cultural exchange - die geschichte und entwicklung der reggae-szene in deutschland (l. aguimbau,...

262
CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen dem Landesprüfungsamt I NRW – Geschäftsstelle Köln vorgelegt von: Christian Golz und Lucas Arguimbau Febrer Hochschule für Musik und Tanz Köln Februar 2010 Themensteller: Prof. Dr. Rappe (Musikwissenschaft)

Upload: emschris

Post on 06-Nov-2015

58 views

Category:

Documents


2 download

DESCRIPTION

Cultural Exchange

TRANSCRIPT

  • CULTURAL EXCHANGE

    Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland

    Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprfung fr das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen

    dem Landesprfungsamt I NRW Geschftsstelle Kln vorgelegt von:

    Christian Golz

    und

    Lucas Arguimbau Febrer

    Hochschule fr Musik und Tanz Kln Februar 2010

    Themensteller: Prof. Dr. Rappe (Musikwissenschaft)

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland

    I

    Inhaltsverzeichnis

    1 ME COME YAH FI DRINK MILK, ME NO COME YAH FI COUNT COW Vorwort (L.A.F. / C.G.) 1

    2 NO ONE CYAAN TEST Die Entwicklung der jamaikanischen Musikkultur (C.G.) 4

    2.1 EVERYTING CRASH Die jamaikanische Kolonialgeschichte skizziert 4

    2.2 A NEW BROOM SWEEPS CLEAN, BUT AN OLD BROOM KNOWS EVERY CORNER Die Geschichte jamaikanischer Popularmusik 7

    2.2.1 Traditionelle Musik 7 2.2.2 Die erste jamaikanische Popularmusik: Mento 9 2.2.3 Mento und RnB Der frhe jamaikanische Ska 9 2.2.4 Rocksteady Rudies all around 11 2.2.5 Frher Reggae Do the Reggay 12 2.2.6 Roots Reggae Cultural time 13 2.2.7 Roots DeeJays und Soundsystem Kultur 14 2.2.8 Dub Die Instrumentalmusik des Reggae 17 2.2.9 Dancehall Toasters, Singjays, Guntalk und Slackness 18 2.2.10 Digital Reggae Welcome to all Raggamuffin 20 2.2.11 Reggae goes Pop Deejays und Popstars 21 2.2.12 Modern Roots & Culture 22

    2.3 OUT OF AFRICA INTO NEW WORLDS Afrikanische Diaspora, Black Community und Oralitt 25

    2.3.1 Die Funktion von Musik, Sprache und Tanz innerhalb oraler Kulturen 28

    2.4 BEATING A RESTLESS DRUM Religion und Trommeltradition in Afrika und Jamaika 38

    2.5 DREAD AT THE CONTROLS Der Rastafarianismus 41

    2.5.1 Homophobie Ein gesellschaftliches, nicht Rasta-internes, weltweites Problem 47

    2.6 THE GAL COME WINE UP ON ME Riddimculture und live-Reggae 49

    2.6.1 Der One Drop-Rhythmus 51 2.6.1.1 007 / Shanty Town Riddim 53 2.6.1.2 Ali Baba Riddim 54 2.6.1.3 He Prayed / Dub Organizer Riddim 55

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland

    II

    2.6.2 Der Rockers-Rhythmus 56 2.6.2.1 Full Up Riddim 57 2.6.2.2 Doctors Darling Riddim 58 2.6.2.3 World Jam Riddim 59

    2.6.3 Der Dancehall / Ragga-Rhythmus 60 2.6.3.1 Celebrate Riddim 61 2.6.3.2 Cure Riddim 62 2.6.3.4 Mexican Riddim 63

    2.7 THE THINGS YOU WANT IS NOT WHAT YOU ALWAYS GET Backingbands und Riddimculture 66

    2.7.1 Just do it! Der Groove und das Feel im Reggae 73

    3 A PLACE FI CULTURAL EXCHANGE Reggae im deutschsprachigen Raum (L.A.F.) 81

    3.1 DEM GERMAICANS Entstehung und Entwicklung der Reggae-Szene im

    deutschsprachigen Raum 81

    3.1.1 RUN DI RIDDIM! Erschwerte Grundvoraussetzungen fr Reggae im

    deutschsprachigen Raum 81

    3.1.2 BA SOWAS REGGAE MI NET AUF Phasen der Reggae-Rezeption im deutschsprachigen

    Raum 85

    3.1.2.1 TANZEN, KIFFEN, REBELLIEREN Die erste Rezeptionsphase 85

    3.1.2.2 KARIBISCHE SOMMERTRUME Die zweite Rezeptionsphase 89

    3.1.2.3 BUN DI ILLUSIONS! Die dritte Rezeptionsphase 90

    3.1.3 DO THE REGGAY! Die Aneignungsphase 92

    3.1.4 OUT OF MANY WE ARE ONE Die Emanzipationsphase 100

    3.2 Methodische Vorgehensweise 109

    3.2.1 Datenerhebung 109 3.2.1.1 Interviews 110 3.2.1.1.1 Teilstandardisiertes Interview 110

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland

    III

    3.2.1.1.2 face-to-face Interview 110 3.2.1.1.3 Gruppeninterview 111 3.2.1.1.4 Telefon-Interview 111 3.2.1.1.5 Standardisiertes Interview 112 3.2.1.1.6 Email-Interview 112 3.2.1.2 Beobachtung im Feld 113 3.2.2 Dokumentation und Transkription 114 3.2.3 Theoriegenerierung 115

    3.3 HOW DO YOU CALL IT? Bedeutungsdimensionen des Begriffs deutscher Reggae 117

    3.4 RASTAFAHNDUNG Kategorisierung der Reggae-Artists im deutschsprachigen Raum 130

    3.4.1 TAAK TU DA PIEPL! Sprache der Liedtexte 133

    3.4.2 TELL DEM! Themen, Inhalte und Botschaften 137

    3.4.2.1 OUTTA BABYLON! Spiritualitt und Systemkritik 138

    3.4.2.2 LIGHT DA SPLIFF! Ganja-Tunes 141

    3.4.2.3 GUNFINGER INNA DI AIR! Battyman-, Slackness- und Gun-Lyrics 142

    3.4.3 MIX UP DA MUSIC! Musikalische Umsetzung von Reggae im

    deutschsprachigen Raum 144

    3.4.3.1 RIDDIM VS. SONG Zwei musikstrukturelle Konzeptionen 144

    3.4.3.2 ALLES GEHT! Musikstilistische Bandbreite 151

    4 PULL IT UP AND COME AGAIN! Schlusswort (CG / LAF) 155

    5 Literaturverzeichnis 157

    5.1 Literatur 157 5.2 Magazine, Zeitschriften und Zeitungsartikel 159

    6 Anhang 160

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland

    IV

    6.1 Titelverzeichnis (Musikbeispiele) 160

    6.2 Glossar 162

    6.3 Diskografie 166 6.3.1 Ska 166 6.3.2 Rocksteady 166 6.3.3 Early Reggae 166 6.3.4 Deejays 166 6.3.5 Dub 166 6.3.6 Roots 167 6.3.7 Dancehall 167 6.3.8 Ragga 167 6.3.9 New Roots 167 6.3.10 Deutscher Reggae 167

    6.4 Interviewtranskripte 168

    6.4.1 Nattyflo, Flixx & Hooch am 15.09.09 in bersee 168 6.4.2 Mono & Nikitaman am 15.09.09 in bersee 175 6.4.3 Sebastian Sturm und Jin Jin am 15.09.2009 in bersee 179 6.4.4 Sam Gilly, Herb Pirker am 15.09.2009 in bersee 183 6.4.5 I-Fire am 16.09.2009 in bersee 189 6.4.6 Uwe Banton am 20.09.2009 192 6.4.7 Jahcoustix am 31.09.2009 in Bersenbrck 196 6.4.8 Martin Zobel am 01.10.09 in Bersenbrck 203 6.4.9 Uwe Kaa am 02.10.2009 in Bersenbrck 209 6.4.10 Gentleman am 11.10.2009 213 6.4.11 Ingo Rheinbay am 20.10.2009 in Kln 220 6.4.12 Frank Dell, Manougazou, Alfi Trowers, Tobsen Cordes,

    Mykal, Guido Craveiro am 21.10.2009 in Kln 228 6.4.13 Stefan Rtten alias Doctor Jones am 29.12.2009 in Kln 241

    6.5 Email-Interviews 245

    6.5.1 Goldi am 08.12.2009 um 20:08 245 6.5.2 RastaBenji am 09.12.2009 um 13:46/15:22 246 6.5.3 Flaming Mo am 09.12.2009 um 02:31 246 6.5.4 Benjie am 11.12.2009 um 12:38 246 6.5.5 Elijah am 09.12.2009 um 00:40 247 6.5.6 Hans Sllner am 11.12.09 um 16:09 247 6.5.7 Paco Mendoza am 13.12.2009 um 18:44 247 6.5.8 Dr. Volkanikman am 14.12.2209 um 18:28 248 6.5.9 Sara Lugo am 14.12.2009 um 23:04 248 6.5.10 Ronny Trettmann am 14.12.2009 um 22:30 248 6.5.11 Samuel Hopf am 15.12.2009 um 12:10 249 6.5.12 Tobi Wan am 15.12.2009 um 12:58 249 6.5.13 NRG Vibes am 15.12.2009 um 14:19 250 6.5.14 Mellow Mark am 16.12.2009 um 11:46 250 6.5.15 Pyro Merz am 16.12.2009 um 17:08 252 6.5.16 Simon Maier am 17.12.2009 um 12:14 252 6.5.17 Jules Lenzen am 17.12.2009 um 12:14 253 6.5.18 Teka am 20.12.2009 um 23:33 253 6.5.19 Don Sharicon am 24.12.2009 um 11:12 253

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland

    V

    6.5.20 Conscious Fiyah am 24.12.2009 um 10:06 254 6.5.21 Maxim am 26.12.2009 um 13:21 254 6.5.22 Nosliw am 30.12.09 um 16:24 255 6.5.23 Murxen Alberti am 19.01.10 um 19:51 255 6.5.24 Manja am 22.01.10 um 12:23 255 6.5.25 Der Biber am 25.01.10 um 21:34 256 6.5.26 Kimoe am 26.01.10 um 13:22 256

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 1

    1 ME COME YAH FI DRINK MILK, ME NO COME YAH FI COUNT COW Vorwort

    Znftige Burschen in Lederhosen und Mdels im Dirndl, Schuhplattler, Goalschnalzer1, Schellentrger und oberbayrische Trommler betreten das Spielfeld der Mnchner Arena. Zuvor sang der Tlzer Knabenchor Lieder aus dem deutschen Volksgut.2 Deutschland prsentiert sich bei der offiziellen Erffnungszeremonie fr die FIFA-Fuballweltmeisterschaft 2006 einem weltweiten Publikum im bayrisch-traditionellen Gewand und bekrftigt damit das von der bayrischen Tradition geprgte und weltweit verbreitete Klischeebild Deutschlands. Mit dem nchsten Programmpunkt der Erffnungsfeier wird ein anderes Deutschland gezeigt. Die traditionell-konservative Seite wird verlassen, um eine andere Seite Deutschlands zu prsentieren:

    Aus dem bayrischen Wald in die deutsche Hauptstadt. Es gibt ihn, den deutschen Hip-Hop, und man buchstabiert ihn so: Einmal S, dreimal E und einmal D. Aus Berlin kommen Seeed.3

    So lautete die vermutlich gut vorbereitete Ansage des Moderators Thomas Gottschalk. Der Auftritt der elfkpfigen Reggae/Dancehall-Combo Seeed verkrpert die moderne multikulturelle Seite Deutschlands und bildet den Gegenpol zur traditionell-konservativen Seite. Die Prsentation dieser Extreme berrascht und wirft folgende Fragen auf: Wie kommt es, dass ein Teil der offiziellen Erffnungsfeier fr die Fuball-WM 2006 mit einer ursprnglich jamaikanischen Musik gestaltet wird? Warum wird diese als untypisch deutsch angesehene Musik und Kultur als Bestandteil der kulturellen Identitt Deutschlands dargestellt? Wie vollzog sich die Entwicklung der originr-jamaikanischen Musikkultur zu einem festen Bestandteil der Kultur im deutschsprachigen Raum? Ja, Herr Gottschalk, es gibt den deutschen HipHop. Aber gibt es auch den deutschen Reggae?

    Die Frage nach der Eigenart des deutschen Reggae warf in unseren berlegungen viele weitere Fragen auf. Was macht Reggae aus? Wie ist

    1 Dabei handelt es sich um einen bayerisch-sterreichischen Brauch, bei dem die

    Fuhrmannspeitsche (Geiel; auf bayerisch: Goal) durch schnelle ruckhafte Bewegungen zum Knallen oder Schnalzen gebracht wird.

    URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Goalschnalzen (letzter Zugriff: 06.01.2010). 2 URL: http://www.spiegel.de/sport/fussball/0,1518,420562,00.html (letzter Zugriff: 12.01.2010).

    3 URL: http://www.youtube.com/watch?v=rYg1UsGjmDU (letzter Zugriff: 03.01.2010).

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 2

    Reggae in Jamaika entstanden und wie breitete sich diese Musik von der Karibik in die Welt aus?

    Das Interesse an dieser Musik war im deutschsprachigen Raum vor allem durch die kommerziellen Erfolge von Gentleman und Seeed enorm angestiegen und flaute ebenso schnell mit der angekndigten Pause dieser beiden Acts wieder ab. Dennoch entwickelte sich hierzulande bereits Jahre zuvor eine Reggae-Szene, die fern ab von Charterfolgen und Kommerz eine gewisse hrbare Eigenheit entwickelt hatte. Unser Interesse war es, die verschiedenen Ausdrucksformen der hiesigen Reggae-Szene auf interkulturelle Transfererscheinungen hin zu untersuchen und diese anhand verschiedener Artists exemplarisch darzustellen. Was macht den deutschen Reggae aus?

    Auf der Suche in den Archiven der Bibliotheken stellten wir fest, dass es bisher erst ein einziges Buch zur Entwicklung des Reggae in Deutschland4 gab. Neben der etablierten Reggae-Zeitschrift Riddim sowie der besagten Abhandlung von Olaf Karnik und Helmut Philipps existierten wenige Publikationen zu diesem Thema. Es war ein Leichtes, Bcher ber jamaikanischen, britischen, afrikanischen oder auch amerikanischen Reggae zu finden, der deutschsprachige Raum blieb allerdings meist unerwhnt. Der Mangel an Informationen lie uns selbst aktiv werden und so begaben wir uns ins Feld, um die Reggae-Szene im deutschsprachigen Raum zu erforschen. So besuchten wir Konzerte, Festivals und Soundsystemshows und fhrten zahlreiche Interviews mit Sngern und Deejays, Produzenten, Musiker, Soundsystem Selectors und Radio Deejays. Dabei stellte sich heraus, dass die deutsche Reggae-Szene eine lebhafte Vielfalt unterschiedlicher Bands und Knstler aufweist, die den Begriff deutscher Reggae fr sich unterschiedlich deuten, auslegen und interpretieren. Reggae ist eine Musikrichtung, die zwar ihren Ursprung in der Karibik hat, doch mittlerweile weltweit in unterschiedlichen Kulturkreisen verbreitet ist und dort unter anderen kulturellen Einflssen weiterentwickelt wird. Reggae ist nicht nur ein Sammelbegriff musikalischer Stilistiken. Vielmehr stellt Reggae eine Kultur da, die Sprache, Musik, Tanz, Religion bzw. Lebensauffassung und Bewusstsein verknpft. Die Vielschichtigkeit dieser Thematiken bietet ausreichend Platz zur individuellen Interpretation und Deutung. Jamaikanische Musik wird zum

    4 Karnik, Olaf / Philipps, Helmut: Reggae in Deutschland. Kln 2007.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 3

    Transportmittel fr moderne Lebensauffassungen im multikulturellen Austausch Seeed lsen die Schuhplattler im Heu ab und zeichnen ein weltoffenes und internationales deutsches Bild.

    Der Betrachtung der Entwicklung und Emanzipation von Reggae im deutschsprachigen Raum musste daher eine detaillierte Beschreibung der Entwicklung von Reggae im Allgemeinen vorausgehen. Nur durch das Verstndnis der ursprnglichen Ideen von Reggaemusik auf Jamaika, konnten wir Rckschlsse auf die Betrachtung von deutschem Reggae ziehen.

    Diese Arbeit ist daher in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste Teil beschftigt sich mit der Entwicklung von Reggae im Allgemeinen, sowie der sozialen, kulturellen und politischen Bedeutung dieser Musik. Es ist unumgnglich Reggae unter historischen und kulturellen Gesichtspunkten zu betrachten. Genauso wichtig erschien es uns, auf Reggae im musikalischen Sinn einzugehen, um diese Musik mglichst ganzheitlich zu erfassen. Daher folgt der historischen und chronologischen Entwicklung des Landes und der Musik auch ein Teil ber die Spielweise, das spezielle Feel im Reggae und der Riddim-Kultur, die ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklung und der Seele dieser Musik darstellt. Im Anschluss an diesen ersten allgemeinen Teil, gehen wir auf die Entwicklung des deutschen Reggae ein. Eventuelle Eigenheiten und Besonderheiten, sowie die spezielle Entwicklung dieses Landes im Bezug auf die jamaikanische Musik werden erlutert. Da diese Ergebnisse grtenteils unserer Feldforschung innerhalb der deutschen Reggae-Szene entspringen, wird in einem methodischen Teil auerdem unsere Vorgehensweise im Bezug auf die Forschung erlutert. Der Anhang beinhaltet neben den Interviews und einer Literaturliste auch ein Glossar sowie eine Diskografie mit nach Genren sortierten Hrempfehlungen. Darber hinaus gibt es parallel zum Text Hrbeispiele, die sich auf den zwei angehngten Audio-CDs befinden. Diese Anhnge sollen nicht als bloer Anhang zur Vervollstndigung dieser Arbeit dienen, sondern das umfassende Bild auf den Reggae aus einer modernen Perspektive abrunden bzw. vervollstndigen und als zustzliche auditive Informationsquelle dienen.

    Kln im Januar 2010

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 4

    2 NO ONE CYAAN TEST Die Entwicklung der jamaikanischen Musikkultur

    2.1 EVERYTING CRASH Die jamaikanische Kolonialgeschichte skizziert

    Xaymaca, das Land der vielen Quellen. Das heutige Jamaika hie ursprnglich so und wurde von den Ureinwohnern, den Arawak-Indianern, so genannt. Das Fischervolk stammte von den Siboney-Indianern ab, die an der Kste Floridas lebten.5 Als Christopher Kolumbus 1494 Jamaika fr Europa entdeckte, erlebte er dort ein Volk, welches Land bebaute, im Meer fischte, Tabak rauchte und sich aus Baumwolle Kleidung anfertigte.

    Die schnste Insel, die ein menschliches Auge je erblickte. 6

    Die Insel hinterlie auf Columbus einen intensiven Eindruck, was ihn allerdings nicht daran hinderte, Jamaika zur spanischen Kolonie zu ernennen und das Volk zu versklaven.

    Sie wrden gute Diener abgeben. [] Mit fnfzig Mann knnten wir sie allesamt unterwerfen und dazu bringen, alles zu tun, was wir wollen.7

    Die Flagge Spaniens wehte 150 Jahre lang ber der Insel, whrend die Ureinwohner versklavt wurden und 1655 bei der Besetzung der Insel durch die Englnder aufgrund unmenschlicher Arbeitsbedingungen und durch neu eingefhrte Krankheiten gnzlich ausgerottet waren.8 Whrend bereits unter der spanischen Herrschaft Sklaven von der westafrikanischen Kste verschleppt worden waren um die Arbeitskraft der aussterbenden Arawaks aufzufangen, entstand unter der Herrschaft der englischen Krone ein grausamer Dreieckshandel: Die europischen Schiffe belieferten die afrikanischen Hfen mit Waffen und Manufakturprodukten. Von der afrikanischen slavecoast9 stachen Schiffe in See, die, beladen mit verschleppten Schwarzen, den Hauptumschlagplatz fr Sklaven

    5 Vgl. Bader 1992, S. 19.

    6 Vgl. Cobb jr. 1985.

    7 Chevannes, Barry: Rastafari und die kritische Tradition , aus: Zips, Werner (Hg.): Rastafari

    Eine universelle Philosophie im 3. Jahrtausend. S.110. 8 Vgl. Bader 1992, S. 20.

    9 Slavecoast, frher Bezeichnung fr den Abschnitt der Oberguineakste zwischen

    Voltamndung und Nigerdelta; im 18. Jahrhundert Hauptgebiet des atlantischen Sklavenhandels. Vgl. URL: http://lexikon.meyers.de/meyers/Sklavenk%C3%BCste, Stand: 12.12.2009.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 5

    in der Karibik ansteuerten. Jamaika. Die Afrikaner wurden grtenteils gezwungen auf Zuckerrohrplantagen zu arbeiten, oder sie wurden nach Amerika verschifft. Von Jamaika aus verlieen Handelsschiffe die Hfen, um Zucker nach Europa zu exportieren. Die Brutalitt und menschliche Grausamkeit dieses Dreieckshandels der Kolonialmchte ist unbeschreiblich und lsst sich nur mit Worten von Augenzeugen oder deren Angehrigen erahnen.

    Do you remember the days of slavery? Do you remember the days of slavery?

    And how they beat us And how they worked us so hard And they used us 'Til they refuse us

    Do you remember the days of slavery?

    And a big fat bull We usually pull it everywhere We must pull it With shackles around our necks And I can see it all no more

    Do you remember the days of slavery?

    My brother feels it Including my sisters too Some of us survive Showing them that we are still alive

    Do you remember the days of slavery?

    History can recall, history can recall History can recall the days of slavery Oh slavery days! Oh slavery days!

    While I remember, please remember Do you do you do you, do you do you do you Oh slavery days! Oh slavery days!10

    Musikbeispiel Nr. 01: Burning Spear: Slavery Days. Island Records, 1975.

    Der Mensch wird zu einer billigen Ware degradiert. 30 bis 50 Millionen Afrikaner wurden von der slavecoast in die neue Welt verschleppt. Nur 60% der verschleppten Afrikaner berlebten die lange Verschiffung auf der middle passage, wie die Strecke der europischen Schiffe von Afrika in die Karibik

    10 Burning Spear, Slavery Days, URL: http://www.allthelyrics.com/song/431036, Stand:

    05.01.2010.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 6

    genannt wurde. Weitere starben bereits drei Jahre nach der Verschleppung aufgrund der unmenschlichen Lebensumstnde. Viele begehen Selbstmord aus Verzweiflung, Heimweh oder verzweifeltem Widerstand.11 Den Maroons (von span. marrano: wild, ungezhmt) gelingt whrend der Machtbernahme durch die Englnder die Flucht ins bergige Hinterland. Von dort aus leisten sie Widerstand gegen die Kolonialmchte und bilden kleine Drfer.12 1738 wurde nach zahlreichen erfolgreich niedergeschlagen Angriffen gegen die Maroons ein Friedensvertrag seitens der britischen Regierung ausgearbeitet. Den Maroons wurde Land gewhrt. Die berzahl der Sklaven von 14:1 fhrte auf Jamaika, im Vergleich zu anderen Kolonien, besonders oft zu Aufstnden. Allerdings gelang lediglich den Maroons ein dauerhaftes Entkommen aus den Zwngen der Herren. Die Bestrafungen gegenber aufstndischen Sklaven waren extrem hart. Das Verhungern in Kfigen oder die Verbrennung bei lebendigem Leib waren gngige Methoden, die bei den berlebenden Gehorsam durch Terror bewirken sollte.13 1807 wurde der Skalvenhandel fr britische Schiffe verboten. Allerdings begann in Jamaika erst 1838 der Abbau der Sklaverei. Den Jamaikanern wurde eine teilweise-Selbststndigkeit zugesprochen und ein Abgeordnetenrat wurde eingerichtet. Die Landwirtschaft hatte mit den neu einsetzenden Lohnzahlungen an frhere Sklaven schwer zu kmpfen und brach als entscheidender Eckpfeiler jamaikanischer Wirtschaft fast vollkommen weg. Die politische Situation der schwarzen Bevlkerung nderte sich nur geringfgig. Eine kleine weie Oberschicht behielt die wesentlichen Rechte und so kam es 1865 zu einer gewaltsamen Revolte. Die Morant-Bay Revolution14 fhrte zur erneuten Aberkennung der teilweise-Selbststndigkeit durch die britische Regierung. Ein Gouverneur wurde eingesetzt und bis 1962 blieb Jamaika britische Kronkolonie.

    11 Vgl. Bader 1992, S. 21.

    12 Vgl. URL: http://www.jamaicans.com/info/brief.htm, Stand: 12.12.2009.

    13 Vgl. Bader 1992, S. 22.

    14 Am 7. Oktober 1865 wurde ein Mann mit schwarzer Hautfarbe von einem Gericht zu einer

    Freiheitsstrafe verurteilt weil eine verlassene Plantage betreten hatte. Das Urteil fhrte zu Demonstrationen unter Fhrung von Diakon Paul Bogle. Der eigentliche Aufstand begann vier Tage spter am 11. Oktober. Bogle zog mit einer Gruppe zum Gerichtsgebude in Morant Bay, wo sie eine Versammlung abhalten wollten. Die Wachen gerieten in Panik und erschossen sieben Menschen. Die Protestanten begannen zu revoltieren und bernahmen die Kontrolle ber die Stadt. In ganz Saint Thomas beteiligten sich etwa 2000 Personen. Auf dem Land wurden weie Plantagenbesitzer gettet oder zur Flucht gezwungen. URL: http://jamaica-guide.info/past.and.present/history/crown.colony/index.html, Stand: 12.12.2009.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 7

    Am 6. August 1962 wird Jamaika unabhngig und tritt den Vereinten Nationen bei. Die Verfassung des Inselstaates beruht auf dem System des Vereinigten Knigreichs und Jamaikas parlamentarisch reprsentative demokratische Monarchie ist loses Mitglied des britischen Commonwealth. Als erster Premier wurde Alexander Bustamante von der Jamaica Labour Party (JLP) gewhlt, der bis 1972 an der Macht blieb. Die groe Armut des Landes frdert die Kriminalitt und Bandenkriege. 1967 verschlechtert eine groe Drreperiode die gebeutelte Bevlkerung. Der folgende politische Wechsel und die bernahme der Peoples National Party (PNP) lsst die Wirtschaft vollkommen stagnieren. Armut und Kriminalitt werden noch strker und 1988 suchte der Hurricane Gilbert die Insel heim und zerstrte 40% der Anbauflchen bei einem Sachschaden von vier Millarden US $. 1996 bricht Jamaicas gesamtes Finanzsystem zusammen. Die durchgehend schlechte wirtschaftliche Lage des Landes, sowie die im Zusammenhang stehende Kriminalitt fhren zu enormen Wellen der Emigration der Bevlkerung. Die Emigration vollzieht sich ber die USA und England in andere Staaten der Welt.15

    Die Zeit ist gekommen, in der die Jugend begreifen muss, dass wir als Sklaven aus Afrika verschleppt worden sind. Heute haben wir die Ketten nicht mehr an den Fen, sondern an unserem Geist, und das fhrt dazu, dass wir glauben, wir knnten uns nicht selbst regieren und unsere Kultur als Afrikaner bewahren.16

    2.2 A NEW BROOM SWEEPS CLEAN, BUT AN OLD BROOM KNOWS EVERY CORNER Die Geschichte jamaikanischer Popularmusik

    2.2.1 Traditionelle Musik

    Der Kenner jamaikanischer Musik Luke Ehrlich sagt: Orthodoxie ist in der jamaikanischen Musikkultur sehr stark respektiert17.

    15 URL: http://www.state.gov/r/pa/ei/bgn/2032.htm, 12.12.2009.

    16 Ras de Silva in: Michels P.: Rastafari, 1979 zit. nach Deutscher Volkshochschul-Verband e.V,

    1983, S. 43. 17

    Vgl. Davis und Simon 1983.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 8

    Traditionelle und volkstmliche Musik spielte in Jamaika, lange bevor sich die Popularmusik des Landes, Studios und Musikindustrie entwickelten, eine groe Rolle fr die Bevlkerung. Die Wurzeln jamaikanischer Kultur stammen grtenteils von den Vlkern Zentralafrikas oder der afrikanischen Westkste ab, die durch Versklavung in die Karibik verschifft wurden. In Afrika, dem Mutterland der black music, ist Volksmusik an religise Bruche und soziale Anlsse gekoppelt. Diese gelangten durch die Verschleppung der Sklaven unter anderem auch nach Jamaika. Es existieren beispielsweise traditionelle Grabgesnge oder Lieder zu anderen religisen Anlssen.18 Worksongs und Lieder fr beinahe jeden sozialen Anlass werden von Generation zu Generation weitergegeben und so haben sich die wichtigen Rituale bis in die heutige Zeit durch orale Tradierung erhalten knnen. Einige dieser musikalischen Rituale wurden von den Kolonialherren untersagt. Durch einen organisierten Kulturmord19 aus Angst vor Rebellion wurden sicherlich viele Eigenheiten afrikanischer Kultur fr immer zerstrt. Die traditionelle Musik nimmt natrlich auch Einfluss auf die entstehende Popularmusik des Landes. Rhythmus und Tanz im Allgemeinen und die Trommel im Speziellen haben wie in Afrika eine bergeordnete Bedeutung. Hier nimmt die Trommel eine Rolle ein, die ber religise und sogar revolutionre Funktionen noch weit hinausgeht. Sie symbolisiert das Ursprngliche oder, wie Maureen Warner-Lewis sagt, sie symbolisiert Afrika an sich.

    The drum is closely linked in learned African philosophy with the word, in the sense in which St. John the Apostle used it at the start of his gospel The original utterance which created life of nothingness and chaos, and then established order in that creation. The drum is therefore a divine tool of the Supreme Being, a womb or beginning of created life.20

    Weitere starke traditionelle afrikanische Einflsse sind die afrikanisch-christlich religisen Kulte und die dazugehrige ritualisierte Musik, auf die ich im Kapitel Beating A Restless Drum gesondert eingehen werde. Neben diesen ganz ursprnglich afrikanischen Wurzeln lernten die Sklaven aber auch die europischen Instrumente und die dazugehrige Musik kennen und spielen. Die Kolonialherren tanzten zum Beispiel gern zu Quadrille Bands, die aus Sklaven bestanden.21

    18 Vgl. Bader 1992, S. 32.

    19 Bader beschreibt mit Kulturmord die kulturelle Unterdrckung der Sklaven. Vgl. Bader 1992,

    S. 29. 20

    URL: http://debate.uvm.edu/dreadlibrary/kahn.html, Stand: 19.12.2009. 21

    Vgl. Barrow, Dalton 2004, S. 5.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 9

    Durch das Erlernen der Instrumente Fiedel oder Pfeife, beeinflusste das europische Tonsystem das afrikanische. Die Erzhlung von Neuigkeiten, alten Weisheiten und Geschichten, mit musikalischer Begleitung in Liedform dargeboten, liegt ebenfalls tief in der afrikanischen Griot-Tradition verwurzelt.22 So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Ursprnge der jamaikanischen Popularmusik in Straengesngen finden lassen, die wichtige Ereignisse schilderten. Die Snger auf der Strae, begleitet von Fiedel und Banjo, verdienten sich so ihr Geld.23 Mit dem Einfluss von Calypso aus Trinidad und der Kubanischen Rumba-Musik, bildete sich der erste eigene jamaikanische Popularmusikstil Mento.

    2.2.2 Die erste jamaikanische Popularmusik: Mento

    Mento war in den 1930er Jahren reine Live-Musik und diente in erster Linie der Unterhaltung. Die Besetzung der Mento-Bands war angelehnt an die Quadrillebands. Sie bestanden traditionell aus dem Banjo, Handtrommel, Gitarre und der Rumba Box, ein groes Daumenklavier, welches den Bass ersetzte. Diese Besetzung konnte durch Fiedel, Pfeife, Bambussaxofon oder auch Panflte ergnzt werden. Mento-Bands wurden fr Tanzveranstaltungen, Hochzeiten oder hnliche private Feste engagiert. Betrachtet man die sehr hnlichen Musikstile Calypso und Mento genau, stellt man beim Mento eine vielseitigere Auswahl der Tempi und Textinhalte fest, was im Gegensatz zum relativ gleichfrmigen Calypso steht. Auch die Textinhalte sind hier grtenteils humoristischer Art.24

    2.2.3 Mento und RnB Der frhe jamaikanische Ska

    Neben Mento kam durch die Briten, aber auch durch amerikanische Radiosender, die teilweise in Jamaika noch empfangen werden konnten, der Swing auf die Insel. Mento-Bands spielten nun nicht mehr reinen Mento, sondern

    22 Siehe Griots, URL: http://www.geocities.com/jbenhill/griots.html, Stand: 19.12.2009.

    23 Vgl. Barrow, Dalton 2004, S. 6.

    24 Vgl. Barrow, Dalton 2004, S. 6 ff.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 10

    coverten Swingstars aus Amerika und vermischten Mento- mit Swingelementen.25

    Mit der Erfindung der Schallplatte um die Jahrhundertwende und der Entstehung von Soundsystems und Tonstudios auf Jamaika um 1950 nderte sich die musikalische Landschaft.26 Das Soundsystem war eine preiswerte Variante und lste viele Bands in ihrer Entertainment-Funktion ab. Sie orientierten sich seit 1950er Jahren verstrkt am amerikanischen RnB. Dieser moderne amerikanische Stil stand beim Publikum hoch im Kurs und ein Soundsystem konnte nur noch mit RnB erfolgreich sein. Auf die Geschichte, Aufbau und Funktion der Soundsystems wird spter noch eingegangen. Nach dem zweiten Weltkrieg wollten die fortschrittlichen Jamaikaner auch Musik hren, die ihrem Lebenswandel angemessen schien. Klnge von Fats Domino und Louis Jordan dominierten die Dancehalls.27 Schnell entstanden die ersten Cover-Bands. Der Stil wurde imitiert, da aber ein Imitat nie zu hundert Prozent das Original erreicht und immer auch von den Erfahrungen des Nachahmenden beeinflusst wird, entstand eine Mischung aus Swing und Mento, gewrzt mit afrikanischer Trommeltradition. Die ersten Soundsystem-Besitzer Coxsone Dodd, Cecil Prince Buster Campbell und Duke Reid waren gleichzeitig auch die Besitzer der ersten Tonstudios auf Jamaika. Durch die Partys mit ihren eigenen Soundsystems hatten sie einen enormen Einfluss auf die musikalische Geschichte ihres Landes. Sie interpretierten die Stimmung des Volkes richtig und vernderten den Stil der jamaikanischen Musik, indem sie innovative, lokale Musiker aufnahmen.28 Die walkenden Viertelnoten des RnB- Basses, die Offbeats des Mento-Banjos und die traditionellen afrikanischen Trommelrhythmen wurden geschickt vermischt und auf unzhligen einzelnen Platten, so genannten Dubplates fr das jeweilige Soundsystem aufgenommen. Das Publikum der Soundsystems konnte nach wie vor zu der RnB-Musik tanzen und gleichzeitig eigene traditionell jamaikanische Wurzeln in der Musik wieder finden.29 Die schnelle, Lebensfreude ausstrahlende Musik, vernderte sich nach

    25 Vgl. Bradley 2002, S. 11.

    26 1954 erffnete Ken Khouri Jamaikas erstes Label, "Federal Records". Er inspirierte Duke Reid

    und Coxsone Dodd. Sie begannen lokale Knstler fr ihre Soundsystems aufzunehmen. Vgl. URL: http://www.scaruffi.com/history/reggae.html, Stand: 30.12.2009.

    27 Vgl. Bradley 2002, S. 11.

    28 Vgl. Bradley 2002, S. 20.

    29 Vgl. Bradley 2002, S. 12.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 11

    und nach allerdings so enorm, dass es nicht mehr nur jamaikanischer RnB sein konnte. Ein anderer Name musste her Ska.

    Ska entwickelte sich eigenstndig in Jamaika weiter und war die erste Musik, die die Insel als jamaikanisches Exportgut wieder verlassen sollte. Studios, Musikindustrie und Labels entstanden in groer Zahl. Knstler wie Derrick Morgan, Leslie Kong und Desmond Decker, oder Instrumentalisten wie Don Drummond (Posaune) oder Lloyd Brevett (Kontrabass), die alle der Jazztradition entstammten, sind als groe Vertreter des jamaikanischen Ska zu nennen. Der Ska existiert als eigenstndige Musikrichtung bis heute weiter und entwickelt seine eigene musikalische Geschichte in Jamaika, England, Amerika und der gesamten Welt. Um 1964, kurz nach der Souvernitt, bricht in Jamaika allerdings eine neue ra an.

    Musikbeispiel Nr. 02: Lord Creator: Dont Stay Out Late. Island Records, 1963.

    2.2.4 Rocksteady Rudies all around

    In Amerika kam um 1960 die Soulmusik auf. Das legendre Motown-Label produzierte Stars wie Marvin Gaye, The Temptations und Curtis Mayfield & The Impressions. Auf der Suche nach musikalischer Selbstverwirklichung orientiert sich jamaikanische Jugend wiederum am amerikanischen Vorbild. Der Ska wurde langsamer und relaxter.30 Die Blser traten in den Hintergrund, Bass und Schlagzeug wurden, dem amerikanischen Vorbild entsprechend, mehr in den Vordergrund gerckt. Die Basslinie bestand nicht mehr nur aus dem in Vierteln pulsierenden walking pattern, sondern spielte synkopierte, patternartige Melodielinien. Der gewonnene Platz lie mehr Raum fr Harmonie und Gesangsmelodie. Die neue Spielart lie auch eine kleinere Besetzung zu. Die zehn- bis zwanzigkpfige Ska-Besetzung schrumpft und wird durch elektrische

    30 Vgl. Bradley 2002, S. 45.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 12

    Instrumente ergnzt. E-Gitarre und E-Piano halten Einzug in die jamaikanische Popularmusik.31 Der Rocksteady wurde zunehmend zur Studiomusik. Der Jazz mit seinen instrumentalen Improvisationen wurde aus der jamaikanischen Musik verdrngt und viele Jazz-, aber auch Ska-Instrumentalisten wanderten ins Ausland ab. Rocksteady war die Musik fr Snger und ihre Stimmen. Bob Marley und Jimmy Cliff imitierten in ihren frhen Jahren Soulstars wie Curtis Mayfield and Otis Redding.32 Mit dem Aufkommen des elektrischen Basses vernderte sich diese Entwicklung aber erneut.

    Musikbeispiel Nr. 03: Marcia Griffith: Feel Like Jumping. Coxsone, 1968.

    2.2.5 Frher Reggae Do the Reggay

    Reggae ist in Wahrheit Volksmusik, zu der die Rude Boys genauso tanzen wie ihre Grannys, er ist Ausdruck ihrer Kultur ihrer Wnsche und Bedrfnisse, ihrer Erlebnisse und Ansichten in einem Spannungsfeld zwischen unbekmmerter Ausgelassenheit und sozialer Depression.33

    Die erste Aufnahme, in der das Wort Reggae als Name fr einen jamaikanischen Musikstil benutzt wird, war Do the Reggay von Toots & The Maytals (1968). Diese Produktion war, wie auch einige andere, die zu der Zeit erschienen, wieder schneller im Tempo.34

    Musikbeispiel Nr. 04: Toots & The Maytals: Do The Reggay. Pyramid, 1968.

    Die von Lee Scratch Perry gesampelten und spter eingefgten Babyschreie auf People Funny Boy von Lynford Anderson strkten nicht allein die Atmosphre der Aufnahme, sie leiteten auch die grere Rolle der engineers und das Experimentieren mit unterschiedlichen Mixes ein.35

    31 Vgl. Barrow, Dalton, S. 55.

    32 Vgl. Bradley 2002, S. 43.

    33 Wynands 1995, S. 19.

    34 Vgl. Barrow, Dalton, S. 87.

    35 Vgl. Barrow, Dalton, S. 87.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 13

    Durch die neue tragende Rolle des E-Basses und einer viel grberen Soundabmischung der Aufnahmen, schuf der neue Stil einen Kontrast zum vorausgegangenen Rocksteady. Die ersten 1970er Jahre waren geprgt von Aufnahmen wilder Soundexperimentalisten wie Lee Perry, Bunny Lee, Winston Riley und der Arbeit von Vokalgruppen wie den Heptones, Cables und Beltones. Hier entstehen die Grundlagen des Subgenres Dub, auf das spter noch speziell eingegangen wird. Mit der Verbreitung der Elektrizitt war es gnstiger Studios einzurichten. So entstanden eine Flle von kleinen Studios, die versuchten, den groen Produzenten und Soundsysteminhabern Duke Reid und Coxsone Dodd den Rang streitig zu machen.

    If you are a big tree, we are a small axe. (jam. Sprichwort)36

    Die politische Krisensituation war sicherlich ein wichtiger Grund fr diese musikalische Revolution. Die politische Misslage fhrte aber auch zu einem immer strker werdenden Einfluss des Rastafarianismus und ebnete den Weg fr die Roots Revolution in der Mitte der 1970er Jahre.

    Musikbeispiel Nr. 05: The Heptones: Suspicious Mind. StudioOne, 1971.

    2.2.6 Roots Reggae Cultural time

    1972 bernahm die linke PNP (Peoples National Party) die politische Macht und untersttze die Rastafari-Anhnger ffentlich. Seit 1962 wurde Marcus Garvey, der Begrnder der Rastafari-Bewegung, als Nationalheld gefeiert und auch der Besuch Haile Selassies 1966 zeigte, dass der Rastafarianismus und die einhergehende Black Power-Bewegung in Jamaika stark geworden war. Aber erst durch die ffentliche Untersttzung der Politik 1972, erlangte der Rastafarianismus volle Akzeptanz innerhalb der jamaikanischen Bevlkerung. Die Politik erhoffte sich dadurch vermutlich eine Verbesserung der kritischen Lage.

    36 Vgl. URL: http://www.smallaxe.net/project/idea.php, Stand: 20.12.09.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 14

    Whrend politische Parteien wie die sozialdemokratische PNP Norman Manleys mit Wahlslogans wie "Power for the people" um Stimmen warben, reflektiert Reggae das Selbstbewusstsein und die Erfahrung der Mehrheit, die mit ihren Knstlern erstmals echte Reprsentanten ihres Kulturschaffens frei whlen und damit "Power of the people" ausdrcken. Das ist die eigentliche kulturelle Revolution hinter dem "Phnomen Reggae. 37

    Seit dieser Zeit dominierte die Rastafari-Bewegung auch die Musik. Dreadlocks und rot-gelb-grnen Flaggen wurden zum Symbol eines ganzen Reggae-Jahrzehnts und darber hinaus. Die biblischen und spirituellen Texte wurden von der experimentellen Studiotechnik aufgefangen und es entstand eine Musik, die erstmals ausschlielich aus Jamaika stammte und die schwarze Identitt, den Zusammenhalt unter Schwarzen und das schwarze Selbstbewusstsein thematisierte und in den Mittelpunkt rckte.

    Im Rasta-Glauben drckt sich ein kollektiver Eskapismus der Ghettobevlkerung aus, die hier ihre Ohnmacht in das Gefhl einer hheren berlegenheit umwandeln konnte. 38

    Der Roots- Reggae verbreitete sich von Jamaika aus in die gesamte Welt. Der weltweite Erfolg von Knstlern wie Bob Marley, Culture, Burning Spear, The Mighty Diamonds, Dennis Brown, Big Youth und Lee Perry zeigt, wie erfolgreich die Fusion von Reggae und Rastafarianismus war. Bob Marley wurde zum Weltstar und Reggae zum wichtigsten und grten Export Jamaikas.

    Musikbeispiel Nr. 06: Bob Marley: Natty Dread. Tuff Gong, 1974.

    2.2.7 Roots DeeJays und Soundsystem Kultur

    Die Soundsystems tragen seit 1940 wesentlich zur Entwicklung der jamaikanischen Popularmusik bei. Die Produktion von Platten und das Veranstalten von dances existiert in Jamaika seit Beginn der Ska-ra.39 Whrend der Entstehung des Reggae trugen die DeeJays allerdings wesentlich zur

    37 Zips, Werner in: Kremser 1990, S.25.

    38 Wynands 1995, S. 143.

    39 Vgl. Bradley 2002, S. 13.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 15

    Entwicklung des bekanntesten jamaikanischen Musikstils bei. Um diesen Umstand beschreiben zu knnen, muss zuerst das Soundsystem und seine Funktion im Einzelnen erlutert werden.

    Der Klang oder der sound, der in der dancehall aus den Lautsprechern kommt, ist stets eine Mischung aus Musik von Platte oder CD und der live gesungenen oder gesprochenen Worte des DeeJays. Er sorgt somit fr eine Verbindung zwischen Aufnahme und Publikum. Fr die Performance in der dancehall benutzt er so genannte Versions, Instrumentalversionen von Stcken, auf die er toastet 40 bzw. singt. Der riddim ist das musikalische Grundmaterial einer version. Im ursprnglichen Sinne beschreibt ein riddim die charakteristische Basslinie eines tunes. Aber auch Drums, Keyboards und Blser knnen einen riddim charakterisieren.41 Der selector (oder operator) ist der Assistent des DeeJays, der die Schallplatten auflegt, die Verstrker und Effekte bedient und die Mischung aller Tonquellen kontrolliert. Whrend das Arbeitsgert des DeeJays das mic (Mikrofon) ist, bedient der selector den control tower.42

    Der DeeJay Pionier U-Roy arbeitete 1968 bei King Tubbys Sound System als Disc Jockey. Vor ihm gab es bereits einige DeeJays, allerdings begann U-Roy damit, nicht nur Songs anzusagen und zu kommentieren, sondern komplett neue Texte zu toasten bzw. zu rappen. Diese neue Stilistik setzte sich mit dem Lied You dont care der Gruppe Techniques durch. Die version wurde von U-Roy gevoict und diente dem King Tubby Sound System als Erkennungszeichen, als charakteristische dubplate.43 Diese Vorgehensweise des Ausborgens von bestehenden Stcken und deren Neuinterpretation griff eine alte Tradition auf, wie sie Walter Jekyll in Jamaika schon 1907 beschrieb:

    Die dancing tunes weichen bedeutend vom jamaikanischen Melodietyp ab. Matrosen bringen populre Lieder in die Seehfen, und von dort aus werden sie ins Landesinnere verbreitet. Die ursprnglichen Worte bleiben zuerst eine zeitlang bestehen. Doch ber kurz oder lang werden sie verndert. Der Grund fr die nderung ist sicherlich zum einen die mndliche Verbreitung der Lieder, aber weitaus wichtiger ist der Grund, dass die Lieder von englischen Themen handeln, die in Jamaika niemanden interessieren. So

    40 Beim Toasten wird die Instrumentalversion eines Tunes als musikalische Basis verwendet, auf

    welcher (meist improvisiert) gesprochen, gesungen, kommentiert und mit dem Original-Gesang dialogiert wird. Vgl. URL: http://cantinaroots.it/toasting.html, Stand: 12.12.2009.

    41 Vgl. Bader 1992, S. 72.

    42 Vgl. Bader 1992, S. 77.

    43 Vgl. Wynands 1995, S.101f.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 16

    findet man im Allgemeinen Lieder mit komplett neuem Text, die ein aktuelles Geschehen aus der Nachbarschaft oder ein Detail aus dem Alltagsleben beschreiben.44

    Durch den Erfolg der Dee Jays in der dancehall und die Verbreitung der Dee Jay-Kunst in Jamaika (und England) entstand zu Beginn der 70er Jahre eine groe Nachfrage an Instrumentalversionen. Es entstand ein Brauch, der bis heute in Jamaika existiert. Auf die B-Seite der Schallplatte wurde die Instrumentalversion (version) des Liedes der A-Seite gepresst.45 Der aufkommende Wettbewerbsdruck zwischen den einzelnen Soundsystems fhrte zu einer stndigen Entwicklung von neuen Versions. Dies fhrte dazu, dass so genannte dubplates, Sonderanfertigungen oder Einzelaufnahmen, extra fr die Sound Systems angefertigt wurden.46

    Musikbeispiel Nr. 07: U-Roy: Wake The Town. Virgin, 1979.

    Whrend sich der Dee Jay in der dancehall zum Sprechknstler entwickelt hatte, der zunehmend auch politische und sozialkritische Themen aufgriff, so wurde die Rolle des DJs im eigentlichen Sinne auf einen Gehilfen bertragen und die Technik des Plattenauflegens wurde ebenfalls weiterentwickelt. Die verschiedenen Stilmittel des selectors tragen wesentlich zur Lebendigkeit der Auffhrung in der dancehall bei. Der selector spielt meistens zuerst die Vorderseite eines beliebten Stckes ab. Dann dreht er die Platte und der Dee Jay toastet ber die version des Songs. Stephen Davis vergleicht diese Vorgehensweise mit der einer Jazzband. Bei dieser wird zuerst das Thema, die Melodie des Stckes gespielt. Im Folgenden improvisiert der Solist ber die Grundlage, die von der Rhythmusgruppe gelegt wird.47 Eine weitere Technik ist die rewind- Technik, auch cueing up oder stop-start genannt. Das zurcksetzen der Nadel an den Anfang des Stckes schafft eine Steigerung der Atmosphre in der dancehall. Der selector wird vom Dee Jay durch lautes Rufen dazu aufgefordert.

    44 Jeckyll 1907.

    45 Vgl. Bader 1992, S.70.

    46 Vgl. Bader 1992, S.71.

    47 Davis und Simon 1983.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 17

    Die Soundsystem-Kultur der jamaikanischen dancehalls werden in der NewYorker Bronx vom Pionier Cool DJ Herc als Grundlage fr die Entwicklung eines der erfolgreichsten Musikstile unserer Zeit genutzt. Durch den Einsatz der turntables als Instrument und die Adaption der Freiheiten eines jamaikanischen DeeJays auf die amerikanische Funk- und Soulmusik, entsteht in den 1970er Jahren der Rap und mit ihm die HipHop-Kultur.

    Der control tower (Plattenspieler, Mischpult, Effekte) eines selectors inspirierte u.A. King Tubby oder Lee Scratch Perry zu immer neuen Klanginnovationen, die sie als selector in der dancehall und im Studio perfektionierten. Das Mixen von Song, Stimme und zustzlichen Effekten, machte sie zu Vorreitern eines gesamten Subgenres des Reggae Dub48.

    2.2.8 Dub Die Instrumentalmusik des Reggae

    Wenn Reggae Afrika in der Neuen Welt darstellt, handelt es sich bei Dub um Afrika auf dem Mond49

    Mit dem Aufkommen von Elektrizitt begann auch das Experimentieren mit Sound und das Remixen von erfolgreichen Liedern in Jamaika. Viele kleine Produzenten konnten sich nun Studios leisten und wollten sich von den groen Produzenten absetzen. Dub-Produzenten wie King Tubby, Lee Scratch Perry, Errol T, Scientist und Mikey Dread zhlen heute zu den grten Musikern des Reggae. Ihre Arbeit bestand allerdings mit Ausnahme von Lee Perry beinahe ausschlielich daraus, die Arbeit anderer zu verwerten und zu Remixen. Perry arbeitete vor allem als Produzent in seinem legendren Black Arc-Studio. Dort produzierte er mit seinem speziellen Sound legendre Reggae- Knstler wie Bob Marley, Bunny Wailer und Max Romeo. Der Einsatz von alter Technik fhrte zu einem ganz speziellen Sound, der viele Black Arc-Songs oft auf Platz 1 der Charts brachte. Perrys Vorliebe zu Effekten wie Phaser und Delay, lie ihn gemeinsam mit King Tubby zum Vorreiter jeder Dub-Aufnahme nach ihm werden.

    48 Vgl. Bader 1992, S. 70.

    49 Ehrlich, Luke in "X-Ray Music: The Volatile History of Dub"; Vgl. URL:

    http://www.laut.de/lautwerk/dub/index.htm, Stand: 20.12.2009.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 18

    Beim Dub wird das Studio, bzw. das Mischpult selbst zum Instrument. Frequenzen werden angehoben und aus dem Mix herausgefahren. Echos, Delays und Phasereffekte lassen neue Rume entstehen. Die Musik bekommt etwas Mystisches und Schwebendes.50

    Dub ist [...] das zwangslufige Ergebnis einer Suche nach der kleinsten kreativen Einheit der Musik, eines Auslotens der Kraft des puren Sounds.51

    Die dubmaster setzten sich seit 1975 vollkommen durch. Zu Beginn der 1980er Jahre, als der Roots- Reggae allmhlich vom Dancehall-Reggae abgelst wurde, explodiert die gesamte jamaikanische Nation zu einer Nation von recycelten Rhythmen und Dub Versions.

    Musikbeispiel Nr. 08: King Tubby: Dub From The Roots. Total Sounds, 1974.

    2.2.9 Dancehall Toasters, Singjays, Guntalk und Slackness

    Nach Wynands erreichte der War inna Babylon mit dem Ausklingen der 70er Jahre trotz Marleys Friedenskonzert seinen Hhepunkt. Kurz vor den Wahlen von 1980 kam in Jamaika eine extreme Welle der Gewalt auf. ber Kolumbien kamen immer grere Mengen harter Drogen wie Kokain oder Crack ins Land und verdrngten das heilige Kraut der Rastas. hnlich wie das Ganja (Marihuana), verschwanden nun auch die orthodoxen Rastafari-Inhalte aus dem Zentrum des Geschehens. Wahrscheinlich war die Religion an ihrer Unbeweglichkeit, ihrem Dogmatismus und ihrer unrealistischen Zielsetzung erstickt. Jamaika wandte sich einem pragmatischen und affirmativen Realismus zu. Die Verherrlichung von Waffen im gun talk wurde zur scheinbar sozialkritischen Beschreibung des Status Quo oder gar zu einem gerechtfertigten Aufbegehren der im Ghetto lebenden rude boys stilisiert. Diese geistige Wende vernderte auch den Reggae, der seinen Weg vom Weltruhm zurck zum Ursprungsort suchte: der Dancehall und den Soundsystems. Dieses ewige Zentrum der Musik gab dann dem neuen Stil auch seinen Namen: Dancehall.52

    50 Vgl. Barrow, Dalton 2004, S. 174.

    51 Wynands 1995, S. 114.

    52 Wynands 1995, S. 162-163.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 19

    Der Snger Sugar Minott hatte groen Einfluss auf die Entstehung des dancehall. Er improvisierte live ber versions in der dancehall. Das war bereits durch die deejay-Technik etabliert, allerdings toastete er nicht, sondern improvisierte Melodien. Dem neuen Still Sugar Minotts folgten viele Snger und durch die neue Art des singing deejays entstand eine weitere Kunstform des Reggae: Der Singjay, eine Mischung aus Snger und Dee Jay.53 Groe Snger wie Berrington Levy oder Eak-A-Mouse entwickelten die Stilistik des Singjays weiter und thematisierten aktuelle, lokale Themen. Reggae war nicht lnger Sprachrohr der unterdrckten Dritten Welt oder ihrer diskriminierten schwarzen Bevlkerung. Er wurde wieder zur lokalen Volksmusik Jamaikas, die der Unterhaltung und Lebenslust diente.54

    Musikbeispiel Nr. 09: Berrington Levy: Shine Eye Gal. Jah Life, 1974.

    Die Rckkehr zur Dancehall und die Weiterentwicklung der lokalen Kultur fhrten dazu, dass der Reggae nach Bob Marleys Tod auerhalb Jamaikas nahezu vollstndig verschwand. Trotz der neuen Lebensfreude auf der einen und gespannten Lebenslage in Jamaika auf der anderen Seite, beschleunigte sich der Rhythmus nicht erneut, sondern wurde verlangsamt. Die Bassfrequenzen wurden erneut angehoben und die verlangsamte Musik wurde zum Ausdruck purer Erotik. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich die Slackness-DeeJays. Vorreiter dieser Bewegung war der Albino Yellowman. Er drckte in seinen Texten in allen Einzelheiten seine Erfahrungen mit Sex aus.55

    Slackness wurde zwar schon seit den ersten Tagen des Ska in den Texten thematisiert, aber DJs wie Yellowman und Welton Irie haben ihm eine neue Qualitt gegeben.56

    Musikbeispiel Nr. 10: Yellowman: Im Getting Married. Channel One, 1982.

    Whrend die Dancehall ra sich dem Ende zuneigte, kam in England die Lovers Rock-Welle auf. Schnulzig produzierter Reggae mit Streicherunterlegung und

    53 Vgl. Barrow, Dalton 2004, S. 273.

    54 Vgl. Wynands 1995, S. 163.

    55 Vgl. Barrow, Dalton 2004, S. 254, 259, 314.

    56 Barrow 1993.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 20

    Chorgesang setzte enorm viel Geld in Grobritannien um. Obwohl diese Art des Reggaes strikt kommerziell ist, hat sie, trotz ihrer artifiziellen Ausstrahlung, etwas Originres und ist fester Bestandteil der schwarzen Reggae-Szene Englands geworden.57

    2.2.10 Digital Reggae Welcome to all Raggamuffin

    Whrend sich die Welt an den Reggae in Form von Remixen alter Bob Marley Aufnahmen erinnerte und ihn sich zurckwnschte, brach auf Jamaika, mit dem Ende der analogen Dancehall-ra und dem Beginn der digitalen ra, die Rckkehr des internationalen Reggae-Erfolgs an. Als am 23.02.198558 auf dem Big Clash der Song Under Me Sleng Teng, produziert von Prince Jammy, durch die Boxen drhnte, brach fr den Reggae das digitale Zeitalter an. Der Riddim war mit einem kleinen Casio-Keyboard aufgenommen. Anstelle eines Basses wurde der digitale Sound eines kleinen Keyboards verwendet.

    Musikbeispiel Nr. 11: Wayne Smith: Under Me Sleng Teng. Jammys Records, 1985.

    Dieser vllig neuartige Klang brachte die gesamte Insel in Rage und so wollte pltzlich niemand mehr handgespielte backings (Begleitung) hren. Es gengte fr einen Produzenten, einen Dee Jay oder Singjay und einen Computer zu haben, um einen Hit zu produzieren.59 Durch Jammys Zusammenarbeit mit Bunny Lee und der Produktion mehrerer Black Uhuru Alben starb die Live-Backingband aber nicht aus. Das Produzenten-Duo Sly Dunbar und Robbie Shakespeare setzte den digitalen Sound innerhalb einer Live-Backingband durch, indem sie mit synthetischen Basseffekten und synthetischem Schlagzeug arbeiteten.60 Mit dem Aufkommen des fast style reggae - hierbei berbieten sich Dee Jays in silben-pro-Minute - wurde die Musik wieder schneller und der, vom Produzentenduo Steely&Clevie produzierte, synkopierte dancehall-style oder

    57 Wynands 1995, S. 174.

    58 Wynands 1995, S.186.

    59 Vgl.Barrow, Dalton 2004, S. 295.

    60 Vgl. Wynands 1995, S. 172.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 21

    super power sound setzte sich durch. Der neue Stil wurde unter dem Namen raggamuffin (kurz: ragga) und seinen fast style-deejays weltberhmt.

    Musikbeispiel Nr. 12: Shabba Ranks: Twice My Age. Greensleeves, 1988.

    Die digitalen Klnge des neuen Reggae-Stils und die fast-style-Toaster waren prdestiniert fr Fusionen mit dem amerikanischen HipHop. So kam es zu zahlreichen Aufnahmen von HipHop- oder Soul-Acts gemeinsam mit Ragga-DeeJays. Sie fungierten allerdings eher als Ethno-Note innerhalb der glatten Popmusik.61 Seit der NewYorker deejay Shaggy aber mit Oh Carolina, Ini Kamoze mit dem Hit Here comes the Hotstepper oder Shabba Ranks mit Mr.Loverman die weltweiten Charts strmten, hielt die jamaikanische Music im neuen Gewand des raggamuffin erneut Einzug in die oberen Regionen der Charts von Amerika, Europa und dem Rest der Welt.62

    2.2.11 Reggae goes Pop Deejays und Popstars

    Das Produzenten-Duo Sly & Robbie sind international schon lange sehr gefragt. Auch Dee Jays wie Buju Banton, Bounty Killer und Beanie Man bekommen Vertrge mit Major Deals angeboten und gehen diese auch ein. Dancehall hat sich lngst grenzberschreitend etabliert. Neben Japan boomt das Genre besonders in Frankreich oder - mit Acts wie Seeed oder Mono & Nikitaman in Deutschland. In Lateinamerika entwickelt mit Reggaeton eine eigene Spielart.63 Bands wie No Doubt lassen sich ein gesamtes Album von Sly & Robbie produzieren und der DeeJay und die DeeJane Bounty Killer und Lady Saw werden fr das Projekt engagiert.64 Auch Janet Jackson und Beanie Man landen einen Hit in Amerika mit ihrer gemeinsamen Single Feel It Boy.65 Die vielen Fusionen jamaikanischer Knstler mit Pop-Acts sind allerdings mehr ein berlebensversuch in der Pop-Welt der Major- Labels, als wirkliches Interesse an der Musik.

    61 Vgl. Wynands 1995, S. 192.

    62 Ini Kamoze, here comes the hotstepper; 17. Dezember - 24. Dezember 1994 Platz 1 der

    amerikanischen Charts. 63

    Vgl. URL: http://www.reggaetonation.com/music/reggaeton-history, Stand: 20.12.2009. 64

    No Doubt, Rocksteady, 2001 Label: Interscope Records. 65

    Beenie Man feat. Janet Jackson, Feel it boy, Virgin 2002.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 22

    Musikbeispiel Nr. 13: No Doubt: Hey Baby. Interscope, 2001.

    Ein bis zwei Alben pro Jahr hchstens, und daraus nur wenige Single-Auskopplungen waren (und sind) bei den Majors mglich. Das bedeutet fr den Dee Jay, der in Jamaika zwei bis drei Singles pro Woche verffentlicht, von seinen Fans schlicht vergessen zu werden. Wynand beschreibt den Spagat zwischen Reggae als originre Volksmusik und Reggae als internationales Pop-Produkt als inkompatibel. Versucht man dennoch beides, geht das nur auf Kosten einer der beiden Komponenten, das heit in der Regel auf Kosten der Authentizitt.66

    2.2.12 Modern Roots & Culture

    Heutzutage existieren in Kingston viele unsichere Gegenden. Produzenten sitzen nicht selten bewaffnet im Studio und Unterdrckung und Korruption sind an der Tagesordnung. Die Umstnde sind weitaus gefhrlicher und sogar lebensbedrohlicher als zu den Zeiten Bob Marleys und daher entstehen auch radikalere Anstze. Die Situation fhrte zu einer Rckerkehr zu den Zielen des Rastafarianismus. Als absolute Hardliner sind hier die Anhnger der Rasta-Gruppierung der bobo ashanti house of rastafari67 zu nennen. Die bobo dreads gehen unter Anderem davon aus, dass die gesamte Menschheit von der Schwarzen Rasse abstammt.68 Viele Knstler der aktuellen Reggae Szene, wie beispielsweise die deejays Capleton, Sizzla, Anthony B und Turbulence gehren den bobos an und predigen orthodoxe Roots & Conciousness.

    Musikbeispiel Nr. 14: Capelton: Jah Jah City. Heartbeat, 2000.

    In den letzten Jahren bekamen diese Knstler massiven Widerstand aufgrund ihrer homophoben Texte, die tief in der jamaikanischen Politik, Religion und Tradition begrndet liegen.

    66 Wynands 1995, S. 191.

    67 Barrow, Dalton 2004, S. 371f.

    68 Barrow, Dalton 2004, S. 372.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 23

    Innerhalb dieser Thematik ist aber eine Kluft erkennbar, die trotz der weltweiten Globalisierung zwischen den Kulturen herrscht. Der Frage nach der notgedrungenen Akzeptanz bzw. der Kritik dieser Themen, die einem Volk in der Karibik europische Werte und Normen aufoktroyieren wrde, sind wir in unseren Interviews weiter nachgegangen. Das Thema Homophobie wird innerhalb des Kapitels um den Rastafarianismus behandelt, da Homophobie oft mit Rasta in Verbindung gebracht wird. Knstler wie die Shne Bob Marleys, Ziggy und Damian Marley, oder die Gruppe Morgan Herritage und Luciano berufen sich auf den Rastafarianismus der 70er Jahre und predigen, die alten Ansichten des Rastafarianismus. Sie versuchen durch die One Love- Botschaft eine Wiedervereinigung der Gesellschaft des modernen Jamaika zu erzielen.

    Musikbeispiel Nr. 15: Morgan Heritage: Prison Cell. Greensleeves, 1997.

    Das folgende Schaubild fasst die Entwicklung der jamaikanischen Popularmusik noch einmal grafisch zusammen:

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 24

    Abbildung Nr. 1: Schaubild Reggae

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 25

    2.3 OUT OF AFRICA INTO NEW WORLDS Afrikanische Diaspora, Black Community und Oralitt

    Many know of Trenchtown even more through music than through wordical introduction. Because it was off Trenchtown that young prophet Bob Marley sang: that is where we are from, Trenchtown. So this is history in the making. Because sociology, especially religious anthropology is remarking of this movement, of this faith called Rastafari and they know of the way in which it has rebounded through the whole universe through the music of Reggae. (Arthur Newland, Interview in Trenchtown am 29.12.1996)69

    Reggae ist die Musik und die Stimme Jamaikas. Sie erzhlt eine unendliche Geschichte von Sklaverei, Unterdrckung und Leid, von Brutalitt, Sex, Verbrechen und korrupter Politik aber auch Alltglichem und nicht zuletzt auch von Liebe und Gleichberechtigung. Reggae ist ein Teil von Black Music und hat innerhalb einer oralen Tradierung der Black Community weit mehr Funktion, als bloes Entertainment zu sein. Die Black Community oder der Black Atlantic sind Begriffe aus der Forschung um die afrikanische Diaspora, die die grtenteils unfreiwillige Migration und die damit zusammenhngenden Identittsfindungsprobleme der afrikanisch-stmmigen Menschen beschreibt. Musikwissenschaftler analysieren und forschen seit Jahren im Bezug auf die so genannte afrikanische Diaspora; eine Forschung voller Gegenstze und Gemeinsamkeiten. Innerhalb dieser afrikanischen Diaspora spielen Rckbesinnung auf das Motherland oder Homeland sowie die Bewahrung und Tradierung uralter afrikanischer Bruche, Sitten, Traditionen und Kommunikationsmittel eine wichtige Rolle. Die erfolgreiche Bewahrung der eigenen Kultur ist gleichbedeutend fr den verbitterten berlebenskampf mehrerer Vlker des afrikanischen Kontinentes. So unterschiedlich diese verschiedenen Volksgruppen, ihre Traditionen und Bruche auch sind, mit dem Eingreifen der europischen Kolonialmchte konvergiert die Geschichte des afrikanischen Volkes gezwungener Maen. Die (grtenteils gewaltsame) Migration, die schwarze Hautfarbe und die Abstammung vom Kontinent Afrika bildet das kleinste gemeinsame, kulturelle Vielfache der afrikanischen Diaspora. Der Begriff Diaspora beschrieb ursprnglich die Zerstreuung der Juden ber den Globus und stammt vom griechischen Wort diasperein (Zerstreuung) ab. Der Gebrauch des Begriffes Diaspora im Bezug auf die grundlegende

    69 Zitiert nach: Zips, Werner: Half the story has never been told aus: Zips, Werner (Hg.):

    Afrikanische Diaspora S.38.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 26

    Gemeinsamkeit der bitteren Erfahrung von Vlkern, die aufgrund von Faktoren wie etwa Sklaverei und Imperialismus aus ihrer Heimat vertrieben wurden70 (Shepperson 1976:2), wurde der Begriff Diaspora von Wissenschaftlern durch das Adjektive afrikanisch ergnzt.

    Ethnische Identifikation entsteht hufig erst als Reaktion auf die Konfrontation der MigrantInnen mit den Gastgeber-Gesellschaften und vice versa.71

    Aus der afrikanischen Diaspora heraus entwickelt sich eine pan-afrikanische Black Community, die ber den Black Atlantic die Welt bevlkert. Afrikanische Diaspora und Globalisierung hngen daher aufgrund der weltweiten Zerstreuung von afrikanischem Kulturgut lose zusammen. Der Begriff Black Atlantic wurde vom britischen Professor Paul Gilroy geprgt. Er beschreibt die afrikanische Diaspora mit Hilfe eines Schiffes, welches ber den schwarzen Atlantik segelt. Dieses Bild eines Segelschiffes beschreibt die fortlaufende Reise der Black Community ber den schwarzen Atlantik und symbolisiert gleichzeitig die Verschleppung afrikanischer Sklaven:

    I have settled on the image of ships in motion across the spaces between Europe, America, Africa, and the Caribbean as a central organizing symbol for this enterprise and as my starting point. The image of the ship - a living, micro-cultural, micro-political system in motion - is especially important for historical and theoretical reasons. (...) Ships immediately focus attention on the middle passage, on the various projects for redemptive return to an African homeland, on the circulation of ideas and activists as well as the movement of key cultural and political artefacts: tracts, books, gramophone records, and choirs72

    Die Black Community ist zum Schulterschluss gezwungen. Rassismus und Imperialismus, sowie das aufoktroyierte Gefhl von Fremdheit und otherness, zwingen den Menschen zur Rckbesinnung auf afrikanische Traditionen und Werte. Erst der Kontakt zur Gastgeber-Gesellschaft und die damit verbundenen ngste und Sorgen lassen die Menschen der afrikanischen Diaspora zu einer pan-afrikanischen Black Community zusammenwachsen, die sich auf uralte, ebenfalls pan-afrikanische, also den gesamten Kontinent umspannende, kulturelle Traditionen beruft. Konvergierende kulturelle Traditionen stellen innerhalb der Black Community Kommunikationsmittel bereit, die einerseits zur

    70 Vgl. Mayerhofer, Elke: Afrikanische Diaspora aus: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische Diaspora

    S.53. 71

    Berg, Martina: Dynamische Diaspora Dimensionen aus: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische Diaspora S.174.

    72 URL: http://www.english.emory.edu/Bahri/Gilroy.htm, Stand: 20.12.2009.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 27

    Tradierung von Werten und Bruchen, andererseits aber auch zur Abgrenzung im Bezug auf die Gastgeber-Gesellschaften dienen. Die Bedeutung der afrikanischen Diaspora steht aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach E. Mayerhofer an einem Wendepunkt. Sie erfhrt dynamische nderungen. Im Kontext einer globalen Weltordnung und in dem Bewusstsein einer panafrikanischen kollektiven Identitt werden Inhalte, Ausdrucksformen und Ziele der Diaspora kontinuierlich transformiert und neu verhandelt.73 Es entstehen Diasporen in Diasporen. Auf diese Weise werden europische Stdte, wie z.B. Paris und London zu wichtigen afrikanischen Stdten. Die afrikanische Diaspora beeinflusst gleichzeitig auch das Mutterland, indem das Schlagzeug und der Jazz aus Amerika ber den Black Atlantic nach Afrika kommen. Die Diaspora verselbststndigt und vernetzt sich. Es entstehen neue Identitten und Kulturen.

    Speech is the only thing on earth that gives birth to its own mother. (Bamana Sprichwort)74

    Der kommunikative Austausch ber Kunstformen und kulturelle Bruche ist ein wesentlicher Bestandteil der afrikanischen Oralitt. Dieser Begriff beschreibt nicht allein das Fehlen von schriftlicher Fixierung, sondern beschreibt eine vollkommen unterschiedliche Art der Kommunikation. Afrikanische Geschichte findet man nicht in den Bchern von Bibliotheken, sondern in Tnzen, Ritualen, Geschichten und Liedern afrikanischer Stmme. Orale Kommunikation ist ortsgebunden und abhngig von Zeit und Raum, sowie vom Menschen der kommuniziert. Im Gegensatz zur schriftlichen Fixierung hat der Konsument keinen Einfluss auf die Art und Weise der Rezeption. Whrend man die Geschwindigkeit und Genauigkeit beim eigenen Lesen selbst bestimmen kann, ist man innerhalb eines oralen Kommunikationsprozesses auf die Vorgaben von Mensch, Zeit und Raum angewiesen. Dies erfordert ein hohes Ma an Feingefhl der Deutung von Sprache, Mimik und Gestik. Allerdings befindet sich der Konsument innerhalb der oralen Kulturen nie in intellektueller Distanz zu seiner Umgebung, sondern beteiligt sich immer direkt am Prozess des Kommunikationsaktes. Er wird somit aktiver Teil des Kommunikationsaktes indem er stets handlungsorientiert ist. Diese

    73 Mayerhofer, Elke: Afrikanische Diaspora aus: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische Diaspora

    S.67. 74

    Zobel, Clemens: The Presence of the Absent: The Griot Tradition in Black Popular Culture aus: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische Diaspora S.201.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 28

    Geisteshaltung whrend des Kommunikationsaktes beschreibt Ben Sidran mit dem Begirff der actionality.75 Der Black Atlantic hat verschiedene Musikstile hervorgebracht, die stets ber die Musik hinaus auch andere kulturelle Praktiken gleichberechtigt als Kommunikationsmittel verwenden: Musik, Sprache und Tanz. Sowohl im Blues, Gospel, Soul, Jazz, Reggae oder HipHop stehen sich diese drei Kunstformen nahezu gleichberechtigt gegenber, um die Kommunikation innerhalb der Black Community voranzutreiben.

    Methodologically speaking, the study of modern african diaspora should, in my opinion, begin with the study of Africa. The African continent the ancestral homeland must be central to any informed analysis and understanding of the dispersal of its people. () Africa, in all its cultural richness and diversity, remained very much alive in the receiving societies as the various ethnic groups created new cultures and recreated their old ways as circumstances allowed. Consequently, the study of the modern African diaspora, particularly the aspect of it that is associated with the Atlantic slave trade, cannot be justifiably separated from the study of the home continent. (Palmer 1998: 23)76

    Im Folgenden soll die Bedeutung der Kommunikationsformen Musik und Sprache im Bezug auf die Oralitt der afrikanischen Diaspora dargestellt und anhand der Black Music im Allgemeinen und anhand von Reggae im Speziellen mit Hilfe von Beispielen veranschaulicht werden.

    2.3.1 Die Funktion von Musik, Sprache und Tanz innerhalb oraler Kulturen

    Whrend Papier und Tinte Medien der literate culture darstellen, bedarf die oral orientierte Kultur nicht der Vermittlungsebene eines oder mehrerer Medien. Die ihr eigene Kommunikationsform beruht auf Unmittelbarkeit. Voraussetzung fr den Kommunikationsakt ist unmittelbare Anwesenheit. Das Medium ist die Botschaft. Der Angehrige der oral culture entwickelt dem Phnomen der Zeit gegenber folglich ein eigenes Verhltnis: Er ist zu spontanem Verhalten gezwungen, muss quasi in einem Atemzug zugleich agieren und reagieren.77

    Die Musik innerhalb der oral culture dient also als das Medium der Kommunikation und wird nach Sidran innerhalb der Oralitt zur Botschaft an

    75 Vgl. Sidran, Ben: Black Talk, S.22.

    76 Zips, Werner: Half the story has never been told aus: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische

    Diaspora S.47. 77

    Sidran, Ben: Black Talk, S.22.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 29

    sich. Die Teilnehmenden Menschen sind Botschafter und Empfnger, wobei der Empfnger allerdings direkt auch wieder zum Botschafter wird und durch seine eigene actionality ein Teil der Kommunikation darstellt. Es liegt daher auf der Hand, dass Black Music keine Grenze zwischen Knstler und Publikum zieht. Alle sind Teil des kommunikativen Aktes und erfllen ihre spezielle Rolle. Das call&response-Prinzip stellt eine wichtige Technik der Kommunikation innerhalb der gesamten Black Music dar. Ob der Prediger in der Kirche als Vorsnger fungiert, auf den die Gemeinde mit response antwortet, die Feldarbeiter einem Vorsnger antworten, wenn er das kollektive Leid beschreibt oder zwei Jazzmusiker whrend eines Solos gegenseitig auf die Phrasen des anderen eingehen. Das Prinzip der Frage und Antwort zieht sich durch alle Bereiche der Black Music, da es der actionality Raum lsst, sich zu entfalten. In der jamaikanischen dancehall macht sich das call&response-Prinzip unter Anderem in der Reaktion des Publikums auf das Zurcksetzen der Platte an den Anfang des tunes bemerkbar, welches mit lautem Pull Up-call des deejays kommentiert wird. Das Publikum drckt durch Lrm in jeglicher Form seine Begeisterung aus - response. Je nach Intensitt wird der tune erneut gespielt oder ein anderer riddim gewhlt. Hier zeigt sich der Live-Charakter der Musik. Der Kommunikationsakt passiert unmittelbar in der dancehall als ein kollektives Erlebnis. Musik, Sprache und Tanz, sowie Gestik und Improvisation sind Stilmittel eines bergreifenden kommunikativen Aktes, der sich zwischen den Individuen abspielt. Soundsystem, deejay, Tanz, Publikum und die allgemeine Stimmung der dancehall verschmelzen zu einem energiegeladen kommunikativen Akt innerhalb der oral culture. Die Kommunikation innerhalb der black community dient aber zustzlich auch der sozialen Kommunikation. Die Kollektivitt in der dancehall schafft eine soziale Integration von enormer Strke. Interaktion und Kollektivitt auf der einen und persnliche actionality auf der anderen Seite schaffen eine gleichzeitige soziale Integration, wie individuelle Partizipation. Black Music hat aufgrund seiner Bedeutung innerhalb der oral culture eine enorm soziale und politisch-kulturelle Kraft. Nach Sidran sind fr die Wirkung der schwarzen Musik vor Allem zwei Faktoren verantwortlich: Der vokalisierte Ton und ihre spezifische Rhythmik. Diese beiden Elemente sind letztlich die Essenz

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 30

    jeder oralen Kommunikation.78 Dabei spielt die Fhigkeit der Stimme eine groe Rolle, die ber die Bedeutung des Wortes hinaus, durch Frbung des Klanges weitere non-verbale Kommunikationsakte frdern kann. Diese non-verbalen Informationen knnen nur von geschulten Mitgliedern der oralen Tradition verstanden werden und werden von Individuen, die ihr nicht angehren, schlichtweg berhrt. Die Funktionen vokalisierten Tons sind innerhalb der Black Music auch bertragbar auf die Instrumente zu verstehen. So kann man das Saxofonspiel eines John Coltrane im Bezug auf die Funktionen der oral culture gleichsetzen mit der Dub Poetry eines Linton Kwesi Johnson. Coltrane verzichtet lediglich auf die Worte und ihre Bedeutung und spricht gewissermaen durch sein Saxofon, indem er den Tnen durch feine Phrasierungen semantische Bedeutung verleiht.

    Musikbeispiel Nr. 16: Linton Kwesi Johnson: Bass Culture. Island Records, 1980.

    Die Sprache stellt seit dem ersten Jahrtausend nach Christus das wichtigste Medium der afrikanischen oral culture dar und ist ebenso lang in der Verbindung mit Musik, Gesang und Tanz in Afrika zu finden. Die Griots oder Jeli (Name lnderspezifisch), vergleichbar mit mittelalterlichen Troubadouren in Europa, waren Redner, Musiker, Snger und Tnzer in Personalunion. Ihre Rolle erstreckt sich ber die gesamte Geschichte des afrikanischen Kontinents. Der Griot ist nach D. Toop ein professioneller Snger, in der Vergangenheit meist mit einem Dorf verbunden, aber heute zunehmend ungebunden, der die Funktion eines lebenden Geschichtsbuches und der Zeitung mit seiner individuellen Virtuositt als Snger und Instrumentalist verbindet.79 Griots waren hoch angesehen und bernahmen auch soziale Funktion, etwa als Vermittler zwischen verfeindeten Drfern oder Vlkern. Griots berichten aber nicht nur, sondern glorifizieren auch den Gastgeber bei einer Feier, wenn er es wnscht und bezahlt. Auch Schmhgesnge gehren zur Tradition der Griots. Wohlhabende Dorfmitglieder konnten die Griots bezahlen, um nicht in ihren Schmhliedern zu erscheinen. Nach Toop konnte der Spott der Griots vernichtend sein und seine Kenntnis der lokalen Geschichte berwltigend.80 Der Beruf des Griots existiert in Afrika bis heute, allerdings wird er immer mehr verdrngt. Vereinzelt gehen

    78 Sidran, Ben: Black Talk, S.25.

    79 Toop, David: Rap Attack London, 1991 S.42.

    80 Toop, David: Rap Attack London, 1991 S.43.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 31

    aus Griotfamilien afrikanische Superstars hervor. Allerdings haben nur wenig Griots ein so enormer Erfolg wie der Snger Salif Keita. Neben den Griots existierten in Afrika in jedem Dorf Snger und Musiker, die als Chronisten die Geschichte des Dorfes weitergeben und dafr bezahlt wurden, also professionell ttig waren.

    Finally, placing criticism into the context of cultural sensibility, I will argue that, apart from being a symbol for great black history, the griots can be understood as a universal metaphor for the art of simultaneously obscuring and evoking content with form. Such an Asthetics of figuration seems basic to African, as well as Diaspora approaches to artistic expression.81

    Ebenfalls auf die Tradition der Griots geht das kritische Paraphrasieren und Umschreiben von Sachverhalten in afrikanischer Lyrik oder Musik zurck. Der Dichter oder Redner gilt in der afrikanischen Kultur als sehr elegant und extrem Wortgewand, je umschreibender er einen Sachverhalt darstellt. Die Sklaverei, mit der Kulturverbote und das Verbot der freien Meinungsuerung einhergingen, tat ihr briges um die Verschleierungstechniken pan-afrikanischer Sprechkunst zu perfektionieren.

    Sprachkmpfe machen einen groen Teil der Gesprche aus. Sprichwrter, Verdrehungen, Witze, fast alle Arten von Diskurs werden benutzt, aber nicht im Sinne einer diskursiven Kommunikation, sondern als Waffen in Sprachkmpfen. Jede Versammlung von Mnnern entwickelt sich so zum Sounding, einem gegenseitigen necken und Angeben.82

    Die Schmhgedichte und Spottlieder der Griots entwickelten sich in der Afrikanischen Diaspora weiter. Nach Toop kann man den politischen Calypso der Karibik, den Signifying Song aus New Orleans und The Dozens aus dem amerikanischen Sden auf die alte Tradition der Schmhgesnge der Griots zurckfhren.83 Toasts bilden hierbei vielleicht das Bindeglied. Toasts sind kleine gereimte Geschichten voller Gewalt, Fkalhumor, Obsznitt und Misogynie sind. Diese Toasts entgegnen der Langeweile, die in Gefngnissen, auf den Feldern oder auf der Strae in der Bronx aufkommt.84 Das Andeuten von Kritik oder das Hinzufgen von Halbwahrheiten und Lgen im Gesprch sind alles Stilmittel des black talk, die sich nachweisbar ber die Jahre aus der alten Griot-Tradition Afrikas entwickelt haben. Die Texte von Rappern,

    81 Zobel, Clemens: The Presence of the Absent: The Griot Tradition in Black Popular Culture

    aus: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische Diaspora S.203. 82

    Toop, David: Rap Attack London, 1991 S.43. 83

    Toop, David: Rap Attack London, 1991 S.42. 84

    Toop, David: Rap Attack London, 1991 S.40.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 32

    Toastern (jam. Deejays), Sngern und sogar die Lautmalereien von Instrumentalisten sind alle in der Tradition des signifying verwurzelt. Henry Louis Gates beschreibt in dem Buch The signifying monkey, wie trickreich der verbale Ausdruck der Sprachknstler des Black Atlantic sein kann. Die Fabel vom Signifying Monkey dient dabei als Grundlage und beschreibt, bertragen auf den Menschen, indirekt und humoristisch, was das signifying innerhalb des black talk ausmacht:

    SAID THE SIGNIFYIN` MONKEY TO THE LION ONE DAY, `HEY, THERE`S A GREAT BIG ELEPHANT DOWN THE WAY, GOIN` `ROUND, TALKIN`, I`M SORRY TO SAY, ABOUT YOUR MAMA IN A SCANDALOUS WAY. YES, HE`S TALKIN` `BOUT YOUR MAMA AND YOUR GRAN`MA TOO, AN` HE DON`T SHOW TOO MUCH RESPECT FOR YOU. YOU WEREN`T HERE AN` I SURE AM GLAD, `CAUSE WHAT HE SAID ABOUT YOUR MAMA MADE ME MAD!`

    THE LION SAID, `YEAH - WELL I`LL FIX HIM! TEAR THAT ELEPHANT LIMB FROM LIMB.` THEN HE SHOOK THE JUNGLE WITH A MIGHTY ROAR, TOOK OFF LIKE A SHOT FROM A FORTY-FOUR. HE FOUND THE ELEPHANT WHERE THE TALL GRASS GROWS AND SAID, `I COME TO PUNCH YOU IN YOUR LONG NOSE!` THE ELEPHANT LOOKED AT THE LION IN SURPRISE AND SAID, `BOY, YOU BETTER GO PICK ON SOMEBODY YOUR SIZE.`

    BUT THE LION WOULDN`T LISTEN, HE MADE A PASS, THE ELEPHANT SLAPPED HIM DOWN IN THE GRASS. THE LION ROARED

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 33

    AND SPRANG FROM THE GROUND AND THAT`S WHEN THE ELEPHANT REALLY WENT TO TOWN. I MEAN HE WHIPPED THAT LION FOR THE REST OF THE DAY AND I STILL DON`T SEE HOW THAT LION GOT AWAY. BUT HE DRAGGED ON OFF, MORE DEAD THAN ALIVE AND THAT`S WHEN THAT MONKEY STARTED HIS SIGNIFYIN` JIVE.

    THE MONKEY LOOKED DOWN AND SAID, `OOOOOEEE! WHAT IS THIS BEAT-UP MESS I SEE? IS THAT YOU, LION? HA, HA, DO TELL, MAN, HE WHIPPED YOUR HEAD TO A FARE-THEE-WELL, GIVE YOU A BEATIN` THAT WAS ROUGH ENOUGH AND YOU SUPPOSED TO BE `KING OF THE JUNGLE` - AIN`T THAT SOME STUFF. YOU BIG OVERGROWN PUSSYCAT, DON`T YOU ROAR, OR I`LL HOP DOWN THERE AND WHIP YOU SOME MORE!`

    THE MONKEY GOT TO LAUGHIN` AND JUMPIN` UP AND DOWN, BUT HIS FOOT MISSED THE LIMB AND HE PLUNGED TO THE GROUND. THE LION WAS ON HIM WITH ALL FOUR FEET, GONNA GRIND THAT MONKEY TO HAMBURGER MEAT. THE MONKEY LOOKED UP WITH TEARS IN HIS EYES, AND SAID, `PLEASE, MISTER LION, I APOLOGIZE! I MEANT NO HARM, PLEASE LEMME GO AND I`LL TELL YOU SOMETHIN` YOU REALLY NEED TO KNOW.`

    THE LION STEPPED BACK TO HEAR WHAT HE`D SAY AN` THAT MONKEY SCAMPERED UP A TREE AND GOT AWAY. `WHAT I WANNA TELL YA,` THE MONKEY HOLLERED THEN, `IS IF YOU FOOL WITH ME, I`LL SIC THE ELEPHANT

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 34

    ON YOU AGAIN!` THE LION JUST SHOOK HIS HEAD AND SAID, `YOU JIVE...... IF YOU AND YOUR MONKEY CHILDREN WANNA KEEP ALIVE, UP IN THEM TREES IS WHERE YOU BETTER STAY!` AND THAT`S WHERE THEY ARE TO THIS VERY DAY.

    SIGNIFYIN` MONKEY, STAY UP IN YOUR TREE; YOU ARE ALWAYS LYIN` AND SIGNIFYIN`; BUT YOU BETTER NOT, NO, YOU BETTER NOT, YOU ARE ALWAYS LYIN`, SIGNIFYIN`, BUT YOU BETTER NOT MONKEY WITH ME!85

    Andeutungen, Beleidigungen durch das dissen (etwas Schlechtes nachsagen) der Mutter und Gromutter des Lwen, Lgen um wieder in Sicherheit zu gelangen, das Drohen aus der Sicherheit heraus - all diese Eigenschaften finden sich im black talk der gesamten afrikanischen Diaspora und dienen dem verbalen Machtkampf, der sich im Hip Hop oder auch in der jamaikanischen dancehall durch battles zweier Rapper oder deejays ausdrckt.

    Der Wettkampf um Anerkennung ist ein wichtiger Faktor der Identittsfindung innerhalb der black community, der sich ebenfalls durch alle Stile der black music erstreckt. Nicht nur durch Worte knnen so genannte skills unter Beweis gestellt werden. Innerhalb der jamaikanischen dancehall-Szene erfreuen sich deejay battles, soundsystem clashes oder dancehallqueen contests grter Beliebtheit, da sie eine willkommene Abwechslung der normalen dancehall-Nacht bieten und darber hinaus fr die Kontrahenten von grter Bedeutung sind. Bei einem clash treten zwei konkurrierende Soundsystems gegeneinander an. Abwechselnd ziehen sie das Publikum auf ihre Seite indem sie sich gegenseitig mit immer neuen hit-tunes berbieten. hnlich verlaufen die Wettbewerbe um die heieste Tnzerin der Nacht, die dancehallqueen. Das Publikum entscheidet durch lautes Schreien, Klatschen und Pfeifen, welche Tnzerin am Ende den begehrten Titel tragen darf. In

    85 Moore, Rudy Ray: Greatest Hits Capitol 1995, CD.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 35

    mehreren Runden treten sie gegeneinander an. Neben verschiedensten Tanzschritten, die sich auch auf traditionelle jamaikanische und afrikanische Volkstnze beziehen, geht es um den eigenen Ausdruck, die Lebensfreude und den eigenen Sex-Appeal. Diese Aspekte sind bereits in afrikanischen Traditionen wichtig fr den Tanz. Sie lassen sich also ber den jamaikanischen Volkstanz, wie die Kumina- und Pocomaniatnze bis nach Afrika zurckverfolgen.

    In der afrikanischen Tradition spielt der Tanz, neben der Musik und der Sprache, als drittes Element eine wichtige Rolle im kommunikativen Akt der oral culture. Die Tnzer nutzen symbolische Gesten und Mimik oder beziehen Requisiten, Masken, Kostme und Body Paintings, sowie andere optische Mittel mit in ihre Tnze ein. Musik und Tanz sind in Afrika untrennbar miteinander verbunden und sind stets auch zweckgebunden. Das Verwachsen von Musik und Tanz wird dadurch deutlich, dass in einigen afrikanischen Sprachen kein Wort fr Musik oder Tanz existiert, wohl aber fr die Kombination beider Kunstformen.

    Traditionell beziehen sich alle Tnze auf spezielle Trommelrhythmen und umgekehrt. Tnze und Rhythmen, also Musik, dienen immer unterschiedlichen Anlssen. Es existieren sakrale Tnze, Kriegstnze, Unterhaltungs- und erotisch-sexuelle Tnze.86 Der Ausdruck, die Kommunikation durch Musik, Tanz und Gesang bzw. Sprache haben in Afrika immer direkten Bezug zum Leben der Menschen. Sie dienen also nicht als losgelste Kunstform, sondern stellen einen kommunikativen Prozess innerhalb der black community dar. Musik, Sprache und Tanz sind also direkter Ausdruck von Lebensgefhl, Kommunikation und Stimmung - also Leben an sich.

    Innerhalb der afrikanischen Traditionen unterscheidet man zwischen sechs ortsgebundenen Tanzstilen, die im pan-afrikanischen Sinne in ihrer Polyzentrik bereinstimmen. Die Polyzentrik beschreibt den Krper innerhalb der afrikanischen Tanzkultur nicht als Einheit, sondern als die Summe unterschiedlicher Tanzzentren.87 Die Isolation einzelner Krperteile ist dabei sehr wichtig. Durch das Isolieren einzelner Krperteile ist der Tnzer in der Lage, die Polyrhythmik in der Musik, also das gleichzeitige Erklingen unterschiedlicher Metren, in seinem Krper zu reflektieren und abzubilden.

    86 URL : Vgl. http://tanzlust.net/html/afrikanischer_tanz.html, Stand: 20.12.2009.

    87 URL: Vgl. http://tanzlust.net/html/afrikanischer_tanz.html, Stand: 20.12.2009.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 36

    Die kommunikative Bedeutung von Tanz innerhalb der oral culture wird in folgendem Zitat von Hoffman deutlich, der den afrikanischen Trancetanz beschreibt.

    Die eingeweihten Zuschauer des Trancetanzes innerhalb eines Gottesdienstes sehen die Gtter herabsteigen und sich in der Gestalt des Tnzers offenbaren. Sie erkennen die Gtter an ihren Gefhlen wieder. Andere, westliche Zuschauer, sind zunchst nur von der kraftvollen Ausstrahlung der Tnzer beeindruckt. Sie nehmen das ungeheure Potential der Krfte wahr, die durch die Trance freigesetzt werden. Und allein dieses Erlebnis schon ist bewegend, erschtternd und reit mit. Der Zuschauer befindet sich mitten in einem Prozess, whrend er sich noch unbeteiligt und als objektiver Beobachter whnt. Er ist verzaubert, verhext, besessen.88

    Der jamaikanische Volkstanz ergibt sich aus der traditionellen Musik des Landes. Kumina, Pocomania und Burru sind traditionelle jamaikanische Rituale, die auf afrikanische Riten zurckzufhren sind. Der Burrutanz existiert heute nicht mehr, allerdings war er ursprnglich ein Maskentanz, der der Fruchtbarkeit diente und ebenso wie die Kumina- und Pocomaniatnze, auf direkte afrikanische Wurzeln zurckzufhren ist. Diese traditionellen Tnze Jamaikas haben sozialen oder religisen Charakter. Oft haben religis motivierte Tnze das Ziel, beim Tanzen in einen spirituellen Trancezustand zu gelangen, der die Geister beschwrt und sie Erscheinen lsst. Diese Zeremonien entspringen der afrikanischen Tradition und bestehen als Einheit von Musik und Tanz in Beziehung zu einem speziellen Anlass. Es existieren auch Tnze wie die Quadrille oder der Tanz um den Maibaum (maypole-dance). Diese sozialen Gruppentnze sind auf die europischen Kolonialmchte zurckzufhren und entsprechen mehr der europischen, als der jamaikanischer Tradition. Darber hinaus entwickelten sich kreolische Tnze, die eine Mischform der europischen und afrikanischen Kultur darstellen. Hier ist z.B. der Revival Zion zu nennen. Tnze und Musik afrikanischen Ursprungs werden hier mit christlich europisch motivierten Hintergrnden kombiniert.

    Jamaicans have traditionally been a people of rhythm, attitude and spirit, and nothing captures this more than the dances we do. These dances, incidentally, have come a very far way, and have been influenced by several factors. They are the topic of much talk, sensation, research, and even controversy at times. (Bennie Man, 1993)89

    88 Drews, Annette: Die Kraft der Music, Berlin 2008, S.11.

    89 Vgl. http://www.jamaica-gleaner.com/gleaner/20031019/ent/ent3.html, Stand: 24.12.09.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 37

    Die populre Musik Jamaikas ist Tanzmusik und seit dem Mento existieren spezielle moderne Tnze, die als Einheit mit der aktuellen Musikrichtung die dancehalls fluten. Dabei flieen immer wieder die Schritte und Bewegungen traditioneller Tnze mit in den modernen Tanz ein, allerdings hat der Tanz in der dancehall in erster Linie die Funktion, sich selbst und sein Lebensgefhl auszudrcken. Dies entspricht allerdings gerade dem afrikanischen Grundgedanken von Tanz. Es geht um Spa, Freiheit und sexuellen Ausdruck, der vor allem im kurzlebigen Tanzstil um die dancehall-Musik immer neue Formen annimmt. Hier entstehen sehr einfache, wie hoch komplizierte, polyzentrische Bewegungsablufe, von denen viele schlicht alltgliche Bewegungen imitieren. Kritiker sagen diesen kurzlebigen Tanzstilen nach, keine Authentizitt zu besitzen, sondern blo generiert zu werden, um einen gewissen hype fr einen Song, einen Knstler oder ein Soundsystem zu erzeugen. Die Namen der Tnze entsprechen oft der Bewegung oder sie sind tatschlich angelehnt an gewisse Songtitel. Oft werden aber auch Tiere oder natrliche Ereignisse imitiert. Auch dieses Phnomen lsst sich in afrikanischen Tnzen wiederfinden.

    Der Sunday Gleaner verffentlichte eine Liste von ber 30 Tanzschritten, die innerhalb der dancehall-Kultur in den letzten zehn Jahren vorgestellt wurden. Viele davon sind in den letzten zwei Jahren entstanden. Diese Liste kann bei der Kurzlebigkeit von Songs, Tanzstilen und Hypes in der jamaikanischen dancehall-Kultur nicht aktuell oder vollstndig sein, sie kann nur als Einblick dienen:

    Water Pumpie, Cool and Deadly, Dela Move, Pelpa, Pelpit, Bogle, Mission Impossible, The Wave, Hurkle, Mock The Dread, Heel and Toe, Prang, Jerry Springer, World Dance, Pop The Collar, Tattie, Butterfly, Screechie, Rockaway, Fan Down The Bus, Handcart, Thunder, Lightning, Zagga Zow, Shelly Belly, Fly The Kite, Fan Dem Off, Shake Dem Off, Excitement, Step Up Inna Life, Online, Log On, Blase Blase, Elbow Them, Hop The Ferry, Kick Dem Out, Crazy Hype, Rain Drops, Tambourine, Piano, Beat The Drum, Play The Guitar, Tek Off Yu Head, Screw The Bulb, Pon Di River Pon Di Bank, Give Them A Run, Parachute, Row The Boat, Three Pointer90

    90 Vgl. http://www.jamaica-gleaner.com/gleaner/20031019/ent/ent3.html, Stand: 24.12.09.

  • CULTURAL EXCHANGE Die Geschichte und Entwicklung der Reggae-Szene in Deutschland 38

    2.4 BEATING A RESTLESS DRUM Religion und Trommeltradition in Afrika und Jamaika

    Rhythmus, Trommel und Perkussionsinstrumente haben schon immer eine wichtige Rolle fr die Menschen gespielt. Nach der Sprech- oder Singstimme, ist die Trommel das lteste Instrument der Menschheit und hat in beinahe allen Kulturen dieser Welt essentielle Bedeutung. Trommeln und Rhythmik knnen Menschen in spirituelle Trancezustnde versetzen. Daher sind Trommel, Rhythmus und Tanz immer auch stark mit religisen Ritualen verbunden. Die Trommel bildet den Puls und somit auch das Rckgrat der