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Christian Marxsen
GELTUNG UND MACHT
Christian Marxsen
GELTUNG UND MACHT
Jürgen Habermas’ Theorie von Recht,
Staat und Demokratie
Wilhelm Fink
E-Book ISBN 978-3-8467-5207-4ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5207-8
Inhaltsverzeichnis
Einleitung........................................................................................................................ 9
A. HABERMAS’ KRITISCHE VORGÄNGER: GESELLSCHAFTSTHEORIE UND GESELLSCHAFTSKRITIK BEI ADORNO UND HORKHEIMER
Kapitel 1: Absolute und instrumentelle Vernunft in der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers .................................................................... 17
1. Die Reduktion der Vernunft auf ein Instrument............................... 18 2. Verwaltete Welt: Totalität von Ökonomie und Verwaltung ........ 26 3. Die normativen Grundlagen Kritischer Theorie ............................... 38
B. DIE NORMATIVEN UND GESELLSCHAFTSTHEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER KRITISCHEN THEORIE VON JÜRGEN HABERMAS
Kapitel 2: Universalpragmatik – Die Rekonstruktion der Vernunftpotenziale der Moderne .......................................................................................................................... 49
1. Die universalpragmatische Sprachtheorie.......................................... 52 a. Der Diskurs als Sphäre kommunikativer Rationalität............. 52 b. Das Konzept der kontrafaktischen Idealisierung ...................... 57
2. Die universalpragmatische Diskursethik............................................. 61 a. Die Prinzipien der Diskursethik........................................................ 62 b. Die Rechtfertigung der Diskursethik .............................................. 68
aa. Die Apel-‐Habermas-‐Debatte um den Letztbegründungsanspruch der Diskursethik ..................... 69
bb. Universale Geltung der Diskursregeln durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit........................................................... 74
3. Die Universalpragmatik als normative Hypostasierung der Sprache ............................................................................................................... 79
Kapitel 3: Gesellschaftstheorie als Gesellschaftskritik..................................................... 89
1. System und Lebenswelt in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹.......................................................................................................... 90
2. System und Lebenswelt in der Theorie des kommunikativen Handelns ............................................................................................................ 99 a. Die Lebenswelt als Kategorie des kommunikativen
Handelns...................................................................................................... 99
INHALTSVERZEICHNIS 6
b. System-‐ und Lebenswelt als Kategorien der Gesellschaftstheorie................................................................................ 102
c. Der kategoriale Status der Begriffe von System und Lebenswelt.................................................................................................. 107
3. Habermas’ diskurstheoretische Reformulierung der Dialektik der Aufklärung: Die Kolonialisierung der Lebenswelt.................... 110
C. DIE RECHTSTHEORIE VON JÜRGEN HABERMAS Kapitel 4: Die Bedeutung des Rechts in der Moderne ...................................................... 123
1. Recht als Vermittler zwischen System und Lebenswelt ................ 124 2. Das Ergänzungsverhältnis von Recht und Moral.............................. 130 3. Habermas’ doppelperspektivische Rechtstheorie ........................... 135
Kapitel 5: Die normative Bestimmung des Rechts I – Das Demokratieprinzip. ............................................................................................ 143
1. Die Grundlagen legitimen Rechts: Volkssouveränität und Menschenrechte .............................................................................................. 143
2. Republikanismus vs. Liberalismus als Modelle der Rechtsbegründung ......................................................................................... 146
3. Der diskurstheoretische Rechts-‐ und Demokratiebegriff ............. 153 a. Die theoretische Grundlage: Das allgemeine
Diskursprinzip ›D‹ ................................................................................... 154 aa. Das Verhältnis von Diskurs-‐, Moral-‐ und
Demokratieprinzip............................................................................ 154 bb. Der problematische kategoriale Status des
Diskursprinzips .................................................................................. 157 b. Das Demokratieprinzip:
Die Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform zu den Prinzipien der Grundrechte.................................................. 161 aa. Freiheitsrechte, Rechtsschutz, Staatsbürgerschafts-‐
recht ........................................................................................................ 164 bb. Politische Partizipationsrechte und soziale Grund-‐
rechte ...................................................................................................... 166 c. Zur Kritik des Begründungszusammenhangs ............................. 171
aa. Die juridische Begründung der Menschenrechte ................ 171 bb. Ein impliziter Kategorienwandel: die Neubestimmung
der Rechtsform................................................................................... 177 cc. Ein liberaler Überschuss: der moralische Gehalt des
Diskursprinzips .................................................................................. 180
INHALTSVERZEICHNIS 7
Kapitel 6: Die normative Bestimmung des Rechts II – Recht und Macht................ 187
1. Kommunikative und administrative Macht ........................................ 188 2. Die vier Prinzipien des Rechtsstaats...................................................... 192
a. Das diskurstheoretische Verständnis der Volkssouveränität ................................................................................... 195
b. Individueller Rechtsschutz.................................................................. 199 c. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ............................................. 200 d. Trennung von Staat und Gesellschaft ............................................. 202
3. Diskurs und Verhandlung – Das Problem der sozialen Macht ... 203 4. Resümee zum normativen Begriff des demokratischen
Rechtsstaats...................................................................................................... 208 Kapitel 7: Die soziologische Perspektive auf den demokratischen Rechtsstaat ... 211
1. Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft ........................................................ 213 a. Ein empirisch ausgelegter Begriff der Öffentlichkeit............... 213 b. Die Zivilgesellschaft als Träger kommunikativer Macht ........ 216
2. Der Gegenkreislauf der Macht: Krisendiagnosen des demokratischen Rechtsstaats ................................................................... 220 a. Demokratische Öffentlichkeit und Massenmedien................... 221 b. Ökonomische Imperative und soziale Macht .............................. 225 c. Die Delegitimierung des Parlaments............................................... 229 d. Durchsetzungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft im
bürgerlichen Alltag ................................................................................. 236 3. Die aktivierte Öffentlichkeit als Durchbrechung des
Kreislaufs illegitimer Macht....................................................................... 238 a. Die Aktivierung der Zivilgesellschaft .............................................. 238 b. Einwände gegen Habermas’ Verbindung von normativem
Programm und empirischer Analyse .............................................. 242 4. Rückblick auf Habermas’ Demokratietheorie.................................... 248
Kapitel 8: Schlussbetrachtungen ............................................................................................... 251
1. Habermas’ normative Grundlage und ihr Bezug zur Wirklichkeit ...................................................................................................... 251
2. Ein Bruch in der normativen Theorie: die soziale Macht ............. 254 3. Zum Schluss ...................................................................................................... 260
Dank .................................................................................................................................. 265 Literaturverzeichnis................................................................................................... 267
Einleitung
Jürgen Habermas gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Philoso-‐phen. Zu seinem Werk-‐ und Wirkbereich zählen Sprachphilosophie1 und Ethik2, seit neuester Zeit Fragen der Medizinethik3 und der Religion4 und seit schon etwas längerer Zeit der Versuch einer philosophischen Be-‐stimmung des Rechts und der Demokratie.5 Eben diese Rechts-‐ und De-‐mokratietheorie hat die vorliegende Untersuchung zum Gegenstand. Ihr Schwerpunkt liegt dabei zum Einen auf einer Prüfung der normativen Grundlagen der Habermasschen Theorie, zum Anderen auf der systemati-‐schen Analyse und darauf aufbauenden Kritik der theoretischen Umset-‐zung dieses normativen Anspruchs in eine Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Die spezifische Annäherung an diese Fragestellung erfolgt dabei, indem
Habermas’ Rechts-‐ und Demokratietheorie in ihrer Tradition als Kritische Theorie rezipiert wird. Unter dieser Perspektive sollen die theoretischen Motive hervortreten, die Habermas dazu bringen, den ursprünglich fun-‐damentalkritischen Ansatz der Kritischen Theorie zugunsten einer nor-‐mativen Theorie der bestehenden (Rechts-‐) Institutionen aufzugeben. Geklärt werden soll dabei die Frage, wie Habermas in dieser Transforma-‐tion einerseits den gesellschaftskritischen und emanzipatorischen An-‐spruch der Kritischen Theorie zu bewahren gedenkt; wie er dabei aber zudem auch zur positiven Beschreibung der Bahnen anhebt, in denen sich diese Emanzipation soll vollziehen können – nämlich eben in den Bahnen des demokratischen Rechtsstaats. Wenngleich Habermas auch heute noch mehrheitlich als ein Vertreter
der Kritischen Theorie angesehen wird6, so gerät doch die angesprochene
1 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, 4. Auflage, Frank-‐
furt am Main 1987. 2 Vgl. die Aufsatzsammlungen: Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives
Handeln, Frankfurt am Main 1983; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991.
3 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur – Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2005.
4 Vgl. Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats, in: ders. / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung: Über Vernunft und Religion, Frei-‐burg 2005.
5 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung – Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, vierte durchgesehene und um ein Nachwort und Literaturverzeichnis erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 1994.
6 Vgl. aber auch die diesbezüglich kritischen Aufsätze: Christoph Türcke, Habermas oder Wie die kritische Theorie gesellschaftsfähig wurde, in: G. Bolte (Hrsg.), Unkritische Theorie – Gegen Habermas, Lüneburg 1989, S. 21 ff.; Hans-‐Ernst Schiller, Habermas und die Kriti-sche Theorie, in: G. Bolte (Hrsg.), Unkritische Theorie – Gegen Habermas, Lüneburg 1989, S. 101 ff; Gerhard Schweppenhäuser, Die kommunikativ verflüssigte Moral – Zur Diskurs-
EINLEITUNG 10
Verbindung von Kritischer Theorie und Habermas’ Rechtstheorie allen-‐falls selten, und dann nur am Rande, in den Blick.7 Warum aber ist sie sinnvoll? Mit den Vertretern der alten Kritischen Theorie – allen voran Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – ist Habermas eine Kritik an dem gemein, was man mit einer Formulierung Axel Honneths als die »Pa-‐thologien der Vernunft« bezeichnen kann.8 Damit sind, in einer ersten groben Annäherung, die desintegrierenden Momente moderner Gesell-‐schaften wie Arbeitslosigkeit, Armut, eine verselbstständigte Ökonomie ebenso wie ein überreglementierender Verwaltungsapparat als empiri-‐sche Phänomene in Bezug genommen. Von der alten Kritischen Theorie werden diese Pathologien als Momen-‐
te eines »falschen Ganzen« charakterisiert; daher eröffnen ihre Vertreter eine Fundamentalopposition gegen alle Institutionen der gegenwärtigen Gesellschaft. Bei Habermas nun fällt diese Kritik, wie wir noch sehen wer-‐den, zu keinem Zeitpunkt seiner theoretischen Entwicklung in gleicher Weise total aus, wie dies bei Adorno und Horkheimer der Fall ist. Auch Habermas’ Theorie ist zwar der Kritik an den Pathologien der Moderne verpflichtet, indessen ist sein theoretischer Rahmen weitaus weniger ne-‐gativ angelegt. Im Gegensatz zur Kritischen Theorie Adornos und Hork-‐heimers, die eine negative Position zu den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen und der sich darin artikulierenden Rationalität bezieht, be-‐wegt sich Habermas’ Werk von Anbeginn seiner theoretischen Entwick-‐lung in einem Verhältnis von Kritik und Affirmation der gesellschaftlichen Wirklichkeit.9 Seiner Kritik unterliegen dabei die bezeichneten pathologi-‐
ethik bei Jürgen Habermas, in: G. Bolte (Hrsg.), Unkritische Theorie – Gegen Habermas, Lüneburg 1989.
Vgl. zur Auseinandersetzung um die Fortführung Kritischer Theorie auch den Aufsatz von Helmut Dubiel, Herrschaft oder Emanzipation? – Der Streit um die Erbschaft der kri-tischen Theorie, in: A. Honneth / Th. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer (Hrsg.), Zwischenbe-trachtungen – Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 1989, S. 504 ff.
7 Vgl. die knappe Thematisierung in: Otfried Höffe, Eine Konversion der kritischen Theorie, Rechtshistorisches Journal, Bd. 12 (1993), S. 70 ff.; Otfried Höffe / Alessandro Pinzani, Von Max Weber zu Immanuel Kant. Habermas’ Wiederentdeckung der Rechts- und Staats-philosophie, in: Gary S. Schaal (Hrsg.), Das Staatsverständnis von Jürgen Habermas, Ba-‐den-‐Baden 2009, S. 50 ff.; vgl. auch: Niklas Luhmann, Quod omnes tangit... Anmerkungen zur Rechtstheorie von Jürgen Habermas, in: Rechtshistorisches Journal, Bd. 12 (1993), S. 51 ff.
8 Vgl. Axel Honneth, Eine soziale Pathologie der Vernunft – Zur intellektuellen Erbschaft der Kritischen Theorie, in: ders., Pathologien der Vernunft, Frankfurt am Main 2007, S. 28 ff.
9 Außer Betracht bleiben sollen hier die ganz frühen, im Merkur erschienen Aufsätze, in denen Habermas eine an Martin Heidegger orientierte, grundlegende Kritik an den mo-‐dernen gesellschaftlichen Strukturen formuliert. Ausgeblendet bleiben diese, da sie für seine folgende theoretische Entwicklung nicht prägend werden sollten. Vgl. Jürgen Ha-‐bermas, Die Dialektik der Rationalisierung – Vom Pauperismus in Produktion und Kon-sum, in: ders., Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt – Aufsätze 1954-1970, Amsterdam 1970, S. 7 ff., (erstmals in: Merkur, Jg. 8 (1954), S. 701 ff.); ebenso: Jürgen Habermas, Notizen
EINLEITUNG 11
schen Auswirkungen der Modernisierung, allen voran die einer ver-‐selbstständigten Rationalisierung. Andererseits aber geht es Habermas stets darum, in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklich-‐keit die affirmativen Momente in jener auszumachen; die Momente, in de-‐ren Dienste eine Gesellschaftstheorie treten kann, in deren Dienste sie überhaupt erst zur begründeten Kritik an den negativen Seiten der Mo-‐dernisierung werden soll. Im Laufe der nunmehr über 50-‐jährigen theoretischen Entwicklung
von Habermas hat sich die Einschätzung, inwieweit die gesellschaftliche Wirklichkeit zu kritisieren oder zu affirmieren sei, deutlich gewandelt. Hatte Habermas’ Theorie in den 1960er Jahren noch den Charakter einer recht klassisch marxistischen Theorie, so markiert den Endpunkt dieser Transformation seine Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats, mit der er nun von Vertretern aus nahezu allen politischen Lagern als Vordenker der Demokratie anerkannt und wertgeschätzt wird.10 Seinem Anspruch nach ist Habermas dabei gleichwohl der Kritischen Theorie treu geblieben; allein seine Einschätzungen haben sich geändert, wie der emanzipatorische Anspruch derselben eingelöst werden könnte. Sollte er in den frühen Jahren seiner theoretischen Arbeit eher gegen die herr-‐schenden politischen Institutionen realisiert werden, so weicht diese fun-‐damentalkritische Einstellung der Überzeugung, dass ein spezifisch dis-‐kurstheoretisches Verständnis des Rechts und der bestehenden Institu-‐tionen einer realen Emanzipation der Menschen von – hier noch recht all-‐gemein gesprochen – illegitimen Verhältnissen den Weg weisen kann. Nicht gegen, sondern in den bestehenden politischen Institutionen, so könnte man pointieren, kann nach Habermas’ Überzeugung ein normati-‐ver Anspruch realisiert werden.11 Die Herausforderung liegt dabei für Ha-‐bermas darin, die Grundannahmen seiner im Ausgangspunkt – wie Gary S. Schaal und Felix Heidenreich formulieren – »originär anti-‐institutionell-‐
zum Missverhältnis von Kultur und Konsum, in: ders., Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt – Auf-sätze 1954-1970, Amsterdam 1970, S. 31 ff.; (erstmals in: Merkur, Jg. 8 (1956), S. 212 ff.).
10 Vgl. etwa die Beiträge von Joschka Fischer, Wolfgang Thierse, Gregor Gysi und Wolfgang Schäuble in dem Band: Michael Funken (Hrsg.), Über Habermas – Gespräche mit Zeitge-nossen, Darmstadt 2008.
11 Damit verbunden ist auch eine Abkehr von dem für die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers zentralen Postulat der Herrschaftsfreiheit: »Wer sich zum demokratischen Rechtsstaat vornehmlich positiv verhält, muss nämlich zumindest stillschweigend das Prinzip ablehnen, das in der traditionellen Kritischen Theorie eine positive Rechts-‐ und Staatstheorie verhinderte: das Prinzip der Herrschaftsfreiheit.« [Otfried Höffe / Ales-‐sandro Pinzani, Von Max Weber zu Immanuel Kant. Habermas’ Wiederentdeckung der Rechts- und Staatsphilosophie, in: Gary S. Schaal (Hrsg.), Das Staatsverständnis von Jürgen Habermas, Baden-‐Baden 2009, S. 53.]
EINLEITUNG 12
[en]«12 Diskurstheorie in eine Theorie des Rechts und der demokratischen Institutionen zu übersetzen. Die vorliegende Untersuchung wird diese Transformation der Haber-‐
masschen Philosophie in groben Zügen nachvollziehen, um damit den zentralen Stellenwert des Rechts in Habermas’ Werk zu beleuchten und alsdann die normative Theorie des Rechts selbst einer ausführlichen Prü-‐fung zu unterziehen. Mit dem Recht nämlich soll nunmehr ein Weg gefun-‐den sein, dessen konsequente Beschreitung es erlauben soll, die Patholo-‐gien der Moderne zu überwinden. Damit markiert die Rechtstheorie einen Endpunkt in der Transformation Kritischer Theorie. Kritik ist bei Haber-‐mas nicht länger Fundamentalkritik, sondern gewissermaßen eine der Gesellschaft immanente Kritik, die am normativen Potenzial der richtig verstandenen institutionellen Ordnung anschließen soll.
Methodisch seien zur Erläuterung des weiteren Vorgehens zwei Bemer-‐kungen angebracht. Habermas’ Theorie ist geprägt durch eine ausgreifen-‐de Literaturdiskussion, die nicht nur Großteile der europäischen Philoso-‐phiegeschichte verarbeitet, die sich vielmehr auch den anglo-‐amerikanischen Debatten weit geöffnet hat. Durch diese Weise philoso-‐phischer Reflexion nimmt Habermas’ Diskurstheorie selbst einen diskur-‐siven Charakter an. Diese umfänglichen Diskussionen, die gleichsam das Terrain für Habermas’ eigene Theorie sondieren und vorbereiten, bleiben – wo es für das Verständnis des Habermasschen Gedankengangs selbst nicht unabdingbar ist – ausgeblendet. Ein anderer Ansatz würde den er-‐öffneten Rahmen der vorliegenden Untersuchung überstrapazieren. Auch die wissenschaftliche Diskussion um Habermas’ Philosophie hat längst ein unüberschaubares Ausmaß angenommen. Da es nicht das Ziel dieser Un-‐tersuchung ist, einen allgemeinen Überblick über den Forschungsstand hinsichtlich der Habermasschen Theorie überhaupt zu geben, werden diese Diskussionen nur dort herangezogen, wo sie dem Verständnis der untersuchten Fragen unmittelbar dienlich sind.13 Mit der Betonung dieser theoretischen Vielfalt des Habermasschen
Werks ist zugleich auch angedeutet, dass die Rezeption von Habermas’ Philosophie im Lichte seiner Tradition zur Kritischen Theorie nur als ein Gesichtspunkt betrachtet werden kann. Dieser Gesichtspunkt ist für das Verständnis des Habermasschen Werks von großer Bedeutung, da für Habermas seinem Anspruch gemäß der emanzipatorische Gehalt dieser 12 Gary S. Schaal / Felix Heidenreich, Jürgen Habermas und die Frage nach der Rationalität
des Staates, in: Gary S. Schaal (Hrsg.), Das Staatsverständnis von Jürgen Habermas, Ba-‐den-‐Baden 2009, S. 23.
13 Vgl. für eine sehr ausgreifende Rezeption der Diskussion um Habermas’ Rechtstheorie die Dissertation von Tobias Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit – Zu De-mokratie, Gewaltenteilung und Rechtsanwendung in der Rechtstheorie von Jürgen Haber-mas, Tübingen 2007.
EINLEITUNG 13
Tradition noch immer eine treibende Kraft besitzt. Die angesprochene Traditionslinie kann aber zweifellos nicht gleichsam als Generalschlüssel zum Verständnis der Habermasschen Philosophie in ihrer Gesamtheit he-‐rangezogen werden. Zu erhellen vermag sie aber den zentralen Stellen-‐wert des Rechts in Habermas’ Philosophie, ebenso wie die Probleme, die sich hierbei im Spannungsfeld der Formulierung und möglichen Realisie-‐rung des normativen Anspruchs im Rahmen einer Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats ergeben.
Die folgende Untersuchung gliedert sich in drei Teile, denen unterschied-‐liches Gewicht zukommt. Der aus dem Kapitel 1 bestehende Teil A wid-‐met sich den Grundzügen der Gesellschaftstheorie und -‐kritik Theodor W. Adornos und Max Horkheimers. Darin soll – unter besonderer Berück-‐sichtigung der Idee einer Dialektik der Aufklärung – der kritische Aus-‐gangspunkt der hier interessierenden Traditionslinie markiert werden. Teil B wendet sich den normativen und gesellschaftstheoretischen
Grundlagen der Habermasschen Philosophie zu. Kapitel 2 dient dem kriti-‐schen Nachvollzug der normativen Grundlage, die Habermas dem Negati-‐vismus der alten Kritischen Theorie entgegensetzt. Im Rahmen der hier zu untersuchenden Universalpragmatik geht es darum, aus den Struktu-‐ren der Argumentation einen affirmativen Begriff von Rationalität zu entwickeln; diese kommunikative Rationalität dient Habermas als norma-‐tive Grundlage – auch in praktisch-‐philosophischer Hinsicht. Auf der Grundlage dieses Vernunftbegriffs wird in Kapitel 3 der Gesellschaftsbe-‐griff bei Habermas verfolgt, der sich in der Dichotomie von System, als Verkörperung von Zweckrationalität, und Lebenswelt, als normativer Verkörperung kommunikativer Rationalität, bewegt. In einem als pro-‐blematisch erkannten Verhältnis beider Begriffe reformuliert Habermas die Grundkonzeption einer Dialektik der Aufklärung auf der Grundlage kommunikationstheoretischer Prämissen. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet der darauf folgende Teil C.
Hier wird der Frage nachgegangen, wie in Habermas’ Theorie das Recht eine Vermittlungsfunktion zwischen System und Lebenswelt einnehmen soll. Das Recht eröffnet einen Weg, die Gesellschaft insgesamt als jeden-‐falls mittelbar normativ durch die Lebenswelt gesteuerte zu bestimmen. Wie diese Steuerung der Gesellschaft durch eine Anbindung auch syste-‐mischer Prozesse an die Lebenswelt bestimmt werden kann, ist Gegen-‐stand der Kapitel 5 bis 7. Hier wird es zunächst darum gehen, in einer normativ ausgelegten Rekonstruktion die von Habermas entwickelten Bedingungen legitimen Rechts zu entfalten. Diese Bedingungen liegen in einem spezifischen Verfahren der Setzung von Recht; ein diskurstheoreti-‐sches Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat ist nach Habermas die tragende Säule einer legitimen Rechtsordnung (Kapitel 5 und 6). Diese normative Perspektive wird alsdann durch einen empirischen Blick auf
EINLEITUNG 14
die Rechtswirklichkeit ergänzt (Kapitel 7). Dieser empirische Blick ist in-‐nerhalb der Habermasschen Theorie von besonderer Bedeutung. Er soll offenlegen, dass die postulierten normativen Rechtsprinzipien nicht allein bloße Gedanken des Rechtsphilosophen sind, sondern dass die normative Theorie tatsächlich für sich beanspruchen kann, als Rekonstruktion einer, wenn auch verzerrt, existierenden Vernunft zu gelten. In den Schlussbe-‐trachtungen des Kapitels 8 werden dann die Potenziale und Probleme der Habermasschen Theorie zu reflektieren sein.
A. HABERMAS’ KRITISCHE VORGÄNGER: GESELLSCHAFTSTHEORIE UND GESELLSCHAFTSKRITIK
BEI ADORNO UND HORKHEIMER
Kapitel 1:
Absolute und instrumentelle Vernunft in der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers
Eine grundlegende Einstimmigkeit in der Philosophie Adornos, Horkhei-‐mers und Habermas’ besteht darin, die gesellschaftliche Wirklichkeit an den in ihr begründeten Möglichkeiten zu messen, um angesichts einer Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit eine Kritik zu formu-‐lieren. In der Formulierung dieser Möglichkeit wie auch der Bestimmung der Wirklichkeit liegen sie freilich weit auseinander. Die Möglichkeit, auf die sich Adorno und Horkheimer beziehen, ist die, dass angesichts einer immensen Produktivkraftentfaltung eine freie Gesellschaft allgemeinen Wohlstands zu einer Realmöglichkeit geworden ist. Habermas dagegen betont das Moment kommunikativer Freiheiten – ein Begriff der erst im Folgenden noch näher zu konturieren ist. Entscheidend ist in diesem Zu-‐sammenhang einstweilen nur, dass Habermas die Möglichkeit der Steue-‐rung der Gesellschaft durch eine bestimmte Art kommunikativer Praxis für möglich erachtet. Bei allen drei Autoren werden diese jeweiligen Mög-‐lichkeiten als Ergebnis normativer Reflexionen als richtig ausgewiesen; sie sollen sein und Gesellschaftskritik soll dazu dienen, die Möglichkeit zu einer Wirklichkeit werden zu lassen. Als Kritische Theorien enthalten Adornos und Horkheimers Theorie ei-‐
nerseits, Habermas’ Theorie andererseits, Momente der Deskription ge-‐sellschaftlicher Umstände; diese Deskription aber erfolgt nicht wertfrei, sondern auf einer normativen Basis, die die normative Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Strukturen herausstellen soll. Die Theorie der Ge-‐sellschaft steht damit im Dienste der Verwirklichung eines emanzipatori-‐schen Ideals und der Veränderung der Gesellschaft. Konkrete theoreti-‐sche Verbindungslinien zwischen Habermas einerseits, der Philosophie Adornos und Horkheimers andererseits lassen sich auf verschiedenen Ebenen rekonstruieren. Ebenso wie Adorno und Horkheimer ist Haber-‐mas etwa stets die Kritik positivistischer Theorien ein zentrales Anliegen gewesen1; ebenfalls teilen die Philosophen einen gemeinsamen theoreti-‐schen Hintergrund, insbesondere bemühen sie sich auf je eigene Weise um eine Aktualisierung der Marxschen Ökonomiekritik.2
1 Vgl. etwa: Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft
als ›Ideologie‹, Frankfurt am Main 1968, S. 146 ff. 2 Vgl. etwa: Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frank-‐
furt am Main 1976.
ABSOLUTE UND INSTRUMENTELLE VERNUNFT 18
Die im hier eröffneten Rahmen interessierende Traditionslinie von al-‐ter zu neuer Kritischer Theorie betrifft die Bestimmung der in modernen Gesellschaften verkörperten Rationalität. Der Begriff der Rationalität wird hier zunächst in einem übergreifenden Sinne verwendet und umfasst so-‐wohl – in den Begriffen des deutschen Idealismus – Verstand wie Ver-‐nunft. Während der Verstand von einem subjektiven Standpunkt auf die Welt zugreift, geht die Vernunft auf ein alle Menschen umfassendes All-‐gemeines, dem auch eine normative Richtigkeit zukommt. Wir werden sehen, wie Adorno und Horkheimer dieser weite begriffliche Rahmen da-‐zu dient, eine gesellschaftliche Transformation der Rationalität von Ver-‐nunft zu Verstand, von einer objektiven zu einer instrumentellen Ver-‐nunft nachzuzeichnen. Die Gesellschaft ihrer Gegenwart ist nach Adorno und Horkheimer
zwar durch Rationalität gekennzeichnet; die Momente einer inhaltlichen Vernünftigkeit dieser Ordnung aber hat sie verloren. Gesellschaft ist für sie geprägt durch eine einseitig technische Rationalität, die alle Institutio-‐nen ihrer Gegenwart in Beschlag genommen hat. Adorno und Horkheimer sind der Überzeugung, dass Vernunft einen ausschließlich instrumentel-‐len Charakter angenommen und darüber alle affirmativen Bezugspunkte verloren hat; sie gehen von einer Totalität instrumenteller Vernunft aus. Diese grundlegende Kritik an einer übermächtigen instrumentellen Ver-‐nunft behält Habermas in seiner Theorieentwicklung lange Zeit bei. Aller-‐dings integriert er die von Adorno und Horkheimer geleistete Kritik der instrumentellen Vernunft in einen insgesamt erweiterten normativen Theoriehorizont und weist damit der Kritik an den Pathologien der Mo-‐derne einen anderen theoretischen Ort zu. Bevor wir uns dieser Trans-‐formation zuwenden, soll im Folgenden zunächst die Grundlage der Ra-‐tionalitätskritik Adornos und Horkheimers entwickelt werden (1.). Als-‐dann werden die institutionellen Auswirkungen dieses Rationalitätsver-‐ständnisses reflektiert und der sich auf dieser Grundlage ergebende Be-‐griff der Gesellschaft vorgestellt (2.). Schließlich soll unter (3.) auf die Probleme eingegangen werden, die sich auf der Grundlage der von Hork-‐heimer und Adorno formulierten Gesellschaftskritik ergeben und die letztlich Habermas zu einer Veränderung des theoretischen Rahmens be-‐wegen und damit die Voraussetzung für eine kommunikationstheoreti-‐sche Wende der Kritischen Theorie bilden.
1. Die Reduktion der Vernunft auf ein Instrument
Den Kern von Adornos und Horkheimers Philosophie bildet eine Kritik der in der Gesellschaft wirksamen Rationalität. Diese Kritik hat in der Entwicklung Kritischer Theorie seit dem Ende der 1920er Jahre in Ab-‐hängigkeit vom historischen Kontext verschiedentliche Ausprägungen er-‐
ABSOLUTE UND INSTRUMENTELLE VERNUNFT 19
fahren.3 Als Höhepunkt und radikalste Form dieser Rationalitätskritik kann die 1944 erstmals erschienene Dialektik der Aufklärung angesehen werden, der innerhalb der Kritischen Theorie eine Schlüsselstellung zu-‐kommt.4 Sie nämlich markiert die endgültige Abkehr der Kritischen Theo-‐rie von tradierten Vorstellungen des historischen Materialismus, dem zu-‐folge in der Arbeiterklasse ein emanzipatorisches Potenzial zu verorten ist. Adorno und Horkheimer sehen sich in den 1940er Jahren einer Welt
gegenüber, in der sich ihrer Einschätzung nach eine technische Rationali-‐sierung vervollkommnet hat. Zugleich aber kann von einer im affirmati-‐ven Sinne rationalen Gesellschaft keine Rede sein: die »vollends aufge-‐klärte Erde«, so heißt es in der Dialektik der Aufklärung, »strahlt im Zei-‐chen triumphalen Unheils«.5 Den gesellschaftlichen Hintergrund für die-‐ses Urteil bilden die Erfahrungen des Nationalsozialismus, des Stalinis-‐mus in der Sowjetunion sowie die Exilerfahrungen mit der Massenkultur in den USA.6 Auf allen drei Ebenen zeigt sich für Adorno und Horkheimer in je spezifischer Ausprägung ein Paradox: einerseits ist Rationalität in ei-‐nem technischen, die Naturbeherrschung betreffenden Sinne zu höchster Entfaltung gelangt; andererseits aber ist zugleich mit dieser technischen Rationalität der einst mit Vernunft verbundene Anspruch auf eine inhalt-‐liche Richtigkeit von Gesellschaft verklungen oder jedenfalls ohnmächtig geworden. Nicht Selbstbestimmung, sondern Herrschaft ist ihrer Über-‐zeugung nach das dominante Prinzip ihrer Gegenwart. Die Dialektik der Aufklärung ist der Versuch, diese Entwicklung aus ei-‐
ner problematischen Grundstruktur der Aufklärung selbst zu verstehen und nicht als einen antiaufklärerischen Irrweg der Weltgeschichte. Ador-‐no und Horkheimer erklären diese Entwicklung als das Dominantwerden eines Moments, das mit der Aufklärung von Anbeginn gesetzt war. Aufklä-‐rung hat ihrer Überzeugung nach nämlich einen Doppelcharakter: einer-‐seits ist sie ein Prinzip der Freiheit, insofern sie den Menschen zum Her-‐ren über die gesellschaftlichen Abläufe einsetzen will und damit der
3 Vgl. zur Einordnung der Kritischen Theorie in einzelne Phasen: Martin Jay, Dialektische
Phantasie - Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt am Main 1981; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule - Ge-schichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München, Wien 1986; Seyla Benhabib, Kritik, Norm und Utopie – Die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1992, S. 79 ff.
4 Albrecht Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt am Main 1969, S. 142.
5 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung – Philosophische Frag-mente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften (Hrsg. Rolf Tiedemann), Bd. 3, Frankfurt am Main 1997, S. 19.
6 Vgl. zum historischen Erfahrungshintergrund Adornos und Horkheimers: Helmut Du-‐biel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung – Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1978, Teil A, insb. S. 87 ff.
ABSOLUTE UND INSTRUMENTELLE VERNUNFT 20
Selbstverwirklichung des Menschen dienen kann: Freiheit ist, wie sie sa-‐gen, vom »aufklärenden Denken untrennbar«.7 Andererseits aber spricht sich schon in dem Versuch, den Mensch zum Herren einzusetzen, das Moment der Herrschaft aus. Beherrscht werden nämlich soll die Natur, die der Mensch steuern muss, wenn er sich deren Unmittelbarkeit und der Blindheit ihrer Abläufe entziehen will. Dieses Moment der Herrschaft identifizieren Adorno und Horkheimer als das problematische Grundmo-‐tiv der Aufklärung, dem letztlich die Gefahr inhäriert, sich zu einer unre-‐flektierten und illegitimen Herrschaft zu verselbstständigen. Die hier be-‐zeichnete Natur, deren Beherrschung angestrebt wird, ist nach Adorno und Horkheimer nicht allein die äußere Natur der Umwelt, sondern viel-‐mehr auch die innere Natur des Subjekts. Die äußere Natur wird durch die Anwendung von Produktivkräften beherrscht und hierdurch wird der materielle Reichtum der Menschen gesteigert. Zugleich muss aber auch die innere Natur beherrscht werden; der Mensch muss seine eigene triebhafte Natur zugunsten einer zukünftig gesicherten Existenz zurück-‐drängen. In dieser gespaltenen Grundstruktur der Aufklärung liegt nun das Moment begründet, um das es Adorno und Horkheimer in ihrer Dia-lektik der Aufklärung zentral geht: das für die Aufklärung notwendige Element der Herrschaft kann sich gegenüber der Natur absolut setzen, verliert aber damit zugleich auch – wie noch deutlich werden wird – die ihr von den Autoren zugesprochene Berechtigung. Aufklärung wird ihrer Überzeugung nach dann inhaltsleer, sinnlos, zu einem Mittel ohne Zweck. Der Aufklärung selbst soll somit ein rückläufiges Moment inhärieren, ein Moment, dem das Potenzial zur Zerstörung des Freiheitselements der Aufklärung zukommt. Dem gemäß gehen die beiden Autoren davon aus,
daß der Begriff eben dieses [aufklärerischen, C.M.] Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.8
Die Geschichte der Menschheit wird von Adorno und Horkheimer als ein Anwachsen der Herrschaft aufgefasst; die steigende Effizienz der Produk-‐tion bedeutet nicht nur ein Anwachsen der Herrschaft nach außen, sie be-‐deutet auch eine Zunahme der Zwänge, die auf das Subjekt wirken:
Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der iden-‐tische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.9
Die Produktivkraftentfaltung verlangt im steigenden Maße eine Diszipli-‐nierung der Subjekte, die die gesellschaftlichen Zwänge internalisieren
7 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 13. 8 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 13. 9 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 50.
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müssen, um mit der Rationalisierung Schritt halten zu können; die Zivili-‐sation verdrängt und entstellt die menschlichen Instinkte und Leiden-‐schaften.10 Darin liegt Adorno und Horkheimer zufolge nun der Grund-‐stein für einen möglichen Umschlag der Aufklärung in bloße Herrschaft, einen Umschlag, der die Negation ihrer freiheitsstiftenden Potenziale be-‐deutet. Gelingt es der Aufklärung nämlich nicht, dennoch einen Bezug zur Natur der Subjekte zu halten und dieser in der Organisation der Gesell-‐schaft Rechnung zu tragen, dann verliert die Vernunft ihren Bezug zu dem, dessen Erhaltung sie eigentlich dienen sollte: zum Subjekt.
In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Na-‐tur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben er-‐hält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahr-‐nehmbar. Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst be-‐gründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhal-‐tung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigent-‐lich gerade das, was erhalten werden soll.11
Es ist also, so Adorno und Horkheimer, der Zweck der Herrschaft gewe-‐sen, das Lebendige – das Subjekt – zu erhalten. In dem Maße, in dem es aber zu einer Verselbstständigung dieser Herrschaft kommt, in dem nicht mehr die Belange des Subjekts den Ausschlag geben, verliert diese Herr-‐schaft und mit ihr die Aufklärung ihren sinnstiftenden Bezug. Die Herr-‐schaft wird absolut gesetzt. Das genau ist die Diagnose, die Adorno und Horkheimer ihrer Gegen-‐
wart stellen. Im modernen Kapitalismus hat ihrer Analyse zufolge die Ra-‐tionalität eben diesen Bezug zur Natur der Menschen verloren und be-‐zieht sich nunmehr allein noch auf eine Beherrschung derselben; ihr wird »die Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Le-‐benszweck«12. Durch diese blinde Naturbeherrschung schlägt Aufklärung nach Adorno und Horkheimer ihrerseits in blinde Natur zurück. Genauso unreflektiert und blind wie die Abläufe der Natur sind, ist es nun die in den gesellschaftlichen Strukturen verkörperte und verselbstständigte Ra-‐tionalität, die den Menschen als zweite Natur gegenübertritt. Das Parado-‐xe dieser Entwicklung ist nach Adorno und Horkheimer, dass die Aufklä-‐rung somit eine Befreiung der Menschen aus den Zwängen einer mytho-‐logischen Ordnung bedeutet, dass sie aber zugleich einen neuen Bann er-‐zeugt, der die gewonnene Freiheit sogleich zerrinnen lässt. »Der Animis-‐ 10 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 265. 11 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 73. 12 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 49.
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mus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die See-‐len.«13 Die Verbannung des irrationalen Moments der menschlichen Natur aus der gesellschaftlichen Praxis bedingt danach die Irrationalität der Aufklärung. Das tragische Moment der Aufklärung ist somit, dass sie den Zeitpunkt
versäumt hat, an dem es zu einer Versöhnung von menschlicher Herr-‐schaft und Natur hätte kommen können.14 In ihrer Gegenwart jedenfalls wird für Adorno und Horkheimer in der Retrospektive deutlich, dass es das Prinzip der Herrschaft ist, das sich in der menschlichen Zivilisation durchgesetzt hat und noch immer durchsetzt; die Geschichte der Mensch-‐heit ist für sie die einer misslingenden Zivilisation.15 Ihre Philosophie er-‐hält damit den Charakter einer negativen Geschichtsphilosophie, die eine »rückläufige[n] Anthropogenese«16 entwirft. Die direkt und in den 1940er Jahren immer gewalttätiger auftretende Herrschaft wird für Adorno und Horkheimer damit zum Interpretationsmuster für die gesamte Zivilisati-‐onsgeschichte.17 »Eine philosophische Konstruktion der Weltgeschichte«, so heißt es dementsprechend in der Dialektik der Aufklärung als Formu-‐lierung eines noch durchzuführenden Programms,
hätte zu zeigen, wie sich trotz aller Umwege und Widerstände die konse-‐quente Naturbeherrschung immer entschiedener durchsetzt und alles In-‐nermenschliche integriert. Aus diesem Gesichtspunkt wären auch Formen der Wirtschaft, der Herrschaft, der Kultur abzuleiten.18
Gleichsam der Endpunkt dieser Durchsetzung des Prinzips der Herrschaft ist die Herausbildung einer vollends instrumentellen Vernunft. Diese in-‐strumentelle Vernunft manifestiert sich in dem, was Hegel den objektiven Geist nennt. Sie schlägt sich in den Institutionen und Verkehrsformen der Gesellschaft nieder, ebenso aber auch in den Verhaltensweisen der Sub-‐jekte. Auf diese gesellschaftstheoretischen Bestimmungen wird im fol-‐ 13 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 45. 14 Vgl. für den Versuch einer Bestimmung dieses Zeitpunkts: Friedemann Grenz, Adornos
Philosophie in Grundbegriffen – Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt am Main 1974, S. 171 ff.
15 In diesem Sinne heißt es bei Adorno: »Begreift man Kultur nachdrücklich genug als Ent-‐barbarisierung der Menschen, die sie dem rohen Zustand enthebt, ohne ihn durch ge-‐walttätige Unterdrückung erst recht zu perpetuieren, dann ist Kultur überhaupt miß-‐lungen.« [Theodor W. Adorno, Kultur und Verwaltung, in: ders., Gesammelte Schriften (Hrsg. Rolf Tiedemann), Bd. 8, Frankfurt am Main 1972, S. 140 f.].
16 Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen, a.a.O., S. 161. 17 Zu diesem Muster der Geschichtsinterpretation schreibt Adorno in dem 1942 erschie-‐
nenen Aufsatz Reflexionen zur Klassentheorie: »Alle Geschichte heißt Geschichte von Klassenkämpfen, weil es immer dasselbe war, Vorgeschichte.[...] Darin ist eine Anwei-‐sung gelegen, wie Geschichte zu erkennen sei. Von der jüngsten Gestalt des Unrechts fällt Licht stets aufs Ganze.« [Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie, in: ders., Gesammelte Schriften (Hrsg. Rolf Tiedemann), Bd. 8, Frankfurt am Main 1997, S. 374].
18 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 254.
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genden Abschnitt über die verwaltete Welt noch zurückzukommen sein. Für den Begriff der Rationalität ist hier zunächst von Bedeutung, dass die-‐se instrumentelle Vernunft die Fähigkeit verloren hat, Aussagen über die Richtigkeit einer politischen Ordnung zu treffen. Sie ist nach Adorno und Horkheimer bloßes Mittel zum Zweck geworden.
Die Transformationsbewegung der Vernunft bis hin zu einer derart voll-‐ständig instrumentellen Vernunft hat Max Horkheimer in seiner Schrift Zur Kritik der instrumentellen Vernunft herausgearbeitet.19 Horkheimer versucht sich hier an dem Nachweis, dass sich die Vernunft von einer ob-‐jektiven Größe zu einem bloß subjektiven Instrument des berechnenden Zugriffs auf die Außenwelt transformiert hat. Die Objektivität der Ver-‐nunft lag ursprünglich darin, dass sie als der außerindividuellen Welt in-‐newohnend verstanden wurde. Die soziale Welt und selbst die Natur gal-‐ten als Ausdruck einer höheren vernünftigen Ordnung, in die die Existenz des einzelnen Menschen unhintergehbar eingebettet war. Dieser objekti-‐ve Begriff der Vernunft hob den einer subjektiven stets in sich auf. Als subjektiv vernünftig konnte nur gelten, was zu einer Versöhnung von Be-‐sonderheit und Allgemeinheit, von einzelnem Subjekt und Gesellschaft, von Mensch und natürlicher Ordnung der Dinge führte. Unter dem Primat einer objektiven Vernunft lässt sich auch von dem Streben nach einer vernünftigen Existenz sprechen; Vernunft gibt dem menschlichen Dasein einen Zweck. Bereits in diesem Verhältnis ist die Grundlage für eine Spannung gelegt,
die sich letztlich gegen die objektive Vernunft kehrt. Die subjektive Ver-‐nunft, die es – von einem aufgeklärten Standpunkt betrachtet – selbst ist, welche die objektiven Instanzen entwirft, enthält ein kritisches Element, welches die tradierte Objektivität auf die Möglichkeit einer rationalen Rechtfertigung hin überprüft. Sie zerstört alte Mythologien mit dem Ziel, jeden irrationalen Gehalt aus Theorie und Praxis zu verbannen. Dieser Vorgang ist ein kontinuierlicher Prozess und richtet sich gegen die je konkreten Institutionen der objektiven Vernunft, sodass sich mit der Zeit ein zunehmend entmythologisiertes Weltbild durchsetzt. Die von ihren mythologischen Spuren gereinigte Form objektiver Vernunft verfällt ih-‐rerseits demselben Schicksal, welches sie einst im Namen der Rationalität über die vormals als mythologisch erkannten Instanzen brachte. So gin-‐gen auch einst Platon und Aristoteles mit einem objektiven Begriff der Vernunft gegen eine mythische Ordnung an. In der Folge verfiel aber auch ihre Philosophie der aufklärerischen Zersetzung:
19 Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: ders., Gesammelte
Schriften (Hrsg. Alfred Schmidt), Bd. 6, Frankfurt am Main 1991, S. 27 ff. (Kapitel: Mittel und Zwecke).
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Die Aufklärung aber erkannte im platonischen und aristotelischen Erbteil der Metaphysik die alten Mächte wieder und verfolgte den Wahrheitsan-‐spruch der Universalien als Superstition. In der Autorität der allgemeinen Begriffe meint sie noch die Furcht vor den Dämonen zu erblicken, durch de-‐ren Abbilder die Menschen im magischen Ritual die Natur zu beeinflussen suchten. Von nun an soll die Materie endlich ohne Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften beherrscht werden.20
Der beständige Skeptizismus subjektiver Vernunft gegenüber der objekti-‐ven zerstört schließlich alle dem Subjekt äußeren Instanzen als Grundlage der Objektivität; Mythologie und Religion lösen sich unter ihrem Druck auf. Zwar besteht Religion als solche fort, ihr Absolutheitsanspruch aber ist gebrochen. Auch die Ethik wird dabei säkularisiert und ihr Inhalt allein auf Vernunftbegriffen begründet, zunächst nach wie vor mit dem An-‐spruch, hierdurch eine objektive Ordnung zu entwerfen. Das Neue dieser Objektivität aber ist, dass sie letztlich aus der Subjektivität folgen soll – Kants Philosophie gibt hierfür das prominenteste Beispiel. Gleichheit, Ge-‐rechtigkeit, Eigentum und Staat sollen allesamt aus einem vom Subjekt ausgehenden vernünftigen Prinzip bestimmbar sein. Der Skeptizismus der Aufklärung aber macht, so Adorno und Horkhei-‐
mer, auch vor diesem subjektiven Konzept der Vernunft nicht halt. Die Vernunft hinterfragt die Begriffe auf der Grundlage der positiven Wissen-‐schaften und vor ihrem empiristischen Blick hat Metaphysik keinen Be-‐stand. Metaphysik und spekulatives Denken werden vom aufklärerischen Denken als Aberglaube gesehen und überwunden, da sie im Sinne einer positiv-‐wissenschaftlichen Theorie nicht gerechtfertigt werden können. Indem sich die subjektive Vernunft gegen das spekulative Denken wendet, zerstört sie auch die Möglichkeit der Begründung einer ihre eigene Parti-‐kularität transzendierenden Objektivität. Was von der skeptizistischen Reinigung der subjektiven Vernunft übrig bleibt, ist schließlich ihr bishe-‐riges Handwerkszeug: die Fähigkeit zur Deduktion, Kalkulation und Klas-‐sifikation. Vernunft wird aller materialen Werte entkleidet und auf einen Formalismus des instrumentellen Zugriffs auf die Welt reduziert. Am En-‐de des Transformationsprozesses hat sich die subjektive Vernunft zu ei-‐ner rein instrumentellen Vernunft gewandelt.21 Gab sie zu Zeiten objekti-‐ver Systeme den Zweck menschlichen Strebens und Existenz ab, so trans-‐formiert sie sich zu einem Mittel für Zwecke, die ihrerseits keiner ver-‐nünftigen Bestimmung mehr zugänglich sind. Vernünftig kann fortan nur noch sein, was nützlich ist:
20 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 22. 21 Vgl. auch Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 – Handlungsra-
tionalität und gesellschaftliche Rationalisierung, 4. durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main 1987, S. 520.
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Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig. Darf sie sich einmal ungestört von aus-‐wendiger Unterdrückung entfalten, so ist kein Halten mehr. Ihren eigenen Ideen von Menschenrecht ergeht es dabei nicht anders als den älteren Uni-‐versalien.22
Die Transformation der Vernunft zeitigt daher für die praktische Philoso-‐phie, und damit auch für die Möglichkeit der Begründung einer an Frei-‐heit orientierten Gesellschaft, verheerende Folgen: »Vernunft hat sich selbst als ein Medium ethischer, moralischer und religiöser Einsicht liqui-‐diert.«23 Für Adorno und Horkheimer ist der damit verbundene Verlust an Objektivität von großer Wichtigkeit. Indem die subjektive Vernunft allen Normen und Werten die Grundlage einer rationalen Rechtfertigung ent-‐zieht, herrscht für die Frage nach der richtigen Organisation der Gesell-‐schaft Tabula rasa. Die nach Adorno und Horkheimer für die Aufklärung klassischen Ideale, die einst aus der Objektivität der Vernunft deduziert worden waren, sind zwar noch vorhanden; ihres Rechtsgrundes beraubt aber führen sie nunmehr eine prekäre Existenz – sie werden zu fragilen Glaubenssätzen.
Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe, die [...] in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vernunft innewohnen oder von ihr sanktioniert sein sollten, haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind Ziele und Zwecke, aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ih-‐nen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusam-‐menzubringen.24
Letztlich wird die Frage, welche Werte man befolgt, zu einer bloß subjek-‐tiven Glaubensangelegenheit, über die sich sinnvollerweise ebenso wenig streiten lässt, wie über die Aussagen, »Rot sei schöner als Blau oder ein Ei besser als Milch.«25 Für die Frage nach der normativen Richtigkeit einer politischen Ordnung kann demnach die Dignität der Objektivität, die Phi-‐losophie zumeist für sich einnahm, nicht mehr in Anspruch genommen werden. Gegen den Diktator spricht nicht der Umstand, dass in der von ihm forcierten Gesellschaftsordnung Freiheit und Menschenwürde miss-‐achtet werden; auf dem Boden instrumenteller Vernunft ist es für ihn gar ein Gebot derselben, sich aller Mittel zum Behuf des eigenen Vorteils zu bedienen. Vernünftig ist es für den Diktator, wenn er soviel Waffen gebaut hat, dass er die Gegner besiegt.26 Zwar ist es für den in dieser Ordnung Un-‐terworfenen ebenso vernünftig, die Ordnung umzuwerfen, wenn er aus ihr keinen Nutzen zieht; entscheidend aber ist, dass das Element einer 22 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 22. 23 Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a.a.O., S. 40. 24 Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a.a.O., S. 44. 25 Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a.a.O., S. 44. 26 Vgl. Max Horkheimer, The End of Reason, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 9 (1941),
S. 368.
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vernünftig bestimmbaren Allgemeinheit, welches zur Begründung von Gesellschaft stets als notwendig angesehen wurde, nicht mehr besteht. Der Umstand, dass sich Freiheit und Menschenrechte – zumindest in
der amerikanischen Gesellschaft von Horkheimers und Adornos Gegen-‐wart – noch immer einer allgemeinen Anerkennung erfreuen, vermag sie in letzter Instanz nach Auffassung der Autoren aber nicht zu retten.
Gerade die Tatsache, daß Tradition heute beschworen werden muß, zeigt, daß sie ihre Macht über die Menschen verloren hat. Kein Wunder, daß gan-‐ze Völker – und Deutschland ist hierin kein Einzelfall – eines Morgens auf-‐gewacht sind, um zu entdecken, daß ihre am höchsten geachteten Ideale bloße Seifenblasen waren.27
Gerade im letzten hier benannten Argumentationsschritt zeigt sich, dass sich Adornos und Horkheimers Kritik auf der Grundlage einer nicht näher explizierten absoluten Vernunftbestimmung erhebt, die doch beide theo-‐retisch für nicht mehr zeitgemäß halten. Am Ende des behaupteten Trans-‐formationsprozesses der Vernunft steht die Zerstörung aller kategori-‐schen Imperative und damit schließlich die alleinige Geltung instrumen-‐teller Imperative. Diese Transformation können Adorno und Horkheimer nachvollziehen, aber unter normativen Prämissen nicht akzeptieren, da ihnen damit zugleich auch der allgemeine theoretische Boden der Kritik entzogen wird. Letztlich kann man sagen, dass die Autoren an der Erfah-‐rung der Kontingenz verzweifeln. Sie erkennen, dass Freiheit und Men-‐schenwürde in letzter Instanz nicht aus reiner Vernunft folgen und damit in ihrem Geltungsstatus eben nicht mehr die Dignität des Absoluten ha-‐ben, den sie einstmals – erst religiös, dann vernunftrechtlich verbürgt – für sich einnahmen. Gleichzeitig ermangelt es ihnen an positiven Gegen-‐konzepten, mit Hilfe derer sie dieser Kontingenzerfahrung – sei es wie bei Richard Rorty durch Integration der Kontingenz in die Theorie28, sei es wie bei Habermas durch Entwicklung eines neuen Maßstabes der Objek-‐tivität – Paroli bieten könnten.
2. Verwaltete Welt: Totalität von Ökonomie und Verwaltung
Durch den Verlust jedes allgemeinen und inhaltlichen Kriteriums von Vernünftigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung kommen Adorno und Horkheimer zu einer finsteren Diagnose für ihre Gegenwart wie auch zu einer ebensolchen Prognose für die Zukunft. Der Terror des nationalso-‐zialistischen Regimes – die im instrumentellen Sinne streng rational or-‐ganisierte Ausrottung von Millionen von Menschen – ist ihnen ein Aus-‐
27 Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a,a,O., S. 53. 28 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1989.
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druck dieses Verlusts objektiver Orientierungen. Dennoch sehen Adorno und Horkheimer den Nationalsozialismus eher als einen terroristischen Zwischenfall einer noch weiter greifenden geschichtlichen Tendenz, die der Herausgeber der Horkeimerschen Gesammelten Schriften – Gunzelin Schmid Noerr – wie folgt beschreibt:
Der Nationalsozialismus, der zu seiner inneren Stabilisierung der kriegeri-‐schen Expansion und des Terrors bedarf und doch zuletzt das Ziel mit die-‐sen Mitteln verfehlen muß, wird gedeutet als instabiles barbarisches Zwi-‐schenspiel auf dem Weg hin zu dem gattungsgeschichtlich unwiderruflichen Ziel der ›verwalteten Welt‹.29
Der Begriff der verwalteten Welt bezeichnet eine gesellschaftliche Forma-‐tion, in der die Beziehungen der Menschen ausschließlich nach instru-‐mentellen Prämissen organisiert sind, ohne dass es noch einen seinerseits vernünftigen Zweck gebe, dem als Instrument gedient werden könnte. Die hierdurch empirisch in Bezug genommenen Phänomene betreffen einen uferlosen Verwaltungsapparat, eine eigengesetzlich und automatisch ab-‐laufende Ökonomie ebenso wie eine angenommene psychologische Gleichschaltung der Menschen. Es handelt sich beim Begriff der verwalte-‐ten Welt somit gewissermaßen um die gesellschaftstheoretische Bestim-‐mung auf der Grundlage einer herrschenden instrumentellen Vernunft. Die verwaltete Welt stützt sich, so schreibt Adorno später in Zur Metakri-tik der Erkenntnistheorie, auf nichts »als aufs Faktum der Verwaltung sel-‐ber«.30 In der verwalteten Welt ist die Verwaltung dem Verwalteten rein äußerlich; sie bildet eine bloß externe Ordnungsstruktur, ohne sich um die Qualitäten der Dinge zu kümmern.31 Adorno und Horkheimer gehen von einer Verselbstständigung instru-‐
menteller Vernunft in den Institutionen der modernen Gesellschaften aus, die sich dort als Totalität, als alles unter sich begreifende Struktur mani-‐festiert hat. Es ist eben dieses Theorem der verwalteten Welt, das für Ha-‐bermas von besonderer Bedeutung ist. Habermas nimmt die hierin arti-‐kulierte Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen später in seiner Theo-rie des kommunikativen Handelns auf und integriert sie, wie im Folgenden noch ausführlich untersucht werden wird, unter veränderten theoreti-‐schen und normativen Vorzeichen in seine Theorie.
29 Gunzelin Schmid Noerr, Die Stellung der ›Dialektik der Aufklärung‹ in der Entwicklung
der Kritischen Theorie. Bemerkungen zu Autorenschaft, Entstehung, einigen theoretischen Implikationen und späterer Einschätzung durch die Autoren, in: Max Horkheimer, Ge-sammelte Schriften, Bd. 5 (Hrsg. Gunzelin Schmid Noerr), Frankfurt am Main 1987, S. 438.
30 Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie – Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, in: ders., Gesammelte Schriften (Hrsg. Rolf Tiede-‐mann), Bd. 5, Frankfurt am Main 1970, S. 42.
31 Theodor W. Adorno, Kultur und Verwaltung, a.a.O. S. 127 f.
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Der Gedanke einer verwalteten Welt beruht in entscheidender Hinsicht einerseits auf den soziologischen Analysen Max Webers, andererseits auf dem von Georg Lukács auf Grundlage Marxscher Theorie entwickelten Gedanken der Verdinglichung. Nach Webers Untersuchungen ist die mo-‐derne Welt durch einen Herrschaftstypus geprägt, den er als den »bu-‐reaukratisch-‐monokratischen«32 bezeichnet.33 Dieser ist nach Weber die rationalste Form der Herrschaft. Sie kennzeichnet, dass subjektive Fakto-‐ren weitest möglich aus der Verwaltungsstruktur ausgeschlossen werden und dass Professionalisierung und Spezialisierung der Beamten zu einer »Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit«34 führen. Dieses Phä-‐nomen ist dabei nach Weber ein allgemeines seiner Epoche und nicht be-‐schränkt auf staatliche Strukturen: die
Entwicklung ›moderner‹ Verbandsformen auf allen Gebieten (Staat, Kirche, Heer, Partei, Wirtschaftsbetrieb, Interessenverband, Verein, Stiftung und was immer es sei) ist schlechthin identisch mit Entwicklung und stetiger Zunahme der bureaukratischen Verwaltung.35
Weber attestiert der Bürokratie eine »Unentrinnbarkeit«36, er begreift sie als allgewaltige Steuerungsmacht in der Gesellschaft und bezeichnet die Strukturen der modernen Welt als »Triebwerk«, das den Lebensstil aller Einzelnen, »mit überwältigendem Zwang bestimmt und vielleicht be-‐stimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.«37 Nach Webers Analyse sind also die Institutionen der Gesellschaft mitnich-‐ten eine Realisation von Freiheit, sie verlangen vielmehr einseitig Gehor-‐sam und entsprechen damit den Rationalitätsanforderungen der indus-‐triellen Produktion der Gegenwart.
Im Verein mit der toten Maschine ist sie [die lebende Maschine der bürokra-‐tischen Organisation, C.M.] an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich [...] ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden [...].38
Von solch einem objektiven Gehäuse der Hörigkeit gehen auch Adorno und Horkheimer aus. Die Tendenz zu allumfassenden Superstrukturen
32 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft – Grundrisse der verstehenden Soziologie, 4. Auf-‐
lage, Tübingen 1956, 1. Halbband, S. 128. 33 Vgl. auch Adornos explizite Bezugnahme auf diesen Begriff in: Adorno, Kultur und Ver-
waltung, a.a.O., S. 126. 34 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., 1. Halbband, S. 129. 35 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., 1. Halbband, S. 128. 36 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland – Zur politischen
Kritik des Beamtentums und Parteienwesens, in: ders., Gesammelte Politische Schriften (Hrsg. Johannes Winckelmann), 4. Auflage, Tübingen 1980, S. 330.
37 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammel-te Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920, S. 203.
38 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland – Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteienwesens, a.a.O., S. 332.