraktivität des Festes wird nur vondrohenden Attentaten gebrochen, doch selbst dieskann die treuesten Anhänger nicht von der Teil-nahme abhalten. Dieses Fest ist in der jüdischenTradition verankert, es findet im Frühjahr statt,dreiunddreißig Tage nach Pessach. Während desLag-ba-Omer-Fests verschwimmen auf Djerba diesonst so gut gehüteten sozialen Grenzen: Männerund Frauen, Muslime und Juden, das kleine unddas große Dorf, alle feiern gemeinsam. Mit demLag-ba-Omer-Fest auf Djerba wird auch die Hillu-la gefeiert, das Fest zu Ehren von Rabbi ShimonBar Jochai, einem der wichtigsten Gelehrten undHeiligen der jüdischen Geschichte. Hier schließtdie lokale Tradition an den roten Faden des medi-terranen Judentums an und ist durch Aspekte derFruchtbarkeit gekennzeichnet; dies zeigt sich un-ter anderem daran, dass Eier, universelles Symbolder Fruchtbarkeit, eine besondere Rolle beim Ri-

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Eine jüdische Wallfahrt

tus spielen. Dieser besteht darin, dass junge Frau-en einzeln nacheinander in eine enge Höhle krie-chen, um gekochte Eier abzulegen, auf denen sieihre Wünsche geschrieben haben. Es wird gelacht,gesungen und getanzt; Bier und Boukha, ein tu-nesischer Feigenschnaps, fließen in Strömen. Je-des Mal, wenn der Rabbiner einen Pilger segnet,nimmt er einen Schluck, so will es die Tradition.Es wird von einem rituellen Hochzeitsfest gespro-chen, in dem die zentralenGegensätze vereint wer-den und auch die Bitte um Fruchtbarkeit ist einwichtiger Wunsch der Pilgerinnen. In einer Eckesitzt ein frommer Zecher. Nicht weit von ihm stehtverhüllt die Menora, das Herzstück der Wallfahrt.Sie ist kein siebenarmiger Leuchter, sondern ei-ne silberne, reich ziselierte, von Kerzen erleuchte-te sechseckige Pyramide. Zwischen die Ornamen-te sind die Namen der zwölf Stämme Israels wieauch diejenigen zweier für die sephardischen Ju-den bedeutender Rabbinen eingraviert. Deren To-destag fällt auf den Tag der Wallfahrt, den jüdi-schen Halbfeiertag Lag-ba-Omer, der an den Bar-Kochba-Aufstand der Juden gegen die Römer erin-nert. Die Trennung zwischen Männern und Frau-en im Alltag, welche nur während des Festes auf-gehoben wird, existiert weiterhin. Nur die opti-sche Distanzierung über die Kleidung der Män-ner ist bis heute präsent und besteht darin, sichals Zeichen der Trauer über die endgültige Zerstö-rung des Tempels einen schwarzen Faden unter-halb des Knies zu binden. Eine djerbische Jüdin,erwidert auf die Frage wo sich denn die Frauenwährend des Schabbats in der Synagoge sonst auf-hielten, dass die Frauen immer „draußen“ blieben,und nur zu religiösen Festenwie dem Lag-ba-Omerin den Bereich der Synagoge Zugang fänden. AmNachmittag kommen immer mehr Pilger und ein-heimische Gemeindemitglieder zur Synagoge. Sin-gend und betend zieht die Schar die Menora, beider vorher die Pilgerinnen um Fruchtbarkeit bete-ten, durch das Eingangstor. Die Menora soll eineBraut, die auf ihren Bräutigam wartet, symbolisie-ren. In früheren Jahren wurde die Menora von derEl Ghriba durch den ganzen Ort bis zu einer derkleinen Synagogen oder der Jeschiwa, einer jüdi-schen Hochschule von Hara Seghira geführt. Dochgeht seit einigen Jahren der Pilgerzug lediglich ausdem Synagogengelände heraus und wieder zurück– aus Sicherheitsgründen.

Wenn man einmal dort war, mussman wieder kommen

Während der ganzen Woche waren vor allem dietunesischen Juden in einer außergewöhnlichenFeier- und Freizeitstimmung. Diese wurde von denAngeboten der lokalen muslimischen Reiseveran-stalter noch gesteigert: sei es eine Animation zumorientalischen Tanz am Pool, eine Band, die tradi-tionelle tunesische Musik spielt oder ein Ausflugmit dem Boot. Alles findet in einer „Partyatmo-sphäre“ statt.Das Highlight der Pilgerfahrt ist die Prozessi-

on, kurz vor Sonnenuntergang. Ein mit Tuch ge-schmückter Tisch auf Rädern, darauf ein Kasten,an dem Hochzeitsschals, Weihrauchgefäße, ble-cherneMenorahs und andere Gegenstände der Ver-steigerung drapiert sind. Mit auf dem Wagen istder Auktionator aus der Karawanserei. Die Pro-zession erinnert an eine Marienprozession ohneMaria und der kitschige Wagen mit seinem ge-schmückten Kasten an die Tradition djerbischerHochzeiten, bei der die Braut auf dem Dromedarunter einem Kasten sitzt. Der Auktionator wirftwährenddessen einige Süßigkeiten in die Menge.Und so endet die Wallfahrt bis die Pilger im kom-menden Jahr wieder anreisen und sagen: „Ghribabringt Glück.“ Die Wallfahrt zur El Ghriba ist einFest der Sinne, der Partnersuche und der Frucht-barkeit - und der guten Wünsche.

Weiterführende Information

Nehdi, Dorsaf. »Die Spannungen der jüdisch-muslimischen Beziehung in Tunesien währenddes 20. Jahrhunderts und ihr Zusammenhangmit der massiven Auswanderung der Juden ausdiesem Land«. Diss. Freie Universität Berlin,2010. url: http://www.diss.fu- berlin.de / diss / receive / FUDISS _ thesis _000000018183.

Peveling, Barbara. »Tourismus der Rückkehr alskulturelle Reserve: jüdische Pilger aus Frank-reich auf demWeg nach Djerba und zurück«. In:Zeitschrift für Ethnologie. Bd. 134. 2009, S. 171–187.

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Das Vermächtnis von 4.000 Jahren.Die letzten Juden in ÄgyptenYasin Osman

I didn’t ask to be born Jewish, I was bornJewish. I’m very proud to be Egyptian, I’mvery proud to be Jewish. One does not go

without the other„, sagte Magda Harun.Die Stimme der 65-jährigen klingt rau, aber

entschlossen. Magda Harun, Präsidentin der jü-dischen Gemeinde in Ägypten, ist eine von nochschätzungsweise 18 Juden, die in Ägypten, nachder großen Auswanderung, geblieben sind. Kai-ro ist ihre Heimat, eine Stadt mit 9,5 MillionenEinwohnern, in der es noch genau 6 Juden gibt.Sie gewährt uns einen Blick in eine der 10 Syn-agogen, die es noch inÄgypten gibt. Sha’arHaS-hamaim (das Tor zumHimmel) ist der Name die-ser Synagoge und sie liegt inmitten der Stadt.An die Sicherheitskräfte, die vor der Synagogestehen, ist Magda schon gewöhnt. Sie gehörenzu Ihrem Leben mittlerweile dazu. Im Innerender Synagoge scheint es so, als wäre die Zeitstehen geblieben, Erinnerungen an eine längstvergessene Zeit, nur dass die Menschen fehlen.Und während draußen der Trubel und die Hek-tik Kairos zu spüren sind, ist es hier drinnen ru-hig.Gottesdienste können hier schon lange nicht

mehr stattfinden, denn es gibt keine Rabbis

mehr. Auch jüdische Feste wie Pessach werden,wenn überhaupt, nur noch im minimalistischenStil gefeiert. Ein kleines Mittagessen wird zurFeierlichkeit abgehalten, jedoch ohne die tra-ditionelle Sederfeier. Dies liegt allerdings dar-an, dass die Gemeinde ausschließlich aus älte-ren Frauen besteht, welche so spät nachts nichtmehr außer Haus seien wollen. Als Präsidentindes Jewish Council of Cairo, das erst seit 1996Frauen als Leiterin an seiner Spitze zulässt, hatMagda Harun zwei Hauptaufgaben. Zum einenkümmert sie sich um die Versorgung der letztenMitglieder ihrer Gemeinde, zum anderen, unddas ist ihr sehr wichtig, versucht sie das jüdi-sche Erbe in Kairo zu erhalten. Gemeint sinddamit die übrig gebliebenen Synagogen, die allemehr oder weniger renovierungsbedürftig sind.Für eine Renovierung bräuchte man aber dieGenehmigung des Staates. Innerhalb der HaS-hamaim Synagoge ist das meiste noch gut er-halten, wie die zahlreichen hunderte Jahre altenjüdischen Schriftrollen, die in einem Schranksorgfältig verwahrt sind. Am meisten machtsich Magda Harun darüber Sorgen, was aus die-sen wertvollen Erinnerungen an die längst ver-gessene Zeit werden wird, wenn sie und die an-

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Das Vermächtnis von 4.000 Jahren. Die letzten Juden in Ägypten

deren Gemeindemitglieder einmal nicht mehrda sind. Man befürchtet, dass sie wie der Restdes Inneren der Synagoge geklaut und verkauftwerden. Das einzig Positive, so Magda Harun,ist, dass die Synagogen wie auch andere wich-tige kulturelle Gebäude Ägyptens unter demSchutz des Staates stehen. Die HaShamaim Syn-agoge beispielsweise wird seit den 1980er Jah-ren von Sicherheitskräften bewacht. Seit demAngriff auf die israelische Botschaft im Sommer2011 ist sie zusätzlich umzäunt worden.Sicherheit ist ein entscheidender Faktor im

Alltag der jüdischen Ägypter geworden. VonSkepsis und allgemeinem Misstrauen gegen-über Juden bis hin zu extremem Antisemitis-mus, der zu Gewalt führen kann, findet sich al-les in den unterschiedlichen gesellschaftlichenSchichten der ägyptischen Bevölkerung. Selbst-verständlich spielen dabei Wohlstand und Bil-dung eine entscheidende Rolle. So erzählt Mag-da Harun, dass auch sie und Gemeindemit-glieder Zeugen solcher antisemitischer Vorfäl-le werden mussten. Es ereignete sich am Fried-hof von Bassatin, dem zweitältesten jüdischenFriedhof der Welt. Die Geschichte des Friedhofsreicht bis ins 9. Jahrhundert n. Chr. zurück alsder Friedhof damals der jüdischen Bevölkerungin Kairo für Bestattungen zur Verfügung ge-stellt wurde. Die „Totenstadt“, wie der Friedhofauch genannt wird, liegt zwischen den Stadttei-len Maadi und Fustat. Magda Harun und ande-re Mitglieder ihrer Gemeinde wurden bei einemihrer Besuche von Anwohnern mit Müll bewor-fen. Den Grund den Magda erfuhr, als sie dieAnwohner damit konfrontierte, scheint zualler-erst bei den Haaren herbeigezogen: „Die Judenseien dafür verantwortlich, dass sie (die Anwoh-ner) in Slums leben müssen.“ Bei genauerer Be-trachtung, und das ist Magda Harun bewusst,ist es aber eine erschreckend gängige Sicht überJuden, die vor allem in den ärmeren Schich-ten der ägyptischen Gesellschaft vertreten wird.Die Quintessenz und Aktualität des ägyptischenAntisemitismus, so Harun, liegt in der Vermi-

schung mit dem Antizionismus bzw. mit demHass auf den Staat Israel. Die Unterscheidungzwischen einem Israeli und einem Juden, auchwenn er ägyptischer Staatsbürger ist, wird da-bei selten gemacht, bedauert sie. Zumal wäreeine stärkere Bindung zu Israel sowieso nichtwirklich möglich, schließlich spricht niemandin der jüdisch-ägyptischenGemeinde hebräisch.Das deutete schon die 2013 verstorbene Vor-gängerinMagdaHaruns, CarmenWeinstein, an.Die zunehmende Anfeindung gegenüber Judenin Ägypten jedenfalls entstand in seiner heu-te noch währenden Form erst in der erst Mit-te des 20. Jahrhunderts und verstärkte sich vorallem in der Ausrufung des Staates Israels. Daslässt die Frage offen, wie die jüdischen Bevöl-kerung vor und während des dramatischen Ein-schnitts durch die israelisch-ägyptischen Krie-ge gelebt haben. Abgesehen davon, dass Judenin Ägypten auf eine 4000-jährige Geschichte zu-rückblicken können, sind für die jetzige Zeit vorallem die letzten beiden Jahrhunderte entschei-dend für die ägyptisch-jüdische Beziehung. AufGrund von günstigen Wirtschaftsbestimmun-gen in Ägypten zwischen dem 19. Jahrhundertund der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts un-ter Mohammed Ali Pascha und seinen Nach-folgern bis hin zum britischen Protektorat, ent-wickelte sich Ägypten zu einem Einwanderer-land. Für jüdische Einwanderer spielten, nebenden günstigen wirtschaftlichen Konditionen fürkaufmännische Berufstätigkeiten, auch die re-ligiöse Toleranz zu dieser Zeit eine große Rol-le. Der Liberalismus Ägyptens im 19. Jahrhun-dert und Anfang des 20. Jahrhunderts war imVergleich zu anderen europäischen Staaten, undanderen osmanischen Gebieten vorbildlich. Jü-dische Einwanderer, die in diesen Ländern un-ter steigender religiöser Oppression litten, wan-derten deswegen nach Ägypten aus. Auf Grunddessen waren die jüdischen Einwanderer größ-tenteils aschkenasischen und sephardischen Ur-sprungs. Im 19. Jahrhundert siedelten sich jü-dische Gemeinden vor allem an den Knoten-

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Das Vermächtnis von 4.000 Jahren. Die letzten Juden in Ägypten

La Ghriba Synagoge in Djerba

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genceFrance-Presse(AFP

)

punkten von Handel und Verwaltung in Kai-ro und Alexandria, in den Verwaltungsbezir-ken des Deltas Tanta, Mansura, Al-Mahalla-al-Kubra, Zifta und nach der Eröffnung des Suez-kanals 1869 auch in den Häfen der Kanalzonean, wo die Einwanderer häufig ankamen. Spä-ter siedelten vor allem die reicheren Schichtender jüdischen Gemeinden nach Alexandria undKairo um. Die beiden größten Städte Ägyptensentwickelten sich dadurch zu den beidenHaupt-zentren der jüdischenGemeinde in Ägypten. Bis1947 stieg die jüdische Bevölkerung Ägyptensauf bis zu 70.000 Einwohner an und markier-te damit den Höhepunkt der demografischenEntwicklung. In beruflicher und sozialer Hin-sicht waren Juden in allem Schichten Ägyp-tens anzutreffen, von finanziell mächtigen jüdi-schen Familien aus dem Bank-und Kreditwesenbis hin zum einfachen Bauern. Vor allem aberin Dienstleistungsberufen und im Handel wa-

ren große Teile der ägyptisch-jüdischen Bevöl-kerung tätig.Mit dem Jahr 1945 setzte der Wendepunkt

in der jüdisch-ägyptischen Beziehung ein undführte zu deren drastischer Verschlechterung.Die Pogrome von Kairo, die von 1945 bis 1949anhielten, resultierten aus einem aufsteigen-den arabischen Nationalismus und allgemeinerVerbreitung von antijüdischer bzw. antizionisti-scher und antiwestlicher Stimmung in der mus-limischen Bevölkerung Ägyptens. Die Pogro-me forderten von über Hundert Juden das Le-ben. Dass die Lage sich nicht wieder beruhig-te ist unter anderem durch die außenpolitischeSituation zwischen Ägypten und dem neu aus-gerufenen Staat Israel und den daraus folgen-den Kriegen verschuldet. In Folge des erstenarabisch-israelischen Kriegs, der Sueskrise unddes Sechstageskriegs wurden beinahe alle ägyp-tischen Einwohner jüdischen Glaubens ausge-wiesen oder vertrieben. Faktisch waren es zu-

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Das Vermächtnis von 4.000 Jahren. Die letzten Juden in Ägypten

nächst die Männer, die des Landes verwiesenwurden, doch weil deren Familien meist mitzo-gen, waren sehr viele Juden von der Auswan-derungswelle betroffen. Schließlich mussten bis1968 fast alle jüdischen Ägypter das Land ver-lassen.

Heute existieren nur noch in Alexandria undKairo jüdische Gemeinden. Seit dem Friedens-vertrag 1979 können die Juden zumindest wie-der die Religionsfreiheit genießen. Magda Ha-run jedoch sieht die Situation der Juden inÄgypten eher pessimistisch. Eine Rückkehr derJuden nach Ägypten sieht sie zumindest in derheutigen Zeit nicht. Dafür müsste es Einwan-derungsbestrebungen von Juden imAusland ge-ben. Die jüdische Gemeinde in Ägypten jeden-falls kann sich aufgrund von zu hohem Alternichtmehr reproduzieren. Deswegen setztMag-da ihre gesamte Hoffnung in den Erhalt des jü-dischen Erbes. Ein großer Teil davon stellt diesogenannte Kairoer Geniza dar, ein sensatio-neller Fund unzähliger jüdischer Schriften, derwährend der Renovierung der Ben-Esra Syn-agoge 1890 in einem abgesonderten Hohlraumunter dem Dach der Synagoge entdeckt wur-de. Da jüdische Schriften, die das Tetragramma-ton oder andere Bezeichnungen Gottes enthal-ten, laut jüdischem Glauben nicht weggewor-fen werden dürfen, haben wichtige Schriftstü-cke der jüdischen Liturgie und Geschichte über-dauert, die bis 800 n. Chr. zurückreichen. Nebenden Textfunden aus Qumran ist das der wich-tigste Nachweis jüdischer Geschichte im Na-hen Osten. Schon Carmen Weinstein führte ei-nen juristischen Kampf, um die Relikte der Kai-roer Geniza, sicher in die Vereinigten Staatenzu bringen, teils erfolgreich. Inwiefern das jü-dische Vermächtnis in Ägypten bestehen bleibt,wenn ihre Gemeinde einmal nicht mehr da ist,darüber wagt Magda Harun nicht nachzuden-ken. Sie hofft vor allem, dass die ägyptische An-tikenverwaltung, die ihr bereits Unterstützungzusicherte, sich darum entsprechend kümmern

wird. Denn solange ihr Erbe nicht in Vergessen-heit gerät, sieht Magda Harun Hoffnung.

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Die Auswanderung aus BabylonJenny Hecht

„Oh Zion, fliehe, die du in Babylonverweilst.“

S o heißt es im Buch Zacharia im Tanach.Gemeint ist damit die Rückkehr der Judenaus dem babylonischen Exil nach Eretz Is-

rael im Jahr 539 vor unserer Zeitrechnung. Die-ser Satz war fast 2.500 Jahre später auf Plaka-ten im Irak zu finden, die zur Propagierung derAuswanderung der dortigen Juden in den neu-gegründeten Staat Israel verwendet wurden.

Tanach: Name der Hebräischen Bibel. Die Ab-kürzung leitet sich von den Anfangsbuchstabenihrer drei Bestandteile ab: Tora („Belehrung“, be-inhaltet die Fünf Bücher Mose), Nevi’im („Prophe-ten“), Ketuvim („Schriften“)

Die Zionisten waren sich der historischen Ver-bindung zwischen dem antiken Babylon und demmodernen Irak im Klaren und versuchten sodurch religiöse Vermerke die zum großen Teiltraditionell-religiös geprägten Juden (Masoretim)von einer Erneuerung der biblischen Verheißungin der Moderne zu überzeugen. Das Ausfliegen derJuden nach Israel in den Jahren 1950/51 wurde spä-ter als Operation Ezra und Nehemia bezeichnet.Der Name selbst rührt von den beiden ProphetenEzra und Nehemia her, die als Minister in der Ver-waltung des persischen Großkönigs Kyros II. tä-tig waren. Nehemia wurde später zumGouverneurJudäas ernannt. Die Geschichte zur Wiedererrich-tung des zweiten Tempels in Jerusalem findet sichim Tanach in den Büchern Ezra und Nehemia.

In Israel werden zur Einstufung der Religiositäteines Juden traditionell die folgenden Definitionenverwendet: Chiloni (Säkular), Masoreti (Traditio-nell),Dati (Religiös) undCharedi (Ultra-Orthodox).

Die jüdische Gemeinde im Irak bzw. Babylonienwird als die älteste von allen auf der Welt betrach-tet. In der frühen islamischen Zeit waren Pumbe-dita, das heutige Falludscha, und Sura die wich-tigsten jüdischen Gelehrtenzentren der damaligenWelt. Heute finden sich allerdings nur noch zehnJuden im Irak. Im Jahr 1949 waren es nach Schät-zungen der Jewish Agency noch 135.000, davon al-lein mindestens die Hälfte in der Hauptstadt Bag-dad. Juden galten im Irak als sehr gut integriertund besetzten während der britischen Mandatszeitentscheidende administrative Posten in der Regie-rung, in Banken und in anderen wichtigen kom-merziellen Zweigen. Was also ist geschehen, dasso viele irakische Juden dazu veranlasst hat, ihrseit tausenden Jahren angestammtes Heimatlandzu verlassen?

Erstmals ernsthaft gestört wurde der Friedenzwischen den Religionen zu Beginn der 1940er Jah-re, als es zu Anschlägen auf Juden in Bagdad sei-tens pan-arabischen Nationalisten kommt. Das be-kannteste Pogrom, der Farhud, wurde am 1./2. Ju-li 1941, an Schavuot, verübt. Insgesamt kamen beiden Ausschreitungen mindestens 150 Juden zu To-de. Die Täter waren Mitglieder des faschistischen,vom Nationalsozialismus und den Reden AdolfHitlers geprägten, Al-Muthanna Club, deren An-sichten in Form einer gesellschaftlich-politischen

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Die Auswanderung aus Babylon

Irakische Juden werden am Flughafen Lod empfangen, 1951

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Bewegung als das geistige Fundament der spätergegründeten Baath-Partei dienten.

Schavuot: Jüdisches Fest, das sowohl als Ernte-dankfest als auch zum Gedenken an den Empfangder Zehn Gebote gefeiert wird.

Antisemitismus als oberste Waffe arabischerNationalisten war zu dieser Zeit im Irak eher Regelals Ausnahme. Schon 1940 veröffentlichte Khairal-lah Talfah, der Onkel Saddam Husseins, der späterdas Land autoritär regierte, ein Buch mit dem Ti-tel ”Drei Dinge, die Gott nicht hätte erschaffen sol-len: Perser, Juden und Fliegen”.. Das Werk wurdespäter an irakischen Schulen gelehrt und währenddes Iran-Irak Kriegs als Propagandamittel neu ent-deckt. Die UN-Abstimmung zur Schaffung einesjüdischen Staates im November 1947 ließ die Span-nungen erneut ansteigen.

Die Schmach der Niederlage, die die arabischenStaaten später im ersten israelisch-arabischenKrieg erlitten, führte zu einem Wiederaufflammendes Hasses gegenüber Juden, in denen viele Spio-ne oder Verräter sahen. Vor allem im Irak, das

als einziges Land gegen Israel gekämpft hatte undnicht das Waffenstillstandsabkommen zwischenden beiden Parteien unterzeichnet hatte, lag derGroll bei der Bevölkerung tief. Obwohl die meistenIraker immer noch an einer Deeskalation der in-nergesellschaftlichen Lage interessiert waren, lagdoch ein deutlich spürbares Klima des Misstrau-ens in der Luft. Irakische Juden wurden zu dieserZeit pauschal als Zionisten gebrandmarkt und beiVerdacht einer Mitgliedschaft in illegalen zionisti-schen Vereinigungen auf unbefristete Zeit ins Ge-fängnis geworfen, wo sie ihre Zellen nicht seltenmit Mitgliedern der kommunistischen Partei teil-ten. In letzterer war unter anderem der bekannteisraelische Schriftsteller Sami Michael Mitglied.

In Israel stellte man sich daraufhin immer mehrdie Frage, was man zum Schutz irakischer Judentun sollte, denn die wachsende politische Instabi-lität mahnte rasches Handeln an. So arbeiteten derMossad und die damalige Regierung verschiede-ne Evakuierungsmaßnahmen aus, wovon viele je-doch als unrealisierbar verworfen wurden. So wardie Option, Juden über den Landweg nach Israelzu überführen, fast ausgeschlossen, da die israe-

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Die Auswanderung aus Babylon

lische Regierung großen Zweifel hegte, ob Israelfeindlich gesinnte Staaten, wie Syrien und Jordani-en, Juden einen sicheren Transfer gewähren wür-den. Zu dieser Zeit war die Bewegungsfreiheit vonJuden schon so stark eingeschränkt, dass es ihnennicht mehr gestattet war, sich innerhalb des Lan-des frei zu bewegen. Einige Juden flohen daraufhinaus dem Irak Richtung Iran, wo sie von dort leben-den Juden in Synagogen beherbergt wurden.

Im März 1950 stellte der irakische Innenminis-ter Saleh Jaber schließlich ein Gesetz vor, das Ju-den die Auswanderung ermöglichen würde, aller-dings unter der Bedingung, dass diese die irakischeStaatsbürgerschaft abgeben und nicht mehr zu-rückkehren. Dieses Angebot jedoch verunsicher-te viele irakische Juden und auch israelische Ent-scheidungsträger, da sie Zweifel hatten, ob die Of-ferte ernst gemeint war. Außerdem hatten Judenim Irak Sorge um ihre Besitztümer und wie dieseaußer Landes geschafft werden sollen. Am 9. April

Titel der israelischen Zeitung Ma’ariv: „Abkom-men zum Ausfliegen 50.000 irakischer Juden inBagdad unterschrieben“, März 1950

©www.historicalmoments2.com/1950-1952-רוח-קדים

1950 kam es zu Angriffen mit Granaten auf Syn-agogen und von Juden oft frequentierten Cafés inBagdad. Das Attentat resultierte in mehreren Ver-letzten. Protokolle und Berichte zu diesen Ereig-nissen liegen vor allem von verdeckten Mossader-mittlern und Angestellten der Jewish Agency vor,die damals in der Stadt verweilten und so Zeugender Gewalttaten wurden. Diese Tatsache und diegenerell sich immer weiter zuspitzende Lage imLand führten allerdings dazu, dass die Meisten ihreMeinung bezüglich der Auswanderung änderten.Noch im selben Monat meldeten sich etwa 40.000Juden zur Auswanderung (Aliyah) an. Die ersteGruppe verlässt den Irak am 21. Mai 1950 mit demZiel Flughafen Lod bei Tel Aviv. Es war der Beginnder Operation Ezra und Nehemia.

Aliyah, hebräisches Wort (wörtliche Bedeu-tung: Aufstieg), das die Auswanderung von Judennach Israel bezeichnet. Der Name geht auf die his-torische Gegebenheit zurück, dass Juden zur Zeitdes Zweiten Tempels von Ägypten, Babylonienoder Judäa in das höher gelegene Jerusalem gepil-gert sind, also nach Jerusalem ‚aufgestiegen’ sind.

In den Sommermonaten Juli und August wan-derten mehr als 6.000 Juden nach Israel aus. Dieisraelische Regierung beschloss zu dieser Zeit, Ju-den aus Ländern, in denen ihre Existenz besondersbedroht war, bei der Aliyah einen Vorzug zu ge-ben. So wurden beispielsweise irakische Juden imVergleich zu jenen aus Rumänien bei der Auswan-derung bevorzugt. Am 10. März 1951 fror das iraki-sche Parlament die zurückgelassenen Besitztümerder ausgewanderten Juden endgültig ein. Die ein-gerichtete Luftbrücke zur Überführung der Judenging noch bis Anfang 1952, dann wurde die Ope-ration Ezra und Nehemia als beendet erklärt.

In der Zeit zwischen Mai 1950 und März 1951wanderten ca. 120.000 irakische Juden über Zypernoder den Iran nach Israel aus, andere blieben imIran, wohin sie zu Beginn der Eskalationen geflo-hen waren. In den Jahren 1950/51 nahm der StaatIsrael insgesamt 343.000 Juden aus aller Welt auf,zwei Drittel davon stammten aus dem Irak. Nachder Operation verblieben nur etwa 5.000 Juden imIrak. Unter ihnen war auch die bekannte SängerinSalima Murad. Sie starb 1974 in Bagdad.

Die Mehrheit der verbliebenen Juden wiederumverließ den Irak nach dem Putsch der Baath-Partei1963 und dem Sechstagekrieg 1967 aufgrund dro-hender Repressalien gegen sie. Vor allem ab 1967wurden mehrere Juden aufgrund des Verdachtes,sie seien israelische Spione, öffentlich hingerich-tet. Die Exekutionen wurden ohne vorhergehen-de faire Gerichtsverhandlungen durchgeführt. Oftgenügte als „Beweis“, dass die Verdächtigen Judenwaren. Nach dem Irakkrieg 2003 fanden amerika-nische Soldaten nur noch zehn Juden in Bagdadvor. Sie stellten das dar, was von der jahrtausen-delangen jüdischen Tradition im Irak bzw. Baby-lonien geblieben ist.

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Literatur und Kultur im jüdischenBagdad des „goldenen Zeitalters“Magdalena Nauderer

„Die im Irak lebenden Juden waren imAllgemeinen wahre Patrioten. Sie

mochten den Irak, sie mochtenBagdad, sie mochten die Folklore

und die Musik, sie sprachenArabisch, sie kannten die Literaturder Araber und deren Geschichte,

bis hin zum Koran.„Salim Fattal, 1930 in einem armen,

jüdischen Wohnviertel Bagdadsgeboren

„Obwohl ich eine gute Arbeit, Freundeund Familie in der Nähe hatte, gefieles mir in Bagdad nie besonders gut.Juden wurden immer als Menschen

zweiter Klasse angesehen.Manchmal waren die Muslime nettund behandelten uns wie Brüder,ein anderes Mal hassten sie uns.„Salim Sassoon, 1909 in Bagdad

geboren

D iese beiden Stimmen irakischer Judenmachen die Stellung der irakischen Ju-den in der BagdaderGesellschaft des frü-

hen 20. Jahrhunderts gut deutlich. Auf der einenSeite bildeten siemit einemAnteil von in etwa ei-nem Drittel die größte einheitliche Gruppierungin der Hauptstadt und nahmen daher auch ein-flussreiche politische und gesellschaftliche Posi-tionen ein, auf der anderen Seite zeichnet sich

ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bereitseine aufkommende antisemitische Stimmung ab,die auch durch die Naziregierung in Deutschlandgefördert wurde und die die Situation der ira-kischen Juden immens verschlechterte. Die An-fangsjahre der irakischenMonarchie unter FaisalI gelten jedoch als goldenes Zeitalter der Bagda-der Juden und als Blütezeit moderner irakisch-jüdischer Kultur und Literatur.

Historische Umstände

König Faisal I – der erste König des Irak nach des-sen Staatsgründung im Jahre 1921 – hatte eine äu-ßert liberale Ausbildung unter dem Einfluss derJungtürken genossen, die dem Patriotismus einenweitaus größeren Stellenwert beimaß als der je-weiligen Religion, was sich auch in seiner Regent-schaft bis zu seinemTod 1933 zeigte. Zu Beginn der20er Jahre war die jüdische Gemeinde ein wichti-ger und einflussreicher Teil der Bagdader Gesell-schaft und vor allem in derWirtschaft stark vertre-ten. Denn bereits Mitte des 19. Jahrhunderts grün-deten jüdische Kaufleute in Indien und Shanghaimit Unterstützung der Briten Handelsniederlas-sungen, die im Laufe der Jahre zu mächtigen Han-delskompanien heranwuchsen. Dieser wirtschaft-liche Erfolg baute auch auf der ausgezeichnetenSchulbildung der Alliance Israélite Universelle auf,die 1964 die erste Alliance-Schule in Bagdad eröff-nete. Auf dem Lehrplan standen neben modernen

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Literatur und Kultur im jüdischen Bagdad des „goldenen Zeitalters“

(westlichen) Fächern wie Wirtschaft oder moder-ne Naturwissenschaften auch der Erwerb franzö-sischer Sprachkenntnisse sowie das Erlernen derLandessprache oder anderer europäischer Spra-chen.

Neben den Alliance-Schulen baute die jüdischeGemeinde ebenfalls dutzende Schulen, die sich ei-nes hohen Bildungsstandards erfreuten und einenSchwerpunkt auf den Erwerb von Fremdsprachenlegten und die – obwohl die Mehrheit der SchülerJuden waren – auch von muslimischen und christ-lichen Schülern besucht wurden.

Ein berühmter Alliance-Alumnus und gutesBeispiel dieser wirtschaftlichen gebildeten Elite istSir Sassoon Heskel. Er wurde 1860 in die einfluss-reiche aristokratische Familie der Shlomo-Davidsgeboren und erhielt seine Grundausbildung ander Alliance-Schule in Bagdad. Für das weiterfüh-rende Studium ging er nach Istanbul, London undWien und wurde 1885 zum Außenminister desGeneralgouverneurs in Bagdad ernannt. Nach derRevolution der Jungtürken 1908 hielt er zahlreichepolitische Ämter inne wie beispielsweise denVorsitz des Finanzkomitees der Abgeordneten-kammer. Als offizieller Abgesandter des Irak warer maßgeblich an dessen Staatsgründung beteiligtund setzte sich auf der Kairoer Konferenz 1921zusammen mit Gertrude Bell für die Krönung desHaschemiten Faisals zum ersten König des neugegründeten Iraks ein. Unter diesem wurde erschließlich Finanzminister der ersten irakischenRegierung. Faisal I erkannte die Bedeutung derjüdischen Gemeinde und zeigte seine Sympathiedieser gegenüber immer wieder:

“I thank my Jewish Citizens who are the main-spring of the life of the people of Iraq.“Faisal I, Bagdad, August 1921

Irakische Juden beschreiben die Zeit seiner Re-gentschaft als berauschende Erfahrung, gleichbe-rechtigt in einer säkularen Gesellschaft leben zukönnen. Diese Hochstimmung zeigte sich auch aneinem regen kulturellen Leben in der Hauptstadtund einem Aufblühen der Publizistik.

Sassoon Heskel mit König Faisal zu seiner Linken

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Kultur

Angesehene jüdische Familien prägten das kultu-relle und gesellschaftliche Leben Bagdads enorm.Anfang der 1920er Jahre wurden zahlreiche Ge-meindeclubs gegründet, in denen man zusammen-kam, gemeinsam Musik hörte, Karten spielte odersich unterhielt. Bekannt waren vor allem der LauraKadoorie-Klub, der Zaura-Klub sowie der Rashid.Auch musikalisch waren jüdische Gemeindemit-glieder sehr erfolgreich. So wurde für das immerbeliebter werdende Radio extra eine eigene Bandgegründet, die zum Großteil aus jüdischen Irakernbestand.Jüdische Feste wie beispielsweise Purim wa-

ren große Ereignisse in Bagdad, zu dem die ein-flussreichsten jüdischen Familien aufwendige Fei-ern organisierten. So richtete die Familie Dangoornoch bis in die 1950er Jahre prunkvolle Gesell-schaften und Picknicks am Tigris-Ufer aus. ReneeDangoor, die Frau von Sir Naim Dangoor, wurde1947 sogar zur Siegerin des ersten Schönheitskö-niginnenwettbewerbs in Bagdad gekrönt.

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Literatur und Kultur im jüdischen Bagdad des „goldenen Zeitalters“

Renee Dangoor 1947

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Publizistik

Irakisch-jüdische Intellektuelle erlangten auch inder Publizistik an Bedeutung: So publizierte Sal-man Shinah – ein ehemaliger Militärattaché derOsmanen und Säkularist – das erste in Arabischveröffentlichte und stark zionistisch ausgerichte-te jüdische Magazin. Sein Mitherausgeber AnwarShaul brachte zusätzlich die Wochenzeitschrift al-hašīd heraus. Gleichzeitig wurden zahlreiche li-berale und linksorientierte, patriotische Gedichteund Kurzgeschichten veröffentlicht. Der Rechts-anwalt Shaul Haddad gründete die Zeitschrift al-burhān (der Beweis), in der er die jüdische Min-derheit gegen die immer stärker werdende NS-Propaganda verteidigte. Meir Basri schrieb Arti-kel zur irakischen Wirtschaft sowie Gedichte undKurzgeschichten zu gesellschaftlichen Problemenim Irak und der Dichter Abraham Obadia verfassteberühmte Lobeshymnen auf die irakische Königs-familie.

Ende

Diese außerordentlich gute Zeit für die jüdischenGemeinden im Irak und vor allem in Bagdad ende-te mit dem Tode Faisals I im Jahre 1933. Die neueRegierung sympathisierte mit dem Nazi-Regimein Deutschland (auch um die Stellung der Britenzu schwächen) und übernahm deren antisemiti-sche Propaganda. Bereits 1936 wird der hebräischeSprachunterricht an jüdischen Schulen verboten,gefolgt von zahlreichen politischen und sozialenRestriktionen. Viele Intellektuelle sahen ihr Pro-jekt der Verbindung von religiösem Zionismus undirakischem Patriotismus als gescheitert an. Die an-tisemitisch aufgeheizte Stimmung gipfelte 1941 imFarhūd und schließlich in der großen Emigrationdurch die Operation Esra und Nehemia.

Als Farhūd (arabisch الفرهود wird das Pogrom ge-gen die jüdische Bevölkerung Bagdads vom 1. und2. Juni 1941 bezeichnet. Die Unruhen ereignetensich in einem Machtvakuum nach dem Zusam-menbruch der Pro-Nazi-Regierung von Raschid Alial-Gailani, während sich die Stadt in einem Zu-stand der Instabilität befand. Rund 175 Juden wur-den getötet, 1.000 verletzt, und 300 bis 400 nicht-jüdische Aufständische wurden in dem Versuch,die Gewalt zu unterdrücken, getötet. Jüdisches Ei-gentum wurde geplündert und 900 jüdische Häu-ser zerstört.

Weiterführende Literatur

Halm, Sylvia. »Aspects of Jewish Life in Baghdadunder the Monarchy«. In:Middle Eastern Studies12.02 (1976), S. 188–208.

Morad, Tamar (Hrsg.) Iraks letzte Juden. Erinne-rungen an Alltag, Wandel und Flucht. Göttingen,2012.

Muphy, Fiona. Remember Baghdad. DVD. 2017.url: http://www.rememberbaghdad.com.

TheScribe wird seit 1971 von der Exilarch’s Foundati-on herausgegeben und behandelt Themen der ira-kischen Juden. url: http://www.thescribe.info.

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Jüdisches Leben im IranAndreas Klindt

D as jüdische Leben im Iran hat im Laufeder fast 3.000 Jahre seines Bestehensviele Höhen und Tiefen erlebt. Die-

ser kurze einführende Überblick kann dahernicht alle Aspekte abdecken, will aber den Le-ser neugierig machen sich mehr mit der fas-zinierenden Geschichte der Juden im Iran zubeschäftigen.

Die Anfänge

Jüdisches Leben im Iran reicht gut 27 Jahrhun-derte zurück. Als der persische König SorgonII. 721 v.d.Z das Königreich Israel erobert hat-te, siedelte er viele israelitische Gemeinden indie westlichen und nördlichen Regionen Persi-ens um. Auch nachdem Cyrus der Große 539v.d.Z. Babylon eroberte, die Sklavenarbeit been-dete und den Juden die Rückkehr nach Jerusa-lem und den Wiederaufbau des Tempels gestat-tete, blieben viele im Persischen Reich der Ar-chämiden und erlangten teilweise sehr einfluss-reiche Positionen im Regierungsapparat. Selbstals unter der Herrschaft der Sassaniden 226-651n.d.Z der Zoroastrismus zur Staatsreligion erho-ben wurde, konnte jüdisches Leben mit relativwenig Einschränkungen fortbestehen. Es warfür Menschen jüdischen Glaubens auch weiter-

hin möglich Ämter im Staatsdienst zu beklei-den. Jedoch kam es durchaus immer wieder zuAusschreitungen gegen Juden aufgrund einigereinflussreicher zoroastrischer Fanatiker.

Nach der arabisch-islamischenEroberung, 642-1500

Nach der arabisch-islamischen Eroberung Per-siens im 7. Jahrhundert verbesserte sich zu-nächst der rechtliche Status der jüdischen Ge-meinden relativ zur sassanidischen Zeit. De fac-to waren die Juden jedoch Bürger 2. Klasse undmussten einige z.T. erhebliche Restriktionen inKauf nehmen.

Der Omar Pakt: Monotheistische nicht-muslimische Religionsgemeinschaften mit Of-fenbarungstexten, wie Christen, Juden, Zoroas-trier, wurden als ahl al-dhimma rechtlich imKalifat geschützt, jedoch als Bürger 2. Klasse.Sie mussten eine Kopfsteuer, die jizya, zahlenund waren im Bau und Restauration von sakra-len Bauten stark eingeschränkt. Die berühmtes-te und wichtigste Niederschrift dieses Rechts istder sog. Omar Pakt. Die Urheberschaft und das

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Jüdisches Leben im Iran

genaue Entstehungsdatum sind zwar umstrit-ten, aber wahrscheinlich entstand dieses Doku-ment zwischen dem 7.-9. Jahrhundert.

Die jüdischen Gemeinden profitierten zwarvom kulturellen und ökonomischen Auf-schwung in den ersten zwei Jahrhunderten desKalifats, jedoch wurde im 9. Jahrhundert dieRegion Irans durch Rivalitäten persischer undtürkischer Stämme aufgerieben und weitge-hend vom Rest des Kalifats isoliert. Währendder mongolischen Invasion im 13. Jahrhundertlitten zwar jüdische Gemeiden ebenso wie dieder Christen und Muslime unter Plünderungen,Zerstörung und Massenmorden, doch stiegder Druck auf die Juden durch den Neid man-cher Muslime wesentlich, seit die Mongolenzunächst bevorzugt Juden und Christen alsFunktionäre und Beamte einsetzten. Einer derbekanntesten unter ihnen war der Großwesirdes Ilkhan Arghan 1284-91, Mordechai CohenZedek Abhari, auch bekannt als Said al-Dowleh.Er wurde 1291 ermordet und es kam in denStädten mit jüdischer Bevölkerung daraufhinzu Pogromen und Massakern.

Die Zeit der Safawiden, 1500-1736

Die Safawiden übernahmen um 1500 die Herr-schaft in Persien. Sie legitimierten ihre Herr-schaft durch eine Abstammungslinie von Ali, ei-nem der vier „rechtgeleiteten Kalifen„, und er-hoben den Zwölfer-Shiismus zur neuen Staats-religion Persiens. Das Gebiet Irans wurde so zueiner schiitischen Nation, was bis heute zusam-men mit den sprachlichen und kulturellen Be-sonderheiten wesentlich zur iranischen Identi-tät beiträgt.

Der Zwölferschiismus stützt sie sich auf einwichtiges Prinzip, das den Schiismus vom weit-verbreiteten Sunnismus unterscheidet: Recht-mässiger Herrscher über die Muslime kann nursein, wer von Ali, Cousin und Schwiegersohndes ProphetenMohammed, abstammt. Ein Prin-zip, welches nach schiitischer Interpretationvon Mohammed selbst eingesetzt wurde undnachdem jede Regierung illegitim und suspektist, die nicht von einem Imam, der seine Ab-stammung von Ali nachweisen kann, geleitetwird. Ali selbst verschwand 874 n.d.Z. aus demBlick der Geschichte, gilt den Schiiten aber nichtals tot, sondern als entrückt und wird irgend-wann als Mahdi, als Messias, zurückkehren unddie rechtmässige Herrschaft übernehmen.

Es formte sich eine schiitische Klerikalität,die ulema, die den Anspruch erhebt zwischenden Gläubigen und dem abwesenden Imam zuagieren. Zwar waren sie zunächst vom direk-ten Einfluss auf die Regierung ausgeschlos-sen, konnten aber erheblich auf die islamischeRechtsprechung einwirken.Für die Juden bedeute die Herrschaft der

schiitischen Safawiden dadurch immer größereEinschränkungen im rechtlichen, aber auch imökonomischen und sozialen Leben. Einschrän-kungen, die in ihrer erniedrigenden Art durch-aus auch die Haltung arabischer Herrscher ge-genüber zoroastrischer Perser zu Beginn der is-lamischen Eroberung reflektierten.Es gab Dekrete der ulema, die es Juden ver-

bot, Geschäfte im Bazaar eines Ortes zu eröff-nen, was einen starken Rückgang jüdischer Ge-schäftsleute zur Folge hatte. Ebenso wurde esJuden zunehmend verwehrt, Regierungsämterzu übernehmen. Das Resultat waren weitver-breitete Armut und soziale Isolation. Diese Re-striktionen gingen zum Teil sowohl auf zoroas-trische Vorläufer, als auch auf eine besondersEnge schiitische Interpretation der Sure 9:28 zu-rück, wonach Juden (und Christen) als unrein

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Jüdisches Leben im Iran

gelten würden. Nach sunnitischer Interpretati-on dieser Sure hingegen gelten jedoch nur Po-lytheisten als unrein, nicht jedoch Schriftbesit-zer. Jedenfalls war es Juden im safawidischenIran nun verboten außerhalb des Ghettos zu le-ben. Sie durften auch kein muslimisches Hausbetreten und mussten außerhalb muslimischerGeschäfte nach den Waren fragen. Während ei-nes Regenschauers war es Juden mancherortssogar untersagt, die Straße zu betreten, da ih-re angebliche Unreinheit durch das Regenwas-ser zu denMuslimen getragenwerdenwürde. Esgab von Zeit zu Zeit noch weitere Dekrete, diezum Ziel hatten, Juden gegenüber schiitischerMuslime zu erniedrigen. So war es ihnen auchverboten, frische Nahrung und Gemüse von gu-ter Qualität zu essen und unter keinen Umstän-den laut zu einem Muslim zu reden.Ein Motiv der ulema für solche Dekrete war

wohl die Juden zur Konversion zum Islam zubringen. In späteren Zeiten spielten für die mus-limischen Gelehrten und Beamten aber auchfinanzielle Anreize eine Rolle und ließen sichdie Rücknahme von diskriminierenden Dekre-ten und das Aufhalten von Pogromen bezahlen.Manchmal wurde der Druck auf die jüdischen

Gemeinden tatsächlich so groß, dass die gan-ze Gemeinde zum Islam konvertierte. Ließ derDruck nach, kehrten viele wieder zum Juden-tum zurück und pflegten jüdische Traditionenim Geheimen.

Die Zeit der Qajaren, 1796-1925

Nach dem Fall der Safawiden und der kur-zen Herrschaft des Sunniten Nader Shah Afshar1736-1747, stand die schiitische ulema in Op-position zur Regierung, da kein Herrscher sichmehr auf die Abstammung Alis berufen konn-te. Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich dieAnsicht durch, dass hochrangige Mitglieder derulema an Alis statt die Gemeinde leiten soll-ten und die tatsächlichen Herrscher des Staa-

tes seien. Das führte unter der neuen Dynastieder Qajaren (1796-1925) immer wieder zu Kon-flikten, die durch denwachsenden europäischenEinfluss und die zunehmende Westorientierungnoch verschärft wurden.Auch die allgemeine schlechte ökonomische

Situation im Iran trug dazu bei, dass sich derFrust derMassen, angeführt durch die rangnied-rigeren Imame, die auf finanzielle Unterstüt-zung ihrer Gemeinden angewiesen waren, anden jüdischen Gemeinden entlud. Beispielhafthierfür ist am Ende des 18. Jahrhunderts dasMassaker an den Juden in Tabriz, dem die ge-samte Gemeinde mit samt der Kinder zum Op-fer fiel. Beim Pogrom von Mashhad 1839 wur-de die gesamte Gemeinde zur Konvertierung ge-zwungen. Angesichts dieser Verfolgungen kon-vertierten viele allerdings zum im Entstehen be-griffenen Babismus.

Der Babismus wurde von Mirza HusaynAli Nuri (1817-1892), genannt “Baha’ullah„, dieHerrlichkeit Gottes, und SeyyedAliMuhammadSchirazi, genannt “der Bab„, das Tor Gottes. Siepredigten unter anderen die Versöhnung undprinzipielle Gleichheit aller Religionen. Jedochwurde die Bab-Bewegung im Iran bald selbstverfolgt und der Bab 1850 in Tabriz erschossen,tausende Anhänger bis 1853 getötet oder ver-streut. Baha’ullah wurde ins Exil geschickt. Aufihn geht die Gründung der heute ca. 8 MillionenMitglieder umfassenden Bahai Religion zurück,in der der Babismus nach 1850 aufgegangen ist.Die zwei wichtigsten Pilgerstätten der Bahai be-finden sich heute in Israel: Der Schrein des Babin Haifa, und der Schrein des Baha’ullah in Ak-ko.

Für die jüdischen Gemeinden bedeutete diezunehmende Verwestlichung jedoch nach undnach eine Verbesserung, auch aufgrund vonDruck aus Frankreich und Großbritannien aufdie Regierung den Juden Persiens gleiche Rech-te zu gewähren, was unter Naser al-Din Shah

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Jüdisches Leben im Iran

Qajar (1848-96) zumindest formal auch geschah.Eine der wichtigsten Neuerungen war die Er-öffnung der ersten jüdischen Schule der Allian-ce Israélite Universelle (AIU) 1898 in Teheran. 25Jahre zuvor, am 12. Juli 1873, wurde in Paris zwi-schen Naser al-Din Shah und der AIU unter derLeitung von Adolph Cremieux eine Vereinba-rung über die Öffnung dieser Schule geschlos-sen, wodurch den Juden Irans zum ersten Malseit Jahrhunderten Zugang zu formaler Bildungermöglicht werden sollte.1899 öffnete eine weitere schule in Teheran

für jüdische Mädchen. Diese schulen konntenauch einige Mahlzeiten für die ärmsten undWaisenkinder bereit stellen. Weitere Schulenöffneten 1900 in Hamadan, 1901 in Isfahan, 1903in Shiraz und Sanadaj, und 1904 in Kerman-schah.Die Unterrichtssprache der Allianceschulen

war zunächst jedoch Französisch, was spätes-tens zu Beginn des ersten Weltkrieges zu Kritikan der Schule führte. Das eigentliche Ziel derAIU war die Vorbereitung der Schüler auf einsinnvolles Leben in einer nicht-jüdischen Um-gebung.Durch den Krieg und die politischen Implika-

tionen, aber auch durch die nationalen Interes-sen Reza Schahs änderte sich das Schulcurricu-lum schließlich 1921. Es wurde nun in Persischunterrichtet und mehr auf die Besonderheiteneines Lebens im Iran eingegangen.Aufgrund der Gründung zionistischer Orga-

nisationen nach der Balfour-Deklaration 1917und auch um die Bedürfnisse orthodoxer Ge-meinden besser zu erfüllen, wurde nun auchHebräisch unterrichtet. 1926 konnten in 15 Alli-anceschulen ca. 6500 Schüler unterrichtet wer-den. 1913 waren es lediglich 645.Die Reformen Reza Schahs setzten die Forde-

rungen der Verfassungsrevolution 1906-09 fortund garantierten auch den Juden weitgehendgleiche Reiche, die Möglichkeit sozialen Auf-stiegs und Partizipation an der iranischen Ge-sellschaft. Dies war nur möglich durch star-

ke Einschränkung der Authorität der ulema imBereich der Bildung, Rechtsprechung und derfinanziellen Unabhängigkeit unter Androhungvon Strafen bei Widerstand.Obwohl sämtliche diskriminierenden Geset-

ze abgeschafftwurden, Juden durften jetzt sogarim Militär dienen und mussten keine Kopfsteu-er mehr bezahlen, wurden die iranischen Judenvon einer großen Zahl der Muslime weiterhinmit Argwohn betrachtet. Juden durften nun dieGhettos verlassen und wohnen wo sie mochten,sie konnten jetzt auch wieder Geschäfte im Ba-zaar eröffnen und Regierungsämter bekleiden.Dennoch gab es am Ende der Regierungszeit Re-za Schahs in den jüdischenGemeinden noch vielArmut.Die neue Lebenswirklichkeit der Juden im sä-

kularen und nationalen Iran Reza Schahs waralso zweigesichtig. einerseits konnten die kul-turell stark persianisierte Minderheit der Judensich nun einfacher in die Gesellschaft integrie-ren, andererseits wurden sie durch den rassisti-schen Nationalismus und der Hinwendung RezaSchahs an Hitlers Nazideutschland und der da-durch neuen Form des Antisemitisumus wiederzurückgeworfen.Nach der Abdankung Reza Schahs Pahlavis

1941 lebte die islamische Religion wieder auf,die ulema hatte ihren Einfluss auf die Massenzurück gewonnen, was ebenfalls nicht zum Vor-teil der iranischen Juden gereichte.

Die Zeit nach 1945 bis zur Revo-lution

Nach dem zweiten Weltkrieg stellte die Grün-dung Israels 1948 die jüdische Gemeinde im Iranvor neue Herausforderungen. Nach den Vorstel-lungen weiter Kreise der ulema kann ein Judenur als ahl al-dhimma toleriert werden, aber dieExistenz eines jüdischen Staates forderte diesesBild heraus, umso mehr noch als der jüdische

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Jüdisches Leben im Iran

Staat Israel gegen die muslimischen Armeen er-folgreich war.Dennoch kam es unter Mohammed Reza

Schah zunächst zu einer de facto AnerkennungIsraels, welche Exporte und Tourismus in denIran ermöglichte. Sie wurde allerdings währendder Ölkrise 1950-53 widerrufen und zionisti-sche Aktivitäten wurden in den Untergrund ge-drängt, eine enge diplomatische Zusammenar-beit bestand zwischen beiden Ländern jedochbis in die 1970er Jahre.Iran kämpfte mit dem Westen um seine Öl-

ressourcen und sah Israel zunehmend als west-liche Kreation an. Der Premierminister Mossa-degh übernahm mit britischer Hilfe für kurzeZeit den Thron, wurde aber 1953 vom ameri-kanischen CIA wieder gestürzt, der MohammedReza Schah wieder einsetzte.Mohammed Reza Schah ging stark gegen

politische Oppositionelle der ulema vor, 1963schickte er Ayatollah Ruhollah Khomeini insExil, und drängte den Einfluss der ulema auf diePolitik zurück. Er förderte so erneut die Säku-larisation und den Fortschritt, wodurch religiö-se Minderheiten wieder einmal profitierten undden Schah größtenteils auch unterstützten.Die diplomatischen Beziehungen zwischen

Israel und Iran waren unter ihm ausgesprochengut, der Schah sah Israel als natürlichen Verbün-deten gegen die arabischen Staaten an. Es kamzu engen politischen, ökonomischen, touristi-schen und auch militärischen Kooperationen.Die ulema, allen voran Ayatollah Khomeini,

nutzte die weithin sichtbare Präsenz israelischerFirmen und die weitreichenden Beziehungen imnegativen Sinn für seine Zwecke und machteStimmung gegen den Schah und die durch ihnangeblich bedingte “Israelisierung„ der persi-schen Gesellschaft.Nach der Revolution 1979 endeten die einst

nahezu hervorragenden Beziehungen zwischendem Iran und Israel abrupt und nachhaltig. Kho-meini unterschied in seinen vorrevolutionärenReden nicht zwischen Israel und den Juden all-

gemein, wodurch der Druck auf die iranischenJuden nach der Revolution wieder stark anstieg.Juden waren nun der ständigen Gefahr ausge-setzt als israelischer Spion denunziert zu wer-den. So war das erste jüdische Opfer nach derRevolution auch der in Teheran geborene irani-sche Jude Habib Elqanian, einer der führendeniranischenUnternehmer und Bauherr des erstenTeheraner Wolkenkratzers - er wurde am 9. Mai1979 als angeblicher Spion Israels und “Zionist„erschossen.

Weiterführende LiteraturHouman Sarshar, u.a. »Judeo Persian Com-munities«. In: 2009. url: http : / / www .iranicaonline . org / articles / judeo -persian-communities.

Menashri, David. »ISRAEL i. RELATIONSWITH IRAN«. In: Encyclopaedia Iranica(2012). url: http://www.iranicaonline.org / articles / israel - i - relations -with-iran.

Netzer, Amnon. »Alliance Israélite Univer-selle«. In: Encyclopaedia Iranica (1985).url: http : / / www . iranicaonline .org / articles / alliance - israelite -universelle.

Sahim, Haideh. »Iran and Afghanistan«. In:TheJews of the Middle East and North Africa inModern Times. Reeva Spector Simon, MichaelMenachem Laskier, Sara Reguer, 2003, S. 367–389.

Soroudi, Sorour S. »Jews in Islamic Iran«. In:Persian Literature and Judeo-Persian Cultu-re. Collected Writings of Sorour S. Soroudi.H.E.Chehabi, 2010.

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