cerroni u 1979 gramsci-lexikon 1-192

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\ i t Umberto C erron i I

I(r-'~) ,r 1

/ \ G r ams ci-L ex ik on V .

,1, Zum K ennen - und Lesen-Lernen . 1

J-;I

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1 1 g I ;~"': .. .~.II

,"-, -., r : . . . .. l(e,

Fordem Sie uFr Ge~mtverzeichnis an! ~ 1~) ~ VSA-Verlag 1979. Stresemannstr. 384a, 2000IHamburg~10

Abe Rechte vorbehal t n 'I

ICEditori Riuniti, Rom 1978Druck und Buchbindearbeiten: Evert-Druck, Neumimster

ISBN 3-87975-168-4

\

"

Inhalt

Vorbemerkung zur deutschsprachigen Ausgabe .Ubersicht der Abkurzungen der Werke Gramsci'sVorwort .

78'}

TeillAnto nio G rams ci - B io gr ap hisc he Notize n 11

Teil2Sti chworte zur Gramsci- Lek ti ire 35

Abstraktion 35 I Asthetik 35 I Affenvolk 35 I AlltagsbewuBtsein

36 I Arbeiterassoziationen 36 I Atheismus 37 I Btirokratie 38 I

Caporalismus 38 I Demokratie, politische 38 I Destruktion 38 I

Dialekt 39 I Diplomatie 39 I Elite 40 I Engels 40 I Experimentelle

Methode 41 I Feind 41 I Folklore 41 I Freiwilligkeit 42 I Ftih-

rungskrafte 42 1 Furst, modemer 43 1 Gedanken Gramscis 44 1 Ge-

fangnis 45 I Gegenwart als Geschichte 46 I Geist des Bruchs 46 I

Gemeinden 47 I Geometrie und Raffinesse 47 I Geschichte,ethisch-politische 48 1 Gesellschaft, burgerliche 48 I Gesellschaft,

Massengesellschaft 49 I Gesellschaft, geregelte 49 I Gewalt 49 I

Gewaltenteilung 50 I Gleichgiiltigkeit 51 1 GroBe Intellektuelle 51

I Hegemonie 52 1 Heuchelei 52 1 Historischer Block 53 1 Histori-

scher Materialismus 54 I Hochmut der Partei 54 I Hypostase 55 I

Ideologie 55 I Ignoranz 56 I Individualismus 56 I Individuum 56 I

Intellektuelle 57 I Italien 58 lItalien, das verlorene 60 Ilakobi-nismus 61 1 Katharsis 61 1 Kausalitat 62 1 Klassen 63 1 Konformis-

MUS 63 1 Korporativismus 63 1 Korruption - Betrug 64 1 Kosmopo-

litisches BewuBtsein 64 I Krise 65 I Kultur, europiiische 66 I Kul-

turtheorie 67 I Kutscherftiege 68 1 Laizisten 68 1 Lebewesen, poli-

tisches 69 I Lenin 70 I Liberalismus 71 I Lorianismus 71 I Luft-

schloB-Imperialismus 72 1 Miinnliche Vorherrschaft 72 1 Marx 72 1

Marxismus 73 1 Maximalismus 74 1 Musik 74 1 Nationalismus 75 1

National-volkstumlich 76 1 Nomadentum 76 1 Offiziersarmee 77 I

Partei 78 1 Partei alsFilter 79 1 Partei, revolutioniire 80 I Partikular

81 1 Pessimismus - Optimismus 83 1 Philosoph, wirklichkeitsnaher

83 1 Philosophie, demokratische 84 1 Politik 84 1 Politik alsLeiden-

schaft 84 1 Polizei 85 1 Revolution 85 1 Revolution, italienische 85 I

Rote Phrasen 86 I Schule 87 I Selbstkritik 87 I Sektiererisches

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Denken 87/ Spekulation 88 / Spezialist + Politiker 89/ Sprache 88/ Staat 89 / Stellungskrieg 89 / Stenterello 90/ Strategie und Taktik

90/ Struktur 91/ Subversion 91 / Siiditalienische Frage 92 / Tal-

entismus 93 / Theorie und Praxis 93 / Theratologie, intellektuelle

94 / Totalitlit 95 / Transformismus 95 / Traurigkeit 96 / Oberbau-

funktionare 96 / Ubergang zum Sozialismus 96/ Unniitze Opfer 97

/ Volksbiicherei 97 / Wahlrecht, allgemeines 97 / Wahrheit 98 /

Westen 98 / Wissenschaft 99 / Wissenschaft, neue 99 / Wissen-

schaft und Leben 100/ Zentralismus, organischer 100

Teil3

Einfiihrung in Gramsci 101I. Das politische Denken Gramscis . . . . . . . . . .. 102II. Eine neue theoretische Orientierung 113III. Universalitat und Politik 121

Teil4Gramsci original 165

Die siiditalienische Frage

Teil5Bibliographie ; 190

Verzeichnis der wichtigsten deutschsprachigenGramsci- Literatur

Vorbemerkung zur deutschsprachigenAusgabe

Wir haben in Ubereinstimmung mit dem Autor Umberto Cerroni

den vorliegenden Band fUr den deutschen Leser gegeniiber der ita-

lienischen Originalausgabe erweitert. 1m ersten Teil des Buches

sind von der Redaktion Cerronis Stichworte zum Lebensweg

Gramscis um weitere biographische Notizen ergdnzt und zu einer

selbstdndigen Ubersicht zusammengefiigt worden. Aile dort kursiv

wiedergegebenen Passagen (mit Ausnahme einzelner Hervorhe-bungen} sind nicht von U. Cerroni sondern von der VSA-Redak-

tion, bzw. sind redaktionelle Anmerkungen der Ubersetzerinnen.

Der zweite Teil des Gramsci-Lexikons enthdlt die Stichworte

und AusfUhrungen von U. Cerroni, abgesehen von denjenigen, die

wir in die biographischen Notizen iibernommen haben. Ferner ha-

ben wir die Stichworte Anti-Croce, Brescianismus, Cardomismus

und Freud aus der italienischen Ausgabe nicht iibernommen, weil

Cerronis Anmerkungen zu diesen Stichwortern dem deutschen Le-

ser nur durch umfangreiche Erlauterung verstiindlich wiiren.

Der dritte Teil des Buches enthiilt die Artikel »Das politische

Denken Gramscis«, »Eine neue theoretische Orientierung« und

»Universalitiit und Politik« von U. Cerroni.

1m vierten Teil des Buches hat die Redaktion einen liingeren

Auszug aus Gramscis Fragment »Die siiditalienische Frage« (vgl.

das entsprechende Stichwort) mitaufgenommen; dieses Manu-

skript, vor den »Gefiingnisheften« geschrieben und bei Gramscis

Verhaftung unfertig abgebrochen, erlaubt einen guten Einblick in

Gramscis Methode der theoretischen Analyse und in die Eroffnung

der fur ihn bedeutendsten politischen Fragestellungen.

Am SchlufJ des Gramsci-Lexikons geben wir eine Ubersicht uber

die deutschsprachige Gramsci-Literatur.

VSA-Redaktion

Hamburg, Oktober 1979

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{]bendcht der )lb~en

We rk e G ram sci'sder

C.P.C.

L.C.

O.N.

Q.

S.P.

S.P.

La costruzione del partito comunista, Turin,

Einaudi, 1971

Lettere dal carcere, Turin, Einaudi, 1965

L'Ordine nuovo (1919-1920), Turin, Einaudi, 1954

Quademi del carcere, Turin, Einaudi, 1975

Scrit ti iovanil i (1914-1918), Turin, Einaudi,

1958Scritti politici, Rom, Editori Riuniti, 1973

Was die »Ouaderni« betrifft, wurde neben der Seitenangabe aus

der kritischen Ausgabe von Einaudi, zur einfacheren Ubersicht fur

den Leser (nattirlich mit Ausnahme der noch unveroffentliehten

oder abweichenden Texte) ebenfalls die der sechsbandigen the-

menbezogenen Ausgabe von Editori Riuniti hinzugezogen, deren

Texte neu durchgesehen und auf der Grundlage der kritischen

Ausgabe eingeordnet wurden.

M.S.

INT.

R.

MACH.

L.V.N.

P.P.

8

IImaterialismo storico e la filosofia di Benedetto

Croce, Rom, Editori Riuniti, 1977

Gli intellettuali e I 'organizzazione della cultura,

Rom, Editori Riuniti, 1977II Risorgimento, Rom, Editori Riuniti, 1977

Note sui Machiavelli, sulla politica e sullo Stato

modemo, Rom, Editori Riuniti, 1977

Letteratura e vita nazionale, Rom, Editori Riuniti,

1977

Passato e presente, Rom, Editori Riuniti 1977

Vonvort

Wir sind Gramsci aile etwas schuldig. Dieser Band mochte ein be-

scheidener Beitrag sein, urn die gro8e Schuld, die auch ich auf

mich genommen habe, zu begleichen.

Die 132 Stichworte, die im ersten und zweiten Teil zusammen-

gestellt worden sind, beanspruchen lediglich, das festzuhalten, was

mir bei sorgfaltiger Lekt iire von Gramsci als das Wesentliche auf-

gefallen ist. Es besteht keinerlei Absicht zur Katalogisierung und

noch weniger, eine philologische Auslegung vomehmen zu wol-

len. Bestenfalls tragen die Stichworte dazu bei, das GedankengutGramscis in der Gegenwart wirken zu lassen.

Der dritte Teil des Bandes enthiilt den Text einer Gesprichs-

ronde tiber die politische Idee Gramscis, die 1974 an der Universi-

tat von Ljubljana stattgefunden hat; femer einen Artikel zum 40.

Todestag Gramscis, der in der »Unitll« erschien, und ein 1977 an-

UlBlich des Kongresses studi gramsciani gehaltenes Referat.

U.C.

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))Man m i iB te e tw a s s ch affe n > fU r ew ig : «

Tell 1

Antonio ·Gramsd -Biograph is che Nodzen*

Antonio Gramsci wird als Sohn einer Provinzbe- 22. 1. 1891amtenfamilie in Ales (Sardinien) geboren. Anto-

nio is t das vierte Kind der Familie Gramsci, drei

weitereGeschwisterkommen bis 1897noch hinzu.

Ais Antonio Gramsci neun Jahre all ist, verliertder

Vater in der Folge einer Verurteilung wegen Un-

terschlagung im Amt seine Stelle und sein Gehalt.

FUr die Familie beginnt eine Zeit voller Entbeh-

rung und Armut. Antonio is t oft krank.

Antonio Gramsci wird am 23. Januar 1891 als Ales

Sohn von Francesco und Giuseppina Marcias in

Ales in der Provinz Cagliari geboren. Seine Kind-

heit verbrachte er auf Sardinien, uber das er ein-

mal schrieb: »Sardinien ist eine Insel und jeder

Sarde ist eine Insel auf der Insel« (L. C., S. 881).

1977 wurde ein recht eigenwilliges Denkmal von

Gio Pomodoro in Ales eingeweiht, das hier heute

an Gramsci erinnert. Es handelt sich urn einen

Platz, der von allerhand symbolischen Zeichen

belebt wird: er dient als Treffpunkt, ein offener

Raum fur alle, so wie es das gesamte Werk

Gramscis sein wollte.

• Alle in den biographischen Notizen kursiv gesetzten Passagen (mit Aus-

nahme einzelner Hervorhebungen) sind Hinzufiigungen der VSA-Redaktion. Die

Ausfiihrungen zu den StichwortenAles, Ghilarza , San ti l Lussurg iu , Tur in , L 'Or-d ine nuovo , Mammutprozep, Tur i, Furewig , Quodern i de lcarcere ,Form ia und To dsind vom Autor Umberto Cerroni.

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Uber seine Kindheit schrieb Gramsci: »Mit

zwolf Jahren begann ich zu arbeiten und ver-

diente gut neun Lire im Monat (was auch bedeu-

tete, ein KiloBrot pro Tag) fur zehn Arbeitsstun-

den taglich, einschlie8lich sonntags morgens. Ich

verbrachte die Zeit damit, Aktenordner hin- und

herzuschieben, die schwerer waren als ich selbst,

und oft weinte ich heimlich des nachts, weil mich

• der ganze Korper schmerzte. Fast immer lernte

ich nur die grausamste Seite des Lebens kennenund bin doch immer damit fertig geworden, im

Guten wie im Schlechten« (L.C., S. 682).

Ghil8na Von Ales zog Gramscis Familie nach Ghilarza

urn, ein Dorf mit etwa 3.000 Einwohnern und

immerhin einer Eisenbahnstation. Eine Wasser-

leitung gab es jedoch nicht und das schlechte

Wasser machte »die Frauen von Ghilarza hiBlich

und aufgeschwemmt«. Ferner fehlte die Kanali-

sation und es gab Krankheiten, wie Malaria und

Tuberkulose. Hier besuchte Gramsci erstmals die

Schule und las seine ersten BUcher. Aus dem Ge-

fangnis schrieb er spater an seine Mutter: »Erin-

nerst Du Dich, wenn ich bis abends spat gelesen

habe und auf welche AusflUchte ich verfiel, urnmir BUcher zu besorgen?« (L. c.,S. 358) Und anseine Frau: »Du irrst, wenn Du glaubst, ich hatte

von klein auf literarische oder philosophische

Neigungen gehabt« (L.C., S. 287); »Ich hatte die

ausgepragtesten Neigungen fUr Naturwissen-

schaften und Mathematik« (L.C., S. 201).

1904 A nto nio G ra msc i ab solv ie rt d ie G ru nd sc hu le u nd

arb eitet d onn als B iiro die ner im K ata ste ram t. D er

Vater wird 1904 ow dem Gefi,ingnis entlassen.

A ntonio gehl m il 15 I ah re n in s d ritte G ym na sia l-

jahr.

12

Ein Dorf, 18 km von Ghilarza entfernt, wo

Gramsci - so scheint es - dank seiner Schwestern

das Gymnasium besuchen kon~te. Sie.verwand-

ten die Einnahmen fU r die inHelmarbeit angefer-

tigten Strickarbeiten zum Unterhalt fUr den

Gymnasiumbesuch des Broders.

Santa

LuSI IUq iU

13

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Antonio geht mit 18Jahren in die Stadt Cagliari, 1911

um dort sein Gymnasium zu beenden. Er lebta r m -

Iich: »Zuerst trank ich morgens nicht einmal mehr

das bif3chenKaffee, dann schob ich das Mittages-

sen hinaus und sparte so das Abendessen. Acht

Monate lang af3ich nur einmal am Tag und am

Ende desdritten Oberstufenjahres befand ichmich

in einem Zustand schwerer Unteremdhrung.« 1m

Alter von 20 Jahren macht Gramsci sein Abitur.

Er besteht dieAufnahmepriifung fur einStipendiat

an der philosophischen Fakultdt der Universitat

Turin; er lernt dort fluchtig einen anderen Kandi-

daten, Palmiro Togliatti, kennen. Das Stipendium

reicht kaum zum Leben.

Gramsci kommt 1911 als Stipendiat der Universi- Turin

Hit nach Turin und schreibt sieh in Literaturwis-

senschaft ein. 1m selben Jahr veroffentlicht Goz-

zano »1colloqui« und die Stadt fiihrt eine allge-

meine Ausstellung durch. Es ist sieher reiner Zu-

fall , aber in Turin kreuzen sieh in jenem Jahr der

Sozialismus auf der Suche nach seiner Reife, die

leisen Anzeichen von dekadentem Bewu8tsein

und die Starke der aufsteigenden Industrialisie-

rung.

Gramsci kiimpft wdhrend seiner gesamten Turiner 1913

Studienzeit mit schweren Krankheiten, die ihm

oftmals selbst unter grof3tenAnstrengungen nicht

erlauben, seine Priifungen rechtzeitig abzulegen,

was jedesmal die Unterbrechung der Stipendien-

zahlung und damit wirtschaftliche Not zur Foige

hat. Er befreundet sich in Turin mit Angelo Tasca,

Palmiro Togliatti und Umberto Terracini, junge

und auf3er Togliatti damals aktive Sozialisten.

Gramsci schreibt Artikel fUr die Wochenzeitung

der Turiner Sozialisten II Grido del popolo

(Volksstimme) und fUr die Turiner Lokalseite der

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sozialistischen Tageszeitung Avanti! (Vorwdrts),

deren Chefredakteur damals Benito Mussolini

hiefJ. Irgendwann im Jahre 1913 tritt Gramsci in

die italienische sozialistische Partei (partito socia-

191.5 listo Italiano, PSI) ein. In Europa entbrennt 1914

der erste Weltkrieg. Etwa ein Jahr danach bricht

Gramsci sein Universitatsstudium ab; er arbeitet

als journalistischer Mitarbeiter bei II Grido del

popolo und Avanti! und wird wegen seiner

Krankheiten nicht eingezogen. Seine Leitartikel,

Kommentare und Essays erscheinen jetzt regelma-fJig und werden wegen der klaren Argumentation

und dem sprachlichen Ausdrucksvermogen, das

die sonst iibliche bombastische Rhetorik vermei-

det, beachtet. Neben der Redaktionsarbeit, neben

Nachhilfeunterricht zur Aufbesserung seines Ge-

halts geht er hiiu/ig als einfaches Parteimitglied in

die Arbeiterviertel Turins, um in den Preizeitstdt-

ten Vortriige ZU halten und mit den Arbeitern zu

diskutieren; die Themen reichen vom Krieg bis zur

Beurteilung eines neuen Theaterstiicks. Gramsci

entwickelt in dieser Zeit seine Kritik an dem bor-

nierten und plumpen Antiklerikalismus, der vielen

1917 Sozialisten eigen war. Die im Februar ausbre-

chende russische Revolution und der spdtere Sieg

der Bolschewiki prdgt die Diskussionen in den Ar-

beiterparteien Europas und verstdrkt unter den

lohnabhiingigen Massen der kriegfUhrenden Ldn-

der den Wunsch nach Frieden. FUrGramsci be-

ginnt mit dem Sieg der Partei Lenins zugleich eine

zentrale langjiihrige Beschii/tigung mit der Frage,

warum die Strategie un d Taktik der Bolschewiki

erfolgreich war und ob dieselbe Taktik auch in

entwicke lt en kapita li st is chen Ldndern zur al te rna-

tiven Hegemonie der arbeitenden Klassen fUhren

kbnnte. Die Tatsache, dafJim rUckstiindigen RufJ-:

land die proletarische Revolution siegte, wdhrend

siein den entwickelten kapitalistischen Metropolen

16

bis dahin ausgeblieben war, kommentierte

Gramsci zunachst damit, dafJauf praktische Weise

eine einseitige Auffassung des Marxismus wider-

legt sei: »Die Revolution der Bolschewtki ist die

Revolution gegen das Kapital von Karl Marx.«

Spdter, in den Gefangnisheften, korrigierte und

erweiterte er die aufgeworfene Fragestellung; in

den Termini »Bewegungskrieg« und »Stellungs-

krieg« fafJte er das Problem, dafJ die gegen den

russischen Zarismus gerichteten revolutioniiren

politischen Strategien unwirksam sind, wenn sieeiner entwickelten biirgerlichen Gesellschaft und

dem modernen dif/erenzierten Staat gegenuberge-

stellt werden; Gramsci sah sich in dieser Frage

nicht als Kritiker, sondern als FortfUhrer Lenin-

scher Ilberlegungen: »Mir scheint, Lenin hatte

verstanden, dafJ eine Wende vom Bewegungs-

krieg, der 1917 im Osten erfoglreich war, zum

Stellungskrieg, als dem im Westen einzige mogli-

chen, notig war.. , Nur hatte Lenin nicht die Zeit,

seine Formel zu vertiefen«.

Wenige Monate nach Ausbruch der Revolution

in RufJland entbrennen in Turin Barrikaden-

kiimpfe der Arbeiter; die Arbeiterbewegung von

Turin ist des sinnlosen Krieges iiberdriissig und

liifJtsich aufgrund von Lebensmittelmangel und

Kriegsrecht in den Fabriken zum Kampfverleiten,

dem diepolitische Zielrichtung und FUhrungfehlt.

Mlitiirschliigt denAufstand blutig nieder, fast aile

Punktiondre der Turiner PSI-Sektion werden ver-

haftet. Grasmci wird zum Sekretdr des provisori-

schen Exekutivkommitees der Turiner Sektion

gewahlt und iibernimmt damit zum erstenmal lei-

tende Parteifunktion. Nach der Verhaftung des

zwelten Redakteurs /Uhrt Gramsci II Grido del

popolo allein und macht aus der kleinen Propa-

gandazeitschrift eine Wochenzeitung des kulturel-

len und intellektuellen Lebens. Das »kleine Forum

17

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sozialistischer Kultur«, wie Gramsci esnennt, wird

im Oktober 1918 eingestellt.

1919 Der Krieg ist zuende; mit der Riickkehr der Sol-

daten aus dem Feld und der Riicknahme von Ver-

haftungen wegen des Turiner Aufstands normali-

siert sich das Parteileben des PSI in Turin;

Gramsci gibt sein provisorisches Parteiamt abo

Vom Krieg zuriickgekehrt sind auch die Freunde

Tasca, Terracini und Togliatti. Mit ihnen griindet

Gramsci, noch immer Redakteur des Avanti!, die

Zeitschrift L'ordine nuovo (Die neue Ordnung},Uber die politischen Motive der vier Verleger ur-

teilt Gramsci spdter kritisch: »Das einzige Gefiihl,

das uns verband ... war die vage Leidenschaft filr

eine vage proletarische Kultur; wir hatten einen

ungeheuren Aktionsdrang, fUhlten uns eingeengt;

ohne ein prdzises Ziel erlebten wir die Umbruch-

stimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit, als

der Zusammenbruch der italienischen Gesell-

schaft bevorzustehen schien.«

l'Ordine DUOVO Die sozialistische Wochenzeitung, die am 1.Mai

1919 in Turin zum ersten Mal herausgegeben

wird, beginnt unter folgendem Motto: »Lernt,

denn wir werden eure ganze Intelligenz brauchen.

Agitiert, denn wir werden all euren Enthusiasmus

brauchen. Organisiert euch, denn wir werden

eure ganze Starke brauchen.« Gramsci ist Redak-

tionssekretar, Die letzte Nummer erscheint am

24. Dezember 1920, aber am 1.Januar 1921 wird

die Herausgabe der Zeitung als Tageszeitung

wieder aufgenommen. Gramsci ist Chefredakteur

und das Motto der Zeitung lautet: »Die Wahrheit

sagen ist revolutionar.« Ab 1. Miirz 1924 er-

scheint die Zeitung vierzehntagig,

Dazu hat Gramsci spater geschrieben: »Als wir

im April 1919 zu dritt oder viert oder zu funft

(... ) entschieden haben, mit der Herausgabe der

18

e O IU l I N E N U O D O__ ..a_f·_

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_ .--'JIr'i"otnO o••-.c.

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La cooquista ddo Stato•••• It~

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19

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Zeitschrift -Ordine nuovo- zu beginnen, dachte

niemand von uns (vielleicht uberhaupt niemand)

daran, das Gesicht der Welt zu verandern, die

Gehirne und Herzen einer Vielzahl von Men-

schen zu emeuem, in eine neue historische Pe-

riode einzutreten.«

1919/~O l'O rdin e n uovo in itiierte m it einem von G ram sci

u nd T og lia tti g esc hrieb en en A rtikel iib er » Ar bei-

terdem okratie« die F ab rikriite-B ew eg ung in T u-

rin . D ie W ah l v on b etrieb sin tern en V ertr etern d erA rbeiter breitete sich au sgehend vom gropten T u-

rin er F IA T- W erk in der In dustriesta dt rasch aus,

aber d er po litische Z weck dieser B ew eg ung blieb

im P SI u mstritten u nd ih re U n te rstia zu ng erfo lg te

nicht m it der ganzen K raft der P anel; d ie F abrik-

r iu eb ew eg un g s ei be r b lie b aU f w en ig e in du str ia li-

sierte Z en tren b esch riin kt. U b er d ie G ru nd fra gen

sozialistischer Taktik war der PSI inzwischen in

S tro mu ng en b zw . F ra ktio ne n z erstritten ; d ie u nter

d er FUh rung Bo rd ig a s s te he nd e, d ie r ef orm is ti sc he

Linie kritisierende Fraktion forderte offen die

Spaltung un d die G riindun g einer zur K om in tern

g ehOr ig en K ommu nis ti sc he n P ar te i. G rams ci h ie lt

die G riindu ng einer P artei vo n » reinen« R evo lu-

tio nd re n fU r e in e g efiih rlic he »H allu zin atio n« u nd

wollte den Reformismus des PSI durch eine Er-

neuerung der P artei vo n innen bekiim pfen. N ach

der Niederlage der Turiner Bewegung, die

G rams ci d ar au f z ur uc kfid ute , d ap » die S oz ia lis ti-

sche Partei nun mal das war, was sie war, und die

A rbeiterkla sse alles rosig sah und lieber Lied er

u nd Fanf ar en hone, a ls O pfer zu b rin gen «, a kz ep -

tiert G ra msc i p lo tz lid : d ie U n verm eid lich keit d er

Spaltung, »Es war e ld ch er lic h, iib er e tw as z u j am -

mem, w as nich t m ehr zu dndem ist. D ie K omm u-

nisten kiin nen und m iissen kiihl u nd gela ssen a r-

g um en ti er en ; w en n a ll es in A uflO su ng b eg riffe n is t,

20

dann m up eben alles w ieder a ufgeb aut w erden , d ie

Partei mup erneuert werden. Von nun an mlissen

w ir die komm unistische Fraktion als eine echte

K ommu nistis ch e P artei seh en u nd sch dtzen , a ls so -

lid es G eriist der K om mun istischen P artei Itali-

ens.« Auf dem 17. Parteitag des P SI im Januar 1921

1 921 in Livorno wird die Partei gespalten; die

M in derh eit grundet u nter B ordiga s F iihrung die

K ommu nistisch e P artei ltaliens. D ie G riin du ng

d ieser S ekte, s o u rteilt G ra ms ci sp dter, w ar zu d ie-

sem Z eitpunkt »ohn e Z weifel der gro pte T rium phde r Reakt ion« .

G ra msci ist M itg lied d es Z en tra lko mm itee s d er

P artei; d ie Z eitu ng l'O rd in e n uo vo w ir d T ag esze i-

tu ng u nd o ffiz ie lle s P ar te ib la tt, d as d ie M e hr he its -

lin ie v on B or dig a v er tr itt. 1922 w ird G ra msc i zu m

Vertreter der KPI beim Exekutivkommitee der

K om in te rn in M o sk au n om in ie rt; e r v er liip t I ta lie n

fU r zw ei J ah re . I n ein em M oska uer N er ven sa na to -

rium , in das er sich w egen aku ter psych ischer SW -

r un ge n b eg ib t, l er nt G rams ci d ie P atie ntin E ug en ia

Schuch t kennen , die sein e F rau w ird . A ber sie w er-

den bald getrennt: Gramsci kehrt iiber W ien nach 1 92 4

Ita lien zuriick, nachdem die K PI p raktisch fiih-ru ng slo s g ew ord en w ar. D ie A bs etzu ng d es s ektie-

rerischen Kurses unter Bordiga durch eine von

T og liatti zogernd repriisen tierte P olitik der Z u-

sam men arbeit m it d en So zialisten w ar zu spat ge-

kom men; sowohl Bord iga als nun auch Togliatti

u nd v iele a ndere F U hru ngskrafte w aren in die G e-

fa ng nisse d er ita lien isch en F asc histe n g ew orfen

w or de n; d ie M a ss e d er P ar te im itg lie de r o rie ntie rt e

sich noch im mer an den revolutiondren Phrasen

d es a bg ese tzten P artelfU h rers B ord ig a. G ra msci,

den die Immunudt eines Parlamentsmandats zu-

n iichst vo r V erfolgun g schutzt, ern euert die Z ei-

tung I'ord ine nuov o u nd die da rum sich gru ppie-

r en de n D is ku ss io ns ru nd en u nd k ultu re lle n Z ir ke l;

21

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in der Partei ist er noch in der Minderheit.

1925 Die Unterdriickung der Demokratie in Italien

durch Mussolinis [aschistische Bewegung wird im

Laufe des Jahres 1925 immer offener, die Zer-

schlagung von freien Organisationen und person-

liche Repression waren an der Tagesordnung. In

dieser Situation, die wie Gramsci schrieb, den

Kommunisten nur chaotisches und zusammen-

hangloses Arbeiten erlaubte, sollte der3. nationale

Parteitag der KPI stattfinden und - nach den Vor-

stellungen Gramscis und auch der Komintern - dieverhdngnisvoll sektiererische politische Linie

Bordigas durch eine realistischere Politik des

Kampfes gegen den Faschismus endlich ersetzt

werden. Das Thesenpapier fur diesen Parteuag

wurde von Gramsci und Togliatti ausgearbeitet; es

stellte das Problem der Gewinnung von Verbiin-

deten der Arbeiterklasse im Kampf gegen die fa-

schistische Repression in den Vordergrund. Die

Thesen wurden aUf dem Parteitag, der aufJerhalb

Italiens in Lyon stattfand, mit grofJerMehrheit an-

genommen. Wiihrenddessen zerschldgt Mussolini

die sozialistische Partei Turatis, verbietet ihre

Presse und zwingt viele Sozialisten und Liberale

zur F/ucht insAusland. Auch Gramscis FrauJulio,

1926 die mit dem inzwischen geborenen Sohn Delio seit

einem Jahr in Rom wohnte, gebar den zweiten

Sohn aufJerhalbItaliens und floh mit den Kindem

nach Moskau zuriick. Gramsci schreibt in diesem

Jahr die Schrift iiber die Siiditalienische Frage, in

der er zum ersten Mal zusammenhdngend einige

der Fragestellungen und Probleme entwickelt, die

Thema der spiiteren Gefiingnishefte sind. Schon

hier erweist sich Gramsci alsherausragender mar-

xistischer Theoretiker, aUf dessen Arbeiten iiber

Kultur und Politik in der biirgerlichen Gesellschaft

sich aile Marxisten heute krisisch oder zustimmend

berufen.

22

23

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Am 8.Novembe r w ird Gramsci t ro tz s ei ne rpa r-

l am en ta ri sc he n Immuni td t v er ha ft et ; Mu ss ol in i

ha ttes ich en tschlossen, nun auch diepar lamentari -

sche Fassade e inzure ipen und a i le oppos it ione llen

Pa rt ei en a us d em Par lame nt z u w er fe n u nd z u v er -bieten.

Muunutproze8 1m Jargon des antifaschistischen Untergrunds

• wurde so der ProzeB genannt, der am 28. Mai

1928 gegen Gramsci und die Fiihrungsgruppe der

Kommunisten vor dem Sondergerichtshof eroff-

net wurde. Darunter waren Terracini, Scocci-

marro und Roveda. In diesem ProzeB, den der fa-

schistische Propagandaminister Michele Isgro lei-

tete, sagte dieser, als ervon Gramsci sprach: »Wir

miissen diesem Gehirn fur 20 Jahre untersagen zu

funktionierene, Es gelang ihm nicht.

G rams ci w ur de zu e in er G efiin gn is stra fe v oniiber 20 Jahren verurteilt.

Turf In der Strafanstalt von Turi war Gramsci vom 19.

Juli 1928 bis zum 18. November 1933 in Haft.

Hier entstand der groBte Teil der Quaderni. Gu-

stavo Trombetti erinnert sich an den Tag der Ab-

reise aus Turi: »Begleitet von der Gefangniswa-

che begaben wir uns ins Magazin und packten dieSachen. Wahrend er wie vorher vereinbart die

Wache in ein >Schwatzchen<verwickelte, steckte

ich die 18handgeschriebenen Hefte inden Koffer

mitten unter die anderen Sachen.e Aber es waren

mehr Hefte: 21. Von Turi aus hatte Gramsci ge-

schrieben: »Ich lebe kaum und schlecht, eine tie-

rische und dahinvegetierende Existenz«. Doch

der Insasse Nummer 7047 war dabei, eines der

groBen Werke der zeitgenossischen Kultur zuschreiben.

24

Scrlttur. (aulografa) _ : : a . ~ . . . : ..~.I, ·

. . . . . . 1. . . . _ . . . . . . nn ....... fill•• _

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FU r eM. »( . .. ) Man miiBte etwas >rur ewige schaffen«,

schrieb Gramsci" an Tania von Mailand aus am

19. Marz 1927; »nun, ich mochte mich nach ei-

nem festumrissenen Plan intensiv und systema-

tisch mit einem Gegenstand beschaftigen, der

mich voll beansprucht und meinem Innenleben

eine Zielsetzung gibte (L.C., S. 58). Gramsci li-

stete vier Themenbereiche auf: 1. »eine Untersu-

chung tiber die Herausbildung des offentlichen

Geisteslebens des vorigen Jahrhunderts in Itali-

en, mit anderen Worten, eine Untersuchung tiber

die italienischen Intellektuellen.« 2. »eine Studie

tiber vergleiehende Sprachwissenschaft«; 3.

»eine Untersuchung tiber das Theater Pirandel-

los, tiber die Veranderung des theatralischen Ge-

schmacks wie ibn Pirandello reprasentiert und

mitbestimmt hat.« 4. seine Abhandlung tiber den

Trivialroman und den literarischen Geschmack

des Volkes.« Gramsci faBte zusammen: »Im

Grunde besteht ftir den, der genau hinsieht, zwi-

schen diesen vier Themenbereichen eine Homo-

genitat: allen liegt gieicherma8en die Frage nach

.dem volkstiimlichen kreativen Geist in seinen un-

terschiedlichen Phasen und Entwicklungsgraden

zugrunde«.

Das Projekt wurde mehrfach verandert, Am

( 17. November 1930 sehrieb Gramsci von Turi aus

;1 an dieselbe Schwagerin: »Ich habe mich auf drei

I oder vier Hauptthemen festgelegt. Eins davon ist

das tiber die kosmopolit ische Funktion, die die

italienischen Intellektuellen seit dem 17. Jahr-

hundert innehattene (L.C., S. 378). Und noch

einmal am 3. August 1931: »Eines der Themen,

das mich am meisten interessiert, war, einige cha-

rakteristische Gesichtspunkte in der Geschichte

der ital ienischen Intellektuellen festzuhalten.

• Gramsci schrieb .fUr ewig« im Original in deutsch

(Anm. d. Red.),

26

Dieses Interesse entstand auf der einen Seite aus

dem Wunsch, den Staatsbegriff zu fundieren und

auf der anderen, mir tiber einige Aspekte der hi-

storischen Entwicklung des italienischen Volkes

Rechenschaft abzulegen.« (L. C., S. 459f) Zwei

Vberlegungen sind erforderlich. Die erste betrifft

die Tatsache, daB das wesentl iche Augenmerk

der von Gramsci im Gefangnis durchgefuhrten

Studien deutlich auf eine griindliche Ausarbei-

tung des v~~denden MQ_m~!lj~&~Ij_!:htet_~ein

seheiIif,"welehes die herr.~cheI!<ie~!l~~L~!~~!~.-driickten:j{ja~~ ..~teinande[ verbiipdet (Q(kI

~icht verbundet) hat und wahrend der Zeit der

.Einigunidenitilienisehen Staat zusammenhielt.

Mit anderen Worten, wie Gramsci selbst in einem

Brief vom 7.September W-schrieb, ist die Un-

tersuehung tiber die_!ntellektuellen »als Vorha-

ben sehr umf~eic~ .....W.cluvd l . . ! . . tc luk.n . .B~-

·i~I~~~}I!!el~~~~n._d.Q9! sehr~rv :~! !~ !~_1~I ) .<1mich nieht auf den herrschenden ~~

auf"die··g;;;~.~j~.~~ii.e.ki\i~ii~~~~~~!t_~%.~~Iin:

ke«. Gramsci fiigt femer hinzu: »DieS(l.lJlltersu-

~~~~~a~!&;~~~~erd~~i7:! : : ·~._ _. b eg riff -.-., ~ , -. ...•

wird als p<>litisch~~~.!~t.j ..JUkta.turoder.~~~~~.Pj!:.a~ ..~~_~P.!!~~g_<!!!~_Y..°lks.~

massen an dell ..!~!Q!!l;I..ktiUDiQlpJ1S nnd d t t: Q k o -

nomie ~i~~~·geg~~1lc::11.SitwUion)...und,.nicht.als

Gleichgewicht V(m"'~mi~~l"y.ndJ!W,'g_c:!.!ifbe.r

Gesellschaft •• oder der Hegemonie einer sozia-

le~"'~ppe tiber die Gesamtgesellschaft einer

Nation, ausubt mittels sogenannter privater Or-

ganisationen wie Kirche, Gewerkschaften, Schu-

len usw.« (L. C., S. 481). Demnach, so konnte

man sagen, wollte Gramsci die Geschiehte der

versaumten politischen Einigung Italiens und die

..Zur begrifflichen Bestimmung von btirgerlicher Gesell-

schaft, vgl. das entsprechende Stichwort (Anm. d. Red.).

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trotz allem in der italienischen Gesellschaft auf-

rechterhaltene kulturelle Einheit untersuchen:

die Geschichte dessen, was die nationale Einheit

gebremst hat und dessen, was sie hatte beschleu-

nigen konnen und sie in der Perspektive auf eine,

durch die sozialistische Revolution erneuerte Ge-

sellschaft und einen erneuerten Staat hin be-

schleunigen kbnnte.

Die zweite Betrachtung betrifft das Schicksal

des um diesen Plan herum gesammelten Mate-

rials. Die im Gefangnis geschriebenen Hefte sol-len als Grundlagenmaterial dienen, um ein Werk

fUr ewig zu schreiben, aber der Tod bereitete die-

ser Arbeit Gramscis ein jahes Ende. Trotzdem

sind es gerade diese Hefte geworden, die sein

Werk fUr ewig bilden und denen gegenuber die

Welt zum Schuldner von Antonio Gramsci ge-

worden ist.

Quademi

del carcere

(Geflingnisbefte)

1m Gefangnis von Turi beginnt Gramsci am 8.

Februar 1929 mit dem Entwurf seiner Gefang-

nishefte, zwei Jahre und drei Monate nach der

Verhaftung. Er hat lange uber die Richtung sei-

ner Studien nachgesonnen, mit denen er versu-

chen wird, die Langeweile im Gefangms und die

Hoffnungen der Gefangniswarter zu besiegen. Er

hat viel gelesen: »Mehr als einen Band am Tag

neben den Zeitungene und trotzdem ist er »von

dem Gedanken gequalt, daB man etwas schaffen

mUBte>fiirew i g e « (L. C., S. 58)

Nach dem Tode Gramscis wurden die Manus-

kripte der 33 »Ouadernie von Tania Schucht auf

Anraten von Sraffa nach Moskau geschickt, wo

sie von Vincenzo Bianco, dem italienischen Ver-

treter in der Komintern, in Empfang genommen

wurden. Nach der Befreiung Italiens macht Felice

Platone in der Rinascita (April 1946) eine erste

detaillierte Besprechung daruber, 1948 beginnt

28

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die Veroffentlichung der sechsbandigen themati-

schen Ausgabe im Einaudi-Verlag:

II materialismo storico e la filosofia di Bene-

detto Croce; Gli intellettuaIi e I'organizzazione

della cultura; II Risorgimento; Note suI Machia-

velli, sulla politica e sullo stato moderne; Lettera-

tura e vita nazionale; Passato e presente.

Die kritische Ausgabe, herausgegeben von

Valentino Gerratana, erscheint 1975 im Einau-di-Verlag.

1933 Mit Hilfe interfUltionalerSolidaritdt erreieht es die

italienisehe Arbeiterbewegung, die Einlieferung

Gramscis in eine Privatklinik zu bewirken, Einige

Monate spdter gewahrt man ihm bedingte Haftaus-

setzung, Gramsei ist todkrank, aber er schreibt

weiter an den Gefangnisheften. Erst im Sommer1935 bricht seine Arbeit abo

Formi. Von Turi aus wurde Gramsci in eine Klinik nach

Formia verlegt, wo er von Dezember 1933 bis

zum 24. August 1935 in Haft bleiben wird. Noch

1936 erinnert er sich der Zugreise von Turi aus:

»Welch schrecklichen Eindruck empfand ich im

Zug nach sechs Jahren, in denen ich nichts als die-

selben Dacher, dieselben Mauern, dieselben fin-steren Gesichter gesehen hatte. Nun sah ich, da B

die weite Welt wahrend dieser Zeit weiterbestan-

den hatte mit ihren Wiesen, ihren Waldern, den

einfachen Menschen, den Kinderscharen, Bau-

men und Garten - aber vor allem, was fur ein

Eindruck, aIs ich mich nach so langer Zeit im

Spiegel erblickte: ich bin sofort in die Nahe der

Karabinieri zuriickgewichen« (L. C., S. 850).

1937 Gramsci sollte am 21. April aus der Haft entlassen

werden; seinen Plan zur Ruekkehr zu seiner Fami-

lie nacn Sardinien kann er nieht mehr durchfUh-

30

renoAntonio Gramsci stirbt sechs Tage spdter in

der Klinik »QuisisafUl« in Rom.

Zweimal spricht Gramsci explizit vom Tode. Zu- Tod

erst von der Strafanstalt Turi aus am 20. Mai

1929, als er an die Ehefrau schreibt: »Ich hatte

nie geglaubt, daB soviele Menschen eine so groBe

Angst vor dem Tod haben; trotzdem, gerade in

dieser Angst liegt der Grund fur viele psychologi-

sche Phanomene im Gefangnis, In ltalien sagt

man, da8 einer, der an den Tod zu denken be-ginnt, alt wird. Das scheint mir eine sehr ermah-

nende Beobachtung zu seine (L.cV., S. 275). Am

15. Dezember 1930 schreibt er, ebenfalls aus Turi

an die Mutter: »Seit vier Jahren bin ich gealtert .

Ich habe viele weiSe Haare, habe die Ziihne ver-

loren, ich lache nicht mehr vor Freude wie friiher.

Aber ich glaube, weiser geworden zu sein, meine

Erfahrungen mit Menschen und Dingen berei-

chert zu haben. Ansonsten habe ich die Lust am

Leben nicht verloren. Mich interessiert immer

noch alles und ich bin sicher, daB ich, selbst wenn

ich keine sgerosteten Saubohnen mehr knabberne

kann, wtirde ich dennoch kein Mi8faDen empfin-

den, andere sie knabbern zu horen. Ich bin also

nicht alt geworden, was meinst Du? Man wird alt,

wenn man den Tod zu fiirchten beginnt und Mi8-

fallen daran empfindet, die anderen das tun zu

sehen, was wir selbst nicht mehr tun konnene

(L. C., S. 388)

Die beiden Texte weisen einen wichtigen Un-

terschied auf. In dem ersten sagt Gramsci, daB

man anfangt alt zu werden, wenn man anfangt an

den Tod zu denken. 1m zweiten hingegen prazi-

siert er, daB man antangt alt zuwerden, wenn man

anfangt, den TodzufUrehten. Es steht in der Tra-

dition der groBen Denker, an den Tod zu denken,

ohne zu altern. Hingegen ist es ein Zeichen des

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IG R I D O D E L P O P O'-1" t.r ·"~~

' . , . . . _• •

ONIO GRAM SC I E ' M O

lif_lam. .".rt"lto......... ·.ltri com.,.

. . .-

Alters anzufangen, voller Furcht an den Too zu

denken. Es lieBe sich hinzufiigen, daB die Furcht

vor dem Too proportional zum Desinteresse am

Leben zu stehen scheint.

Gramsci starb am 27. April 1937 um 4.10 Uhr,

nachdem er stoisch gegen viele Krankheiten an-

gekampft hatte (Morbus Pott, Lungentuberkulo-

se, nervliche Uberreizung, Angina pectoris,

Gicht). Er war 46 Jahre altoDie Beerdigung am

folgenden Tag fand bei Gewitter statt. Dem Sarg

folgte nur eine Kutsche mit zwei Verwandten. Erwurde auf dem Englischen Friedhof hinter der

Porta Paolo und der Porta della Resistenza beige-

setzt. Uber sieh selbst schrieb er: »Ich mochte

nieht betrauert werden. Ich war ein Kampfer, der

im unmittelbaren Kampf kein Gluck hatte, und

Kampfer konnen und durfen nieht betrauert wer-

den, wenn sie nieht gezwungenerma8en gekampft

haben, sondern es selbst bewu8t gewollt haben«

(L. C., S. 469). Gramsci war der gro8te Italiener

seit Machiavelli.

33

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34

TeD 2

S tichworte zurGramsd-Lekti ire

Abstraktion

»Abstraktion wird immer die Abstraktion von einem historisch

bestimmten Begriff sein.« (0., S. 1276; M.S:, S. 340)

Asthetik

Es gibt keine bessere Kritik an der auf den Inhalt fixierten Asthe-

tik als diese lapidare AuBerung Gramscis: »Zwei Schriftsteller re-

prasentieren dasselbe soziale Moment, doch der eine ist ein Kunst-

ler, der andere nicht.« (0., S. 425)

Affenvolk

Vnter dem Titel »Affenvolk« erschien am 2.Januar 1921 imOr-

dine nuovo ein von Gramsci unterzeichneter Artikel, eine Analyse

tiber den» ZerfallsprozeB der Kieinbourgeoisie«, der am Ende des

19. Jahrhunderts begonnen hatte. Gramsci schrieb, daB »der Fa-

schismus die letzte > Vorstellungc der stadtischen Kleinbourgeoisie

auf der Biihne des nationalen politischen Lebens ist«: nachdem sie

mit der Entwicklung der GroBindustrie und des Finanzkapitals

»jede Bedeutung« verloren hat, »sucht sie mit allen Mittein, ihre

Position zur historischen Initiative zu bewahren: siemft die Arbei-

terklasse nach und geht auf die Stra6e«. Wie jede soziale Schicht,

die ihrer Funktion entleert ist, wird die Kleinbourgeoisie vom Fa-

35

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schismus mitgerissen und instrumentalisiert, der sie sich zur Stutze

macht: »Das Affenvolk fullt die Chronik, schafft aber keine Ge-

schiehte, hinterlabt keine Spuren in der Zeitung, hat keinen Stoff

anzubieten, tiber den man Bucher schreiben konnte.« (S. P., S.

389 ff). Aber es ist anzumerken, daB das Affenvolk qualitativ zwar

unbedeutend ist, quantitativ aber au6erst relevant; und esverbrei-

tet und reproduzier t sich mit gro6er Geschwindigkeit; denn als

Kleinbtirge~ wird man nieht nur geboren, man wird es.

A1Itagsbewu8tsein»Sich auf das AlltagsbewuBtsein (senso comune, A. d. 0.) als

Probe der Wahrheit zu beziehen, ist ein Nonsens (non senso,

A. d. 0.)« (0., S. 1399; M. S., S. 153), weil »das Alltagsbewu6t-

sein eine zwiespaltige, widerspruchliche Auffassung ist« (0., S.

1399; ibidem). Apologetik gegentiber dem AUtagsbewuBtsein ist

also Apologetik gegeniiber dem Zwiespaltigen oder genauer, ge-

genuber dem Zwiespaltigen, das darin besteht, intellektueUe

Wahrheiten mit nieht-intellektueUen Kriterien zu ergriinden. Der

historische Charakter intellektueller Wahrheiten bedeutet nicht

daB diese nicht-intellektueUe Wahrheiten seien. '

Arbeiter-Assoziationen

Gramsci schreibt, »die Arbeiterassoziation kann und muB als we-

sentlieher Faktor der proletarischen Revolution aufgefaBt wer-

den« (0. N., S. 14). In demMa6e aber, wiedie proletarischen Le-

bensbedingungen die allgemeinen Lebensbedingungen des mo-

dernen Menschen darsteUen, mu6 die Assoziation als der wesent-

liche Faktor der modernen Freiheit betrachtet werden. Es ist wich-

tig, daran zu erinnern, daB die burgerliche Revolution die politi-

schen Assoziationen ihrem Wesen nach verurteilt (Gesetz Le Cha-

pelier)*, und daB der biirgerliche Staat als Gesarntheit das Pha-

.• ~as ?esetz LeChapelier verbot 1791 imFrankreich der burgerlichen Revo-lution jegliche Form der Assoziation. Anm. d. Red.

36

nomen mit Feindseligkeit betrachtet, selbst wenn er es hinnimmt

und toleriert.

Individuelle Freiheiten werden nicht als Freiheit des Sieh-Ab-

sonderns verstanden, sondern als Freiheit, sieh individuell inner-

halb der sozialen Gemeinschaft zu artikulieren. Es erscheint also

klar, daB das Eigentumsrecht nieht organischer Bestandteil einer

Theorie der modemen Freiheit sein kann, da das Eigentumsrecht

imWesen ein Ius excludendi alios darstellt: eine Freiheit, sich un-

ter Ausschluf der GeseUschaft hinter einem Privileg zu verschan-

zen. Die SchluBfolgerung daraus aber lautet, daB diese die einzige

(schrittweise) auszuschlie6ende Freiheit innerhalb einer neuenGesellschaftsordnung ist. Alle anderen biirgerlichen und politi-

schen Freiheiten, die die gesellschaftliche Artikulation und politi-

sche Ausfaltung des Gemeinwesens erlauben, ohne es zu zersto-

ren, sollten als Gesamtheit in eine sozialistische Verfassung aufge-

nommen werden. Hingegen ist es vorgekommen, daB das »sektie-

rerische Denken« (vgl. das entsprechende Stichwort) des Sozia-

lismus davon ausging, daB es, urn die Freiheit der privaten Aneig-

nung auszuschlieBen, notwendig ware, jede formale (politisch-

rechtliche) Freiheit auszuschlie6en, urn sie durch die gesellschaft-

liche Freiheit zu ersetzen. So, als ware die Gesellschaft dann nicht

aus Individuen zusammengesetzt!

Atheismus

»Der Atheismus ist eine rein negative und unfruchtbare Forme

(0., S. 1827; M. S., S. 129), denn er ist eine noch untergeordnete

oder rein polernische Form. Das hatte bereits Marx angemerkt, als

er schrieb: »Der Atheismus ... hat keinen Sinn mehr, denn der At-

heismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Nega-

tion das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialis-

mus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von

dem theoretisch und praktisch sinnlichen BewufJtsein des Men-

schen und der Natur als des Wesens.« (Okonomisch-Philosophi-

. s che Manuskripte von 1844, MEW Erganzungsband I, S. 546,

Berlin [DDR] 1968.)

37

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Biirokratie

»Die Burokratie ist die gefahrlichste der gewohnheitsmiiBigen und

konservativen Krafte.« (0., S. 1604; MACH., s. 63) Gefahrlicherals die Burokratie der anderen ist demnach nur die eigene.

CaporaHsmus*c

»Befehlen urn des Befehlens willen, das ist Caporalismus.« (0., S.

968; MACH., S. 193). Und dennoch miissen Befehle erteilt wer-den, »damit ein Zweck erreicht werde«; d. h., man muB befehlen,

urn einem Zweck zu gehorchen und sowerden die anderen gehor-

chen, urn zu befehlen: »Im Gehorsam liegt immerein Befehlsmo-

ment und im Befehl ein Moment des Gehorsams« (ibidem).

Gramsci driickt das so aus: »Der Befehl ist eine Funktion« (0., S.

969; ibidem) Darum gebuhrt nur dem der Befehl, der beabsieh-

tigt, mit der Befehlsfunktion SchluB zu machen.

• Eine hierarchische Fiduungsstruktur; Anm. d. Red.

Demokra tie , p o6tis ch e

»Die -politische Demokratie- tendiert dahin, Regierte und Regie-

rende zusammenfallen zu lassen.« (0., S. 501) In dieser Tendenz

liegt die Moglichkeit begriindet, daS sich die Perspektive fur den

Sozialismus offnet.

Destmkt ion

Viel zu haufig »wird Destruktion ganz mechanisch aufgefaSt und

nicht als Destruktion-Rekonstruktion« (0., S. 1612; MACH., S.

44 f). Destruktion so aufgefaBt, bedeutet jedoch im allgemeinen

ein historisches Versagen: »Es ist nieht wahr, daB jeder, der -zer-

stort., zerstoren wille (0., S. 708; P.P., S. 206). Haufig endet der-

jenige, der in der Politik nur zerstorerisch wirken will, selbst zer-

38

.1

.• I

, I

I

stort: »Viele der angeblichen Zerstorer sind nichts anderes a 1 s

>Beauftragte fur versaumte, miBlungene Werke- und strafbar nach

dem Gesetzbuch der Geschichte« (ibidem; P. P., S. 206 f). Die

einzig sichere Form wirklicher Zerstorung ist die, etwas zu schaf-

fen: »Man zerstort, indem man etwas schafft« (ibidem; P. P., S.

206). SoreIsMythos der zweckmiiBigen Gewalt, d. h. der Destruk-

tion, die als solehe eine moralische Regenerierung sei, ist vollig

falsch. Mit einem solehen Mythos kann sich lediglich ein Nihilist

oder Asthet zufrieden geben. Auf der anderen Seite wachst die

Notwendigkeit der konstruktiven Destruktion im Verhaltnis zu

dem Wesen und dem historischen Wert derjenigen Konstruktion,die zerstort werden solI.

Dialekt

In einem Land wie Italien, das soviele Dialekte hat und eine wenig

populare Landessprache, schlagt Gramsci ein aufmerksames und

offenes Studium der volkstumlich-dialektsprachlichen Realitat,

aber auch eine groBe Initiative zur Oberwindung der Situation vor.

In der Tat, »wer nur Dialekt spricht oder die Landessprache in ge-

ringerem MaBe versteht, beteiligt sich notwendigerweise in einer

mehr oder weniger beschrankten oder provinziellen, versteinerten

und anachronistischen Weise an der Erfassung der Welt im Ver-

haltnis zu den groBen gedanklichen Stromungen, die die Weltge-

schichte beherrschen«, sodaS »seine Interessen beschrankt, mehr

oder weniger korporativistisch sein miissen, keine allgemeinen

sein werden« (0., S. 1377; M. S., S. 5). Nur populistische Dema-

gogie kann die historisch-kritische Aufmerksamkeit gegenuber

dem Dialekt in seine Verherrlichung verkehren, nur aristokrati-

scher Asthetizismus kann dem Volk die Bedeutungslosigkeit der

Nationalsprache vorspiegeln.

Diplomat ie

»Die Italiener haben die moderne Diplomatie begrundet.« (0." S.

904); INT., S. 85). Und so haben sie leider auch den diplomati-

schen Geist mitbegriindet.

39

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EUte

Gramsci ist der subtilste Kritiker der Theorie politischer Eliten,

wie sie insbesondere von Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto auf

den Punkt gebracht worden ist, der aber bereits die moderne

Staatstheorie vom reprssentanven, liberalen Staat zugrunde lag

(Locke, Kant, Humbold, Constant). Gramsci eroffnet erneut die

Diskussion tiber die Moglichkeit der »Wiedereinglied~rung« des

politischen Lebens in das Alltagsleben. Er zieht die Trennung von

Regierten und Regierenden als notwendig dauerhafte und theore-

tisch nicht diskutierte in Zweifel und deckt demgegenuber ihren

provisorischen Charakter auf, insofern sie namlich der atomisti-

schen Struktur der biirgerlich-kapitalistischen Gesellschaft dien-

lich ist. Darum lenkt er bestandig die Aufmerksamkeit sowohl auf

die Herausbildung einer Elite als Avantgarde, die verbiindet ist

mit dem gesamten historischen Block, wie auch auf die eigenstan-

dige Entwicklung der Massen. Er schreibt: »Es handelt sich, das ist

wahr, darum, an der Herausbildung einer Elite zu arbeiten. Diese

Arbeit aber dart nicht losgelost sein von der Aufklarungsarbeit

unter den breiten Massen, im Gegenteil, beide Aktivitaten stellen

eigentlich nur eine einzige Aktivitat dar und gerade das erschwert

das Problema (0., S. 892). Tatsachlich geht es darum, eine Elite

herauszubilden, die sich nieht als Elite fiihlt und stattdessen die

Massen anleitet, sich seIber zu fiihren und damit eine historische

Situation zu schaffen, in der der Unterschied zwischen Elite und

Masse hinfallig wird.

Engels

»Natiirlich sollte der Beitrag von Engels nieht unterbewertet wer-

den, doch soUte man Engels auch nieht mit Marx gleiehsetzen.

Man soli nicht glauben, daB all das, was Engels Marx beigefiigt hat,

absolut authentisch sei.« (0., S. 420) Und trotzdem werden die

Werke von Marx und Engels noch immer zusammen publiziert,sogar in kritischen Ausgaben.

40

Expe rim en teU e Me tho de

»Die Durchsetzung der experimentellen Methode trennt wirklich

zwei Welten in der Geschichte voneinander, und es beginnt die

Zersetzung von Theologie und Metaphysik und die Geburt des

modernen Denkens.« (0.,S.473) Die von gewissen Laizisten und

Marxisten entfachte Polemik gegen die Wissenschaft ist somit

kaum oder gar nicht zu verstehen. Sie bevorzugen gegeniiber der

Methode der experimentellen Wissenschaft die spekulative Me-

thode, die so manches Mal unter dem Deckmantel von Dialektik

prasentiert wird.

Feind

In der Politik spricht man haufig von der »Hand des Feindes«, was

oft als Alibi der eigenen Unfahigkeit dient. Gramsci sagt: »Wenn '

ein Feind dir Schaden zufiigt und du dich dariiber beklagst, bist du

ein Dummkopf, denn es ist den Feinden eigen, Schaden zuzufii-

gen. Wenn dir aber ein Freund Schaden zufugt, ist dein Groll be-

rechtigt« (0., S. 1809; P. P., S. 93)

Folk lore

Der traditionellen Auffassung von Folklore als einem bizarren

oder »pittoreskene Moment, setzt Gramsci die Notwendigkeit

entgegen, »sie als eine )Welt- und Lebensanschauunge zu untersu-

chen, die bestimmte Schiehten (bestimmt in Raum und Zeit) der

Gesellschaft umfabt« (0., S. 2311; L. V. N., S. 267). Diese Neu-

bewertung der Folklore als Gegenstand der Wissenschaft bedeutet

durchaus keine Verherrlichung der Folklore (wie behauptet wur-

de). Die Folklore steht eigentlich in enger Beziehung zum »AII-

tagsbewu8tsein« oder zur »philosophischen Folklores und konsti-

tuiert eine »nicht nur nieht ausgearbeitete und unsystematische

Weltanschauung (... ), sondern dagegen auch eine sehr vielfalti-

ge « (0.,S. 2312;L. V. N., S. 268). Sie beinhaltetunterschiedliche

Schichtungen und stellt sich dar als »ein verworrenes Konglomerat

aus Bruchstiicken aller Welt- und Lebensanschauungen, die die

41

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Geschichte durchlaufen haben, von denen sieh groStenteils allein

in der Folklore abergHiubische, sturnme und charakteristische

Dokumente finden« (ibidem). In diesem Zusammenhang und im

Gegensatz zum Nationalen, »nahert sich das Folkloristische dem

-Provinziellen. « (0., S. 1660); P.P., S. 10). Eine neue Kultur wird

»die Trennung zwischen moderner und volksttimlicher Kultur

oder Folklore« (0., S. 2314; L. V. N., S. 270) aufheben mtissen

und der Kultur der Massen dazu verhelfen, die Ebene einer kri-

tisch-systematischen Anschauung zu erreichen. Gramsciist alles

andere als ein Populist!

FreiwiDigkeit

Die Geschichte Italiens ist voller »Freiwilliger«: von den Schick-

salsbanden tiber die »Garibaldikiimpfer« bis hin zu den »Tapfe-

ren«. Aber »es ist anzumerken, daBdie Freiwilligkeit bei allem hi-

storischen Wert, der nicht gemindert werden soli, ein Surrogat fur

das Eingreifen des Volkes gewesen ist, und in diesem Sinn ist es

eine KompromiSlosung bei Passivitat der nationalen Massen.

Freiwilligkeit und Passividit gehoren enger zusammen als man

denkt« (0., S. 1999; R., S. 206). Ineiner Zeit dergroBen Verherr-

lichungen von »Avantgarden« (literarische oder politische) er-

kennt Gramsci also die Bedeutung der organischen Verkntipfung

von Avantgarde und Masse, die der ersten einen dauerhaften hi-

storischen EinfluB vermittelt und der zweiten Raum gibt fur aktive

Initiative und Wachstum. Er unterstreicht wegen der Grenzen derAvantgarde die Tatsache, daB, »um dauerhafte Geschichte zu ma-

chen, die -Besten. nicht ausreichen, es bedarf der breitesten und

zahlreichsten national-volksttimlichen Kriifte« (ibidem; R., S.207).

Fiihnmgskriifte

»Um Ftihrungskrafte herauszubilden ist diese VorkUirung grund-

legend: will man, daB es immer Regierte und Regierende geben

soli, oder will man Bedingungen schaffen, unter denen die Not-

wendigkeit des Bestehens einer solchen Unterscheidung ver-

schwindet?« (0., S. 1752; MACH., S. 21) Der FUhrer, der sich fur

42

die erste Alternative entscheidet, befiehlt, fuhrt aber nieht. Derje-

nige, der die zweite wahIt, befiehlt nicht, sondern fuhrt, Der au-

thentische Fuhrer last sich durchaus nicht mit einem Machthaber

gleichsetzen, weil er gieichzeitig ein theoretisches Programm aus-

zuarbeiten hat. Andererseits kann ein Machthaber, der tiber kein

plausibles theoretisches Programm verfiigt, tiber kurz oder lang

die Macht verlieren. Darum also »kann die Herausbildung von

Fuhrungskraften nieht dort vonstatten gehen, wo es an theoreti-

scher, doktrinarer Tatigkeit der Parteien mangelt« (0., S. 387;

P. P., S.78). In solchem Fall ist Fuhrung nur Befehl und wahrt so-

lange, wie die anderen gehorchen. Unterdessen wird die intellek-tuelle Hierarchie durch die Burokratie ersetzt (0., S. 388; P. P., S.

79). Nieht zufallig definiert Gramsci den FUhrer durch die Formel

»Spezialist + Politiker« (vgl. das Stichwort); wird von dem intel-

lektuellen Spezialisten gefordert, auch Politiker zu sein, so wird

von dem intellektuellen Politiker ebenfalls veriangt, auch Spezia-

list zu sein. Nur so kann vermieden werden, daB Politik wieder zu

burokratischer Macht und zu formalem Wissen wird, wahrend die

Kultur fortfahrt, »reales Wissen« ohne Macht zu sein.

FUrst ,* modemer

»Der moderne FUrst (... ) kann nur ein Organismus sein« (0., S.

1588; MACH., S. 6), aber das heiSt nieht, daS ein beliebiger Or-

ganismus der moderne Furst sein konnte. Er »muS und kann n~r

der Verkiinder und Organisator einer intellektuellen und morali-

schen Reform sein« (0., S. 1560; MACH., S. 9) auBer der politi-

schen; denn die politische Reform, die er zu erjullen hat, muS in

die Tiefe gehen. Also nur »der FUrst nimmt inGedanken den Platz

der Divinitat und des kategorischen Imperativs ein, er wird die Ba-

sis eines modernen Laizismus und einer kompletten Verweltli-

chung des ganzen Lebens und aller sittlichen Beziehungen« (0., S.

1561; ibidem). Urn also das ganze Leben zu verweltlichen, muB

der moderne FUrst verweltlicht werden. Ansonsten besteht das Ri-

• IIprincipe, ein Begriff, den Gramsci ausdem gleichnamigen Hauptwerk Nic-

colo Machiavellis iibernimmt (Anm. d. Red.)

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siko, daB der Fiirst umgeben bJeibt von theoJogisehem Denken

und abstraktem Asthetizismus und er den VerweJtJiehungsprozeB

nur bremst. Man erinnere sieh, daBGramsci wahrend seiner Ma-

ehiaveHi-Studien bemerkt, daB »>Ftirst<sieh im modernen Spraeh-

gebraueh in -politische Partek ubersetzen JieBe« 0., S. 662;

MACH., S. 114). Es besteht aJsodie Gefahr, daB aueh die poJit i-

sche Partei wieder zu einem feudaJen Fiirsten wird: zu dem einzi-

gen, dem es nicht geJingt, die Fuhrung in der Gesehiehte zu tiber-

nehmen.

Gedank en Gr ams cis

Man miiBte etwas sehaffen »ftir ewig«.

In jedem im Entstehen begriffenen AugenbJiek gibt es einen

Kampf des RationaJen mit dem IrrationaJen.

In der PoJitik den Massen die Wahrheit zu sagen, ist eine poJiti-

sehe Notwendigkeit.

Ein Dummkopf kann nieht begreifen, daB er dumm ist.

Das Individuum ist kein Atom, sondern die gesehiehtliehe Indi-

viduaJisierung der gesamten GeseUschaft.

1st irren nieht mensehJieh?

Nieht das Denken aJs soJehes, sondern das, was man wirkJieh

denkt, eint oder seheidet die Mensehen.

AUes ist PoJitik.Die Natur des Mensehen ist die Geschiehte.

Ideen sind dann groB, wenn sie aktuaJisierbar sind.

Ohne Leidenschaft wird keine Geschiehte und Politik gemaeht.

Die Natter beiSt den SeharJatan oder besser gesagt, der Dema-

goge ist das erste Opfer von Demagogie.

Es ist einfaeher, eine Armee aufzusteUen aJs Offiziere heraus-

zubiJden.

Wenn die Eicheln eine IdeoJogie bes8Ben, dann ware das eben

die, sieh mit Eichen sehwanger zu fiihlen.

Die SeeJe rettet sieh nieht durch blofses Reden. Man braueht

Taten und wie!

Fiir die ProJetarier ist es eine Pflieht, nieht ungebiJdet zu sein.

Leidensehaftlieh zu sein, bedeutet, die Gabe zu besitzen, die

44

Leidensehaften der anderen zu entziinden.Man verdammt die Vergangenheit als Ganzes, wenn es einem

nieht geJingt, sieh von ihr zu unterseheiden. .

Zwei Sehriftsteller reprasentieren dasselbe soziale Moment,

aber der eine ist ein Kunstler, der andere nieht.

Aueh das Studium ist ein sehr anstrengendes Handwerk.

Der Kleinbiirger kann nieht aus seiner Haut.

Mangel an Selbstkritik bedeutet Unwillen, die Ursae~e.n des

Ubels zu beseitigen, und das ist ein Zeiehen groBer polit ischer

Schwache,Eine neue Entdeekung, die unwirksam bleibt, hat keinen Wert.

Die Belagerung ist in der Politik gegenseitig. .

Die Gegenwart enthalt die gesamte Vergangenhelt. .

Jeder Meister ist immer Schuler und jeder Schuler Meister.

Wissen ist Macht.Wenn ein Ratsel auftaueht, handelt es sieh nieht urn »uner-

kennbare« Dinge, sondern einfaeh urn unbekannte.

Die Freiheit maeht die Mensehen frei.

Intransigenz ist notwendige Folge von Charakter.

Eine Wahrheit ist fruehtbar, wenn es Anstrengung gekostet hat,

sie zu erobern.Marx hat das Vorhersehbare vorhergesehen.

Die Spaltung der mensehJiehen .Gattung kan~ nicht lange ~~-

dauern. Die Mensehheit neigt zur inneren und auBeren Verelm-

gung. . . .Wer nieht imstande ist, Hypothesen aufzustellen, wrrd me em

Wissensehaftler sein.In der Abwertung der Vergangenheit steekt eine Rechtferti-

gung der Niehtigkeit der Gegenwart. ..Das AlltagsbewuBtsein istein schreeklieher Sklavenhandler des

Geistes.

Gefiingnis

»Das Gefangnis ist eine so feine Klinge, daB sie das Denken voll-

standig zerstort.s (0., S. 1126; P. P., S. 165). Aber das Denken

kann noch sehiirfer sein und das Gefiingnis zerstoren, wenn es Ge-

sehiehte wird.45

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Gegenwar t aIs Gesch ichte

»Gegenwart als Geschichte« bedeutet nicht nur die Relativitat

und Vorlaufigkeit der Gegenwart, d. h. Kritisierbarkeit der Ge-

genwart. Eine andere Bedeutung ist die, wie sie in einem Gedan-

ken von Gramsci ausgesprochen wird: »Die Gegenwart umfaBt

die gesamte Vergangenheit.« Die Kritisierbarkeit der Gegenwart

heiSt also nicht nur »Diskutierbarkeit« und »Widerrufbarkeit«

der Gegenwait. Es bedeutet auch die Notwendigkeit, die Kritik an

der Vergangenheit in die Kritik an der Gegenwart miteinzubezie-

hen und somit die Kritik an der Gegenwart innerhalb einer umfas-senden historischen Dimension zu vertiefen. Ohne diese Dimen-

sion bleibt die Kritik an der Gegenwart partiell, inadaquat und

unaktuell. Wenn es wahr ist, daS die Geschichte die Gegenwart ist,

dann ist es ebenfalls wahr, daB die Gegenwart Geschiehte ist.

Gramsci bemerkt nochmals, daS die Gegenwart »au6er ihrer

-Uberwindung. eine Kritik an der Vergangenheit« ist (0., S. 137;P. P., S. 5)

G eist des Bruchs

Ein von Sorel abgeleiteter Begriff (0., S. 2288; R., S. 242), den

Gramsci als »fortgeschrittene Errungenschaft vom Bewu6tsein

iiber die eigene historische Personlichkeite (0., S. 333; P. P., S.

229) definiert. Bei Sorel ist dieser Geist des Bruchs der Arbeiter-

klasse aber nieht mit moralischer und asthetischer Selbstgenugtu-

ung und auch nicht mit lsolationismus belastet. 1mGegenteil, der

Geist des Bruchs »muS dahin tendieren, sich iiber die Protagoni-

stenklasse hinaus auszudehnen bis hinein in die potenziellen

B~ndn.isklassen« (ibidem). Seine Qualitat besteht in der Fahig-

kelt , die alte Welt dadurch zu zerstoren, daB ein anderer histori-

scher Block aufgebaut wird, der die neue und die vergangene Zivi-lisation und Kultur fiihrt.

46

,. ,

Geme inden

Die von Gramsci durchgefiihrte Untersuchung iiber die Ge-

schichte Italiens beleuchtet die Tatsache, daB eine der Ursachen

fiir den Verfall der Gemeinden und der versaumten rechtzeitigen

nationalen Einigung darin begrundet liegt, daS eine okonomische

Klasse (die aufsteigende Bourgeoisie) »sich keine eigenen Intel-

lektuellen schaffen und folglich zwar eine Diktatur, aber keine

Hegemonie auszuiiben verstand.« (L. C., S. 481) Daraus folgt ei-

nerseits, daB die Gemeinden auf dem Niveau »eines syndikalisti-

schen Staates« verharrten, »der nicht imstande war, diese Phase zuiiberwinden und zu einem integralen Staat zu werden, worauf Ma-

chiavelli vergeblich hingewiesen hat« (ibidem). Auf der anderen

Seite formierte sich in Italien keine national-volkstiimliche Kultur

und die italienischen Intellektuellen blieben »Kosmopoliten.,

keine nationalen Intellektuellen« (0., S. 133).

Ge om e trie un d R a ftin esse

Der grolsartige Gedanke Gramscis, (0., S. 1505; M.S. , S. 144)

wonach der einfache Mensch fiihlt und der Intellektuelle weiS, so

daB das zentrale Problem eben darin besteht, die Einfachheit des

Fiihlens zur Systematik des Denkens aufsteigen und die Komple-

xitat des Wissens zur Unmittelbarkeit des Fiihlens (durch das

»Begreifen«) herabsteigen zu lassen, entwickelt auf originelle

Weise den Pascalschen »Unterschied zwischen geometrischem

Sinn und Feingefiihl« weiter. Aber Gramsci bestimmt die soziolo-

gische und damit historische Grundlage dieses Unterschieds.

Auch wenn dies ein Unterschied der »geistigen Veranlagung« ist,

ist es doch keine rein geistige Differenz. Sie kann daher nur in dem

MaSe aufgehoben werden, in dem die einfachen Menschen zu In-

tellektuellen und die Intellektuellen zuPolitikem werden. Die Po-

litik ist die Sphare des ersten Zusammentreffens zwischen Geo-

metrie und »Feingefiihl«. Das ist wesentlichfiir die Politik selbst,

die ohne »Geometrie« indie Ungradlinigkeit von Empirismus und

Instrumentalisierung verfiele und ohne »Feingefiihl« sich in rei-

nen Intellektualismus und Abstraktheit verfluchtigt. In Wahrheit

47

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'j / " "

. .

~bt .e~,~"'pin der Politik keine Geometrie ohne Feingefiihl und

' " ' ~ehl.Peingeftihl ohne Geometrie. Pascal konnte schreiben: »Es ist

seIten, daB Geometer feinsinnige Gemuter und die feinsinnigen

Gemuter Geometer sind«, denn er dachte nicht tiber Politik nach,bzw. wenn man sowill, die politische Dimension war noch nicht indas Leben eingedrungen.

Geschiehte , e thisch-pol it ische

»Die ethisch-politische Geschichte ist eine willktirliche und me-

chanische Hypostase des Moments der Hegemonie« (0.,S. 1222;

M.S., S. 233), aber das heiBt nicht, daBeine ethisch-politische Ge-

schichte nicht moglieh sei. (vgl. Katharsis). Also: die ethisch-poli-

tische Geschichte existiert nicht als Hypostase sondem als histori-

sche Funktion materieller Beziehungen. Man kann auch sagen,

daB die soziale und wirtschaftliche Geschichte notwendigerweise

zu einer ethisch-politischen Ebene aufsteigt und der historische

Materialismus eben der Versuch ist, die historische Notwendigkeit

des Obergangs von der soziokonomischen Ebene zur ethisch-poli-tischen zu erklaren.

Gesellsch~ biirgerliche

Der Ausdruck (societa civile) wird bei Gramsci nicht in derselbenBedeutung wie bei Marx verwendet (ftir den die biirgerliche Ge-

sellschaft die privatistische biirgerliche Gesellschaft ist, die in ihrer

Atomisierung und Entpolitisierung negativ betrachtet wird); son-

dem Gramsci betrachtet sie in einem weiteren Sinne, der Artiku-

lationsformen der modernen sozialen Organisation umfaBt, die

nicht bereits direkt politische sind. So ist ein positiver Gebrauch

des Begriffs moglich: z. B. wenn Gramsci von der »Reabsorbie-

runge der politischen Gesellschaft in die biirgerliche Gesellschaft

spricht, (0.,S.662; MACH., S. 115) ruckt die biirgerliche Gesell-

schaft aufgrund ihrer okonomischen, aber auch kulturellen

Merkmale der »geregeIten Gesellschaft« schon naher,

48

GeseUschaft , M assengeseUschaft

»Die Massenbildung hat die Individuen sowohl in ihrer individuel-

len Oualifikation als auch inihrer Psychologie standardisiert« (W.,

S. 1520; INT., S. 11). Nichtsdestoweniger verdammt Gramsci die

Massengesellschaft durchaus nicht. Er arbeitet vielmehr ~aftir, a~

ihr eine Massenzivilisation zu machen. Diesem Zweck dienen die

Kritik an der Trennung zwischen Regierten und Regierenden und

die Forderung zur Vereinigung von Intellektuellen und einfachen

Leuten gleicherma.Ben.

Gesel lschaft , gerege lt e

Das ist die Gesellschaft, die zur Selbstbestimmung fahig ist und

deshalb keinen politischen Staat mehr benotigt, (0.,S. 882; M. S.,

S. 92) die kommunistische Gesellschaft.

Gewalt

Marx sprach davon, daB GewaIt die Lokomotive der Geschichte

sei.Aber was ist GewaIt imSinne der Geschichte? Marx ist esauch

gewesen, der davon sprach, daB »die Waffe der Kritik allerdings

nicht die Kritik der Waften ersetzen kann, die materielle GewaItmuB gestutzt werden durch materielle Gewalt, aile in auch die

Theorie wird zur materiellen GewaIt, sobald sie die Massen er-

greift.« (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einlei-

tung, MEW 1,S. 385; Berlin (DDR), 1972) Demnach gibt es auch

eine theoretische GewaIt: genau die, die Gramsci analysiert, wenn

er den Staat nicht nur als Form der Zwangsherrschaft untersucht,

sondem auch als Fuhrung auf Basis von Konsens. Dieser Diskurs

laBtsichjedoch nicht verallgemeinem, denn die GewaIt in der Ge-

schichte ist eine gesellschafdiche Kraft, d. h., daB in der Geschichte

jedes Gewaltverhiltnis immer eine Komponente minimalen K~n-

sens' aufweist. Gramsci schreibt: »Das entscheidende Moment Je-

der Situation bildet die dauerhaft organisierte und auf lange Dauer

bereitstehende Kraft, die sich, wenn die Situation als giinstig beur-

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teilt wird, vorwartsbewegen laBt (und die Situation erweist sich

nur dann als gunstig, wenn eine so1cheKraft vorhanden ist)« (0.,

S. 1588; MACH. S., 60). Die wesentliche Starke ist also durchaus

keine reine Kraft oder Gewalt. Vielmehr ist sie die Starke, die sich

aufgrund eines langes ideellen und praktischen Biindnisses durch-

gesetzt und konsolidiert hat. Hieraus folgt ebenfalls, daBdie »giin-

stigen Situationen« sich nicht einfach mittels eines reinen Kraftak-

tes herstellen lassen. Vielmehr bilden sie sich heraus aus einem

Gesamtzusammenhang miteinander vermittelbarer Momente im

Sinne des» Konsens«. So konnen scheinbar gesicherte, mit Gewaltbeherrschte Situationen aufgrund eines Mangels an Konsens aus-

einanderbrechen, wahrend ungunstige, von einem starken Gegner

beherrschte Situationen mittels eines breiteren Konsens aufge-

brochen und verandert werden konnen. »Die starken Glieder« in

der Kette des kapitalistischen Systems z. B. (denen Lenin die

»schwachen Glieder« als die gunstigere Situation entgegensetzt),

lassen sich von den unterdrtickten Klassen schwachen, wenn es ih-

nen gelingt, die Hegemonie und den gesellschaftlichen Konsens zu

erobem. Hierin wird Gramsci zum ersten Theoretiker des Sozia-

lismus im Westen und ebenso zu einem Kritiker der Theorie der

gewaltsamen Revolution. Wie Paul Valery sagte, liegt die Schwa-

che der Gewalt darin, nur an die Gewalt zu glauben.

Gewal tenteDung1m Prinzip der Gewaltenteilung faSt sich »die gesamte liberale

Ideologie« zusammen (0., S. 752., MACH., S. 107). Dieses Prin-

zip fixiert in der Tat eine Unterscheidung der Funktionen, die die

Einheit der Macht verhindert und als Instrument fur das Primat der

Biirokratie tiber den Volkswillen fungiert. Diesem Prinzip setzt

Gramsci ein anderes entgegen: »Einheit des Staates bei Unter-

scheidung der Gewalten« (ibidem). Danach solIEinheit der Macht

die Unterscheidung von Funktionen nicht unterdrticken und letz-

tere nicht zum Primat der Burokratie absinken. Ein so1cher Staat

reprasentiert sowohl ein Maximum an Demokratie wie die Anna-

herung an den Sozialismus.

50

Gleichgiiltigkeit

Es gibt einen groSartigen Artikel des jungen Gramsci, der in »La

citta futura« vom 11. Februar 1917 mit dem Titel »Die Gleichgul-

tigen« veroffentlicht wurde. Er beginnt folgendermaBen: »Ich

hasse die Gleichgiilt igen. Ich glaube wie Friedrich Hebbel, daB

>Leben heiSt, Partei ergreifen« Menschen als so1che- auBerhalb

des Gemeinwesens - kann es nicht geben. Wer wirklich lebt, kann

nur Citoyen sein und Partei sein. Gleichgiiltigkeit ist Wille?losi~-

keit, Parasitentum, Feigheit , nicht Leben, Darum hasse ich die

Gleichgiiltigen. Gleichgiiltigkeit ist das tote Gewicht in der Ge-

schichte« (S. G., S.78). Das bedeutet jedoch nicht, daS Gleichgul-

tigkeit kein Gewicht in der Geschichte hatte. 1m Gegentei1:

»Gleichgiiltigkeit ist mit Macht in der Geschichte tatig. Sie ist pas-

siv tatig, aber sie ist tatig. Und das ist das Fatale: sie stellt das dar,

worauf man nicht zahlen kann, was die Programme durcheinan-

derbringt, die bestens aufgebauten Plane verdreht; sie ist das Bru-

tale, das sich gegen die Intelligenz auflehnt und ihr die Gurgel ab-

dreht«; wenn die Intelligenz nicht ihr eigenes Gewicht in der Ge-

schichte organisiert und fundiert.

Gr o8 e In teU e ldu eU e

Die von Gramsci in der Polemik gegenuber dem »groSen Intellek-tuellen«, fur den der »laizistische Papst« Benedetto Croce gewiS

beispielhaft ist, verwandten Ausdrticke miissen genau prazisiert

werden. Gramsci ist der erste italienische Denker, der das Herauf-

kommen einer Massengesellschaft, in der auch die Modelle der

traditionellen kulturellen Organisation einer Veranderung unter-

worfen werden, wahmimmt. In einer so gestaIteten Gesellschaft

»trifft die Funktion der groBen Intellektuellen allerdings, wenn sie

intakt bleibt, auf ein viel schwierigeres Milieu, urn sich zu behaup-

ten und zu entwicke1n: auch der groBe IntellektueUe muS sich ins

praktische Leben sturzen, ein Organisator der praktischen

Aspekte in der Kultur werden, willer die Fiihrung beibehalten; er

muS sich einer Demokratisierung unterwerfen, aktueller sein: der

Renaissancemensch ist in der modemen Welt nicht mehr moglich,

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seit in immer betrachtlicherer Anzahl Massen von Menschen aktiv

und direkt an der Geschichte beteiligt sind« (0., S. 689; P. P; S.

37f). Gramsci polemisiert also gegen das Desinteresse gegenuber

der praktischen Massenorganisierung moderner Kultur und nicht

gegen den groBen Intellektuellen als solchen. Ein solches Desin-

teresse reproduziert nicht nur die fur den italienischen Intellektu-

ellen typische traditionelle Isolierung, sondern auch die Bindung

des Intellektuellen an die traditionellen Machtgipfel, wie es genau

in der Renaissance der Fall war. Gramsci kritisiert daran, wie man

weiB, die Trennung vom Yolk und gewiB nicht die »intellektuelle

GroBe«. Das muB in aller Deutlichkeit gesagt werden, auch urnunredliche Nachsicht gegenuber einer sogenannten »Massenkul-

tur« zu vermeiden oder gar gegenuber einer »Wissenschaft, die

mit den Massen gemacht wird«, die gegen die intellektuellen Kri-

terien der Wissenschaft unternommen wird.

Hegemon i e

Fur eine Theorie der Hegemonie gibt es drei wesentliche Bezugs-punkte:

1. Die Vorherrschaft einer gesellschaftlichen Gruppierung

manifestiert sich auf zwei Arten, als »Herrschaft« oder

Zwang und als »Intellektuelle und moralische Fuhrung«

oder Konsens (0., S. 2010; R., S. 87).

2. »Eine gesellschaftliche Gruppe herrscht tiber die gegneri-

schen Gruppen (...) und fuhrt die Gleichgesinnten und Ver-

biindeten.« (ibidem)

3. »Eine soziale Gruppe kann und muB bereits vor der Mach-

tergreifung fiihrend sein.« (ibidem)

Heuche le i

»Eines der deutlichsten und augentalligsten Merkmale des italie-

nischen Charakters ist die Heuchelei. Heuchelei in allen Lebens-

formen: im Familienleben, im politischen Leben, in den Geschaf-

ten«, schrieb Gramsci im »Avanti« (in der piemontesischen Aus-

52

gabe) am 5. Marz 1917 in dem Artikel »Caratteri italianie (S.G.,

S. 93). Diese italienische Heuchelei ist ziemlich bekannt, und tiber

sie ist viel von gewissen mittelmafsigen, auslandischen Kulturkrei-

sen gearbeitet worden, die in unangebrachter Weise von »Machia-

vellismus« daherschwatzten. Gerade Machiavelli scheint der erste

groBe Kritiker unserer Heuchelei zu sein, wenn man bedenkt - wie

Gramsci anmerkt - daB diese Heuchelei »in volliger Abhangigkeit

zum Mangel an Freiheit steht« und somit inerster Linie zum Man-

gel an nationaler Einheit und Unabhangigkeit, Die Schwache un-

serer politischen Freiheit liegt in dem unfreien Charakter unserer

gesellschaftlichen Beziehungen und der »polizeigefarbte Verstandin den sozialen Beziehungen driickt jedem moralischen Befrei-

ungsversuch die Luft ab« (S.G., S. 94). Es geht Gramsci also dar-

urn, die gesellschaftlichen Beziehungen zu verandern, urn den

Charakter der Italiener zu verandern. Gleichzeitig geht es darum,

der sozial-politischen Revolution ein fundiertes BewuBtsein ihrer

eigenen moralischen Werte zu vermitteln.

H is to ris ch er B lo ck

Nach Gramsci »bilden Basis und Uberbau einen shistorischen

Block- « (0.,S. 1501., M. S., S.47). Daraus folgt, daB die Abhan-

gigkeit des Uberbaus von der Basis nur logisch, nicht chronolo-

gisch ist und daB in der Realitat das eine wie das andere Momenteinen einheitlichen Organismus bilden, der nur aus Grunden der

Erkenntnis zerlegt werden kann und dessen begriffliche Zerle-

gung zum Zwecke erneuter Zusammenfiigung dieser Einheit in

der Breite all seiner Beziehungen zu geschehen hat. In dem histo-

rischen Block, wie er sich in einer gegebenen Epoche darstellt,

»sind die materiellen Krafte der Inhalt und die Ideologien die

Form«, aber diese Unterscheidung ist »rein didaktisch, denn die

materielle Gewalt ware ohne die Form nicht begreifbar und die

Ideologien eine Schrulle ohne die materiellen Krafte« (0.,S. 869;

M. S., S.59). Es geht darum, den historischen Block als Ganzes zu

erklaren und auf die Simplifizierung zu verzichten, die »Funktio-

nalitat« der Ideologien gegentiber den materiellen Kraften zu de-

nunzieren.

53

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H is to ris ch er M a te ria tismus

Eine wesentliche Bestimmung Gramscis des historischen Materia-

Iismus lautet: »Das ist der historizisti sche Begriff von Realitat, der

sich von jegIichem Rest an Transzendenz und Theologie befreit

hat, auch in ihrer letzten spekulativen Verkorperunge (0., S.

1226; M. S., S. 238). Kritiker und Junger werden gebeten, ihr Au-

genmerk zu lenken auf die letzte spekulative Verkorperung der

Transzendenz und Theologie. Es konnte sich auch urn die klassi-

sche deutsche Philosophie handeln.

H ocbm ut der Partei

»Nichts ist lacherlicher und gefahr licher als der -Hochmut von Na-

tionen-, von der Vico spricht.« (0., S. 1732; MACH., S. 28)

Gramsci legt hier nahe, auf der einen Seite eine erkennbare

Grenze zu ziehen zwischen dem Geist der Partei oder der DiszipIin

der Partei einerseits und dem Hochmut der Partei andererseits.

Gramsci fugt sogar hinzu, daB der Hochmut der Partei »schlimmer

ist als die Aufgeblasenheit von Nationen ( . .. ), weil eine Nation

ganz einfach existiert. Aufgrund der Tatsache, daB sie existiert,

wird es immer moglieh sein - und sei es nur mit gutem Willen und

unter Heranziehung von Zeugnissen - zu belegen, daB ihre Exi-

stenz voller GroSe und Bedeutung ist. Die Partei dagegen kann

nicht aus eigener Kraft bestehen« (0., S. 1734., MACH., S. 30).

Und er folgert daraus: »Es gilt, dem >Hochmut< der Partei mit

Verachtung zu begegnen und die Selbstherrlichkeit durch kon-

krete Tatsachen zu ersetzen. Wer umgekehrt konkrete Tatsachen

durch Hochmut ersetzt oder eine PoIi tik der SelbstherrIichkeit be-

treibt, ist gewiB geringer Ernsthaftigkeit zu verdachtigen« (0., S.

1735., MACH., S. 31). Man beachte bitte, wie wenig an» Volunta-

rismus« bei Gramsci zu finden ist!

54

J .

I

Hypos ta se (We se ns ve rk ehnmg )

Es gibt nicht nur die Hypostase im Sinne der VerdingIichung des

Geistigen, sondern auch im Sinne der Personifizierung des Mate-

riellen: »Die -Vergott lichung- der Materie im vulgaren Materia-

Iismus ist auch eine Form von -Hypostase. « (0., S. 451). Und da

die Hypostase eine »willkiirliche Abstraktion« darstellt (ibidem)

besteht das Problem darin,historische Abstraktionen zu entwick-

len, eingebettet in eine klar gegIiederte Untersuchung des Basis-

Uberbau-Verhaltnisses. Kurz, es handelt sich darum, in den Ge-

schichtswissenschaften die Abstraktionen von Hypostasen in Hy-pothesen umzuwandeln, wie das in den Naturwissenschaften ge-

schieht.

Ideologie

»Man sollte -die Ideologies, die Doktrin nicht als etwas Kunstli-

ches und mechanisch Ubergestulptes verstehen (wie ein Kleid auf

der Haut, anstatt wie die Haut, die ganz organisch aus dem Innern

des biologisch-lebenden Korpers geschaffen wird), sondern sie ist

historisch zu begreifen« (0., S. 337; MACH., S. 409). Was die

Ideologietheorie betrifft, ist Gramscis Position also der zu seiner

Zeit gangigen entgegengesetzt, die sparer von Stalin in seiner be-

riihmten Behauptung »der Uberbau wird deshalb auf der Basis er-

richtet, urn ihr zu dienen « (Marxismus und Fragen der Sprachwis-

senschaft) theoretisiert werden wird, gerade so, als handle es sich

urn ein mechanisches oder gar intentionales Verhaltnis. Gramsci

hingegen reagiert mit seiner Ideologiekritik auf die Tendenz, die

die Analyse von Ideologie (und Kultur) auf die Untersuchung ih-

res soziologischen Aquivalents reduziert (eine Tendenz, die eine

gewisse marxistische Stromung in zweideutige Obereinstimmung

mit der »Wissenssoziologi~« treibt). Gramsci nimmt in der Tat an,

daB »Ideologien alles andere sind, als Illusionen und Schein« (0.,

436). DaB Ideologie sich als falsches Bewu8tsein« herausstellen

kann, schIie8t keinerlei Wahrnehmungstauschung ein und ist im

wesentlichen kein psychologisches Faktum, sondern ein sozusagen

theoretisches Faktum, namlich der Mangelhaftigkeit intellektuel-

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ler Fundierung der Erfahrung. Ideologiekritik sollte deswegen al-

les andere als »Denunziation« sein, sie muB zu einer immanenten

(theoretisehen) Kritik werden, die in der Lage ist, die historisehen

Wurzeln der Begriffe voneinander zu unterseheiden. In diesem

Sinne ist »Ideologie = wissensehaftliche Hypothese« (0., S. 507)

sofern die Theorie dureh die reale Entwicklung der Gesehiehte

verifizierbar ist und verifiziert (oder kritisiert) wird.

.Ignoranz

»Die Bourgeois konnen selbst in der allergro6ten Mehrheit unge-

bildet sein: die biirgerliehe Welt lauft dennoeh weiter. Sie ist so

eingeriehtet, daB eine Minderheit von Intellektuellen, Wissen-

sehaftlern und Akademikern ausreieht, urn die Geschafte weiter-

laufen zu lassen. Ignoranz ist auSerdem ein Privileg der Bourgeoi-

sie genauso wie das dolce far niente und die Denkfaulheit. ( . .. )

Die Bourgeois diirfen aueh ungebildet sein, die Proletarier nieht.

Fur Proletarier ist es eine Pflieht, nieht ungebildet zu sein ... «(S. G., S. 72 f)

Individua6smus

»Individualismus ist blofes animalisehes Unpolitiseh-Sein.« (0.,

S. 1755; MACH., S.24) d. h. vulgarer, maskierter Konformismus;denn mensehenwiirdige Politik ist Solidaritat und Gesellschaft-liehkeit. .

Individuum

Das Individuum »ist aueh der Sehnittpunkt seiner Lebensbedin-

gungen« (0.,S. 1337; M. S., S. 41)Auch, niehtnur. Denn das In-

dividuum, sei es nun gesellschaftlieh bestimmt, ist durehaus Indi-viduum. Das sollte festgehalten werden!

56

InteUektueUe

Die Analyse des Intellektuellen von Gramsci ist viel zueinseitig als

rein soziologisehe Analyse verstanden worden: als Analyse der so-

zialen Rolle der Intellektuellen. Das ist jedoeh nur eine Seite der

Analyse Gramscis. Sie mu6 verkniipft werden mit der Analyse, die

Gramsci iiber das intellektuelle Moment in Politik und Gesehiehte

entwickelt, was wohl den umfassendsten und aueh relevantesten

Aspekt darstellt. Es ist zwar riehtig, daB Grams~ die.Intelle~.tue.l-

len als soziale Sehieht bestimmt, aber der Begriff wird bestandig

mit der Zielriehtung erweitert, jede eindeutige soziale Grenzzie-

hung zu verlieren. So sehreibt Gramsci, daB »~nter In~ellekt~ellen

nieht nur die im allgemeinen mit dieser Bezeichnung intendierten

Sehiehten zu verstehen sind, sondern allgemein die gesamte so-

ziale Sehieht, die organisatorisehe Funktionen im weiteren Sinne

ausiiben« (0., S. 2041; R., S. 124). Wie bekannt, laBt sieh an an-

derer Stelle lesen, daB »alle Mensehen Intellektuelle sind« (0., S.

1516; INT. S. 7). Hier wird offenkundig nieht nur auf eine gesell-

sehaftliehe Sehieht verwiesen, sondern auf die intellektuelle Ta-

tigkeit als solehe. Gramsci selbst prazisiert, daB »nie~t aile Men-

sehen eine intellektuelle Funktion in der Gesellschaft innehaben«,

in dem Sinne, daB sieh historiseh »spezifisehe Kategorie~ zur Aus-

iibung intellektueller Funktionen« (ibidem) herausbilden. Es

seheint klar, daB zwischen der Funktion der Intellektuell~n und der

intellektuellen Funktion untersehieden werden mu8: zwischen ge-sellschaftlieher Kategorie, die bestimmt ist dureh Arbeitsteilung

und dem, was die typisch intellektuelle Tatigkeit ausmaeht, nam-

lieh Kultur als »allgemeine Arbeit« (Marx). Darum bemerkt

Gramsci: »Diese Untersuehung iiber die Gesehichte der Intellek-

tuellen wird keinen ssoziologischenc Charakter haben, sondern

AnlaB geben ftir eine Reihe von Aufsatzen zur Kulturgesehiehte

und der Geschichte der politischen Wissenschaften« (0., S. 1515;

INT., S.6). Entlang dieser Linie arbeitet Gramsci. die ~ktiv~Ro!le

der Kultur in der Geschichte wieder auf und bleibt nicht 10WIS-

senssoziologie oder in soziologiseher Erklarung des Intellektuel-

len als Funktionar des Oberbaus verhaftet. Hiermit erobert

Gramsci in der marxistisehen Tradition, die lange Zeit von sozio-

logischem Reduktionismus beherrscht war, eine tatsachlich theo-

retisehe Dimension von Kultur zuruck.

57

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Italien

Bei Gramsci findet sich die erste klar umrissene und umfassende

Analyse der italienischen Geschichte als Geschichte eines origina-

ren Zusammenhangs von verfriihter und verspaterer Entwicklung.

Italien reprasentiert in der Tat diese absolut einzigartige Wider-

spriichIichkeit in der modernen Geschichte: es ist das Land, das

mit der gro8ten Verfruhung elementare Formen der biirgerIichen

Gesellschaft herausbildet (protokapitalismus im wirtschaftlichen

Bereich, experimentelle Wissenschaft, polit ische Theorie, lustiz,

laizistisches Denken, Nationalsprache, gehobene Literatur, mo-derne Malerei, moderne Musik, fortgeschrittene okonomische

Techniken) und ist trotzdem (mit Deutschland) das Land, das mit

der gropten Verspdtung seine biirgerliche Entwicklung abschIie8t,

das Land, das erst 1861 die Einigung auf der Ebene eines Natio-

nalstaates erlangt. Gramsci gibt auSergewohnliche Anregungen,

urn diese Schere der ungleichzeitigen Entwicklung des modernen

Italiens zu beurteilen. Er erkennt vor allem, daB diese Schere so-

wohl Ursache als auch Auswirkung der Beschranktheit der itaIie-

nischen Bourgeoisie ist und weist darum auf die Notwendigkeit

hin, jegliche schematische Korrelation zwischen Basis und Uber-

bau zu durchbrechen und die konkrete Dynamik der einzeInen hi-

storischen Blocke zu iiberpriifen. »Die ital ienische Bourgeoisie

des MittelaIters wuBte nicht aus der korporativen Phase herauszu-

kommen, urn in die politische einzusteigen« (0., S. 658; MACH.,

S. 111), so daB nach dem Scheitern der Bestrebungen im 16.1ahr-

hundert die Geschichte Italiens in politischer Dekadenz, unfahig

ein breit angelegtes und kraftvolles Konzept zu m Ausdruck zu

bringen, und in kulturellem Kosmopolitismus versackte. Die Poli-

tik 100te sich somit von jegIichem geistigen U niversalismus und die

Kultur von jeglicher politischer Verankerung abo In der Politik

und im moralischen Leben wurde Italien das Opfer eines »Parti-

kularismus ala Giucciardini* und in der KuItur verfoIgte es einen

kosmopolitischen Universalismus, der sehr bald zu Abstraktheit

und Rhetorik degenerierte. Die Intellektuellen losten sich immer

mehr von historischer, politischer Konkretheit und die Politiker

• vgl, die Note unter dem Stichwortpartikular (Anm. d. Red.)

58

von allgemeingiiltigen Idealen. Aber so wenig schicksalsbestimmt

die Trennung zwischen Intellektuellen und den einfachen Leuten

auf der Ebene der Theorie ist, so wenig ist es auch die Spaltung in

»geistlich« und »weltlich« in der Geschichte Italiens (0., S. 690;

P.P., S. 39); unter der Voraussetzung, daB das kuIturelle kosmo-

politische BewuBtsein nicht nur ein negatives Phanom~n bleibt,

wenn es mit den Grenzen, die der gegenwartige NatIonalstaat

aufweist, konfrontiert ist und vorausgesetzt, daB sich in der ita lie-

nischen Politik eine tragende Kraft finden lieBe, die sich von der

Bourgeoisie unterscheidet. Das ist das moderne Proletariat, des-

sen Internationalismus sich mit der universe lien italienischen Tra-

dition neu verbindet : »Eine europaische Funktion innezuhaben,

das ist das Merkmal des italienischen -Geni ese vom 15. lahrhun-

dert bis zur franzosischen Revolution« (0., S. 360; INT., S. 75),

»die italienische Tradition lebt dialektisch im arbeitenden Volk

weiter«, »das italienische Volk hat -nationak das gro8te Interesse

an einer modernen Form kosmopolitischen BewuBtseins« (0., S.

1988; R., S. 83), »die >Mission<des italienischen Volkes besteht in

der Wiederaufnahme des romischen und mittelalterlichen kosmo-

politischen Denkens, aber in seiner modernsten und fortg~schrit-

tensten Form« (0., S. 1898; ibidem). Die zur Verallgemeinerung

drangende Form unserer Kultur kann sich heute an einem politi-

schen Trager festmachen, der sie zu einem wirklich nationale.n

Bindeglied machte, wahrend der Internationalismus der Arbei-

terldasse immer mehr das Bediirfnis nach einem kulturellen Hin-tergrund als Ausdruck eigenen, modernen kosmopolitischen

Denkens verspiirt. Aus diesem Grunde kann die Frage, »mu8 P ? -litische Bewegung, die zur nationalen Einheit und zur Herausbil-

dung des italienischen Staates fiihrte, notwendigerweise im Natio-

nalismus und militaristischen Imperialismus miinden?« (0., S.

1987; R., S. 82) mit nein beantwortet werden. Mit Gramsci laBt

sich durchaus sagen, da8 »dieser Ausgang anachronistisch und

unhistorisch ist« (ibidem) und er kann und mu8 durch einen sozia-

listischen Entwicklungsweg ersetzt werden.

59

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Italien, das verlorene

Man weiB, wie genau Gramsci den staatIichen EinigungsprozeB

von Nationen und insbesondere den der italienischen Einigung

beobachtet hat. Es ist ebenso bekannt, daB Gramsci die Unfahig-

keit der poIitischen Krafte (die der Bourgeois sowie die des Vol-

kes) des Risorgimento kritisierte, die Einigung unter Beteiligung

der Volksmassen zu vollziehen. Die Einigung Italiens hat sich sehr

spat vollzogm, erst als sich bereits wichtiges substaatIiches Erbe

angehauft hatte und sie von oben, ohne allgemeinen und authenti-

schen Antrieb vonseiten des Volkes, verwirklicht wurde. FolgendeFrage scheint von daher legitim und auch verallgemeinerbar: »Hat

der itaIienische Einheitsstaat wahrend seiner Herausbildung die

poIitisch-kulturellen Funktionen als -Erbe. tibernommen, die die

vorherigen Kleinstaaten eingefuhn hatten oder hat es unter die-

sem Gesichtspunkt schwere Verluste gegeben?« (0., S. 1661;

RS., S. 85) Gramsci gibt auch einige Beispiele unter besonderer

Berticksichtigung der internationalen Beziehungen, wenn er

schreibt: »Es ist z. B. offensichtIich, daB die Beziehung Piemonts

(mit dem Konigreich Savoyen) zu Frankreich etwas anderes war

als die Beziehung ItaIiens (ohne das Konigreich Savoyen und Niz-

za) zu Frankreich; dasselbe wird auch von der Schweiz und der

S~ellung Genfs gesagt; ebenso ftir das Konigreich Neapel. Der

EmfluB des NeapoIitanischen im ostlichen Mittelmeerraum die

Beziehungen mit RuBland und England waren andere als die itali-

e~s« (ibidem; R, S. 85 f). Aber die Beobachtung laBt sich, sagten

wir, verallgemeinern. Die »diplomatische« und »savoyische« Ei-

nigung ItaIiens hat auf der einen Seite einen breiten Antrieb zur

Vereinheitlichung vonseiten des Volkes verhindert (man bedenke

nur die nach der Einigung aufgetretenen Schwierigkeiten mit den

sprachIichen Problemen) und auf der anderen Seite hat diese

Form der Einigung eine ganze Reihe kultureller Momente des na-

tiona len »Erbes« fiir »unbrauchbar« erklart, Was ist von den gro-

Ben Traditionen des »Miizenatentums« der kleinen Hofe in das

»Vermogen« der itaIienischen Nation eingegangen? Wurden sie

nicht von der miIitaristischen »Kultur« Savoyens tiberrollt? Was

ist von der guten osterreichischen Verwaltung in der Lombardei

und im Veneto oder nur von der Verwaltung der Loreana im na-

60

tionalen Denken iibrig geblieben? Wo ist die »orientalische« Tra-

dition Venedigs geblieben? Was ist aus der europaischen intellek-

tuellen Tradition Mailands geworden? Urbino, Parma, Mantova,

Modena gehorten lange Zeit zum florentinischen Kapital: was ist

von dem politischen Geist, der die bedeutenden ktinstlerischen

und kulturellen Traditionen befruchtet hat, zurtickerobert wor-

den?

Jakobinismus

Gramsci ubernimmt den Begriff des Jakobinismus im ubertrage-

nen Sinne. Er bezeichnet damit einen »politisch energischen, reso-

luten und fanatischen Menschen, weil er auf fanatische Art und

Weise von der wundertatigen Tugendhaftigkeit seiner Ideen tiber-

zeugt ist« (0., S. 2017; R, S. 93). In dieser Bedeutung betont der

Begriff des Jakobinismus »die destruktiven Elemente, die ihre Ur-

sache im HaB gegentiber Feinden und Gegnern haben, mehr als

die konstruktiven, die daher rtihren, sich die Forderungen der

Massen zueigen gemacht zu haben; das sektiererische Elemen~,

die Geheimbiindelei der kleinen Gruppe, den ungebremsten Indi-

vidualismus mehr als das nationalpolitische Elements (ibidem; R,

S. S. 93f). In diesem Sin ist der Jakobinismus das Merkmal. einer

Form von Politik, die sich in allen politischen Bewegungen wieder-

findet. Er kennzeichnet eine Politik, die an der Verwandlung vonRegierten in Regierende kein Interesse hat. Er ist das verborgene

Gesicht der Politik als Befehl: die von Demagogie umhtillte Ver-

achtung der Volksmassen.

Katharsis

Der grundlegende Beitrag Gramscis zur marxistischen Kultur-

theorie kann in dem zusammengefaBt werden, was er als »Kathar-

sis« definiert. Katharsis verweist auf »den Ubergang vom rein

okonomischen (oder egoistisch-Ieidenschaftlichen) Moment zum

ethisch-politischen, d. h. die hohere Verarbeitung der Basisstruk-

tur zur Uberbaustruktur, die sich im Bewu8tsein der Menschen

61

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vollzieht.« (0.,S. 1244; M.S., S. 48) Nach der primaren methodi-

schen Operation einer Reduktion auf das Okonomische schlagt

~ram~Cl. emeut das groBe Problem des» Wiederaufsteigens« auf

die gelstlg-kulturelle Ebene vor. So hort der historische Materia-

lismus auf, an die Stelle des Geistigen bloB das Okonomische an

die Stelle von Philologie nur die Anatomie zu setzen und wird'so-

mit zur historisch-materialistischen Rekonstruktion der Kultur und

der Oberbauten. Die Epoche des Reduktionismus nimmt so ein

~nde: »Man wird wohl kaum sagen konnen, daB die Haut (oder

el?e Art. geschic~tlich vorherrschender physischer Schonheit)

reme IlluslOnen seien und nur das Skelett und die Anatomie Reali-tat besaBen. Trotzdem hat man lange Zeit Ahnliches behauptet«

(0., S. 1321; M.S. S.294). Es wird auf konstruktive Weise und

damit definitiv belegt, daB »die Philosophie der Praxis die

ethisch-politische Geschichte nicht ausschlieBt« (0., S. 1208;

M.S., S.217). »Die ethisch-politische Geschichte« sieht heute al-

~erdings nicht mehr ab »von dem Konzept des historischen Blocks

10 welchem soziookonomischer Inhalt und ethisch-poli tisch~

Form konkret zusammenflieBen, wenn man die verschiedenen hi-

storischen Epochen rekonstruiert. (0., S. 1237; M.S., S. 250)

Kausalitiit

Gramsci sieht den Unterschied zwischen dem »aufgeklarten All-

tagsbewuBtsein« (»buon senso«) und der »Folklore« »nicht nur in

der Tatsa~he, .d~ das AlltagsbewuBtsein (senso comune) _ sei es

auch nur implizit - das Kausalitatsprinzip zur Anwendung bringt

sondem in der viel beschrankteren Tatsache, daB namlich das All~

tagsbewuBtsein die richtige Ursache iiber eine Reihe von Ein-

schatzungen ermittelt«. (0., S. 1334; M.S., S. 29) Ein systemati-

s~her Ge?anke stellt sich ein als ein scireper causas: und verliertsich als em scire per fines."

• lat . Wissen tiber Ursachen . - Anm. d. Red.

.. lat. Wissen tiber Zwecke. - Anm. d. Red.

62

f'

Klassen

Die Klassentypologie Gramscis geht weit iiber die traditionelle

hinaus, die lediglich die herrschende und die unterdriickte Klasse

gegeniiberstellt. Eine Klasse aber kann nach Gramsci herr-

schend-ftihrend, herrschend-nichtftihrend, oder »regierend« (0.,

S. 1358) sein, beherrscht-untergeordnet und beherrscht-fuhrend.

Konfonnismus

Die btirgerliche Gesellschaft ist durch einen Individualismus ge-

kennzeichnet, der sich aufgrund der chaotischen Beziehungen in

passive Unterordnung der Masse unter die groBen Individualita-

ten (okonomische, politische, intellektuelle) verkehrt: »Die Ten-

denz zum Konformismus ist in der gegenwartigen Welt verbreite-

ter und tiefergehender als in der Vergangenheit: die Standardisie-

rung von Denk - und Handlungsweisen erreicht nationale oder so-

gar kontinentale AusmaBe« (0., S. 862; MACH., S. 185f). Mehr

noch als in der Vergangenheit zeigt sich heute die Notwendigkeit

des kritischen Geistes in der Kultur.

Korporativismus

.. .ist das verengte Verstandnis, das jede soziale Klasse kenn-

zeichnet, die sich als unfahig erweist, sich dem Problem einer all-

gemeinen Entwicklungsrichtung der Gesellschaft zu stellen. Der

Korporativismus der btirgerlichen Klasse besteht in der Unfahig-

keit, die Anspriiche der Arbeiterklasse zu begreifen. Der Korpo-

rativismus der Arbeiterklasse ist der Operaismus."

• Eine auf die Betriebsperspektive und die Interessen der Fabrikarbeiter be-

schriinkte Arbeiterpolitik. - Anm. d. Red.

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KorruptionlBetrug

Korruption/Betrug ist »kennzeichnend fiir bestimmte Situatio-

nen, in denen es schwierig ist, eine Hegemonialfunktion auszuu-

ben, und ein Kraftakt zuviele Gefahren mit sich bringt« (0., S.59;

MACH., S. 129). Gramsci betrachtet KorruptioniBetrug als

»Entnervung und Lahmung des Gegenspielers oder der Gegen-

spieler, die mit der normalerweise stattfindenden Amterjagd der

Fuhrungskrafte verkntipft ist, oder im Faile drohender Gefahr

ganz offen stattfindet, urn Unruhe und Unordnung in den Reihender Gegenspieler zu stiften«. Aber Gramsci kannte noch nicht

jene zellformige Art der Korruption oder Massenbetrug, die viele

christdemokratische Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

kennzeichnete.

KosmopoHt ische s Bewu8t se in

Die verspatete nationale Einigung Italiens hat der italienischen

Kultur eine kosmopolitische Orientierung gegeben, mit der sie be-

reits aufgrund ihrer doppelten Tradition, namlich der romi schen

und der katholisch -mittelalterlichen belastet war. Aber dieses kul-

turelle kosmopolitische Bewu6tsein bedeutete ebenfalls eine ge-

ringe Anfalligkei; fur nationalistischen Fetischismus, so daB »das

italienische Yolk dasjenige ist, das sich -nationak gegenuber demInternationalismus am interessiertesten zeigte (0., S. 1190), inso-

fern »der Nationalismus in der italienischen Geschichte ein ana-

chronistischer Auswuchs darstellte (ibidem). Allgemeiner gespro-

chen heiSt das, daB »>dieKulture tiber viele Jahrhunderte hinweg

die einzige -nationale. Au6erungsform Italiens gewesen ist« (0.,

S. 1361). »Zur Zeit des Romischen Imperiums und wahrend des

Mittelalters erduldete Italien auf Grund seiner -kosmopol inschen.

Funktion auf passive Weise die internationalen Beziehungene

(0., S. 589; R., S. 159), obwohl, von einem kultureUen Gesichts-

punkt aus betrachtet, »ltalien tiber viele lahrhunderte eine inter-

national-europaische Funktion innehatte e (0., S. 360; INT., S.

74). Darum also geht Gramsci davon aus, daB auf der einen Seite

»das italienische, kosmopolitische Bewu8tsein nur Internationa-

64

~

lismus werden kanne (0., S. 1190), d. h. Sozialismus und auf der

anderen der Sozialismus sich in Ita lien als Internationalismus in

eine bestimmte nationale Kulturtradition einfiigt.

Krise

Es gibt eine ausgezeichnete Definition Gramscis tiber die Krise:

»Die Krise besteht darin, ( . .. ) daBdas Alte abstirbt und das Neue

noch nicht entstehen kann« (0., S. 311f; P.P., S.48). Das ist eine

Definition die eine ganze Kulturtheorie umfaBt, d. h. eine klar

umrissene'Theorie der Basis-Oberbau-Beziehungen. Sie hat in

der Tat viele Bedeutungen:1. Die herrschende Klasse hat den Konsens verloren, bewahrt

aber noch ihre Macht. Wenn sie auch nicht mehr »fiihrend«

ist ist sie trotzdem sherrschend«.2. Die beherrschte Klasse hat zwar noch nicht die Macht er-

obert, aber bereits den Konsens: wenn sie auch noch nicht die

»herrschende« Klasse ist, ist sie trotzdem bereits die »fUhren-

dec.3. Die Dialektik zwischen Herrschenden und Beherrschten

bleibt nicht auf ein reines Kratteverhaltnis beschrankt, son-

dern kommt in dem Verhaltnis von Macht und Konsens zum

Ausdruck.

4 Die durch Konsensverlust bedingte Erosion der Macht kann. zur Offnung fur historischen Fortschri tt fUhren, vermittelt

tiber den neuen Konsens.5. Die soziale Gewalt stellte immer ein Gemisch aus e tho s und

cratos (Gewohnheit und Macht - red. Anm.) dar. Die Krise

bedingt, daB dieses Gemisch auseinanderfiillt und sich nicht

wieder neu zusammensetzt.6. Wenn das Alte abstirbt und das Neue nicht entstehen kann,

halten sich sowohl das Alte wie das Neue ohne Kultur, oder

besser: auf einer kulturellen Grundlage, die homer mehr zu

»Skeptizismus gegentiber allen Theorien, zu Allgemeinfor-

meln und zu r Nutzanwendung des rein okonomischen Faktors

(Verdienst usw.) und der Politike fuhrt, d. h. die »R~dukti~n

der am meisten entwic1celten Oberbaustrukturen auf jene, die

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der Basis angehoren« (0., S. 312; P.P., S. 49).

7. Obwohl das Neue noch nicht die Oberhand gewonnen hat,

kann es bereits »die Fiihrung iibemehmen«: es ist im Besitz

einer historisch »fertigen« Kultur, die - im Gegensatz zur al-

ten Kultur - zu den fortgeschrittensten Oberbaustrukturenaufsteigen kann.

B . In der alten Kultur ist also ein pragmatischer Reduktionismus

wirksam, der sie jeglicher Allgemeingiiltigkeit entleert (daher

auch def Konsensverlust), was mit der »Zersetzung« eines

breiten Teils der bestehenden kulturellen Struktur einher-

geht. Demgegeniiber wird die neue Kultur sich von Reduk-tionismus und Pragmatismus befreien und in die von der alten

Kultur hinterlassenen Leerstellen eindringen, indem sie sogarderen Fiihrungskrafte iibemimmt.

9. Allerdings gibt es keine »zwei Kuhuren« (wie Lenin an-

nimmt), sondem ledigIich eine Kultur, deren Fiihrungskrafte

und InhaIte im Verlauf des Geschichtsprozesses verschiede-nen sozialen Klassen entstammen.

10. Das AusmaB der historischen Reife einer gesellschaftIichen

~asse erweist sich gerade an der Fahigkeit, eine allgemeine,

nicht reduktionistische und nicht korporativistische Kulturaufzubauen.

11. DaB eine Klasse ihre Interessen also als allgemeine Interessen

prasentisn, hat durchaus nicht die »betriigerische« Bedeu-

tung, die ihr immer beigemessen worden ist. Es handelt sich

vielmehr urn eine reale, historische Fahigkeit, zur geschichtli-

chen Allgemeinheit aufzusteigen, indem die »herrschenden'

Ideen« der Epoche ausgearbeitet werden.

Kultur , europ iiis che

... ist »die einzige historisch und konkret aUgemeine« (0., S.

1825.;M.S., S. 128). Daraus ergeben sich folgende Probleme:

1. Eine Klasse kann eine allgemeine Kultur hervorbringen.

2. I~ demselben weltgeschichtlichen Zusammenhang bringen

nicht aIle Klassen eine allgemeine Kuhur hervor.

3. Die Beziehung der Klassen untereinander verzeichnet also

66

I

, j

,

,,

eine historisch allgemeine Komponente, die sie mit der Tradi-

tion des Landes und den einzelnen Regionen verbindet.

4. Wenn das wahr ist, laBt sich daraus schlieBen, daB die groBte

Starke der europaischen Bourgeoisie darin besteht, daB es ihr

noch immer geIingt, sich gegeniiber der Arbeiterbewegung die

eigene universe lie Kulturtradition (selbst wenn sie sie zu rheto-

rischen und akademisch-formalistischen Zwecken umfunktio-

niert) und die relative Ungebildetheit der Arbeiterbewegung

(Okonomismus, Korporativismus, Operaismus) zunutze zu

machen.

5. Das bedeutet allerdings auch, daB sich in Europa das Krafte-

verhaltnis Bourgeoisie-Arbeiterklasse aufgrund veranderter

(hoherer) inteUektueller und kultureller Fuhrungsqualitat in-

nerhalb der Arbeiterbewegung andern kann, aus der Fahigkeit

der Arbeiterbewegung heraus, die universelle europaische

Kultur »zu erben« und sie zu integrieren in den eigenen gesell-

schaftspolitischen IntemationaIismus.

6. Der Sozialismus kann also in dieser Krisenepoche die europa-

ische Kultur unterstiitzen und erweitem und diese universe lie

Kultur den SoziaIismus unterstii tzen und ausdehnen auf das

Niveau einer neuen hegemonialen Befahigung zur geschichtli-

chen Fiihrung.

KulturtheorieDer allgemeinen Ideologietheorie, der Lukacs und Mannheim

dann eine zweideutige Soziologie des BewuBtseins aufgepfropft

haben, stellt Gramsci die Grundziige einer klaren Kulturtheorie

entgegen, die folgendermaBen zusammengefaBt werden kann:

Auf Massenebene herrscht in der Gesellschaft eine spon tane Ph i-

losophie vor, die sich inSprache , Re l ig ion , Fo lklore und dem darin

enthaltenenAlltagsbewuptsein oder der philosophischen Folklore

ausdriickt (0., S. 1375 u, 1311; M.S., S. 3; L.V.N., S. 268). Auf

dem Hohepunkt dieser Erfassung (der Welt, A.d.O.), die noch

subaltern bleibt, wird das aufgeklarte AlltagsbewuBtsein ausgear-

beitet, dessen Ziel es ist , »die Durchschnittsmeinung zu veran-

dem«; es fiihrt allerdings immer noch bloBneue Allgemeinplatze

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ein. (0., S. 2270; INT., S. 183). Auf diesem Niveau interveniert

eine erste Phase vonpolitischem Bewuptsein (0., S. 1385; M.S., S.

13), das in korporativem BewuBtsein zum Ausdruck kommt oder

als KJassenbewuBtsein, das noch von ideologischem Sektierertum

do~iniert is t und deshalb noch okonomisch-defensiv oder negativ

~1~lbt (O.,~. 323; P.P., S. 17). Erstdann wird das Niveau eines po-

smven, nattonalen und hegemonialen BewuBtseins erreieht. Von

dieser politischen Ebene aus, die mit dem AlltagsbewuBtsein ver-

bunden ist (0., S. 1383; M.S., S. 11), geht man tiber zur hoherenoder systematischen Philosophie (ibidem).

Gerade die Herausarbeitung dieses Zusammenhangs erlaubt esGramsci, die Unzulanglichkeu sowohl einer reinen Ideenkritik

die das propagandistische Moment der Ideenformationen vergifst,

als auch der reinen praktischen oder politischen Verdrangung der

Herrschaft von Ideologie zu begreifen. Er erkennt sowohl die

Wichtigkeit einer immanenten und theoretischen Kritik als auch

die einer historisch-gesellschaftlichen Verdrangung von Ideologi-en.

KutscherOiege*

Das ist »jedes Individuum, das von einem kollektiven Willen ab-

sieht und nicht versucht, ihn mitzuschaffen, ihn anzuregen, ihn

auszuweiten, zu verstarken und ihn zu organisieren« (0.,S. 1663;

MACH., S. 170). Es ist derjenige, der von sich selbst zu sehr ein-

genommen ist und darum aus der Logik der Geschiehte als »ein •

-unbewaffneter Prophet., ein schwaches Licht« (ibidem) hervor-gehen wird.

• meint etwa: Wichtigtuer, Besscrwisser (Anm, d. Red.)

L · ·1Z1sten

~rams~.ist viel leicht der einzige modeme Denker, dem es gelingt,

die pohttschen und kulturellen Traditionen des Laizismus in Ita-

lien zu kritisieren. In der Tat hatte sich die zeitgenossische Kultur

des gee in ten Italiens daran gewohnt, sich auf der Kritik an der Ide-

6 8

rikalen Tradition und auch auf dem Alibi einer versaumten Re-

formation in Italien auszuruhen. DaB es sich hierbei urn eine

reichhaltige Kritik handelt, steht auser Zweifel. Hingegen ist es

ein groBer Irrtum zu glauben, daB sie fiir eine Bewertung der

grundsatzlichen Grenzen in unserer Kultur und Politik erschop-

fend ware. Ein ahnliches UrteiI bildet aber auch die Grundlage ei-

nes gewissen selbstzufriedenen Denkens von »Laizisten«. An sie

richte t sich also zu recht dieser Vorwurf Gramscis: »Die Laizisten

sind an ihrer historischen Aufgabe als Erzieher und BiIdner von

Intellektualitat und moralischem BewuBtsein des Volkes und der

Nation gescheitert. Sie konnten die intellektuellen Bediirfnisse

des Volkes nicht zufriedenstellen: eben weil sie keine laizistische

Kultur reprasentierten und weiI sie keinen modemen Humanis-

mus auszuarbeiten wuBten; einen, der imstande - wie es vom na-

tionalen Standpunkt aus notwendig - gewesen ware, sich bis in die

rohesten und ungebildetsten Schichten hinein zu verbreiten; und

weiI sie an einer antiquierten, kleinlichen, abstrakten, viel zu indi-

vidualistischen oder in Kasten eingeteilten Welt festhielten« (0.,

S. 2118f; L.V.N., S 130). Gramsci fugt hinzu: »Selbst wenn die

Laizisten gescheitert sind, hatten die Katholiken keinen groBeren

Erfolg« (0., S. 2119; ibidem). Das ist naturlich kein Trost. Hier-

aus leitet sich vielmehr die Notwendigkeit eines kulturellen Auf-

baus und autonomer Arbeiterpol itik ab, die das schafft, was Laizi-

sten und Katholiken nicht imstande waren zu tun; und es durchzu-

fuhren vermag, gerade weil sie das historische Verdienst sowohlder einen wie der anderen zu wiirdigen weill.

Leb ewesen , po 6tisches

Auch Gramsci »wiederholt« den Satz des Aristoteles, daB der

Mensch ein politisches Lebewesen sei. Die Begriindung ist jedoch

mit der Aristotelischen nieht vergleiehbar. Politisches BewuBtsein

und Verhalten haben fur Aristoteles die ausschlieBliche Bedeu-

tung naturlich-passiver Gesellschaftlichkeit, naturgegebene »Be-

stimmung« in dem Sinne, daB »wer von Natur aus auBerhalb der

staatlichen Gemeinschaft lebt ( . .. ) entweder ein AusgestoBener

ist oder tiber den Menschen steht« und »isoliert ist wie eine

6 9

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Schachfigur vom Wiirfelspiel«. Doch selbst wenn aile Menschen

gesellschaftlich integriert sind, sind nur wenige citoyens, d. h. ak-

tive politische Lebewesen: Menschen imwahrsten Sinne des Wo _

tes. Aile anderen bleiben de facto Sklaven, Nicht-Menschen. Ft r

Gramsci hingegen ist der Mensch wesentlich politisch, denn »d e

Tatigkeit bewuBter Veranderung und Fiihrung anderer Mensch n

realisiert seine -Menschlichken., seine >menschliche Natur-e ( .,

S. 1338; M.S., S. 42). Zwischen diesen beiden Auffassungen Ii gt

die allgemeine christIich-biirgerliche Einlosung (geistig-ide 11-

rechtlich) des Menschen alsdem Sohn des Vaters und als Subi kt.

Und femer gibt es den neuen, historisch-materialistischen Gedan-ken: hiemach ist der Mensch »ein >historischer Block- rein indivi-

dueller, subjektiver und objektiver oder materieller Elemente und

Massenelemente, mit denen das Individuum eine aktive Bezie-

hung unterhalt«. In der Tat wird nun die Subjektivitat oder prakti-

sche Inferioritat des anderen zumeiner theoretischen Grenze und

meine Expansion als Subjekt bedarf der Befreiung aus der prakti-

schen Subjektivitat der anderen. So wie Gramsci sagt: »Die Au-

8enwelt, also die allgemeinen Beziehungen zu verandern bedeu-

tet, das eigene Selbst zu starken, sich selbst zu entfalten« (ibidem).

Wenn bei Aristoteles politisches Verhalten ledigIich passive und

»naturalistische« GesellschaftIichkeit war so fiihrte diese Auffas-

sung in der Modeme zu einem Sprung indie Abstraktheit ethisch-

rechtlicher Gleichheit. Marxisten wie Gramsci gingen noch einen

Schritt weiter bis zur Eroberung konkreter Allgemeinheit. Der

Mensch aber muB, eben aufgrund seines Daseins als personliches

Individuum, das allgemeine Verhaltnis verandern, so daB die all- •

gemeinen Verhaltnisse weder passive, natiirIiche Au8erIichkeit ,noch abstrakte, geistige Subjektivitat bleiben: sie werden allge-

meine Verhaltnisse subjektiver Au8erIichkeit, entwickeln sich zur

Vermittlung zwischen Individuum und Gattung und zwischen gei-

stiger Haltung und konkretem Dasein.

Lenin

Gramscis Bewunderung gegenuber Lenin ist groB. In ibm erkennt

er den ketzerischen Marxisten, der »gegen das Kapital die Revolu-

70

tion« macht, Konnte man sagen, daB Gramsci ein ketzerischer Le-

ninist ist, der die Revolution gegen »Staat und Revolution« macht?

Liberal i smus

»Die gesamte liberale Ideologie mit ihren Vorziigen und Schwa-

chen last sich in dem Prinzip der Gewaltenteilung zusammen fas-

sen; und es tritt das inErscheinung, was die Ursache der Schwache

des Liberalismus sein konnte: Sie liegt in der Biirokratie, in der

Erstarrung des die Gewalt ausubenden Fuhrungspersonals, das abeinem bestimmten Punkt zur Kaste wird. Daher die vom Volk er-

hobene Forderung nach der Wahlbarkeit aller Amter, eine Forde-

rung, die extremen Liberalismus und gleichzeitig seine Auflosung

ausdriickt.« (0., S. 752; MACH. S. 107) Zusatz: 1.Der Libera-

lismus hat nicht nur »Schwachen«, sondem auch »Stiirken«. 2.

Gerade durch die Entwicklung einer dieser Starken bis zum Ex-

trem, d. h. die allgemeine Wahlbarkeit der Amter, kann der Libe-

ralismus in Richtung auf den Sozialismus iiberwunden werden. 3.

Urn den LiberaIismus zu iiberwinden, muBder Sozialismus die Bii-

rokratie iiberwinden, d. h. die Erstarrung der personlichen Fiih-

rung. 4. Der Sozialismus siegt, wenn er die Demokratie maximal

entfaltet und vor allem, wenn er sie dann aufrecht erhalt.

Lorianismus

»Das ist die Mentalitat, die gekennzeichnet ist durch -Uneinheit-

lichkeite, durch Fehlen von historischem, systematischem Denken,

durch Nachlassigkeit in der Durchfiihrung wissenschaftlicher Ar-

beiten, durch Fehlen kultureller ZentraIisierung, durch ethische

Verweichlichung und Nachgiebigkeit im Bereich wissenschaft-

lich-kultureller Tatigkeit usw.« (0., S. 2321; INT., S. 215). Wenn

auch die Bezeichnung von dem Namen des Italieners Achille Loria

abgeleitet ist, so ist der Lorianismus nicht ausschlieBIich ein itaIie-

nisches Phanomen: »Jede Nation hat den ihren« (0., S. 2325;

INT., S. 219). Es verwundert also nicht, daB er zwar existiert, ihm

aber nicht immer kritisch »Einhalt geboten« wird, urn ihn anzu-

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feehten (0.,S. 2326; INT., S. 220). Als Vertreter des Lorianismus

fuhrt Gramsci Enrico Ferri, Alberto Lombroso, Arturo Labriola,

Filippo Turati, Guglielmo Ferrero, Luigi Einaudi, Paolo Orano

und andere an. Doeh soUteman berueksiehtigen, daB Gramsei inden 30er Jahren sehrieb.

LuftschJoB-Imperialismus

So definierte Gramsci (0.,S. 45) den italienisehen Imperialismus

und beurteilt ihn folgendermaBen: »dem itaIienisehen Imperia-

Iismus fehIte eine reale Basis, die durch >Leidensehaftliehkeit< er-

setzt wurde. Italien hatte nieht nur kein Kapital zu exportieren,

sondem muBte fur die ureigensten Bedurfnisse auf ausIandisches

Kapital zurUekgreifen.« Und somit exportierte es Rhetorik; und

naturlich aueh die anderen elenden Methoden eines jeden Impe-

rialismus: Terror, UnterdrUekung, Too. Der italienisehe Imperia-

lismus war also nieht nur ein Sehurken-Imperialismus, wie Lenin

ihn bezeiehnete, sondem aueh ein MOchtegem-Imperialismus.

Mi innlid te Vorhe rrscha ft

Mit der Feststellung, daB »die -Vorherrschan des Mannes. nur in

gewissem Sinne mit der Herrsehaft einer Klasse vergliehen werden

kann« (0.,S. 302) steUt Gramsci das bekannte Urteil Engels rich-tig, wonaeh der Mann die Frau beherrsehe wie der Kapitalist denProletarier.

»Karl Marx ist fur uns ein Meister in geistiger Lebenstiitigkeit und

nieht der FUhrer mit der Rute«. (S.G., S. 220). Aus diesem Grun-

de, selbst wenn »Marx intellektueU ein historisches Zeitalter ein-

leitet, das wahrseheinlieh Jahrhunderte andauert, d. h. bis zum

Versehwinden der politischen Gesellschaft und zum Beginn der

selbstbestimmten Gesellschafre (0., S. 882; M.S., S.92), dart man

72

ruhig sagen, daB »auch er manehmal schlief«. (S.G., S. 328).

Marxismus

»Der Marxismus hatte zwei Aufgaben: erstens modeme Ideolo-

gien in ihren differenziertesten Formen zu bekampfen und die

Volksmassen aufzuklaren, deren kuIturelles Niveau mittelalter-

lieh war.« (0.,S. 422) Wahrend einer ganzen Epoehe aber hat der

Stalinismus diese beiden Aufgaben entstellt, indem er den Mar-

xismus zur Kritik an den krudesten der modemen Ideologien undzur Verherrliehung folkloristiseher MassenkuItur veranlaBte.

Aber aueh bei Lenin wurde die KuIturtheorie dureh die Idee in

Frage gestellt, daB der biirgerliehen Kultur eine .so~alisti~e~e

(volkstumliche) KuItur entgegenzusetzen sei. In Wirklichkeit ist

die burgerliehe KuItur auf der einen Seite deswegen nieht einfaeh

Klassenkultur, aueh nieht in beschrankten Aspekten, weil sie in

der Lage ist, einheitliehe (in der Wissensehaft) und allgemeine

Komponenten (in Kunst, Philosophie usw.) zum Ausdru~k ~u

bringen, aueh historiseh allgemeine. Und auf der anderen Seite ist

sozialistisehe Kultur kein instinktmaBiges Produkt der subalter-

nen Klassen, sondem intellektuelle Verarbeitung, die rationaler

VermittIung und kultureller Kontinuitat bedarf. Der »Bruch« er-

eignet sieh imwesentliehen dadureh, daB die neue Kultur an ein~m

materialistischen Modell (dem Marxismus als Gesellschaftswis-

senschaft) und an einem politischen Modell (der sozialistisehen

Befreiung) ankniipft. Es besteht also eine grundlegende Einheit

der Kultur als Form intellektueller Produktion. Als »gesellschaft-

liehe Funktion (Resultat einer Geschiehte und eines gesellschaftli-

chen Prozesses zu sein) unterseheidet sieh die neue Kultur auf-

grund dessen, daB sie die Einheit von gesellschaftlieher Theo~e

und Praxis thematisiert und theoretisiert; denn die Unterschei-

dung der Aufgaben zur gesellschaftliehen Transf~rm.ation bild~t

sie ebenso aus der eigenen Beurteilung der Geschichte heraus wie

die neuen sozialpolitischen Protagonisten. Diese interessiert al-

lerdings das bestehende kulturelle (subaIteme) Niveau durehaus

nieht, imGegenteil, die neue KuItur kampft darum »die volkstum-

liehe >Mentalitat<zu verandern« (0.,S. 1330; M.S., S. 30), indem

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sie iiber die Folklore und das AlltagsbewuBtsein hinausgehend

eine systematisch-wissenschaftliche Sichtweise der Welt entfaltet.

Sich als gesellschaftliche Funktion zu erfahren, bedeutet durchaus

nicht, die intellektuellen Strukturen der neuen Kultur herabzuset-zen.

Maximal ismus

»Der Maximalismus ist eine fatale und mechanische Konzeptionder Marxschen Doktrin« (C.P.C., S. 248).

Musik

In Italien, bemerkt Gramsci, ist die Literatur nie popular gewesen,

sondem die Musik. Und »die italienische Musik ist in Europa

ebenso popularwie in Italien« (0., S.807; L.V.N., S.80). 1mZu-

sammenhang mit dieser Feststellung entwirft Gramsci eine wich-

tige Argumentation und fragt sich: »warum die kiinstlerische ita-

lienische >Demokratie<zu einem musikalischen, aber nicht -litera-

rischen. Ausdruck gefunden hat« (0., S. 1136; L.V.N., S. 82).

Entwickelt man einige Andeutungen Gramscis weiter, liiBt sich

eventuell feststellen, daB die Trennung zwischen Kultur und Poli-

tik, wie sie sich aufgrund der versaumten nationalen Einigung in

Italien hergestellt hat, den italienischen »Genius« in die von derPolitik entfemtesten kulturellen Bereiche getrieben hat: die Male-

rei und vor allem die Musik. In diesen Bereichen hat es somit eine

standige kulturelle Bliite gegeben, die Italien zur »Erganzung aller

anderen Lander ( ... )« werden lieS und zur »Schopferin von

Schonheit und Kultur in ganz Europa« (0., S. 118; INT., S. 50).

Diese intellektuells »Konzentration« hat auf der anderen Seite

besonders der Musik erlaubt, zu einer originaren Fusion zwischen

kosmopolitischer Universalitat und national-volkstiimlicher Er-

oberung zu gelangen: »Verdi, Puccini, Mascagni (... ) haben keine

Entsprechungen in der Literatur« (0., S. 2253; L.V.N., S. 101).

All das hat die kiinstlerische »Berufung« der Italiener gefestigt.

Unter bestimmten Gesichtspunkten ist sie zu einer Art altemati-

74

vern Betatigungsfeld (und sogar zu einem Alibi) fiir die politi~chen

Niederlagen geworden. Dennoch bleibt die italienische MUSlkg~-

schichte eine Avantgarde in der Weltkultur ohne emste Anzei-

chen von Dekadenz, und sie konstituiert vielleicht im Verlauf der

Jahrhunderte die einzig homogene Linie in der Entwicklung der

nationalen Kultur: Palestrina, Moteverdi, Frescobaldi, Corelli,

Scarlatti Stradella, Vivaldi, Tartini, Viotti, Paganini, Clementi,

Pergole:i, Boccherini, Paisiello, Ciamarosa, Rossini, Donizzetti,

Bellini, Verdi, Puccini, Mascagni.

Nationalismus

Die versaumte Konstituierung einer rechtzeitigen nationalen Ein-

heit und einer national-volkstiimlichen Kultur hat nun das Entste-

hen eines italienischen Nationalismus durchaus nicht verhindert:

»Das ist eine nur selten gemachte Beobachtung, daB in Italien ne-

ben dem kosmopolitischen BewuStsein und dem oberflachlichen

Anti-Patriotismus immer ein ziigelloser Chauvinismus bestanden

hat der ankniipfte an den Romischen Ruhm, den Seefahrerrepu-

bliken und der personlichen Bliite von Kiinstlem und Literaten

und Wissenschaftlem von Weltruf« (0., S. 181; MACH., S. 269).

So kam es daB der italienische Nationalismus seine Basis in der

Verherrlichung universeller und kosmopolitischer Traditionen ge-

funden hat; denn der »kulturelle Nationalismus« ist »vielleicht dieeinzige Form von Chauvinismus in Italien« (0., S. 1202; P.P:, S.

16). Aber offenbar konnte ein nationalistischer Gebra~ch el~er

solchen universellen Tradition nichts anderes als rhetonsch sem.

Auf der anderen Seite muSte er sich als widerspriichlich erweisen.

Darum nimmt Gramsci an, daB der Nationalismus (Faschismus)

nicht das fatale Ende der Geschichte Italiens sei, sondem im Ge-

genteil , daS die universelle Tradition Italiens in ein »modemes

kosmopolitisches BewuStsein« der Arbeiterbewegung (0., S.

1987; R., S. 82f) einmiinden konne,

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National-volkst i imlich

Die Interpretation des Begriffs national-volkstiirnlicher Kultur ist

inder Vergangenheit deformiert worden, sei es durch die Arbeiten

gewisser Junger, wie durch die Arbeiten gewisser Kritiker Grams-

cis. Auf beiden Seiten hat der Begriff des national-volkstiimlichen

auf unzulassige Weise - um ihn zu verherrl ichen oder zu verdam-

men - ein spontaneistisches Moment aufgenommen, das in Wirk-

lichkeit das hisiorische Uberbleibsel von Unterdriickung und kul-

tureller Minderwertigkeit der subaltemen Klassen ist. Eigentlich

handelt es sich um ein plebejisches und d. h. untergeordnetes

Moment, bar jeder historischen Fuhrungsqualitat oder hegemo-

nialer Fahigkeit. Das hat nichts mit einer national-volkstiimlichen

Kultur zu tun, d. h. einer, die laut Gramsci imstande ist, einem hi-

storischen Block Ausdruck zu verleihen und ihn anzufiihren. Nie-

mand, so scheint mir, hat bemerkt, daB wenn Gramsci Beispiele

national-volkstiimlicher Kultur angefiihrt hat, er keine Folklore,

keine Sprichworter oder imDialekt geschriebene Poesie zitiert hat

(wie das gewisse Jiinger oder Kritiker glauben konnten), sondern

nichts weniger als die griechischen Tragodiendichter und Shake-

speare. Gramsci schreibt: »Volkstumliche Literatur im schlechte-

sten Sinne (wie Sue und seine Gefolgschaft) ist eine politisch-

kommerzielle Degenerierung der national-volkstiimlichen Litera-

tur, deren Modelle eben die griechischen Tragodiendichter und

Shakespeare sinde (0., S. 1137; L.V.N., S. 83).

Nomadentum

~~gibt auch ein politisches Nomadentum. Es kennzeichnet die po-

litischen Gruppen, die sich aus »Freiwilligen« und »Verrucktene

zusammensetzen, die keine »sozialen, homogenen Blocke« repra-

sentieren (0., S. 1624; R., S. 249) und sichihnen gegeniiber nicht

verantwortlich fiihlen. Sie arbeiten wie »Zigeunerlager und No-

maden der Politik« (ibidem), als »Avantgarden, ohne unterstiit-

zende Armee«. Sie sind »Pseudo-Aristokratene (0., S. 1676; R.,

S. 250), die zwischen nihilistischer Subversion und Machtkult

schwanken, »um ihre Zigeunerherrschaft zu verewigen« (ibidem).

76

Oft iz iersarmee

In Bezug auf die poli tische Partei schrieb Gramsci, daB »es viel

einfacher ist, eine Armee aufzubauen als Offiziere herauszubil-

den« (0., S. 1733 f; MACH., S. 29). Aber Gramsci beabsichtigte

sicher nicht zu behaupten, daB es in der modernen Welt darum

gehe, keine Armee, aber Offiziere zu schaffen. Vielmehr wollte er

zum Ausdruck bringen, daB das Hauptproblem in der Politik darin

besteht, eine Armee aufzubauen, d ie in d er L ag e ist, sich Offiziere

zu schaffen, also eine Massenpartei dazu zu befahigen, Kader aus-

zubilden.Die Formulierung »eine Offiziersarmee« scheint mir sehr ge-

eignet zu sein, um einige Punkte in der Parteitheorie Gramscis zu

beleuchten.Eine »Offiziersarmee« ist keine Armee, insofem sie nicht hier-

archisch gegliedert ist. Das »MiBverhaltnis« zwischen Kadem und

Massen ist nur vorlaufig und muB bekampft werden. Die »Nivel-

lierung« zwischen Kadern und Masse wird gefordert und dennoch

ist auch sie als solche immer nur provisorisch; denn die »Offiziere«

sollen die standige Expansion der »Armee«, d. h. die »Anwer-

bung« neuer Massen vorantreiben. Die »Offiziersarmee« hat ge-

rade die AuflOsung der »Armee« zum Ziel, d. h. die allgemeine

Homogenisierung der Massen auch auBerhalb der Partei, um die

Partei selbst und ihre Kader iiberfliissig zu machen.

Es wird deutlich, daB fiir Gramsci die wesentliche Frage in der

Parteitheorie die der Auflosung der Trennung zwischen Kader

und Masse ist, ebenso wie in der gesamten polit ischen Theorie es

ibm um die Auflosung der Scheidung in Regierte und Regierende

geht. Wahrend aile anderen Parteitheorien das Problem der politi-

schen Fuhrung aus dem Schema des organisatorischen Aufbaus

schlieBen, entwickelt die Theorie Gramscis sich in die entgegenge-

setzte Richtung: er fiihrt das Problem des organisatorischen Auf-

baus auf das der allgemeinen politischen Fuhrung zuriick.

Mit genialer Originali tat entwirft Gramsci somit die Theorie

von der »Nicht-Autonomie« der politischen Organisation, die in

der Forschung nun der historisch-theoretischen Erkenntnis unter-

geordnet wird; d. h.untergeordnet unter die Erarbeitung theoreti-

scher Fragestellungen, wie sie eine historische Situation aufwirft

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und unter Entwicklung funktionaler Antworten: eine historische

Theorie von Politik.

SchlieBlich resuItiert das Verhaltnis Kader-Masse in der Theo-

rie von Gramsci vor allem aus dem allgemeinen Verhaltnis Regier-

te- Regierende (so daB die Parteitheorie mit der Staatstheorie zu-

sammentallt) und dem Verhaltnis der Intellektuellen zu der einfa-

chen Masse. Die politische Theorie wird also zum Ausdruck einer

Padagogik und einer Kulturtheorie und letztendlich zu einer ein-

heitlichen Gesellschaftswissenschaft, die imstande ist, zu einer

Analyse der Trennung von KuItur und Arbeit, von Politik undOkonomie vorzudringen, urn dann ein Programm zur praktischen

Verdrangung dieser Antinomien vorzuschlagen.

Partei

»Sie ist eine staatIiche Struktur im Werden« (0., S. 320; P.P., S.

76), d. h. »ein potenzieller Staat«, ein Embryo, der sich in der

HillIe der sozialen Interessen einer K1asseentwickeIt, von denen

sie sich dann fortlaufend unterscheidet oder sogar in dem MaBe

loslost, wie die Partei sich als umfassendes fiihrendes Zentrum der

Gesellschaft setzen will. Darum, »wenn es wahr ist, daB die Par-

teien nichts als die Nomenklatur der Klassen sind, ist es ebenfalls

wahr, daB die Parteien kein mechanischer und passiver Ausdruck

dieser selben Klassen sind, sondern energisch auf diese einwirken,urn sie weiterzuentwickeIn, sie zu starken und zu verallgemeinern«

(0., S. 387; P.P., S.78). Dieser Passus von Gramsci ist noch nicht

geniigend analysiert worden, und man hat sich im allgemeinen

darauf beschrankt, die Bestimmung der Parteien als »Nomenkla-

tur der Klassen« zu unterstreichen. In Wirklichkeit wirft Gramsci

eine ziemlich klare und feingliedrige Problematik auf. SchlieBlich

ist zu beachten, daB fur Gramsci sich auch die Klassen weiterent-

wickeIn, starken und verallgemeinern, und das sollte sowohl in der

historischen wie in ihrer theoretischen Dimension bewertet wer-

den, d. h. sowohl beziiglich ihrer zeitbedingten Varianten wie auch

ihrer kultureUen Entwicklung. Dementsprechend soll ten dann

auch die Merkmale der von der politischen Partei erreichten Stufe

erkannt werden; wenn die Partei zunachst ein »intra-uterines Le-

78

ben« lebt , d. h. in den Grenzen der unmittelbaren sozial-okono-

mischen Interessen der Klasse, so iiberwindet sie dann die korpo-

rative Phase und tritt inein »extra-uterines Leben« ein, wo sie die

Formen allgemeiner Fiihrung ausarbeitet, die die K1assestarken

und verallgemeinern. In diesem ProzeB durchlauft die politische

Partei verschiedene Funktionen, von nebensachlichen und rein

praktischen bis hin zu immer autonomeren, fortgeschritteneren

und verfeinerten Funktionen. Darum ist sie tatig als »Schmelztie-

gel zur VereinheitIichung von Theorie und Praxis, verstanden aIs

realgeschichtIicher ProzeB« (0., S. 1387; M.S., S. 15).

Partei sis FDter

So lieBe sich die moderne revolution are Partei defmieren, die in

einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft tatig ist. Sie

arbeitet als historischer Experimentator von Weltanschauungen

und gleichzeitig als theoretische Auslese der Massen und folglich

als »Schmelztiegel zur VereinheitIichung von Theorie und Praxis,

verstanden als realgeschichtIicher ProzeB« (0., S. 1387; M.S., S.

15). So beendet Gramsci die alte Polemik, wie sie in der marxisti-

schen Tradition zwischen den Theoretikern der Partei als Avant-

garde und den Theoretikern der Partei als Teil der K1assegefuhrt

worden ist. Die Partei als Fil ter ist in der Tat sowohl Avantgarde

wie auch Teil der Masse, in dem MaBe, wie sie historische Avant-garde einerseits und theoretisch qualifizierter Teil der Masse an-

dererseits ist.Die Parteitheorie verweist somit auf die Theorie von

dem Verhaltnis Regierte-Regierende und dem Verhaltnis der In-

tellektuellen zu einfachen Menschen, flir deren Losung Gramsci

als technisches Funktionsmodell die Verfolgung eines unerhorten

Ziels voraussieht: die Aufhebung dieses verhaltnisses, d. h. das

Ende sowohl der Trennung in poli tische und gesellschaftl iche

Sphare als auch der geselIschaftIichen Teilung von Arbeit und

Kultur.

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Parte i, r evo lu ti on ire Partikular

Eine allgemeine Theorie der modemen revolutionaren Partei

sollte imstande sein, zwei grundlegende Forderungen miteinander

zu vermitteln. Die erste wurde von Marx mit folgenden Worten

zum Ausdruck gebracht: »In ihrem Kampf gegen die vereinte

Macht der besitzenden Klassen kann das Proletariat nur dann als

Klasse agieren, wenn es sich ineiner selbstandigen politischen Par-

tei organisiert, die sich allen anderen, von den besitzenden Klassen

gegriindeten Parteien entgegenstellt.« In diesem Sinn wird die

Partei zum Ausdruck der Klasse, Klassenpartei im engeren Sinne.Man konnte mit Lenin sagen, daB »in einer auf Klassenteilung ba-

sierenden Gesellschaft der Kampf zwischen den Klassen unab-

wendbar ab einer bestimmten Entwicklungsphase in politischen

Kampf umschlagt.« Also »der koharenteste und vollstandigste

Ausdruck des Klassenkampfes ist der Kampf unter den Parteien.«

Die zweite Forderung ist vor allem von Gramsci formuliert wor-

den, der den hegemonischen Anspruch der Arbeiterklasse und ih-

rer Partei gegeniiber der ganzen Gesellschaft theoretisiert.

Gramsci schreibt: »In der modemen Welt ist die Partei erst dann

im vollen Umfang eine solche - und nicht, wie es vorkommt, die

Fraktion einer grofse ren Partei - wenn sie so geplant, organisiert

und gefiihrt wird, daB sie sich zu einem Staat (einem integralen

Staat undnicht einer technisch zuverstehenden Regierung) und zu

einer Weltanschauung entfalten kann« (0., S. 1947; MACH., S.183).

Auf diesem Hintergrund entfaltet die KJassenpartei, unter

Vermittlung ihrer kulturellen Hegemonie, eine tendenzielle

»Neueroberung« der Gesellschaft, von der sie jetzt getrennt ist.

Einerseits verwandelt sich die Partei also vom poliuschen Aw-

d ru ck d er K la sse in d en p olitis ch en T ra ger d er K la sse, und anderer-

seits wird ihr autonomistischer und separatistischer Kampf auf

dieser neuen Grundlage einigender und sogar wiedervereinigen-der Kampf.

Man konnte sogar sagen, daB das ganze Werk Gramscis darauf

zielt, der Bewunderung des »Partikularen« oder dem »modemen

Guicciardismus" vieler Intellektueller, denen es so scheint, als rei-

che es aus > : z u reden- « (0.,S.1261; M.S.,S.313), eine Niederlage

zu verpassen. Vor solchen Hoben breitet sich dann der Sumpf aus,

der in aile Richtungen die »Erinnerung« Guicciardinis wiederholt:

»Schenkt denjenigen keinen Glauben, die so wirkungsvoll die

Freiheit predigen, denn fast aile, nein, vielleicht jeder hat partiku-

lare Interessen zum Gegenstand«. Aber Gramsci schlagt nicht vor,

weder diese »italienische Krankheit« noch den Aktivismus, das

»Machen um des Machens willen«, noch die immer egozentrischer

werdenden, moralischen Verdrehungen zu verbessem. Er Macht

vielmehr - wie man weiB- den Vorschlag einer intellektuellen und

moralischen Revolution, die sich mit einer politischen Revolution

koordinieren laBt, eine politische Revolution, die sofort auch in-

tellektuelle und moralische Revolution sein kann. Damit meint er

nicht, die politische Revolution bis zur Beendigung der Unterwei-

sung der Italiener aufzuschieben (wie das jeder Reformist vor-

schlagt), noch stellt er den Anspruch, die moralische Revolution

nur deshalb zu unterdriicken, weil das dringiichere Problem der

politischen Revolutionierung anstehe (wie das implizit jeder Ma-

ximalist suggeriert). Gramsci wahlt den komplexeren und lange-

ren Weg. Denn er weiB, daB imVerlauf der langen Geschichte derItaliener keine Abkiirzungen mogl ich sind.

Es ist zu bemerken, daB diese Entwicklung von der revolutionaren

Arbeiterpartei vor allem in der Ubergangsphase vom »Bewe-

gungskrieg« zum »Stellungskrieg« vollzogen wird, d. h. in der

durch die politische Demokratie vermittelten sozialen Ubergangs-

zeit. In diesem Fall nimmt die Klassenpartei auf einer soziologi-

• Francesco Guicciardini, 1483-1540; entstammte einer alten florentinischen

Kaufmannsfamilie; Rechtswissenschaftler, tiitig in der Politik, Zeitgenosse Ma-

chiavellis. Hinterlie8 vor allem historische Schriften, sein umfassendstes Werk ist

:oStoria d'Italiae,

Die Aufmerksamkeit, die er den :oPartikularenc widmet, entwickelt sich aus

der Reflexion tiber die allgemeine Anschauung: sobald sie entsteht, wird der Ent-

husiasmus unmittelbar durch das Partikulare gebremst, den groBen Planen stellt

sich somit die bittere Einsicht inderen Vergiinglichkeit entgegen. (Anm. d. Red.)

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schen Ebene expansive Gestalt an (daher die Beschuldigung von

interklassistischem Revisonismus), und ist imstande, politisch und

kulturell das gesellschaftlich Charakteristische der verschiedenen

sozialen Schichten, die mit der Arbeiterklasse verbunden sind,

herauszuarbeiten und zu verandern. In gewissem Sinne mag es

richtig sein, daB die Partei von einem »Agenten des Konflikts« zu

einem »Agenten sozialer und politischer Integration« wird, wie

das zeitgenossische Soziologen bestatigen. Aber nur insofem die

Partei eine soziale Integration, die an ein allgemeines und radika-

les Obergangsprogramm der Gesellschaft und des Staates gebun-

den ist, vorzuschlagen weill, d. h. sich auf eine sozusagen klassen-

maBige oder konfliktgeladene Interpretation der burgerlichen

Gesellschaft griindet. Aufgrund der »Konfliktgeladenheit« der

Partei kann diese sich nicht mehr als Sekte absondem und ihre

»Integrations«-Funktion nicht durch die Unterordnung unter den

Status quo losen, Gerade als Klassenpartei reprasentiert die revo-

lutionare Partei die Klasse als »Staatsgriinderin«, als Agent zur

allgemeinen Emanzipation und leitet ihr Handeln in diese Rich-

tung.

Auch in diesem Sinne laBtsich sagen, daB die Partei zum kol-

lektiven Intellektuellen der Klasse wird. Erst auf dieser Entwick-

lungsstufe ist die okonomisch-korporative Phase des Klassen-

kampfes wirklich tiberwunden. Nun erst ist das Geftige des neuen

Staates fertig, das im Faile des insurrektionalen Obergangs zum

Sozialismus nicht vorher, sondem hinterher aufgebaut werdenmuBte.Doch an diesem Punkt ist jede eindeutige Trennung zwi-

schen vorher und nachher aufgehoben. Der insurrektionale Staat

wird in Bezug auf seine allgemeine Fuhrungsfahigkeit in der Tat

verdrangt und hat sich so auf nur eine Partei reduziert, wahrend

die Partei, die als »Staatsgriinderin« auftritt, aufgrund ihrer all-

gemeinen Fuhrungsfahigkeit zum Staat geworden ist. Zum Staat

fehlt ihr jetzt nur noch das Moment der Zwangsgewalt. Allerdings

ist es ziemlich schwierig aufzuzeigen, daB der Ubergang vom In-

nehaben des Konsens binzum Besitz der Gewalt wesentlich kom-

plizierter ist als der Obergang vom Besitz der Macht hin zum Be-

sitz des Konsens.

All das beweist u. a., daB die Partei nach Gramsci keine Defor-

mation der Klassenpartei zu einer Catch-all-Partei darstellt, son-

dem ihre Transformation vom negativen Protagonisten zum posi-

tiven Protagonisten des modemen politischen Lebens.

P essim ismus - Op tim ismus

»Pessimismus der Intelligenz, Optimismus des Willens«

(0.,S.1131; P.P.,S.8): der Zweifel als Norm des Denkens, das

Vertrauen als Norm des Handelns.

Phl losoph , wirk l id tke it snaher

Da laut Gramsci »sich jeder verandert, sichwandelt in dem Ma8e,

wie sich der gesamte Bezugsrahmen andert und wandelt, inner-

halb dessen er den Schnittpunkt von Beziehungen bildet«, »ist er

wirklichkeitsnaher Philosoph und kann nicht anders als politisch

sein, d. h. ein aktiver Mensch, der seine Umwelt verandert«

(0.,S.1345; M.S.,S.34). Er ist ein Politiker, der seine Umwelt ver-

andert, urn sich selbst zu verandern, der also tiber einen Plan zur

Veranderung verftigt; d. h. ein politischer Mensch, der ebenfalls

Philosoph ist, der zum Politiker wird, urn wirklichkeitsnaher Phi-

losoph zuwerden, zum authentischen Befreier seiner selbst. Wah-

rend sich auf diese Weise jede reine Philosophie oder illusorisch-

geistige Emanzipation auflost, lost sich gieichsam jede Form tradi-tioneller Politik auf: sei esMachtpolitik, die lediglich am Befehlen

Geschmack findet, sei es Politik aus Leidenschaft, als »aufklareri-

sche Medizin der Leidenschaften« (0.,S.1308; M.S.,S.299f), sei

es die Politik aus Ergebenheit oder kirchlich-missionarische Hei-

ligsprechung des eigenen Selbst gegeniiber der Welt. Denn eigent-

lich ist Politik gerade die Vervollstandigung des Selbst in der Welt,

die Vermittlung zwischen allgemein geistiger und allgemein prak-

tischer Beziehung.

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Ph il os oph , d emokratis ch er kann. Darum erhebt er »die Frage nach der Modifizierung der

Ausbildung des politisch-technischen Personals, das seine Kultur

den neuen Notwendigkeiten entsprechend vervollstandigt, und

die Frage nach der Herausarbeitung eines neuen Typus speziali-

sierter Funktionare, die in kollegialer Zusammenarbeit die bera-

tenden Tatigkeiten erganzen« (Q.,S.1532; INT.,S.127). In einer

fortgeschrittenen Gesellschaft »braucht die Fiihrungskraft ein

Minimum an allgemeiner technischer Bildung, die es erlaubt,

wenn auch nieht autonom die richtige Losung -zu schaffen-, so

doch die von Experten vorgelegten Losungen beurteilen zu kon-

nen und sich fur die zu entscheiden, die von einem -synthetischen.

Gesichtspunkt der politischen Technik aus als die richtige er-

scheint« (Q,ibidem; INT.,S.128).

So bezeichnet Gramsci den Philosophen, der »iiberzeugt ist, daB

seine Personlichkeit sich nicht auf die eigene physische Individua-

litat beschrankt, sondem eine aktive gesellschaftliche Beziehung

im Wandel der kulturellen Umwelt ist« (Q.,S.1332; M.S.,S.32);

unter der Bedingung, daB die Umweltveranderung sowohl die Ur-

sache fiir die kulturellen Veranderungen in der Vergangenheit war

als auch dieVoraussetzung fur diejenigenin der Zukunft sein wird.

Der Philosoph ist also nicht deshalb demokratisch, weil er demo-

kratische Politik betreibt, sondem weil er demokratische Politik

theoretisiert .

PotitikPotizei

Fiir Gramsci »ist die Beziehung zwischen .hoher- Philo sophie und

AUtagsbewuBtsein durch die Politik gesichert« (Q.,Ver S. 1383;

M.S., S. 11). Und da »jede Philosophie dahin tendiert, Alltagsbe-

wuBtsein zu werden« (Q.,S.1382; ibidem), kann man ebenso gut

sagen, daB die Politik die tendenzielle Vermittlung zwischen sy-

stematischer Philosophie und AlltagsbewuBtsein darstellt; in ei-

nem doppelten Sinne, daB namlich die Politik das praktische In-

teresse als Grundlage der Politik »rationalisiert«, und daB sie in

der Praxis die Allgemeinheit der Philosophie »verkorpert«. Mit-tels Politik wird also die Praxis zu Theorie und die Theorie zu Pra-

xis. In ihr verkorpert sich als »politisches BewuBtsein das

-Selbstbfstsein-, indem Theorie und Praxis sieh schlieBlich verei-

nen« (Q.,S.1385; M.S.,S.13)

»Jedes Land hat die Polizei, die es verdient« (S.G., S.69). Wiib-

rend aile ruckstandigen Menschen denken, man miisse die Polizei

verbessem, urn das Land zu verbessern, schlagt Gramsci vor, das

Land zu verandern, wenn man die Polizei verandern will. Eine Po-

lizeireform wird durch eine Reform des Landes ermoglicht.

Revolution»Die Revolution ist kein wundertatiger Akt. Sie ist ein dialekti-

scher ProzeB in der historischen Entwieklung.« (ON.,S30) Dies ist

vielleicht keine analytische und auch nieht vollstandige Bestim-

mung der Revolution, aber es ist gewiB die weiseste.

Pollt ik aIs Leidenschaft

.. .ist die romantische Auffassung von Politik, die durch Croce

Unterstiitzung findet, aber nicht die letzte. Gramsci setzt dem die

Idee entgegen, daB Politik, insofem sie in den Klassenverhaltnis-

sen verwurzelt ist und somit im Zusammenhang objektiver, histo-

rischer Verhaltnisse steht, Gegenstand der Wissenschaft sein

Revo lu tion , ita lien is ch e

»Es handelt sich also darum, daB Reform und Renaissance gleich-

zeitig stattfinden« (q.,S.892), d. h. eine in ihrer Verbreitung

wahrhafte Volksrevolution, die dennoch eine inteUektueUe GroBe

besitzt. Dem doppelten Mangel, den die Geschichte Italiens zu

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verzeichnen hat, wird folgendermaBen zu begegnen sein: mit einer

Volksrevolution und einer intellektuellen und moralischen Revolu-

tion. Aber das Problem, mutatis mutandis, steUt sich in ganz Eu-

ropa in dem MaGe, wie die Volksrevolution noch keine inteUektu-

eUe, laizistische GroBe wie z. B. in Deutschland erreicht hat und

die inteUektueUe Revolution auf einem rein moralischen oder po-

litischen Niveau, wie in Frankreich, stehengeblieben ist. Fiir Ita-

lien steUt sich dano das Problem einer authentischen Revolution,

die in die Breite und Tiefe geht, auch als ein Problem der Festigung

der Nation. D. h. es handelt sich darum, ein Yolk tatsachlich als

Nation zu vereinigeo, dem tiber Jahrhunderte die staatliche Ein-

heit fehlte und das darum gleichzeitig eine von derPolitik getrennte

Kultur und eine von der Kultur getrennte Politik hervorbrachte:

Eine abstrakt-kosmopolitische (a-nationale) Kultur und eine eng-

stimige und korporative (nicht populare) Politik. Diese fehlende

Verbindung zwischen Kultur und Politik wurde durch die fehlende

Entwicklung der Bourgeoisie tiber ihre unmittelbaren korporati-

ven Interessen hinaus hervorgerufen. Heute aUerdings ist das poli-

tische Subjekt ein anderes (die Arbeiterklasse), das an einer Fu-

sion der Nation als solidarischer Korperschaft in Bezug auf die

fundamentalen Interessen der Werktatigen interessiert ist. Und da

diese Interessen gleichzeitig getragen sind von einem Intematio-

nalismus, gerat das neue politische Subjekt in gewisser Weise in

Einklang mit den Traditioneo einer kosmopolitischen Kultur;

diese kann heute nicht nur mit der nationalen Politik uberein-stimmen, sondem soli auch wirksam werden als kulturelle Beson-

derheit: in Form allgemeiner Wirksamkeit.

Schule

»Fiir das Proletariat ist eine interessenfreie Schule notwendig«

(S.G.,S.59): denn es braucht weniger einen Beruf als Kultur.

Selbstkritik

Man sollte nie vergessen, daB es auch eine »heuchlerische Selbst-

kritik« (Q.,S.1742) gibt. Es istalso weitaus besser, Kritik sicherzu-

stellen als zur Selbstkritik zu verpflichten.

Sek tie r er is ch e s Denken

R ote P hrasen

»Das ist die Ursache, weshalb man nicht erkennt, daB die politi-

sche Partei nicht nur die technische Organisation der Partei ist,

sondem ein umfassender gesellschaftlicher, aktiver Block, in dem

die Partei die Fuhrung als notwendiger Ausdruck ist« (Q.,S.1818;

P.P.,S.89) Gramsci unterscheidet meisterhaft die tiefe Wurzel des

politischen Sektierertums im allgemeinen und die der Arbeiter-

partei im besonderen. Das »Techninizistischee, das Gramsci an-

deutet, entwickelt sich in der Tat als biirokratischer Geist in den

Regierungsparteien und als organisatorischer Aktivismus in den

revolutionaren Parteien. So finden sich in beiden Extremen Pha-nomene wie Klientelwesen, politische Schweigeverpflichtungen,

Gtinstlingswirtschaft, routiniertes Denken und auf der anderen

Seite Phanomene wie die tendenzieUe Reduktion der Politik auf

Organisierung und Militarisierung. Noch aUgemeiner stellt sich

das sektiererische Denken als Speerspitze zur Schaffuog einer ver-

falsehten »Parteikulturc dar, die die Politik gegentiber der Kultur

und die Organisation gegentiber der Politik begiinstigt. Hierin ist

eine exklusive und charismatische Auffassuog von Macht verwur-

zeit, wenn nicht gar eine Gegenkonzeption sowohl zur Demokra-

tie wie zur Wissenschaft.

»Jeder Kommuoist soUte die revolutionare Pose und oberflachli-

che rote Phrasen verabscheuen, d. h. er sollte nicht bloB Revolu-

tionar sein, soodem auch ein Realpolitiker« (P.C.,S.67) Darum

fiihrt der politische Irrealismus zur Niederlage und die oberflachli-

che rote Phrase kano Teil antirevolutionarer Diskurse sein.

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Spekulation

Speziatist + PoHtiker

sein desselben.« (S.390) Darum also unterstreicht Gramsci -

auch wenn er dem Dialekt groBe Aufmerksamkeit widmet - die

kulturhistorische Bedeutung und Notwendigkeit zur Herausbil-

dung einer einheitlichen Nationalsprache, die auf die politische

Vereinheitlichung und das kulturelle Anwachsen einer Nation

verweist. Hinter der Verherrlichung des Dialekts (vgl. das Stich-

wort »intellektuelle Theratologie«) verbirgt sich die Idee, daB das

Yolk seine folkloristische Subkultur beibehalten miisse und nicht

zu einer umfassenden, systematischen Sichtweise der Welt auf-

steigen konne: namlich zur Kultur. Sie und auch die Sprache war-

teten nur auf die Gelehrten.

In der kapitalistischen Gesellschaft verwundert die mehr oder we-

niger verbreitete Spekulation ebensowenig wie ihre Notwendig-

keit, Regelmafsigkeit, Unaufhebbarkeit und Reproduktion. Wie

Gramsci sagt, ist es eine Tatsache, daB »die Spekulation zu einer

technischen Notwendigkeit geworden ish (Q.,S.1348;

M.S.,S.344)

Das ist die bertihmte Definition des neuen Intellektuellen

(Q.,S.1551; INT.,S.22), d. h. eines Agenten allgemeiner Tatigkei-

ten (Q.,S.1523; INT.,S.14), der aber trotzdem Trager besonderer

Kenntnisse oder von wirklichem Wissen (Marx) ist. Die Formel ist

in beiden Bedeutungen zu verstehen. Spezialist + Politiker be-

zeichnet genau den Intellektuellen, der sein spezifisches Wissen

und seinen Beruf in eine allgemeine theoretische und praktische

Tatigkeit einordnet, die die intellektuelle und soziale Trennung

der Arbeit uberspringt. Spezialist + Politiker bezeichnet den poli-

t ischen FUhrer, der seine allgemeine theoretisch-praktisehe Tatig-

keit einem spezialisierten Wissen zuordnet. Also: weder Speziali-

sten als Gefangene ihrer Spezialisierung, noch Politiker als vom

wirklichen Wissen Befreite.

Staat

Dasist »Diktatur + Hegemonie« (Q.,S.811;P.P.,S.91). Aberder

Staat ist eben nicht erst Diktatur und dann Hegemonie, sondern

»mit Zwang gepanzerte Hegemonie« (Q.,S.764; MACH.,S.164).

In der Tat wird gerade dank der Hegemonie die Herrschaft errieh-

tet. So uberwindet Gramsci den Begriff des Staates als bioSes Un-

terdrtickungsinstrument oder -maschine und auc h die Vorstellung

des Staats als nur normativ-ideeller Ordnung.

Stellungskrieg

SpracheIn der Unterscheidung zwischen Bewegungs kr ie g und S te ll ungs-

krieg (Q.,S.80lf; P.P.,S.90) ist in gewisser Weise eine Untersehei-

dung zwischen zwei verschiedenen Strategien der sozialistischen

Revolution enthalten ahnlich dem Unterschied zwischen den Stra-

tegien der gewaltsamen Initiative und des »demokratischen We-

ges«. Diese U nterscheidung verweist auf die Verschiedenartigkeit

der historischen Auspragung des Ostens und des Westens

(Q.,S.866; MACH.,S83f) und auf die verschiedenenen charakte-

ristischen Merkmale der entfalteten kapitalistischen Gesellschaft,

innerhalb derer »die sburgerliche Gesellschafte zu einer sehr kom-

plexen und gegenuber kathastrophischen Erschtitterungen unmit-

telbar okonomischer Art (Krisen, Depressionen usw.) sehr wider-

»Jede Sprache ist e ine umfassende Weltanschauung« (Q.,S.644;

R,S.25). D. h. die Sprache ist nicht auf die reine Form reduzier-

bar. Der Signifikant enthalt immer ein Signifikat und verweist so-

mit auf eine zu bezeichnende Realitat und auf eine Gemeinschaft,

die kodifiziert und dekodifiziert. Schon Marx hatte in den »Grun-

drissen« bemerkt, daB »die Ideen nicht getrennt von der Sprache

existierene (S. 80) und daB darum »die Sprache selbst ebenso das

Produkt eines Gemeinwesens (ist), wie sie in anderer Hinsicht

selbst das Dasein des Gemeinwesens, und das selbstredende Da-

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standsfahigen Struktur geworden ist«. (0. ,S.1616; MACH.,S.81).

Gramsci widerspricht somit einer Verabsolutierung der Methode

gewaltsamer Revolution und macht klar, daB auch der Stel lungs-

krieg zum Sieg fuhren kann und daB er andererseits auch ein Krieg

ist, ja sogar ein Krieg, der »enorme Opfer von unzahlbaren Bevel-

kerungsmassen« fordert und ebenso »eine unerhorte Konzentra-

tion der Hegemonie« (0.,S.802; P.P.,S.90).

Struktur

StentereUo*

Der Begriff der »Struktur« kann eine Losungsformel der »Uber-

bau«-Problematik nur unter der Bedingung sein, daB er sich selbst

innerhalb eines verifizierbaren Gegenstands auflost und nicht in

Philosophie verkehrt wird: z. B. in ein »Ntitzlichkeitsmoment des

Geistes« (Croce) oder in einen Idealtypus von Kapitalismus, der

als rein geistige, »sinnhafte« (Weber) Organisation begriffen wird.

Denn »wenn der Begriff der Struktur -spekulativ- aufgefasst wird

( . .. ), wird er sicherlich zu einem -heimlichen- Gott- « (0.,S.1226;

M.S.,S.237). Urn solche Verkehrung zu vermeiden, schlagt

Gramsci richtig vor, ihn zum Gegenstand der Philologie und nicht

der Spekulation zu machen. (ibidem). In diesem Fall wird die

Struktur als bestimmte Struktur begriffen, als eine historisch-ma-

terialistisch erkennbare Konstellation. Es ist also wahr, daB der

Marxismus »die historisierende Auffassung von Wirklichkeit ist,

die sich von jeglichem Rest an Transzendenz und Theologie, auch

in ihrer letzten spekulativen Verkorperung befreit hat«

(0.,S.1226; M.S.,S.238).

»Stenterello ist der Prototyp der italienischen Bourgeoisie, eitel,

geschwatzig, hohl, der sich nicht an die bescheidene Arbeit anpas-

sen will, aber schopferisch ist in namenloser Kollektivitat, sich

immer die Zeit vertreibt mit Gitarrespiel und die GroBtaten der

Ahnen lobpreist, von denen er nichts anderes ist als eine lastige

Laus« (S.G.,S.95). In dem historischen Milieu des Stenterello,

d. h. in der italienischen Bourgeoisie, ist es verstandlich, daB sogar

»hochste Genies ( ... ), die weltweit Ruhm und Ehre erlangten,

( . .. ) nicht das Gluck hatten, eine Schule zu begriinden« (ibidem).

»Hinter der Gruft/von Machiavel lo/ruhen die Knochen/von Sten-

terello« (G.Gusti) Subversion

• stenterello ist der florentinische Hanswurst, kreiert durch den Schauspieler

Luigi Del Buono am Ende des 18.1ahrhunder ts . (Anm. d. Red.)

Strategie und T akdk

Es ist »eine negative und keine positive Haltung der Klasse«

(0.S.323; P.P.,S.17), insofern Subversion im wesentlichen reineRebellion der Unterdriickten darstellt. Darum kann sie nicht »als

Beweis von KlassenbewuBtsein« betrachtet werden: »davon ist

kaum ein Schimmer vorhanden, sondern eben nur negative Hal-

tung und elementare Polemik. Nicht nur, daB kein richtiges Be-

wuBtsein dereigenen historischen Personlichkeit vorhanden ware,

sondern es besteht nicht einmal das BewuBtsein tiber die his tori-

sche Realitat und die genauen Grenzen des eigenen Feindes«

(0.,S.323f; ibidem). Es ist interessant festzustellen, daB der un-

menschlichste Feind der Arbeiterbewegung- der Faschismus - sie

der »Subversione beschuldigt in der unterschwelligen Hoffnung,

daB sie ihre rein negative Haltung beibehalte, d. h. elementar,

subaltern und infanti l bleibe. In der Tat verbindet sich Subversion

mit einem ungenugenden BewuBtsein tiber die nationale und fiih-

Fur Gramsci »edaBt der politische Reprasentant der Klasse ganz

intuitiv gleichzeitig die Idee und den realen Verwirklichungspro-

zeB: er vedaBt den Plan und zusammen damit die -Rege ln- zur

Durchfuhrunge. Daraus leitet sich ein Zusatz ab: »jeder gro6e Po-

litiker muB auch ein gro6er Verwalter sein, jeder gro6e Stratege

ein gro6er Taktiker, jeder gro6e Doktrinar ein groBer Organisa-

tor« (0.,S.1050; P.P.,S.5f). Aber hieraus ergibt sich ein zweiter

Zusatz: daB die Taktik abhangig ist von dec Strategie, daB die

Verwaltung der Politik untergeordnet und die Organisation ein

Ausdruckder »Doktrin« ist. Ein Taktiker, der kein Stratege ist,

wird also niemals ein gro6er Taktiker sein.

90 91

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92

·: '/

:, '}

I I

rende Rolle der Arbeiterklasse. Sie korreliert von daher mit einem

»vagen .kcsmopolitischem Bewufstsein- « (bitte die Anfuhrungs-

zeichen beachten), was auf einen »gering entwickelten nationalen

nd staatlichen Geist im modernen Sinn hinweist« (Q. ,S.325;

.P.,S.19). Subversion und vages »kosmopolitisches BewuBtsein«

werden iiberwunden auf der Grundlage von konsolidiertem natio-

nalen BewuBtsein der Arbeiterklasse und der Ausarbeitung einer

uhrungspolitik, die.die gesamte Gesellschaft betrifft, angefangen

ei den existenziellen Interessen der Werktatigen. In dieser Politik

indet die Perspektive internationaler Solidaritat der Werktatigen

ine konkrete nationale Verwirklichung: das, was Gramsci »mo-

dernes kosmopolitisches BewuBtsein« nennt. (vgl. das entspre-

chende Stichwort)

fene Gegenposition einnehmen. Aber trotz dieser radikalen Ver-

anderungen verweist das Manuskript Gramsci immer noch auf

eine richtige Untersuchungsmethode: die suditalienische Frage ist

keine korporativistische Frage fur die Bewohner des Sudens, son-

dern die zentrale Fragestellung der italienischen Geschichte, ihrer

Zerrissenheit und Widerspriiche und kann nur durch eine allge-

meine wirtschaftliche, politische und moralische Veranderung des

Landes im Rahmen organischer Solidaritat der italienischen

Werktatigen gelost werden.

•I ·I, Talentismus

S iid it al ie n is ch e Fragej

.,·1

o

t.

Gramsci zitiert diesen Satz von Hofmannsthal: »Wir haben guten

Willen, Ernst und die Logik, was mehr ist als das verwiinschte Ta-

lent, mit dem jeder Schurke begabt ist« (Q.,S.130; P.P.,S.174).

Dieser deutsche Satz wurde fast mit italienischen Bedeutungen

von Gramsci registriert. Er spricht tatsachlich von einem »Ta-

lentismus« der Italiener als einer Deformation ihres einfaltigen In-

tellektuellen, hervorgerufen durch eine nicht national-volkstiimli-

che Kultur und Unverantwortlichkeit eines Staates. Das heiSt

nicht, daB in Italien jeder Einfaltspinsel zum Schurken wird, aber

daB der Individualismus den Charakter und die Moralitiit des Ita-

lieners untergrabt.

1mAugenblick der Verhaftung 1926liiBt Gramsci ein unvollende-

tes Manuskript liegen, das erstmals im Januar 1930 in der Zeit-

schrift »Lo stato operaio« in Paris veroffentlicht wird (vgl. auch

den Ausschnitt in diesem Band). In einem Brief vom 19.Marz

1927 an Tatjana hatte Gramsci den Aufsatz als »auBerst fluchtig

und oberflachlich« erklart. In Wirklichkeit ist es die erste klar

formulierte Analyse des suditalienischen Problems als zentrale

Fragestellung der soziokulturellen Organisation immodernen Ita-lien. Nichts oder fast nichts von dieser Analyse kann heute ange-

sichts der tiefgreifenden Veriinderungen, die Italien seit dem Ende

des Faschismus durchlaufen hat, einfach iibernommen werden.

Italien ist in der Tat zu einem fortgeschrittenen Industriestaat ge-

worden, es hat eine auBerst stark entwickelte urbane Struktur an-

genommen, der alte Block zwischen Agrar- und Industriekapital

ist dem modernen Finanz- und Industriekapital-Block gewichen,

der gefestigt wurde durch das staatliche Monopolkapital. Das Ta-

gelohnerwesen ist fast verschwunden, die in der Landwirtschaft

Beschiiftigten sind stark zuriickgegangen, die Intellektuellen sind

nicht mehr reine Vermittler des Konsens fur die Fiihrungsgruppen

und sind als Schicht der Massen inden institutionellen Kanalen der

Kultur und der offentlichen Meinung tatig, wo sie haufig eine of-

o

0,

·I, ~

tit·

T heorie und Praxis

Die verherrlichte »Einheit von Theorie und Praxis« innerhalb ei-

nes bestimmten traditionellen Marxismus hatte keine andere Be-

deutung, als die Theorie auf die Praxis festzunageln. Selten bedeu-

tete sie das Gegenteil. Von daher nihrt die dogmatische Erstar-

rung der Theorie unddie Unwirksamkeit der Praxis. Gramsci fasst

den Begriff so zusammen: »i n den neuen Ausarbeitungen des hi-

storischen Materialismus steckt die Fundierung des Begriffs von

der Einhei: von Theorie und Praxis nur erst in den Anfingen: es

sind noch immer Reste von mechanischem Herangehen vorhan-

den. Noch immer wird von der Theorie als Vervollstindigung der

93

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Ther at oio gie , in teUek tu eUe*

Das Schone (d. h. das Lacherliche oder Dramatische, je naeh-

dem) ist dann, da8 fur diese intellektuelle Theratologie die Theo-

rie des historisehen Materialismus und des wissensehaftliehen So-

zialismus zu »etwas Kunstlichem und meehanisch Ubergestulptem

(wie ein Kleid auf der Haut und nieht wie die Haut ( ... )«

(Q.,S.337; MACH.,S.409) in Bezug auf die Bewegung wird. Wie

immer vervollstandigt der Dogmatismus den Spontaneismus und

die intellektuelle Abstraktheit den Praktizismus. Wenn Sponta-

neitat und Fuhrung nieht miteinander vermittelt sind - sagt

Gramsci (Q.,S.330; P.P.,S.37) - herrseht keine Disziplin: nieht

mal intellektuelle Disziplin.

Praxis gesproehen, beinahe wie von einer Nebensachlichkeit

usw.« (Q.,S.1042). Urn aus dieser Phase der Minderwertigkeit

herauszukommen, bleibt niehts anderes ubrig, als »den theoreti -

schen Aspekt des Theorie-Praxis-Zusammenhangs« (Q.,S.1386;

M.S.,S.14) weiter zu entwiekeln. Die Weiterentwieklung der

Theorie im Verhaltnis zur Praxis bedeutet die Entwieklung neuer

Hypothesen, zu deren Verifizierung die Praxis dienen wird.

Das ist eine neue, von Gramsci bezeiehnete »Disziplin«

(Q.,S.329; P.P.,S.71), worunter die Liebhaber intellektueller

SeheuBliehkeiten zu fassen sein sollen, eine Disziplin, der sieh in

gewissem Sinne der »Lorianismus« zugesellen konnte, Gramsci

ordnet hier den plebejiseben Kult ein, den Henri De Man fiir das

Alltagsbewu8tsein und die »Popularwissenschaft« beweist und

dann aueh »die Bewunderer der Folklore ( ... ), die ihre Konser-

vierung unterstii tzen, die mit Maeterlinek verbundeten -Magie re ,

die der Meinung sind, man miisse den Weg der Allehemie und der

Zauberei, der gewaltsam versperrt wurde, wiederaufnehmen, urn

die Wissenschaft auf ein fruehtbares Gleis von Entdeekungen zu

lenken«.

Ich wiirde aueh die Lobpreiser des Dialekts, die die Bedeutung

des kulturellen nationalen Ansteigens hin zum Ubergang zu einerSpraehe nieht begreifen, die Theoretiker der »proletarischen Kul-

tur« und der »Arbeiterwissensehaft« darunter fassen, die glauben,

daB es einen »Arbeiterstandpunkt« geben kann: also all diejeni-

gen, die nieht an die Wissensehaft und ihren materialistisehen

Charakter glauben und femer diejenigen, die in der Welt der sub-

alternen Klassen das historische Oberbleibsel ihrer intellektuellen

Subalternitat verherrliehen. Das sind diejenigen, die der Masse -

urn es mit Gramsci zu sagen - kein »theoretisches BewuBtsein zur

Sehaffung historischer und institutioneller Werte und zur Grim-

dung des Staates« geben wollen (Q.,S330; P.P.,S.73)

TotaIitiit

So haufig in der marxistischen Tradition auch auf eine Philosophie

der Totalitat mit Naehdruek verwiesen wird, soli dennoeh aueh mit

Gramsci darauf aufmerksam gemaeht werden, daB »der Philoso-

phie der Einzelheit immer eine Philosophie der Ganzheit voran-

geht« (Q.,S.1389; M.S.,S.17). Das soli die Notwendigkeit unter-

streiehen, den analytisehen Apparat des Marxschen Denkens zu-

riickzuerobern, ihn zu verifizieren, d. h. seine Fahigkeit, die mo-

derne Gesellsehaft (und Geschiehte) ohne spekulative Verstellun-

gen zu erklaren,

Transformismus

• Gemeint ist eine bestimmte Art inteJlektueJler, missionarischer Verstiegen-

heit, etwa: inteJlektueJle Quacksalberei (Anrn. d. Red.)

Das ist die besondere italienische Form der »passiven Revolu-

tion«; sie besteht aus einer »graduellen, aber kontinuierliehen und

mit (in ihrer Wirksamkeit) versehiedenen Methoden erreiehten

Absorption von aktiven Elementen aus den verbundeten Grup-

pen, aber aueh aus den gegnerischen, die als unversohnliche

Feinde ersehienen« (Q.,S.2011; R.,S.87)~ Diese Absorption

schlie8t sowohl eine aktive wie eine passive Korruption ein. Der

Transformismus kann Erfolg haben und zwar nieht nur, wenn die

herrschende Klasse korrupt ist, sondem aueh, wenn die unter-

druckte Klasse korrumpierbar ist. Darum mu8 eine aktive Revo-

lution aueh eine intellektuelle und moralische Reform sein.

94 95

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Traurigkeit schaft zum Feudalismus, vom Feudalismus zum Kapitalismus ha-

ben die Menschheit tiber lange Zeitraume hinweg ungeheure An-

strengungen gekostet. Auch heute sind inden bltihendsten kapita-

listischen Systemen Reste feudaler Wirtschaft vorhanden. Es gibt

keinen Grund, den Anspruch zu stellen, der Kommunismus dage-

gen musse sich mit dem Schlag eines Zauberstabs realisieren«

(C.P.C.,S.318)

Die moderne Welt ist voller Traurigkeit: »Die moderne Epoche ist

nicht expansiv, sie ist repressiv. Es wird nicht mehr von Herzen ge-

lacht: es wird nur gekichert und ein mechanischer Witz gerissen

von der Art Campaniles« (Q.,S.95; L.N.V.,S.119).

Oberbatifunktioniire

Das sind die Intellektuellen (Q.,S.1518; INT.,S.9).Insofern siewirklich Funktionare des Uberbaus sind, werden sie niemals Be-

amte sein; sofern es ihnen nicht gelingt, Funktionare nur des

Uberbaus zu sein, werden sie nur Beamte sein."

U nniitze O pfer

Das sind solche, die »den groSten Teil der kollektiven Katastro-

phen« verursachen (Q.,S.1753; MACH.,S.22). Opfer also ja, aber

bitte ntitzliche.

• Es handelt s ich im italienischen urn einWortspiel mit dem Begrifffunzionario

(Funktionar/Beamter). Sinn: InteIlektueIle sind entweder politische, theoretische,

kulturelle Repriisentanten oder bloBBeamte (Staatsagenten). - Anm. d. Red. Volksbiicherei

Obergang z um Soz ia lismus Das ist die »bemerkenswerteste Initiative in der modernen Zeit

fur die Volkskultur« (Q.,S.245; INT.,S.159)

Es ware mtiBig,bei Gramsci nach einer zufriedenstellenden Theo-

rie vom Ubergang zum Sozialismus zu suchen. Sein Werk ist ge-

rade darauf gerichtet, zuerst durch eine Reihe von politischen

Ausarbeitungen und dann historischen Forschungen die ursachli-chen Merkmale der italienischen Situation und der italienischen

Arbeiterbewegung zu erhellen: eine Theorie vom Ubergang zum

Sozialismus imWesten erst vorzubereiten und moglich zu Machen.

So konnte man verschiedene Phasen unterscheiden, in denen

Gramsci unterschiedliche Perspektiven der politischen Strategie

unterstreicht, die fortlaufend in der Vereinheitlichung der Arbei-

terbewegung und ihrer allgemeinen Ftihrungsrolle in dem strategi-

schen Rahmen von historischen Atempausen zusammenflieBen.

Ein Beispiel der undoktrinaren Reflektion des Obergangs: »Kein

Kommunist hat jemals den Arbeitern versprochen, das Schlaraf-

fenland in 24 Stunden zu verwirklichen; kein Kommunist hat je-

mals daran gedacht, das kommunistische System in sechs Monaten

zu verwirklichen. Die Ubergange von der Sklavenhaltergesell-

Wah lr echt, a ll gemein es

Gegen die Verleumdung der reprasentativen Demokratie als poli-tisches System, in dem die Zahl (das Quantum Stimmen) vor-

herrscht, hat die Argumentation Gramscis (Q.,S.1625;

MACH.,S.99f) noch immer ihre Bedeutung, und was fur eine! Die

Zahlen »sind ein einfacher instrumenteller Wert, sie geben ein

MaS an, eine Beziehung und sonst nichts«. Gramsci fihrt fort:

»Und was wird dann gemessen? Es wird genau die Effizienz und

die Expansions- und Oberzeugungskraft der Meinungen weniger

gemessen, der aktiven Minderheiten, der elites, der Avantgarden

usw., d. h. ihre Rationalitat oder Historizitat oder konkrete Funk-

tionalitat«. Also: »die Auszahlung der Stimmen ist die schlieSliche

Manifestation eines langwierigen Prozessese, Man versteht also,

daB die Polemik gegen die Wihlbarkeit der Elite, bemiintelt mit

Appellen fur eine »reale« oder »wirksame« Demokratie, dahin

9697

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Wahrheit

sierung heute in der Tat innerhalb des Kapitalismus institutionali-

siert ist, steht diese feste Verbundenheit zur Diskussion. Auf der

anderen Seite hat der wissenschaft liche Geist an Standhaftigkeit

verloren - bemerkt Burzio - und deswegen leidet die geistige Elite

des Westens unter dem Ungleichgewicht und der Disharmonie

zwischen kritischem BewuBtsein und Handeln. Aber Gramsci

merkt an: »In Wirklichkeit war das -kritische Bewubtsein- be-

schrankt auf einen kleinen Kreis, wenn auch hegemonial, so doch

beschrankt; der geistige >Regierungsapparat- ist auseinandergefal-

len und es gibt eine Krise. Doch diese dehnt sich aus, was zu einer

neuen, sichereren und stabileren -Hegemonie. fiihren wird«

(0.,S.84; ibidem). Die Anfechtung des elitaren Charakters des

kritischen BewuBtseins im Westen dart s ich also ihre Losung nicht

in einer Anfechtung der westlichen Kultur suchen, sondem im

Gegenteil, in deren Verbreitung, aus der die Ersetzung der Elite

durch eine gebildete Masse sich ergeben wird.

tendiert, d i egew ii h lt e E l it e, die Gramsci als »Elite per Dekret« be-

zeichnet, zu ersetzen, indem man dem Biirger »auch jenen winzi-

gen Machtanteil, den er besitzt, indem er iiber den Verlauf des

Staatslebens mitentscheiden kann«, fortnimmt. Darum weist

Gramsci die traditioneUe Entwertung des aUgemeinen Wahlrechts

und des Wahlbarkeitsprinzips im allgemeinen in der sozialisti-

schen Bewegung zuruck und beweist, daB die sozialistische De-

mokratie kein .surrogat politischer Demokratie ist, sondem ihre

Erweiterung, Expansion und Erganzung.

Es gibt eine groSartige Definition Gramscis iiber die Wahrheit in

Bezug auf die Polit ik. Sie laBt sich einer Anmerkung entnehmen,

die bezeichnenderweise »Gegen den Byzantinismus« benannt ist

(0.,S.1l33f; P.P.,S.79f) und in folgenden Worten zusammenge-

faBt werden kann: Eine Wahrheit wird aUgemein, wenn sie in ei-

nem Milieu verifiziert wird, das von dem, wo sie entstand, ver-

schieden ist, und wenn es durch sie gelingt, die Realitat verstand-

lich zu machen und sie sich in eben dieser Realitat verkorpert.

Eine solche Definition iiberwindet den rein formal-logischen

Wahrheitsbegriff und weist femer den Relativismus des unter-

scheidenden Historizismus zuriick. Die Wahrheit ist keine »by-

zantinische und scholastische Abstraktion« (ibidem). Sie ist aller-dings nicht reduzierbar auf einen falschen Konkretismus in jeder

»unwiederholbaren« Situation.

Wissenschaft

Westen

Es muB noch einmal an den Kampf erinnert werden, den Gramsci

gegen die Auffassung Missirolis fiihrte, nach dessen Meinung die

Wissenschaft auf Ideologie reduzierbar sei, was ein Ausdruck von

Autoritarismus ist (0.,S.1458; M.S.,S.67). Inmitten der revolu-

tionaren Bewegungen kommen auch immer Wellen auf, die auch

die Wissenschaft zu zerstoren drohen, aber es sind sterile Wellen

des Nihilismus. Die sozialis tische Revolution richtet sich nicht zu-

fallig nach dem wi ssenscha f tl ic hen Soz ia l ismus, demzufolge die

Revolution ohne Wissenschaft unmoglich ist.

In der Besprechung eines Artikels von Filippo Burzio anerkennt

Gramsci den Gedanken, daB die Einheit des Westens »auf drei

Stiitzpfeilem ruht: dem kritischen Geist, dem wissenschaftlichen

Geist und dem kapitalistischen Geist (vielleicht ware es besser sin-

dustrieUer Geist- zu sagen)« (0.,S83; P.P.,S269), und er fugt hin-

zu, daB »die beiden letzten fest miteinander verbunden sind«,

wenn Kapitalismus gleich Industrialisierung ist. Da die Industriali-

Wisse nsc ha ft, n eu e

Gramsci (0.,S.1423; M.S.,S.164) verweist auf drei Versuche, urn

die Wirksamkeit und die erreichte Vitalitat einer neuen Wissen-

schaft (insbesondere des Marxismus) zu verifizieren: 1. muS sie

beweisen, »sich mit den Besten der Gegentendenzen konfrontie-

ren zu konnen« und aufhoren, »die Gegner unter den diimmsten

98 99

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TeH3nd mittehnafsigsten auszuwahlen« (0.,S.1405; M.S.,S.171); 2.

»lost sie mit eigenen Mitteln die Lebensfragen, die diese gestellt

haben«; 3. »beweist sie unwiderruflich, daB solche Fragen falsche

Probleme sind«. Eine Wissenschaft ist also reif, wenn sie auf hoch-

ster Ebene diskutiert, korrigiert und Ersetzungen vornimmt. Einfi ihnmg in Gramsci

Wi ss en sc ba ft u nd Lebe n

Gramsci schreibt, daB »die Einheit von Wissenschaft und Leben

eben eine aktive Einheit ist, nur in ihr realisiert sich die Denkfrei-

heit« (0.,S.1332; M.S.,S.32). Aber diese Einheit soli weder Ein-

mischung noch Verwirrung sein. Es sollte also eine Wissenschaft

entwickelt werden, die ftir das Leben forscht, und ein Leben, das

sich als Wissenschaft verwirklicht.

»Das -Prinzip des organischen Zentralismus- ist die -Kooptation.

urn einen Besitzer der Wahrheit« (0.,S.64). Ein authentisch de-

mokratischer Zentralismus dagegen mu6 von dem Grundsatz aus-

gehen, daB es keinen Besitzer von Wahrheit gibt. Nochmal: der

organische Zentralismus »basiert auf der Voraussetzung, daB le-

diglich in Ausnahmesituationen, wenn die Leidenschaften desVolkes sich entziinden, sich die Beziehung zwischen Regierenden

und Regierten dadurch herstellt, daB die Regierenden im Inter-

esse der Regier ten handeln und darum deren Konsens -benoti-

gen-.« (0.,S.1771; MACH.,S.195) Dagegen mu6 im normalen

Leben und nicht nur in Ausnahmesituationen »nicht der passive

und indirekte Konsens zur Kernfrage werden, sondern die aktive

und unrnittelbare Beteiligung des einzelnen, selbst wenn das Auf-

losung und Tumult provozieren mag« (ibidem; MACH.,S.195f).

100

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102

sten Elemente des politischen Denkens Gramscis hervorzuheben,

an denen sich Meiner Meinung nach aileWissenschaftler (seien sie

Marxisten oder nicht) und aile Linder (sozialistische wie nicht-so-

zialistische) mit Gewinn orientieren konnten.

2. Ich mochte die originalsten und fruehtbarsten Elemente des

politischen Denkens Gramscis in vier Rubriken einteilen: a) das

Wesen dec Politik; b) die Regierungslehre; c) die Theorie der so-

zialisti~hen Revolution; d) die Parteitheorie. Wie man sieht, han-

delt es sich um Rubriken, die fast das gesamte Terrain des soziali-

stischen politischen Denkens und der Politikwissenscbaft im all-

gemeinen abdecken. Tatsiichlich ist das Ausma8 der Behandlungjedes dieser Themenbereiehe bei Gramsci unterschiedlich; und

tatsachlich handelt es sich dabei auch insgesamt gesehen umThe-

m~nbe~iche, d~ren Rekons~ktion nur mOglich ist durch f l e -trachthche Bemuhungen zu emer neuen systematischen Ordnung-.

vieler, mitunter nieht rusammenhingender Fragmente. Doch wie

man weiB,erfordert die gesamte intellektuelle Produktion Grams-

cis diese Miihe, da sie eher auf kritischer Anmerkung und eiliger

Reflexion als auf organischer Entfaltung und analytischer Ent-

wicklung beruht. Andererseits bedeutet der fragmentarische Cha-

rakter der Darstellung durchaus nieht, daB Gramsci sieh auf Be-

trachtungen von Grundfragen der politischen Theorie und solehen

allgemeiner Art beschrinken wiirde. Deshalb kann man sehr wohl

behaupten, daB die Modelle fUr sein Werk dessen Reievanz kei-

nesfalls einschriinken, und daB daher eine kritische Systematisie-

rung des Denkens Gramscis ihn mit Sieherheit in die Oeschiehteder politischen Wissenschaft einzuordnen erlaubt. Diese kannte

im iibrigen sehr viel fragmentarischere Denker (man denke an die

Vorsokratiker und an viele andere Grieehen). Was die Beziehung

Gramscis zur Geschichte des sozialistischen Denkens angeht, muS

man einleitend einige Punkte priizisieren.

Zunachst einmal zeichnet Gramsci sich durch eine gro8e Origi-

nalitiit nnd Autonomie des Denkens auch dort aus, wo er aus-

driicklich Texte marxistischer Autoren kommentiert. Aus diesem

Grunde wurde von einigen Seiten behauptet, Gramsci sei ein »we-

nigmarxistischerc Autor. Man braucht nicht erst auf die Diirftig-

keit einer Interpretationsweise hinzuweisen, die die Verbindung

mit dem Marxismus auf einen rein formalen Sachverhalt wie Text-

I. Das po6tische Denken Gramsds

1. Man kann nicht sagen, das geistige Werk Gramscis habe ein

gluckliches Schicksal gehabt. Der offensichtlichste Beweis dafiir

ist die Tatsache, daB wir noch immer auf eine systematische Ge-

samtausgabe warten. Zudem ist die Kenntnis Gramscis im Aus-land sehr fragmentarisch und haufig durch ziemlich zweifelhafte

Interpretationen vermittelt. Dariiberhinaus ist die Rekonstruk-

tion des Denkens Gramscis sogar in Italien besorgniserregenden

Verzerrungen ausgesetzt gewesen. Es ist zweckmiiBig,wenigstens

zwei dieser Verzerrungen aufzuzeigen. Die erste betrifft die

Uberbetonung des historisch-geisteswissenschaftliehen Moments

in Gramscis geistigem Hintergrund imVergleich rum gesellschaft-

lich-politischen. Die zweite betrifft die Miihe und die Langwierig-

keit, mit der das Denken Gramscis au8erhalb der unmittelbaren,

engen politischen Beziige aufgenommen wurde; sie lieferten es

viele Jahre lang verurteilsbetadener Aversion oder ebenso vorur-

teilsbeladener politischer Bevorzugung aus - mit dem Resultat ei-

ner im wesentlichen dogmatischen Archivierung. Es bedurfte lan-

ger, geduldiger wissenschaftlicher Arbeit, um Gramsci aus dieser

»Gefangenschaftc zu befreien, und sein politisches Denken zu ei-nem Forschungsgegenstand ru machen, der den Beeinflussungen

des unmittelbaren politischen Kampfes entzogen ist. Es eriibrigt

sichfast zu sagen, daB es nur durch diese Arbeit heute moglieh ist,

das Werk Gramscis nieht mehr bl08 in Bezug auf die politischen

Ereignisse in Italien in den Jahren des Faschismus zu lesen, son-

dem im Rahmen einer systematischen Auseinandersetrung mit

der politischen Theorie des Sozialismus und - allgemeiner - mit

der Geschichte des europaischen politischen Denkens.

In diesem Rahmen mochte ich einige Aspekte der Interpreta-

tion angeben, die geeignet sind, die signifikantesten und wichtig-

Referat , gehalten am 30. Mai 1974 an der Universitat Ljubljana

103

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verweise reduziert. Man kann ganz im Gegenteil behaupten, daB

die GroBe Gramscis gerade in der weitgehend autonomen Ent-

wicklung eines Denkens hervortritt, welches sich als von Grund

auf mit den Hauptthemen des Marxismus und des wissenschaftli-

chen Sozialismus verknfipft erweist (von der Kritik des Staates bis

hin zur Theorie der direkten Demokratie, von der Problematik der

revolutionaren Partei bis hin zur Theorie des Ubergangs). Es han-

delt sich dabei, da8 muS man hinzufiigen, um eine Verknijpfung,

die sich fiber die stetige Vermittlung einer sehr spezifischen, und

damit itaiienischen, historisch-kulturellen Problematik artikuliert,

Dies mag dem dogmatischen Interpreten ebenso begrenzt er-scheinen, wie auch die marxsche Analyse des Kapitals - ausge-

fiihrt anhand des englischen Modells - oder die leninsche Analyse

der Partei - durchgefiihrt im Feuer des politischen Kampfes in

Ru8land - als begrenzt erscheinen konnten.Oem ernsthaften In-

terpreten jedoch wird diese fortwiihrende Priisenz der italieni-

schen Geschichte und Kultur den Grad des nicht abstrakt-kanoni-

schen, sondem historisch-konkreten Wesens der tbeoretischen

Reflexion Gramscis angeben - den Grad seiner effektiven Fiihig-

keit also, ein historisches Problem zu erkl ii ren und einen politi-

schen ProblemzusammenhangaufzulOsen. Es handelt siell um eine

Fiihigkeit, die nur den groSen Denkern eigen ist.

Man muS aueh hinzufiigen, daB diesePriisenz Italiens bei

Gramsci zur Prasenz einer bedeutenden Frage wird, die bei ande-

ren Marxisten imwesentlichen marginal bleibt: die Frage der so-

zialistischen »Vennittlungc einer Nation wie Italien, in der dieEntstehung eines modemen Proletanats verbunden war mit einer

spaten Verwirkliehung der staatlichen Einheit und mit einem a~-

Berst starken Einflu8 von unterschiedlichen, oft bedeutenden -

wenn auch fast immer fiberlebten - intellektuellen, kiinstleri-

schen, kulturellen und sogar religiOsen Traditionen. Dies hat

Gramsci dazu verpflichtet, sich bei der Ausarbeitung der politi-

schen Theorie des Sozialismus mit sehr subtilen historischen Fra-

gen und Institutionen auseinanderzusetzen und den Weg filr eine

sorgf8.ltige und tiefgreifende Verwurzelung des Sozialismus in die

Geschichte eines Volkes zuerforschen, das ebenso reich an kultu-

reller Tradition und Vergangenheit wie arm an politischer Tradi-

tion und Gegenwart ist. Auch unter diesem Aspekt ist Gramsci ein

104

schwieriger Theoretiker. Und besonders deshalb ist er ein wichti-

ger Theoretiker fU r jede sozialistische Bewegung, die auf einem

hohen historischen Entwicldungsstand der burgerlichen gesell-

schaftlichen Kuhur arbeitet oder in einem entwickelten sozialisti-

schen Land, das besonders differenzierte und fruchtbare kultu-

relle Fortschritte braucht.

3. Ich werde die Gedanken Gramscis nicht analytisch nach den

vier Themenbereichen darlegen, die ich vorhin als besonders be-

deutend ftir sein politisches Denken bezeichnet habe. Ich werde

mich auf eine synthetische Darstellung der Originalitat beschriin-

ken, die Gramsci uns injedem dieser Themenbereiche inder Aus-einandersetzung mit der Tradition des sozialistischen Denkens

beweist.

Hinsichtlich des Wesens der Politik entwickelt Gramsci weni-

ger eine allgemeine Dimension der Beziehung zwischen Basis und

Uberbauals viebnehr eine direkte Auseinandersetzung mit dem

&griihder der modernen politischen Wissenscbaft (Machiavelli ,

Und auf dieser historisch sopriizlsen u 0 ge ittenen Ebene

gelangt er zur ldentifikation der Hauptfrage der Politik: der Frage,

ob man das Verbiltnis zwischen Regierenden und Regierten, d. h.

den Zustand der nich t nur sozialen, sondem auch politischen Zer-

rissenheit der Menschheit, erhalten oder aufheben mOehte. NatUr-

lich kann man in dieser Formulierung das Echo der marxschen

Kritik des Staates und der I en inschen Theorie vom Absterben des

Staates wiederfinden; dennoch erhellt der spezifische kulturelle

Hintergrund der 1beseGramscis vieHeicht deutlicher seine intel-lektuelle Polemik gegen die biirgerliche politische Wissenschaft.

Gramsci beschrankt sich eben nicht darauf, die These von der Krl-tik der Politik und des Staates zu proldamieren, sondem er pole-

misier t in detaiUierter und begrundeter Weise gegen die herr-

schenden ehtaren Konzeptionen der Politik, indem er die Thea-

rien von Mosca, Michels und Pareto kritisiert, viele Jahre bevor

diese zu Ikonen der amerikaniscben po li ti ca l sc ience wurden.

Gramsci verdeutlicht vor aDem die Unfihigkeit dieser Theorien,

die grundlegende historische Ursache der »indirektenc Leitung

der Gesellschaft zu erkUiren, sowie ihre Unfahigkeit, eine Alter-

native anzugeben, die sieh von der substantiellen Unterdruckung

jeder, auch der formalen Demokratie unterscheidet. Andererseits

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sieht Gramsci auch die Grenzen einerTheorie des Sozialismus, die

sich auf die Betonung des »formalenc Charakters der politischen

Demokratie beschriinkt und schlicht und einfach seine »Erset-

zunge durch die okonomische oder soziale Demokratie vor-

schlagt. Fur Gramsci dagegen wird die Transformation der politi-

schen Leitung selbst zum wesentlichen Moment der sozialistischen

Transformation. Sie muS zu einer kontrollierten und integrierten

Leitung werden, in der das rein funktionale, »technische« und

provisorische Verhaltnis zwischen Regierenden und Regierten

taglich neu hergestellt wird. Nur sowird der Sozialismus zu einer

umfassenden, d. h. auch politischen Alternative zur biirgerlichenGesellschaft: nicht zu einem Sozialismus im Namen des Volkes,

sondem zu einem Sozialismus durch das Yolk. Damit verdeutlicht

Gramsci die sozusagen intellektuelle und moralische Komponente

der Politik; wobei er nicht nur zu verstehen gibt, daB der grund-

satzlich neuartige Charakter der sozialistischen politischen Theo-

rie in der Proklamation der Moglichkeit und der Notwendigkeit

liegt, die Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft aufzuheben,

sondem auch, daB diese Aufhebung zu einem unmittelbaren ope-

rativen Element eben der revohrtionaren politischen Praxis wird.

Und dies nicht etwa, weil Gramsci davon triiumte, ganz unvermit-

telt in den Kommunismus der sich selbst regelnden Gesellschaft

»hineinzuspringene, sondem weil er auch die Instanz der Aufhe-

bung der Spaltung zwischen Regierenden und Regierten in einen

politischen Stimulus umsetzt zur Zusammensetzung und zur de-

mokratischen Kontrolle der regierenden Gruppe und zum An-wachsen der Fahigkeit zur Selbstregierung innerhalb der regierten

Gruppe.

So entsteht fUr Gramsci ein politisches Handeln, das taglich

wirkt, und es wirkt nicht nur fUrdie Aufhebung der Herrschaft ei-

ner Klasse iiber die andere, sondern auch und sofort fUrdie Ver-

wirklichung einer neuen Form der Politik, einer neuen Beziehung

zwischen Regierenden und Regierten, Fuhrenden und Gefiihrten.

Dieses Handeln bringt heute auch innerhalb der revolutionaren

Bewegung die nicht utopischen, sondem operativen politischen

Voraussetzungen fU r die vollstandige Emanzipation der Men-

schen hervor. Das ist die Form der intellektuellen und moralischen

Revolution als grundlegendes Moment der politisch-sozialen Re-

106

volution. Und, so mochte ich hinzufugen, darin besteht fU r

Gramsci die Konstruktion einer politischen Praxis, die kulturell

und geistig »reich« ist, weil sie fortwahrend durch die eigenen all-

gemeinen Ziele befruchtet wird und von daher niemals auf prag-

matischen Instrumentalismus reduzierbar ist. Gramsci gibt diesem

Modell reicher, entwickelter und »kultivierter« Politik auch einen

grofsartigen Namen: er nennt sie »Politik als Geschichte«, d. h.

Politik, die von Geschichte befruchtet ist, die fiihig ist, Geschichte

hervorzubringen, die Fesseln der Konjunkturen abzuwerfen und

zumNiveau der permanenten Fuhrung einer Nation aufzusteigen.

4. Fiir Gramsci moB sichalso auch die Revolution als eine srei-che«, entwickelte, »kultiviertec politische Praxis darstellen, in der

es unmoglich und in jedem Fall schwerwiegend und gefiihrlich ist,

die Mittel von den Zielen zu trennen, die elementaren von den

komplexen Ebenen, die Basis vom Uberbau, die sozio-okonomi-

sche Problematik von der politisch-kulturellen. Dieser Reichtum

und diese Dichte und Geschlossenheit der gesamten praktisch-

theoretischen Mitgift der Revolution weisen im iibrigen ein spezi-

fisches,politisches Merkmal auf. Es geht Gramsci gar nicht darum

der sozialistischen Revolution einen humanistischen Anstrich zu

geben, der sie schoner und akzeptabler machen soli. Es geht statt-

dessen genau darum, die Revolution schon heute zu machen -

noch bevor sie vollendet wird -, weilsiein den Liindem mit fortge-

schrittener historischer und kultureller Entwicklung nicht anders

gemacht werden kann und nicht anders gemacht werden darf, als

durch die Befreiung der gesamten Kultur im Sozialismus.Aus diesem Grunde richtet Gramsci seine Aufmerksamkeit bei

der russischen Revolution hauptsachlich auf die Art und Weise,

wie Lenin die siegreiche Vollendung einer umfassenden histori-

schen Aktion gelingt, und nicht auf die einzelnen Formeln, in de-

nen diese Aktion sich aktikulierte. Daher redet er von der Not-

wendigkeit, die Erfahrungen der russischen Revolution ins i tal ie-

nische zu ubersetzen, aber nicht im Sinne des Versuchs, eine russi-

sche Ware italienisch zu verpacken, sondern im Sinne der Herstel-

lung eines italienischen Produkts, welches aus einer einheitlichen

Aktion entstehen soli, mit der ein anderes Yolk und eine andere'

Nation fUrdie gemeinsame Geschichte der so~ialistischen Revolu-

tion gewonnen wird. So wird fU r Gramsci die Revolution in dem

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MaBe italienisch werden, wie I talien revolutionar wird. Der Inter-

nat ionalismus wird niemals das Konstrukt eines sektiererischen

Zirkels sein, der mit einem Ukas die Nation abschafft. Er wird da-

gegen der allgemeine Endpunkt eines Transformationsprozesses

jeder einzelnen Nation und jedes Volkes sein, der sich aus ihrer

Geschichte ergibt.

Aus diesem Grunde ist das Problem der Geschichte Italiens fur

Gramsci von.gro6em Interesse und nimmt breiten Raum ein -

nicht nur das Problem seiner politischen Geschichte, sondem auch

das der kulturellen, geist igen und moralischen Geschichte. Es geht

fur die Revolutionare nicht bloB darum, das soziale Umfeld ihrespolitischen Handelns zu kennen; es geht stattdessen darum, sich

als organischer Bestandteil eines historischen Prozesses zu fUhlen,

dessen Fuhrung sie nicht aufgrund einfacher Machtanwendung

und administrativer Verfiigungen ubernehmen sollen, sondem

aufgrund einer realen Fahigkeit zur Ubernahme der geistigen

Fuhrung und der Fuhrung der Menschen: der Fahigkeit, die

Gramsci Hegemon i e nennt.

Dies hebt die Bedeutung nieht nur der Kultur in der Politik her-

vor, sondem auch die des Konsens im Klassenkampf. Bei Gramsci

verliert der Klassenkampf jeden Rest von Okonomismus und De-

terminismus. Denn der Klassenkampf kann sich nur dann auswei-

ten und siegen, wenn es ihm gelingt den Ko rp orat iv ismus - so

nennt es Gramsci - der einzeinengesellschaftlichen Gruppen zu

durchbrechen, und wenn er zum historischen Programm der Ar-

beiterklasse im Dienste der gesamten Gesellsehaft einer NationI wird, die dadurch von der Zerrissenheit durch das Eigentum und

\

von der Last der Ausbeutung befreit wird. Man versteht nun auch

die gro6e Relevanz der Rolle der Intel1ektuellen ftir Gramsci. Es

handelt sich dabei wchlgemerkt keinesfalls um eine privilegierte

Rolle. 1m Gegenteil ! FUr Gramsci besteht die authentische. r e _ ' l Q _ -

lutj~~U~kty_e_11m_d_arhl~~_~jp~i!~~;~~-Ni~eay-

d~r!(~I~!I!1.lI!~t_~er_Selbsthestimmung zu schaffen, das gerade die

Aufhebung des Unterschieds zwischen Intellektuellen und einfa-

£~~~!Ui~!:, In ci~;Lind~~ mit hOhem kulturellen

Entwicklungsstand ist die historische Rolle der Intellektuellen be-

sonders bedeutend. Sie sind namlich der »Zement« des Konsens

mit der fi ihrenden Klasse, der Transmissionsriemen der Hegemo-

108

nie und nicht nur der Befehlsgewalt, die von der herrschenden

Klasse ausgeht. Die revolutionaren Intellektuel1en, die sich von

den alten Institutionen losen , werden zu den Vermittlem einer an-

deren Hegemonie, der Hegemonie der Arbeiterklasse, und daher

zum »Zement« einer anderen okonomischen, politischen und kul-

turellen Gruppierung, oder, wie Gramsci sagt, eines anderen hi -

storischen Blocks.

Der Klassenkampf ist also etwas ganz anderes als ein blo6er

Kampf okonomischer Krafte. Er muB sich auf die Ebenen der Po-

litik und der Kultur ausdehnen und zu einer differenzierten histo-

rischen Strategie gelangen, die tief in der Vergangenheit verwur-zeit ist und die theoretischen Fragen seiner eigenen Zukunft auf-

zeigt. Nur so wird es moglich sein, die Gegenwart stetig und be-

harrlich zu verandem.

5. Die Partei ist das Instrument dieser gro6en historischen

Strategie. Und da sie fur eine gro6e historische Strategie entwor-

fen ist, darf sie - so Gramsci - nicht schlicht und einfach im Licht

der Taktik gesehen werden. Sie moB sozusagen ein nicht-instru-

mente lles Instrument sein, ein nicht-korporativer Teil (der Gesell-

schaft; Anm. d. Ubers . ) , der fahig ist , eine kurzfr ist ig und langfri -

stig, im Tagesgesehehen wie in der historischen Perspektive sieg-

reiche Poli tik zu verwirklichen. Die Partei muB ein inteUektuelles

Intrument sein, oder besser ein Mittel, das das Ziel, fur.das sie ar-

bei tet, vorwegzunehrnen sucht und indem MaSe reproduziert, wie

es dies Ziel wirksam im alltiglichen Leben verwirklicht.

Die Partei ist fO r Gramsci so etwas wie ein »intell igenter Filter«zwishen der Polilik und der Geschichte, oder, wenn man will, zwi-

schen d e r M a ss e und den Fiihrem, zwischen den einfachen Leuten

und den Intellektuellen. Dieser »Fi lter« hat selbs t eine his torische

Struktur und eine historische Dynamik. 1m Unterschied z u r le m n-

schen Partei, die fU r eine historisch i irmere und weniger differen-

zierte Gesellschaft entworfen wurde, fiihlt s ich die Partei Oramscis

vor allem als Tochter einer Geschichte und einer Kultur. Noch be-

vor sie sich als SchOpfer der Zukunft versteht, versteht sie sich als

Ergebnis einer Vergangenheit: s ie untersucht daher die Charakte-

ristika dieser Vergangenheit in der GewiBheit, sie nur so iindem zu

konnen, Der Platz, den Gramsci dem Berufsrevolutionar in der

Par tei einraumt, ist geringer al s der, den Lenin ihm zuweist. Und

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das nicht, weil Gramsci eine entschlossene Avantgarde, die sich

ausschlie8lich der Revolution widmet, nicht fUrnotig hielte, son-

dem gerade weil die geistige Triebkraft der Revolution in einer

Geschichte und einer Kultur, die differenziert und fUr die neue

Geschichte und die neue Kultur verfugbar sind, au8erhalb der

Partei schon weitgehend vorhanden ist.

So kann die Partei mehr Erfahrungen und mehr Menschen in

sich aufnehmen, als es die kleine leninistische Kaderpartei tun

konnte. Aber sie ist sozusagen gerade wegen dieser Fahigkeit, in

einer anderen Gesellschaft zu wirken, eine leninistische Partei;

und auch wegen ihrer Fahigkeit, Teile der Masse an sichzu ziehen,urn sie in neue FUhrer der Masse zuverwandeln - urn also das Ver-

haltnis von Fuhrern und Masse genau in dem Augenblick, in dem

sie es herstellt, zu uberwinden. Auf diese Weise wird die Partei zu

einer Maschine, die nichts schwerfalliges oder mechanisches an

sich hat, da sie eben ein gefugiger, dehnbarer und beweglicher

Mechanismus ist, standig in der Lage, sich selbst urnzuformen und

das Niveau der Politik innerhalb und au8erhalb der Partei zu ver-

andern,

Eine derartige Partei ist naturlich eine kritische Partei, fahig,

sich selbst und ihre eigenen Aktivitaten zu kontrollieren, und fa-

hig, sich ftir die Achtung der Vemunft einzusetzen und damit der

Versuchung dessen, was Gramsci den »Hochmut der Partei«

nennt, zu entgehen. Solch ein Hochmut ist niemals ein Zeichen

von Klugheit, sondem nur Unwissenheit. Und die Partei der Re-

volution mu8 vor allem klug sein. Gramsci beschreibt sie als »kol-lektiven Intellektuellen«, innerhalb dessen die intellektuelle Aus-

arbeitung der Politik Ergebnis einer kollektiven Aktivitiit ist, bei

II der die Mitglieder des Kollektivs niemals zu voller Ubereinstim-

t. \ mung miteinander gelangen, die sie aber auch nie zu einer un-

Iiiberwindbaren Divergenz fiihrt. Aile lemen dabei: umso weniger

besteht die Notwendigkeit etwas zu lehren. Aber die Partei ist na-

turlich keine Akademie. Diese Aktivitat ist eine Funktion des po-

litischen Kampfes, aber - wie wir gesehen haben - eines differen-

zierten, einfallsreichen und »kultivierten« politischen Kampfes

fU r eine gro8e Strategie, die den Konsens sucht und vielfaltige

Bindungen herstellt.

Die Partei ist ein rationales Wesen, an dem nichts mystisches

110 .

oder charismatisches ist. Sie ist die Partei, die auf einem hohen

Entwicklungsstand der intellektuellen Kultur entstanden und be-

stimmt ist, zu ihrer Weiterentwicklung beizutragen, wenn sie sich

dieser Aufgabe wiirdig zeigt. Sie besitzt keinen Ewigkeitsanspruch

und mu8 ihre Berechtigung jeden Tag aufs neue vor der Arbeiter-

klasse und dem Yolk beweisen. Sie ist nicht blo8 die Avantgarde

der Massen, denn sie kristallisiert deren Exponenten und deren

Bewu8tsein heraus, und sie ist auch nicht nur ein Teil der Masse,

denn sie besitzt eine koharente Weltanschauung und ein systema-

tisches Verstandnis der Wirklichkeit. Sie ist kein Fetisch, keine

Sekte, keine Kirche, keine Armee, keine Mafia, keine Korpora-tion, sondem die rationale Negation jeglichen Fetischs, jeglicher

Sekte, jeglicher Kirche und jeglicher Korporation. Sie ist das hi-

storische Produkt eines gro8en Transformationsprozesses der

modemen Gesellschaft hin zu den Horizonten einer neuen Ge-

schichte.

Als historischer Organismus von Menschen, als authentische,

muhsam errichtete und kluge Konstruktion der Klasse in ihrer hi-

storischen Verbundenheit mit einer Nation und einer Kultur ar-

beitet sie fUr den Intemationalismus und den kulturellen Fort-

schritt: fur jeden »modemen Kosmopolitismus«, wie Gramsci es

nennt, in dem wir aile frei sind, wenn wir gleich sind, und in dem

wir aile gleich sind, wenn wir frei sind.

1mHerzen der differenziertesten geistigen Kultur entstanden,

ist Gramscis Denken alles andere als ein intellektuallistisches, so-

phistisches Denken. Er vergaS nie den operativen Charakter derpolitischen Theoriebildung. 1mubrigen bezog Gramsci die Anre-

gung fU r sein intellektuelles Schaffen aus der realen Situation Sar-

diniens und Italiens, eines Landes, in dem immer ein tiefer Bruch

zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Niveau der Kultur

und dem Niveau des konkreten Lebens bestanden hat.

Die von Gramsci entwickelte Perspektive zielt auf die Uber-

windung dieses Bruchs: darauf, Italien Intellektuelle zu geben, die

fest mit der Wirklichkeit und dem Yolk verbunden sind, und dar-

auf, dem Klassenkampf eine bewu8te intellektuelle Fuhrung zu

geben.

Aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte konnen wir bereits

schlie8en, da8 diese Oberwindung des Bruchs zwischen Kultur

1 1 1

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und Realitat groBe Fortschritte gemacht hat. Aber naturlich haben

wir noch vieIzu tun, um das Erbe Antonio Gramscis aufzuarbeiten

und zu entwickeln. Wie ich eingangs sagte, handelt es sich dabei

um ein fur aile auBerst fruchtbares Erbe. Und nun fUgeich hinzu,

daB es sich dabei um ein fur die Italiener au6erst bedeutendes

Erbe handelt. Denn Gramsci war im Dunkel der faschistischen

Tynannis das groBte und uberzeugendste Symbol fU r die Unbe-

zwingbarkeit des Intellekts und der Freiheit, fur die Lebenskraft

der besten Traditionen unserer Geschichte. Er bleibt fur die Welt

ein Zeuge der italienischen Kultur: der bedeutendste unserer

Epoche.

112

D . E in e n eue theoretischeOrient ienmg

1. Bei der Beurteilung des Werkes Antonio Gramscis war man

lange Zeit vor allem um den Nachweis dessen bemiiht, was als der

»Leninismus Gramscis« definiert wurde - vielleicht, um die Kon-tinuitat der marxistischen Tradition ins rechte Licht zu riicken.

Wahrscheinlich waren die Absichten, die man damit verfolgte, fU r

die damalige Zeit gerechtfertigt, aber sie haben gewi8 keine be-

deutenden Friichte getragen. 1m iibrigen entsprachen sie der In-

terpretationslinie einer »Kontinuitat« des Marxismus, die heute

nicht nur in eine Krise geraten ist, sondem dariiberhinaus guten

Gewissens als irrefuhrend bezeichnet werden kann. Der Begriff

der »Kontinuitate fugte sich namlich in den geistigen Hintergrund

einer »orthdoxen« Vision eines kodifizierten Marxismus, von dem

weniger authentische Neuerungen als vielmehr illustrative Emp-

fehlungen zuerwarten waren. Es schien so, aIsob man sich, um ein

guter Marxist zu sein, vor aHem wiederholen miisse.

Die Zeiten haben sich glucklicherweise geandert, und es ist

nicht mehr notig »Orthodoxie« zufordem, weil- ganz imGegen-

teil- gerade die Haresie zur Verkorperung der Kreativitat einesDenkens wird, das der Dimension der Wissenschaft und der der

Kritik wiedererobert wurde, und weil die marxistische Tradition

sich gerade durch wichtige Korrekturen der friiheren Dogmatis-

men und durch die Wiederherstellung eines kritischen Kontakts zu

allen Bereichen der modemen Kultur weiterentwickelt hat.

2. Bei einer annahernden Wertung Gramscis als marxistischen

Denker wird man also nicht vom traditionalistischen Standpunkt

dessen ausgehen, der nach dem »Leninismus Gramscis« fahndet

oder nach dem Marxismus Gramscis«. Man wird vielmehr davon

ausgehen mUssen, was Gramsci der marxistischen Tradition der

Zuerst veroffentlicht in der Unita vom 24. April 1977

113

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zweiten und dritten Internationale an neuem, originalen und auch

an kritischem gebracht hat. Nur so wird man verstehen konnen,

warum seine Stimme so kraftvoll in unsere Epoche und zu den

neuen Generationen dringt.

Gehen wir noch einmal von der Frage aus, worin die Originali-

tat Gramseis besteht; jedoch nicht mit dem au6erst banalen An-

spruch, darin nur eine originelle .. , Auslegung von bereits gehei-

ligten Walvheiten zu sehen, sondem mit der Absicht, den »intel-

lektuellen Mechanismusc aufzudecken, der Gramsci dahin fUhrt,

die lange Reihe der »traditioneUen Wahrheiten« aufzubrechen.

Bei dieser Betrachtungsweise stellt sich meiner Meinung nach so-fort heraus, daB jeder Versuch, die Originalitat Gramscis in seinen

konkreten politischen Weisungen zu suchen, verfehlt ist. Bei ei-

nem groBen politischen Denker ist das politische Programm in

Wirklichkeit immer da s Ergebnis einer Analyse, und folglich eines

theoretischen Mechanismus. Die Originalitat Gramscis dennoch

auf dem Gebiet des konkreten politischen Programms zu suchen,

fiihrt zu dem fatalen SchluB, das theoretische Hinterland sei irre-

levant oder »au8erhalb« der Analyse geblieben; d. h. es sei nur

passiv von der Tradition libemommen worden, die »Kreativitat«

Gramscis sei ganz der politischen »Intuitione unterworfen gewe-

sen, und schlieBlich seien ausgerechnet in den politischen Weisun-

gen die auch fiir uns, die Nachkommen, giiltigen Elemente aufzu-

finden.

Und darum, so fiirchte ich, hat die Debatte uber Gramsci sich

allzuoft auf seine politische Aktivitat konzentriert; aber ebendarum ist die theoretiscbe Forschung sehr oft vom byzantinischen

Disput urn einzelne, ausgewahlte politische Themen (der Rate-

staat, der Primat des »Principe« [»Oer Furst« nach Machiavelli; d.

Ubers.], die verfassungsgebende Versammlung) oder urn einzelne

isolierte Begriffe (die Hegemonie, die Partei) beherrscht worden.

Was gefehlt hat, war Meiner Meinung nach ein einheitlicher Ver-

such, den systematischen roten Faden der Reflexion Gramscis

uber die Politik zu finden, und d. h. das einheitliche theoretische

Fundament: das Fundament, das moglicherweise wichtige politi-

sche Losungen aufgezeigt hat, die dennoch au6erhalb des spezifi-

schen historischen und politischen Kontexts, in dem sie entstan-

den, kaum von Bedeutung sind. Wichtiger, und sogar wesentlich,

114

ist gerade der Mechanismus, der sie hervorgebracht hat, und den

man in Bezug auf die politischen Phanomene - mangels einer sy-

stematischen theoretischen Darstellung - nur rekonstruieren

kann, indem man Gramscis Analyse des Staates rekonstruiert.

Aber Gramsci gibt uns bekanntlich nicht einmal eine vollstandig

ausgearbeitete Staatstheorie. Er gibt uns jedoch eine betrachtliche

Anzahl theoretischer Anmerkungen, die zusammengenommen

aile auf eine komplexe und hinreichend geschiossene Analyse ei -

ne s Staates, und d. h. des italienischen Staates, abzielen. Hier liegt

also ein hochst interessanter Forschungsgegenstand vor: ein mo-

demer Staat, der auf historischer Ebene hinreichend systematischanalysiert wurde. Das, so mochte ich gleich hinzufiigen, war bei

keinem der »Klassiker des Marxismus« gegeben.

Und hier liegt auch ein erster Grund fiir eine differenzierende

Betrachtungsweise. Warurn gibt uns Gramsci im Unterschied zu

den anderen marxistischen Denkem eine systematische Analyse

der historischen Entwicklung des italienischen Staates und der ita-

lienischen GeseUschaft? Der Pedant, der nur mit seinen eigenen

Pedanterien argumentiert, antwortet natiirlich, die Forschungen

Gramscis seien lediglich das Produkt der italienischen historisti-

schen Tradition. Und er irrt, weil er nicht beachtet, daB Gramsci

damit beginnt, die Geschichte Italiens zu erforschen, um die Ursa-

chen firr das politische Scheitem der Arbeiterbewegung und fiir

die Entwicklung des italienischen.Staates in den Faschismus zu re-

konstruieren. Hier verbinden sich die historischen Grande mit ei-

nem politischen Grund, hinter dem, Dum verschleiert, eine be-deutende theoretische (wissenschaftliche) Frage steht: »MuB die

politischeBewegung, die zur nationalen Einigung und zur Entste-

hung des italienischen Staates fUhrte, notwendigerweise in den

Nationalismus und in den militaristischen Imperialismus einmiin-

den?«

So paradox es auch scheinen mag, wenn man bedenkt, daB

Gramsci als politischer FUhrer unterlag, die Antwort ist negativ:

»Die italienischen Traditionen sind kosmopolitische und der Fa":

schismus kann nicht ihr Endpunkt sein. Und dennoch hatte

Gramsci bei seiner Beruteilung der Geschichte Italiens gerade im

Kosmopolitismus die Grenze filr die Entwicklung unserer Nation

gesehen: »Die wesentliche Tatsache besteht fU r Italien gerade in

115

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I/\ der intemationalen und kosmopolitischen Funktion seiner Intel-

1 \ lektuellen; diese ist Ursache und Wirkung der Desintegration der

I Halbinsel seit dem Zusammenbruch des Romischen Reiches bis

l1870«; und »bei den Italienem verhinderte die Tradition der ro-

mischen und mittelalterlichen Universitat die Entwicklung der na-

tionalen (biirgerlichen) Krafte jenseits der rein okonomischen und

kommunalen Ebene«, tiber die man nur durch die Konstitution ei-

nes Staates,·d. h. einer in der Nation institutionalisierten Politik,

hinauskommen konnte.

In diesen wenigen Zitaten scheint mir das theoretische Motiv

der historischen Untersuchung Gramscis und auch die politischeKonsequenz daraus schon vollstandig umrissen. Gramsci scheint

uns namlich zu sagen, daB ein neuer (sozialistischer) Staat das logi-

sche Ergebnis unserer Tradition sein musse, obwohl faktisch lange

Zeit nicht einmal ein burgerlicher Staat bestanden habe und ob-

wohl faktisch (zunachst) der Faschismus gesiegt habe. Offensicht-

lich mochte Gramsci uns auch sagen, daB die kosmopolitischen

Traditionen eine Kraft ftir den Aufbau eines Staates darstellen -

wenn es sichurn einen neuen Staat handelt, einen anderen als den,

den die italienische Bourgoisie gestalten konnte und der im Fa-

schismus endete. Aber dieser neue (sozialistische) Staat musse

nicht nur in Bezug auf den burgerlichen Staat neu sein, sondem

auch in Bezug auf den traditionellerweise von der Arbeiterbewe-

gung konzipierten Staat, der faktisch dem Faschismus unteriag.

3. Es ist bereits deutlich, daB Gramscis historische Untersu-

chung von einer impliziten theoretischen Hypothese ausgeht, dieauf der Grundlage einer zweifachen Kritik formuliert wird: einer

Kritik an der Tradition des burgerlichen Staates und einer - ange-

deuteten - Kritik an der entstehenden sozialistischen Tradition

(der die in mancher Hinsicht besorgniserregende Erfahrung des

ersten »realen« sozialistischen Staates offenbar nicht fremd war).

Es ist eine theoretische Hypothese, die sehr wenig mit der histori-

stisch-idealistischen Tradition zu tun hat; sie erhalt ihre AnstoBe

vielmehr aus den konkreten politischen Erfahrungen der Gegen-

wart, urn deren historische Motive aufzufinden und sie also auch

durch eine »tiefgriindigere« Reflexion als die der blofsen politi-

schen Analyse tiberwinden zu konnen. Es scheint mir nicht tiber-

trieben, wenn man in dieser Vorgehensweise Gramscis eine theo-

116

retische Analyse der modemen Politik anhand der Aufdeckung ih-

rer historischen Struktur sieht. Dies istmuta ti s mu tandi s der intel-

lektueUen Vorgehensweise von Marx analog, der die theoretische

Struktur der modemen Wirtschaftsgeschichte sucht, und auch der

Vorgehensweise Lenins, der in der russischen Geschichte die

Kennzeichen eines allgemeinen Systems okonomischer Gesetz-

miiBigkeiten sucht.

Aber der Beitrag Gramscis wird gerade durch einen Unter-

schied bedeutsam (wenn Gramsci nur einen formal analogen Bei-

trag geleistet hatte, so ware dies nichts weiter als eine Widerho-

lung). Und der Unterschied liegt gerade inder Tatsache, daBer diebeiden Analysen von Marx und Lenin als gegeben voraussetzt und

sich weder auf die theoretische Erforschung des Kapitalismus,

noch auf die historische Erforschung eines Kapitalismus konzen-

triert. Er untersucht stattdessen die Grunde dafiir, daBes dem ita-

lienischen Kapitalismus - dem friihesten in Europa - nicht gelang,

jene wesentliche Stufe des Nationalstaates zu erreichen, die von

dem spateren englischen Kapitalismus und sogar von der servilen

russischen GeseUschaft, recht schnell erreicht wurde. Und so

kommt Gramsci darauf, genau das zu untersuchen, was weder

Marx noch Lenin untersucht hatten: die historischen Ursachen,

die die Vollendung der kapitalistischen Erfahrung in okonomisch

entwickelten Landern bremsen konnen, und andererseits die theo-

retischen Grunde, die das Entstehen eines neuen Staates dort be-

schleunigen konnen, wo die nationale Einigung lange Zeit aus-

blieb, obwohl alle historisch-wirtschaftlichen Voraussetzungengegeben waren.

Deutlich nimmt mit dieser Orientierung der Untersuchung die

Vorstellung oder Hypothese Gestalt an, der italienische Staat

weise eine eigene, spezifische Besonderheit auf, obwohl er - wie

andere Staaten - ein kapitalistischer Staat ist; und diese Beson-

derheit liege nicht nur in der unterschiedlichen Entwicklung der

Wirtschaft, sondem in der unterschiedlichen Struktur der Bezie-

hung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Wir werden hier

namlich mit einem Staat konfrontiert, der erst spat und »ohne na-

tionale Kultur« entstand, und daher mit einem Staat, in dem es

eine h er rs ch en de , a be r n ic ht f U hr en de Klasse gibt. Darin liegt die

Schwache des italienischen Staates; aber dies ist auch die Voraus-

117

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setzung fur einen bedeutenden historischen Vorteil der Arbeiter-

klasse, wenn sie nur zu begreifen vennag, d a jJ s ie zu r fUhrenden

K lasse w erden m ujJ, w dhren d sie n och die b eh errschte K la sse ist.

Daraus ergibt sich, daB es - da es eine (Klassen- )herrschaft

ohne Hegemonie (Kultur) geben kann - moglich ist, die histori-

sche Bewegung und den Staat selbst dann zu fiihren, wenn man

beherrscht wird - wenn man nur dieHegemonie, d. h. Kultur, hat.

Hier erscheint der Staat Gramsci also nicht mehr nur als Unter-

druckungsmaschinerie, oder als bloBes »Werkzeug zur Ausbeu-

tung der unterdriickten Klassee". Obwohl Gramsci keine syste-

matische Theorie ausarbeitet, Iiefert er uns das Material, aus demwir schlieBen konnen, daB der Staat aujJer einer repressiven Ma-

schinerie eine politisch-rechtliche Ordnung ist, die die Einheit der

Gesellschaft nicht nur durch das Monopol der Gewalt, sondem

auch durch die Setzung von ideeUen Werten und moralischen For-

derungen aufrechterhiilt, die sich auf die geistige Vennittlung der

historisch-okonomischen Notwendigkeiten griinden und auch auf

die Fahigkeit, einen breiten Konsens zu dieser Vermittlung zu

schaffen. Die Macht erobem, heiBt also auch den Konsens er-

obern; und den Konsens erobem, heiBt auch die Macht erobem!

Diese Komplexitiit der Analyse des Staates ist ganz neu in der

Geschichte der marxistischen Kultur, sowie auch das Interesse an

der Verkntipfung zwischen Staat und Nation neu ist. Nattirlich

hatte es an Hinweisen in diese Richtung nicht gefehlt (ich denke

dabei an Schriften von Marx tiber Deutschland und Frankreich

und auch an einige Schriften von Lenin, Trotzkij oder Bauer);aber diese Hinweise waren Randbemerkungen geblieben, denn

das tiberwiegende Interesse an der okonomischen Analyse hatte

die Erforschung des Staates auf Erkenntnisse tiber die Anatomie

der Gesellschaft reduziert, und das Skelett war ohne Fleisch und

Blut geblieben.

Ais besonders bedeutsam erweist sich in diesem Rahmen die

Neufonnulierung der Beziehung zwischen Staat und Nation.

Diese Beziehung war in der marxistisehen Literatur traditionel-

lerweise nur dtirftig abgehandelt worden; sie blieb beschriinkt auf

• Lenin, Staat und Revolution, Kap. 1,3. in: Lenin Werke, Bd. 25, S.403; Ber-

lin: Dietz 1960

die Forderung nach dem »Selbstbestimmungsrecht der Volker«,

die zwar wichtig war, jedoch nur die traditionelle btirgerliche For-

derung nach nationaler Unabhangigkeit erganzte. Diese Forde-

rung wurde besonders fur die Arbeiterbewegung in den Vielvol-

kerreichen (RuBland, Osterreich-Ungam) zu einem Hauptanlie-

gen, sie liel3aber jede tiefgriindigere Analyse der Beziehung zwi-

schen Nationalstaat und nationaler Kultur, und damit zwischen

Arbeiterbewegung und nationaler Kultur auBer Betracht.

Gramsci dagegen betrachtete diese Beziehung als wesentlich zum

Verstandnis der »Konsistenz« des alten historischen Blocks und

zur Auffindung des »Zements« des neuen historischen Blocks.Und in dieser »komparativen Analyse« der Hegemonien gewinnt

gerade die Kulturkonkurrenz und die den groBen historischen

Auseinandersetzungen immanente geistige Konfrontation unmit-

telbaren politischen Vorsprung. So ubertragt eine strikt politische

Notwendigkeit (die Notwendigkeit, den neuen historischen Block

aufzubauen, urn den a1ten zu zerstOren) ein Gewicht und eine au-

tonome und primare Bedeutung auf die Kultur als dem wicbtigsten

Feld, auf dem - in den entwickelten Staaten des Westens - die

ideelle Macht eines Staates wachst. Unter diesem Gesichtspunkt

konnte man sagen, Gramsci bentitze die leninsche Theorie der

»Revolution in den schwachsten Kettengliederne und deute sie

urn, denn er erkennt die Moglichkeit, daB es auch in den entwik-

kelten Staaten (eben Italien) »schwache Kettenglieder« gibt, uod

daB - allgemeiner ausgedrUckt - auch ein »starkes Kettenglied«

»geschwacht« werden kann, wenn die herrschende Klasse in ge-ringem Grade fiihrend ist, und wenn vor allem die beherrschte

Klasse kultureU fiihrend wird.

4. Aus diesem Grunde wird Gramsci zum Theoretiker der Re-

volution im Westen. Indem Gramsci der Arbeiterbewegung das

Programm einer geistigen Revolution und einer kulturellen Aus-

einandersetzung vorlegt, verweist er gieichzeitig auf die folgenden

beiden Probleme: a) mit der traditionellen Konzeption dersdie-

nendene Kultur ebenso zu brechen wie mit der nicht weniger tra-

ditioneUen »populistischene Konzeption der »zwei Kulturen«

(der btirgerlichen und der proletarischen Kultur); denn die Kultur

ist die Fahigkeit zur historischen Universalisierung der Klassen-

herrschaft, so daB der Niedergang einer K1assesich in der zuneh-

119

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menden Diskrepanz zwischen ihrer Politik und ihrer Kultur voll-

zieht, wiihrend der Aufstieg einer neuen Klasse sich als kulturelle

»Katharsis« oder Oberwindung des okonomischen Reduktionis-

mus vollzieht; b) das Niveau der sozialistischen Politik bis zur Her-

stellung eines direkten Kontakts mit Kultur und Wissenschaft zu

heben - in der Annahme, daB die ihnen inharente Universalisie-

rung sie nunmehr gegen die Engstirnigkeit der Partikularinteres-

sen der Bourgoisie einnimmt, und sie an die Seite der Arbeiter-

klasse stellt, deren Emanzipation alsKlasse sich dabei aufdie univer-

salistisdte Fuhrung der Gesellschaft und der Menschheit ausdehnt.

In diesem Rahmen ruft die neue Beziehung zum Staat, wie ichsagte, die nationale Kultur hervor. Dies geschieht in doppelter

Hinsicht. Zuerst kritisiert Gramsci die Unfahigkeit der italieni-

schen Kultur, zu einer nationalen Kultur zu werden, die einen Na-

tionalstaat konstituieren kann; er klagt sie der »Flucht« in den

Kosmopolitismus an, womit sie sich jener Aufgabe der nationalen

Einigung entziehe, die keine (burgerliche) politische Kraft erful-

len konnte. Dann aber greift Gramsci den unerme8lichen Reich-

tum einer kosmopolitischen Kultur wieder auf, nun da ein Prota-

gonist der politischen Einigung geboren ist (die Arbeiterbewe-

gung), und da die wahre, die tragische Schwiiche wenn schon, dann

in der okonomistischen Beschrankung, imkorporativen Sektierer-

tum und in der Subalternitat gegenuber der engstimigen, nationa-

listischen Bourgoisie liegt.

Die Wiederherstellung einer Beziehung zur italienischen Kul-

tur wird also fur die italienische Arbeiterklasse bedeuten, ihre Un-teriegenheit zu uberwinden, der Bourgoisie ihre letzten histori-

schen Fahigkeiten zur »FUhrung« zu nehmen und die italienische

Nation endlich wirklich zu einigen. Sie wohlgemerkt unter dem

Banner einer Bewegung zu einigen, die nicht nur national, sondem

intemationalistisch ist, und die deshalb ein besonderes Motiv zur

Verschmelzung mit der kosmopolitischen Kultur der Italiener ha-

ben miiSte. Die Nation unter der geistigen Fuhrung der Arbeiter-

klasse zu schaffen, wiirde also bedeuten, das, was es in unserer

Kultur an positiven Werten gegeben hat, zu entdecken. Es wird

auch bedeuten, im Geiste des sozialistischen Intemationalismus

tiber die biirgerliche Nation hinauszugehen, oder, wie Gramsci

sagt, im Geiste des »modemen Kosmopolitismus«.

120·

m.Un iver saH tiit und PoH tik

1.In der Diskussion tiber das politische Vermachtnis Gramscis ist

meines Erachtens eine vereinfachende und verkurzte Auffassung

daruber aufgekommen, inwiefem eine Beziehung zwischen unse-

rer Zeit und Gramsci besteht.In den polemischen Auseinandersetzungen tiber die Politik der

KPI ist oft - und nicht ohne Grund - darauf hingewiesen worden,

daBviele politische Positionen der Partei Gramscis wohl kaum tat-

sachlich und direkt auf das politische Denken Gramscis zuriickge-

fiihrt werden konnen 1.Dies trifft zu auf die Beziehung zwischen

Arbeiterbewegung und politischer Demokratie, auf den Pluralis-

mus der politischen Kriifte, auf die Konzeption des neuen Staates

und auf viele Aspekte der Partei selbst. Meiner Meinung nach ist

der Versuch, zwischen den heutigen politischen Positionen der

KPI und den konkreten pol itischen Weisungen Gramscis eine

vollstiindige oder auch nur annahernde Obereinstimmung zu ent-

decken, vergeblich und nicht durchfiihrbar. Daruberhinaus ist die-

ser Versuch meiner Meinung nach nicht besonders sinnvoll.

Bedenkt man die tiefgreifenden versnderungen, die unsere

Epoche von der Zeit Gramscis trennen, so wire eine derartige

weitgehende oder g ar totale Obereinstimmung in der Tat iiu8erst

merkwiirdig.Aber moB man - wie so oft gefordert wird - darum nun schlie-

Ben, zwischen der heutigen Politik und Gramsci sei wirklich tiber-

haupt keine Beziehung moglich? Solch eine Schlu8foigeruDg ist,

wie ich meine, nur die Umkehrung jener, die bis vor kurzem durch

einen Historismus vertreten wurde, der die veranderten poli-

tisch-historischen Bedingungen als AnIaB zur Rechtfertigung aller

theoretischen Unterschiede nahm. Wenn vorher ein schlechter

Referat in: Po li ti ca e s tor ia in Gramsc i, Protokolle des Internationalen Kongres-

ses zur Gramsci-Forschung (Florenz, 9.-11. Dezember 1977), Bd. 1,Materialien,

Rom, Editori Riuniti, 1977. .

121

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Historismus empfahl, jegliches theoretische Erbe zu akzeptieren,

soweit es die historisch veranderlichen, konkreten polit ischen

Entscheidungen nicht beeinflusse, soist meiner Meinung nach je-

ner Historismus nieht weniger schlecht, der jegIiches Erbe zu-

riickweist, das nicht zu konkreten politischen Obereinstimmungen

fiihrt,

Fiir die eine wie fur die andere Richtung hatte also die Theorie

nur eine dienende Funktion fur die praktische Politik. Mehr noch:

die Theorie hatte an und fur sich keine andere Dimension als die

der Legitimation der berei t s ge tro ffenen politischen Entscheidung:

in Form der bloBen feierlichen Dekoration, die das politische Pro-

gramm mit Doktrinarismus garniert, oder in der ebenso doktrina-

ren Form, in der die Theorie nur die Proklamation einer politi-

schen Doktrin ware, die auf die historische Praxis anzuwenden ist.

Ich bestreite nicht, daB diese beiden Varianten der traditionel-

len historischen VorsteUung von der Beziehung zwischen Theorie

und Praxis auf eine betraehtliche kultureUe Tradition zuruckgrei-

fen konnen. Ich bestreite auch nicht, daB sie - obwohl sie meiner

Meinung nach auf jene Ideologie zuriickgehen, die ich als die offi-

zielle Ideologie des europaischen Historismus bezeichnen werde-

auch in der marxistischen Tradition fest verwurzeIt sind.

Gerade deshalb scheint es mir jedoch gerechtfertigt, die Bezie-

hung zwischen Theorie und Praxis kritisch zu iiberdenken. Dies

kann nieht imRahmen der traditioneUen Hermeneutik geschehen,

die sich insgesamt auf eines dieser beiden Parameter stUtzt: auf das

Primat der Politik als intuitive Willensentscheidung und auf d ieDenunzierung jeder theoretischen, wissenschaftlichen Analyse

der Gesellschaft und auch der Politik als reine, abstrakte Utopie,

als Ablenkung und Plucht vor der poIitischen »Konkretheit«.

Diese beiden Modelle der Interpretation sind aUesandere als

einander entgegengesetzt; vielmehr erscheinen sie komplementar.

2. Ich mochte dies kurz an zwei Beispielen beweisen, die

scheinbar sehr weit auseinanderliegen: das erste betrifft die Be-

ziehung zwischen Theorie und Praxis in der pragmatischen, auf

unmittelbare Niitzlichkeit gerichteten Konzeption des stalinischen

Marxismus, das zweite Max Webers Konzeption der Idealtypen.

Weder die eine noch die andere Konzeption kann die Dimen-

sion einer authentischen GeseUschafts- und Politikwissenschaft

122

erreichen, oder sie kann diese nur verbal proklamieren, ohne eine

effektive begriffliche Differenzierung zu leisten, die man wirklich

wissenschaftlich nennen kann. Bei Stalin (und in jener stalinschen

Version des Marxismus, die auch Lukacs beeinfluBte, und die so-

gar bei Sartre und AIthusser noch weiterlebt) wird der Theorie

kein spezifischer, autonomer wissenschaftlicher Raum zugestan-

den, so daB niemals sie diejenige ist , die die Polit ik begrundet,

sondern im Gegenteil sie durch die Politik begriindet wird",

Wenn man tiber die sooft wiederholte Formel der »Einheit von

Theorie und Praxis« nachdenkt, wird man sehen, daB sie niemals

etwas anderes bedeutet hat, a ls eine standige Ermahnung derTheorie, nicht von der polit ischen Praxis abzuweichen und dort

ihre Nahrung zu suchen. Wenn die Anspielung auf Althusser ge-

wagt scheinen mag, soerlaube man mir daran zu erinnern, daBdie

Definition der Philosophie und der Theorie im aUgemeinen als

t he o re ti sc h e P rax i s seine Defmition ist'.

Auf dieser Linie der Interpretation liegen zwei miteinander

verbundene fatale SchluBfolgerungen: die Theorie ist durch die

Polit ik vorgezeichnet und beherrscht; denn die Politik ist der

Kampf der Klassen und daher wird die Philosophie oder Theorie

immer auf die am Kampf beteiligten Klassen zuruckgefuhrt und

sie scheint so im Zeitalter der Moderne gespalten ineine burgerli-

che Philosophie und eine Arbeiterphilosophie4• In dieser doppel-

ten SchluBfolgerung wurzelt die Negation jeder wissenschaftli-

chen Dimension der Theorie und daher auch die AusschlieBung

der theoretischen, wissenschaftIichen Begriindbarkeit der Politik.Ich mochte betonen, daB ich mit der Kritik dieser Position kei-

neswegs die historische Wechselbeziehung.ausklanunem mochte,

die aus der modemen Philosophie groBenteils eine Philosophie

der Bourgeoisie macht: biirgerlich ist sozusagen der historische-

soziale Bezug der Kategorien, ein Bezug, dessen Erkenntnis die

komplizierte Aufgabe des modemen Denkens ist .

Das Problem liegt woanders. Es geht darum nieht zu glauben,

eine Philosophie konne 8 u S dem einfachen Grunde, daBihre be-

deutendsten Vertreter soziologisch gesehen der biirgerlichen

Klasse angehoren, als biirgerlich bezeichnet werden, oder auf-

grund der Tatsache, daBsie lntellektuelle Betrachtu~g~weisen ~-

wuBt und ausschlie81ich »im Interesse der BourgeOlsle« erarbei-

123

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Wenn wir diese beiden weitverbreiteten Konzeptionen des

»Klassen-«charakters der Theorie zuruckweisen, werden wir den

Zugang zu einem ganz neuen Problem eroffnen, Man kann es fol-

genderweise zusammenfassen: in jeder Epoche reiht jede Klasse

sich selbst in die geistige Tradition ein, indem sie die groBen Pro-

bleme des Lebens und der Welt auf der Ebene der Erkenntnis auf-

greift, und im modemen Zeitalter wiederholt die Bourgeoisie

diese Bemtihung und gelangt dabei zu einer sehr ungewohnlichen

und problematischen Konstruktion.

Es gelingt ihr namlich eine Form der Erkenntnis zum Ausdruck

zu bringen, die in Bezug auf die physische, natiirliche Welt exakt,weil methodologisch unanfechtbar ist; doch sie unterlaBt es ganz-

oder scheitert zumindest darin - eine Wissenschaft von der Ge-

schichte zu begriinden, die die gleichen Merkmale methodologi-

scher Unanfechtbarkeit aufweist.

Der »Klassencharakter« der Bourgeoisie hindert sie also iiber-

haupt nicht an der Entwicklung einer exakten Naturwissenschaft,

was eben als Beweis der Moglichkeit betrachtet wird, daB auch die

Bourgeoisie in Bezug auf die Theorie zu wissenschaftlich giiltigen

Ergebnissen gelangen kann",

Wenn wir - wie oben geschehen - ausschlieBen, daB das Versa-

gen der Bourgeoisie in der Gesellschafts- und Geschichtswissen-

schaft einfach durch einen »Utilitarismus« der biirgerlichen Kul-

tur bedingt sei (und wieso sollte die Bourgeoisie Interesse allein an

einer wissenschaftl ichen Erkenntnis der Natur haben und nicht

auch an einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Geschichte?),moB man folgem, daB die biirgerliche Kultur sehr wohl danach

strebt, eine Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft zu begriin-

den, und daB sie diesbeziiglich mit realen Problemen und realen

Schwierigkeiten in der begrif flichen Ausarbeitung konfrontiert ist.

Nicht zufallig ist das gesamte Werk von Marx, der die grundlegen-

den Voraussetzungen fiir eine einheitliche Gesellschafts- und Ge-

schichtswissenschaft entwirft, eine intensive, kritische Auseinan-

dersetzung (jedoch kritisch im umfassenden Sinne des Wortes) mit

den Exponenten der modemen burgerlichen Kultur: Smith, Ri-

cardo, Hegel, Kant und Feuerbach. Wenn Marx' Losungen sich

auch radikal von denen der klassischen biirgerlichen Denker un-

terscheiden (und dies geschieht nicht immer und auch nicht hun-

124 .

dertprozentig), so nimmt er tatsachlich die von diesen Denkem

erarbeiteten Fragen wieder auf und setzt sich mit ihnen auseinan-

der. Marx' Neuerung ist eine methodologische Neuerung, der es

an impliziten und manchmal expliziten Verweisungen auf die an-

deren Denker nicht fehlt . Es scheint mir auch nicht richtig, wenn

man Marx' Neuerung dadurch beschreibt, da8 man behauptet, sie

bestehe im Bekenntnis zum »Standpunkt der Arbeiterklasse«.

Denn meines Erachtens ist es vielmehr so, daBihm die Darstellung

der neuen Theorie des Sozialismus durch eine umfassendere Kri-

tik an der Theorie und auch an der Praxis der modemen Gesell-

schaft gelingt. 1miibrigen ist die Abgrenzung eines wissenschaftli-chen Sozialismus zu jeder anderen sozialistisch-utopischen »Dok-

trine gerade durch die Anerkennung der Existenz objektiver Ge-

setze der Gesellschaft und der Geschichte moglich, und erst deren

Erkenntnis kann Anweisungen zur Transformation in Richtung

auf den Sozialismus legitimieren.

Unter diesem Blickwinkel moB man feststellen, daB bei Marx

die Kritik an der spekulativen Methode der traditionellen Philo-

sophie der Formulierung der politischen Perspektive eines wissen-

schaftl ichen Sozialismus - zumindest logisch, wenn nicht auch

chronologisch - vorausgeht, und daB es Marx gerade durch eine

neue, in ihrer Grundstruktur umrissenen, Gesellschafts- und Ge-

schichtswissenschaft moglieh wird, daraus eine politische Theorie

abzuleiten, die als wissenschafdicher Sozialismus bezeichnet wer-

den kann.

1mGegensatz zu der Meinung, die durch die Tradition des sta-linischen Marxismus vertreten wurde, war der wissenschaftIiche

SoziaIismus nicht die Anwendung eines historischen Materialis-

MUS auf die modeme Gesellschaft - eines historischen Materialis-

mus, der soverstanden selbst nur die simple Anwendung eines en-

zyklopadischen dialektischen Materialismus war. Der wissen-

schaftliche Sozialismus war inWahrheit die richtungsweisende po-

litische Schlu8folgerung aus einer historisch-kritischen Analyse

der modemen Gesellschaft: es war eine Politik, hinter der eine be-

griindete wissenschaftliche Forschung stand.

Das Beispiel Webers dient einem anderen Zweck. Es soli zei-

gen, daBdie revolutionare Bedeutung von Marx in der Skizzierung

der Grundlagen fiir eine wisenschaftliche Darstellbarkeit der hi-

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storisch-sozialen Kategorien liegt; also in der PostuIierung der

»Idealtypen«, von denen Weber spater spricht, als eine nicht nur

ideale Typologie , sondem eine, die selbst Ausdruck einer Typolo-

gie realer historisch-sozialer Organismen ist und gegliedert wird.

Aus der Perspektive Webers findet die Darstellung der histo-

risch-sozialen Kategorie niemals objektive Entsprechungen, an

denen sie sich erproben. Denn Weber glaubt nicht, die modeme

btirgerIich~ Kultur sei Ausdruck des realen sozialen Organism us,

den wir Kapitalismus nennen, sondem im Gegenteil, wir wtirden

durch die Anwendung des Idealtypus den Tatsachen und Ereignis-

sen des modemen Zeitalters - die an und fur sich zusammenhang-lose lndividualitaten, ohne irgendeine historisch-objektive Ge-

setzmafsigkeit bleiben - einen ordnenden und schopferischen Sinn

zuschreiben.

FUr Weber gibt es also keine bti rgerl ich-kapitalistische Gesell-

schaft, sondem eine Kultur, die sie erschafft und ordnet",

Die historische Gegentiberstellung findet also niemals zwischen

sozialen Organismen, sondem zwischen Kulturen statt.

Daher ist die historische Gegenuberstellung letztendlich eine

Gegent ibers tellung unterschiedl icher Polit ikfonnen, die als kultu-

relle Synthesen, oder besser als Strukturen des Willens aufgefaBt

werden. So wird bei Weber die tradit ionelle idealistische Konzep-

tion der Politik als eine blo8e Sache der Entscheidung, als eine

Angelegenheit von Leidenschaften* theoretisch systematisiert.

Und wenn wir den verschiedenen poIitischen Tendenzen einen

Namen geben, der nicht ihre Ableitung von einer krit isch-wissen-schaftlichen Perspektive und ihre Verkntipfung mit der Funk-

tionsweise der sozio-okonomischen Organismen bezeichnet, son-

dem hauptsachl ich die ethisch-kul turelle Orient ierung, so verste-

hen wir, wie es moglich ist von der btirgerlichen Kultur zu reden,

wenn man aIle realen Bezuge aus ihr entfemt und den Akzent auf

ausschIieBIich ethisch-pol itische Elemente, und sogar auf i rratio-

nale Schemata gesetzt hat.

Zu bedenken ist, wodurch diese kul turanalyt ische und uberdies

»kulturologische« Betrachtungsweise sich von jener eines be-

stimmten Marxismus unterscheidet, der im Stalinismus seine Voll-

endung findet.

• vgJ.das Stichwon Polink als Le idenschaft inTeil II dieses Buches - ADm. d. Red.

126·

Auch in diesem Marxismus ist die Rede von den »zwei Kultu-

ren«, die einander nicht aufgrund kritisch-wissenschaftlicher Pa-

rameter gegentibergestellt werden, sondem oft aufgrund von

deutl ich ir rationalen Kri terien, die durch rein polit ische Entschei-

dungen bestimmt sind, also ausschIieBlich durch das subjektive

Bewu8tsein.

Man denke an die Begrif fe »sozialist ische Kultur«, »Klassenin-

stinkt«, »Arbeiterwissenschaft«, »Arbeiterbewu8tsein«, Begriffe,

mit denen sich wohlgemerkt auch bedeutende Denker wie Lukacs

auseinandergesetzt haben.

3. Gegenuber dieser geistigen Tradition stell t das Werk Grams-cis ein wichtiges kritisches Reagenz dar. Es gentigt, hier an seinen

Entwurf einer Theorie der Kultur zu denken, in der Alltagsbe-

wuBtsein, autgeklarter Alltagsverstand und kritische Philosophie

mit wichtigen Nuaneierungen voneinander abgesetzt sind; in der

die Folklore beispielsweise - die zwar hinsicht lich der Moglichkeit

einer kritischen Funktion einen eigenen positiven Wert gewinnt-

hinsichtlich der systematischen Bildung dennoch weiterhin als

eine subalteme kulturelle Formation beurteilt wird. NatUrIich

werden durch dieses kulturelle Schema Gramscis die kritisch-ra-

tionalen wissenschaft lichen Elemente stark privilegiert, wahrend

die zuvor genannten Begriffe, die im »italienischen Marxismus«

soviel Raum eingenommen hatten, t iberprtif t und negativ beurteilt

werden".

Ich mochte hier nieht leugnen, daB auch in Gramscis kritisch-

rationalem Entwurf einige widersprt ichliche Aspekte vorhandensind. Es gentigt ein Hinweis auf die zweideutige Position, die das

Denken Gramscis insgesamt gegentiber der Wissenschaft ein-

nimmt9.

1m gro8en und ganzen jedoch scheint es so, als habe der in den

Gefcingnisheften fonnulierte Kulturbegriff entschieden mit dem in

den zwanziger und drei8iger Jahren gangigen Marxismus gebro-

chen und auch die alten Verbindungen mit Bergson, Sorel und

Croce korrigiert. Wie dem auch sei - auch wenn dieser Bruch nicht

vollstandig ware und die bisher erwahnten Fragen bei Gramsci nur

angedeutet und nicht direkt ausgesprochen wUrden, so ist es mei-

ner Meinung nach wesentlich, daB sie wiederaufgenommen, ent-

wicke It und wieder in den traditionellen Marxismus eingebracht

127

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werden. Denn dadurch wiirde der kritische Hinweis erheUt, den

man aus dem Vergleich zwischen der »kulturologischene Frage-

stellung des italienisch-deutschen Historismus und der »okonomi-

stischen« Fragestellung einer gewissen marxistischen Tradition,

zwischen dem Interesse an der historisch-nationalen Besonderheit

und dem Interesse an der logisch-systematischen Modellkonstruk-

tion historisch-sozialer Idealtypen herauslesen kann'", Gerade

durch diesen Vergleich entdeckt Gramsci die kritische Dimension

wieder, die"es schon dem jungen Marx gestattete, eine Vennitt-

lung zwischen der idealistisch-spekulativen und der vulgarmate-

rialistischen Tradition herzusteUen.4. Die Rekonstruktion einer Theorie der Kultur kann von der

Klassenanalyse der Gesellschaft wichtige Anregungen erhalten,

speziell hinsichtIich dreier Themen, die Gramsci besonders ausge-

fuhrt hat: die Theorie der Hegemonie, die sicherlich die bekannte-

ste ist; das Verhaltnis zwischen Kultur und Politik; und die Theo-

rie, die ich die historische Theorie der menschlichen Universalisie-

rung nennen mochte.

Zum ersten Thema ist sehr viel gesagt worden. Ich mochte dem

nur hinzufugen, daB die Theorie der Hegemonie sich bei Gramsci

ineine Konzeption der Geschichte und der Politik einfiigt, die sehr

viel fruchtbarer als die traditioneUerweise in der Geschichte der

Arbeiterbewegung vertretene Konzeption ist. Denn gerade die

Vorstellung der Hegemonie, d. h. die VorsteUung der Notwendig-

keit, eine allgemeine Fuhrung der GeseUschaft zum Ausdruck zu

bringen, gewahrt der Politik Gramscis einen wissenschaftlichenund kultureUen Hintergrund, der dem aktivistischen Primat der

Politik und auch der Reduktion der Politik auf blo8en Willen, Lei-

denschaft, Eigennutzigkeit oder gar Instinkt ein Ende setzt.

Gerade weil ein entwickelter politischer Organismus es verste-

hen muS, mit der gesamten GeseUschaft in Verbindung zu stehen,

dart er seine Politik nicht mehr nur an den traditioneUen subjekti-

yen Faktoren ausrichten und auch nicht nur an den objektiven

Teilfaktoren (okonomisch-korporative Interessen), sondem an

einem Problemhorizont, der die gesamte GeseUschaft miteinbe-

zieht, und der daher ihr grundlegendes historisch-objektives Ter-

rain enthullt (ein Terrain, das durch eindeutig-wissenschaftliche

Forschungen »meSbar« und gleichzeitig als »Experimentierfeld«

128

zur Verifikation geeignet ist).

Hieraus ergibt sich die neue Verkniipfung zwischen Politik und

Kultur, die durch Gramsci entdeckt wird: die Unmoglichkeit und

sogar extreme Schadlichkeit nicht nur der Trennung, sondem auch

der Identifizierung von Politik und Kultur und auch der politi-

schen Fiihrung der Kultur und der »Parteilichkeitc der Wissen-

schaft. Gerade die Tatsache, daB Gramsci die Politik »bereichert«,

indem er sie auf die nicht nur das zufillige Tagesgeschehen umfas-

sende Konzeption einer »Politik als Geschichte« orientiert, zeigt

die Moglichkeit einer wissenschaftlichen Begriindung der Politik

auf, die ausgehend von den Interessen und vom zufalligen Tages-geschehen dennoch dahin kommen muS, das Problem der allge-

meinen, universe lien und langfristigen Fuhrung anzugehen.

Auf dieser Ebene bringt Gramsci das marxsche Leitthema der

wissenschaftlichen Erkennbarkeit der Geschichte wieder ein,

wenn man die Geschichte als Folge von Ereignissen auffaBt, die im

Rahmen von Tendenzen und Institutionen - die in der Funktions-

weise spezifischer sozialer Organismen ihren Ursprung haben -

eine »Gesetzmabigkeite enthalt. Hier taucht der schon traditio-

nelle Einwand der angeblichen Unmoglichkeit einer »wertfreien

Wissenschaft« auf. Eine derartige Infragestellung beinhaltet je-

doch zunaehst gerade die Negation jeder »gesetzmii8igen« Struk-

turierung der verschiedenen Gesellschaftsformationen und damit

auch der gro8en Zeitabschnitte der Geschichte; sie entsteht daher

notwendigerweise auf dem Terrain einer idealistischen Konzep-

tion der Geschichte (und der Politik). Es ist auch leicht einzuse-hen, daB die Behauptung der Unmoglichkeit einer wertfreien Wis-

senschaft oder der Notwendigkeit einer »Parteilichkeit« der Wis-

senschaft und der Kultur im allgemeinen - eine Behauptung, die

auch in der Tradition der sozialistischen Theorie so hiiufig anzu-

treffen ist - bezeichnenderweise mit dem Anspruch des histori-

schen Materialismus, eine wissenschaftliche Erkenntnis der gesell-

schaftlichen Entwicklung hervorzubringen, kollidiert; sie orien-

tiert sich eher am Anspruch der »verstehenden Soziologie«, die

sich als eine von der Feststellung historischer GesetzmiBigkeit un-

abhiingige und stattdessen nur auf »Wertentscheidungen« und

»Kulturentscheidungen« gegriindete Erkenntnismethode ausgibt.

Auf diesem Weg kommt der historische Materialismus in Wirk-

129

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lichkeit auf die bescheidensten Zielsetzungen der Wissenssoziolo-

gie und der Sozialpsychologie herunter.

5. Die wichtigste Fragestellung jedoch, die man dem Werk

Gramscis entnehmen kann, ist vielleicht die dritte: jene Fragestel-

lung, die eine Beziehung zwischen Aktivitaten und Forderungen

der Klasse und der Ftihrung der Gesellschaft herstellt , indem sie

ein Verhaltnis historischer Vermittlung der Nation und auch ein

VerhiHtni~ der Universalisierung umreiBt.

Diese beiden Verhaltnisse hatten in der Geschichte des Mar-

xismus traditionell niemals eine besondere Entwicklung erfabren.

Die Aufhebung des Nationalstaates war in der marxistischenTradition zuunbestimmt einfach als Absterben des Staates, das an

die Verwirklichung eines hohen okonomischen Produktionsnive-

aus gebunden ist, formuliert worden, wahrend die »nationale Fra-

ge« nur unter dem Aspekt des »Selbstbestimmungsrechts der

Volker« gestellt wurde; d. h. unter einem theoretischen Neben-

aspekt, der die Vollendung des Prozesses der weltweiten Ausbrei-

tung des Nationalstaates voraussetzte, den die Bourgeoisie in den

entwickelten Landern eingeleitet hatte.

Yom historischen Standpunkt gesehen handelte es sich dabei

gewiBurn einen in der Tradition der Vielvolkerstaaten und vor al-

lem des russischen und des osterreich-ungarischen Reiches beson-

ders relevanten theoretischen Aspekt; aber die Frage der Bezie-

hung zwischen Arbeiterklasse und Nation erreichte keinesfalls ein

kulturelles Niveau von allgemeiner Bedeutung oder gar die Ebene

der Metapolitik".Sogar das Problem der Nationalsprache blieb, nebenbei be-

merkt, lange sekundar; es tritt sehr viet sparer bei Stalin in Er-

scheinung, wahrend Gramsci es bereits friihzeitig und sehr diffe-

renziert sah.

Insgesamt kann man feststellen, daB Gramsci die Ebene, auf

der der Kampf der Klassen und der Nationalstaat sich treffen, aus

einer viel umfassenderen Perspektive enthullt, und vor allem auf

einer Ebene, auf der die Nation als ein Phanomen nicht nur oko-

nomischer oder politischer, sondern auch kultureller Formierung

gewertet wird.

Er erkennt niimlich, daB der Kampf der Klassen, wenn er sichin

130

einer »nicht erstarrtene" Gesellschaft entwickelt, zum Kampf fur

die Formierung historischer Blocke mit einer politischen und kul-

turellen Fuhrung wird, die im Staat ein Niveau institutioneller

Strukturierung erreichen, das durch einige wesentliche Faktoren

bestimmt wird. Erstens vollzieht sich die in der modernen zivilen

burgerlichen Gesellschaft ausgedruckte Notwendigkeit der Rege-

lung eines eigenstandigen oder politischen Bereichs - einer Spha-

re, die den gesamtgesellschaftlichen Mechanismus mit dem dop-

pelten Band der Macht und des Konsens zusammenhalt - inner-

halbvon Formen, die durch die Fiihigkeit der herrschenden Klasse

zur Assimilation, Variation, Weiterentwicklung und Verbreitungeines kulturellen Erbes gestaltet werden; sowird dies Erbe zur er-

sten Ebene nationaler »Universalisierung« der Klasse, und es er-

ganzt dann auch die zweite Ebene der »Universalisierunge des

Klassenstaats (der burgerlichen Nation) imRahmen der allgemei-

nen Geschichte aUer modemen Staaten.

Zweitens besteht kein Zweifel daran, daB der Herrschafts-

druck, den die herrschende Klasse im modemen Nationalstaat

ausubt, in diesem Rahmen eine direkte Proportionalitat zu Fakto-

ren aufweist, die nicht mehr ausschlie8lich okonomisch (GroBe

und Reichtum des Binnenmarktes) und auch nicht ausschlie8lich

»synchron« (die von der zur Zeit herrschenden Klasse ausge-

druckte Kultur) sind. In Wirklichkeit enthalten diese Faktoren

auch politische und kultureUe, sowie historische Elemente, d. h.

Elemente, die mit dem, was Lenin das »nat ionale Erbe« nannte, in

Verbindung stehen.Diese Faktoren sind die Grundlage fiir das KriifteverJrijltnis zwi-

schen den verschiedenen Klassen - und das hei8t ftlr das histori-

sche Verhaltnis zwischen herrschenden und subalternen Klassen-

und fU r die Gestaltung des herrschenden historischen Blocks.

Schon Lenin hatte bekanntlich das Thema des» Kriifteverhiiltnis-

sese ins Zentrum der revolutionoren Aktion und der Politik g e -

riickt. Dennoch blieb dieses Verhaltnis immer noch einem aus-

schlie8lich politischen Bezugsrahmen verhaftet, und darin spielte

vor allem die taktische Fahigkeit der politischen Parteien (beson-

ders der revolutionaren Arbeiterpartei) und der Aspekt der Ge-

• im Orig.: J O n o n gelatinosae, nicht-gallertartig - Anm. d. D .

131

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waltaustibung eine bedeutende Rolle. Gramsci dagegen beginnt

mit der Untersuchung (und der Darstellung) der strategischen Fa-

higkeit als einer Fahigkeit, kulturelle Triebkraft der Parteien, der

Klassen und des Staates zu werden 12. Man muS jedoch betonen,

daS die Originalitat dieses Werkes nur erfaSt werden kann, wenn

man es von allen noch vorhandenen Spuren eines Kulturinstru-

mentalismus befreit: Parteien, Klassen und Staaten werden nur

dann Fortsehritte machen, wenn sie langfristig »treibende Kraft«

sein konnen; langfristig erhalt die Instrumentalisierung der Kultur

keinen Spielraum und sie fiihrt zu nichts.

Daraus folgt auch bei dieser Vorgehensweise, daB die authenti-sche und grundlegende Neuerung Gramscis - der Aspekt, den

man weiterentwickeln muS - in der Wiedereinfiihrung der Auto-

nomie imRahmen einer neuen Vision der Konvergenz von Kultur

und Politik sowie in der Darstellung auch der Politik als Objekt

kritisch-wissenschaftlicher Erkenntnis liegt.

Wenn dies wahr ist, so begreift man auch, daB die Rolle der Ar-

beiterbewegung in den einzelnen Landern sozusagen durch die hi-

storisch-kulturelle Umwelt, in der sie jeweils operiert, geformt

wird und das heiSt durch die historisch-strategische Aufgabe, die

ihr mit den spezifischen intellektuellen Komponenten der Klas-

senherrschaft, mit dem historisch-kulturellen Niveau des Staates

vorgegeben wird.

So ist das Interesse Gramcsis an der Geschichte, an der Tradi-

tion der italienischen Gesellschaft und an ihrer Kultur zuerklaren;

doch soistvor allem die Beachtung zuerklaren, die der Beziehungzwischen den Ebenen der kulturell-ideellen Universalisierung und

den Ebenen der politisch-korporativen Ftihrung geschenkt wird.

Wie mir scheint, zeigt das Studium des Einmtindens der natio-

nalen Geschichte in den Faschismus fur Gramsci zwei sehr origi-

nale Fragestellungen auf: a) wie und warum geht die universalisti-

sche und au6erst vielfaltige italienische Kultur auf der Ebene des

Staates mit einer au6erst beschrankten und einseitigen politischen

Ftihrung einher? b) wie und warum gelingt esnicht einmal einer im

okonomischen und politischen Bereich sehr universellen Klasse -

dem Proletariat - sich mit den Traditionen einer so universellen

Kultur wie der italienischen zu verbinden, und warum isoliert sie

sich im »Arbeiterkorporativismus«, im Okonomismus und Maxi-

132-

malismus und »verliert« dabei den Staat, d. h. die Fahigkeit die ge-

samte Gesellschaft der Nation zu fuhren?

Eine Antwort auf diese beiden Fragen Gramscis ist anschei-

nend seine Analyse der Grenzen der Aktionspartei im Risorgi-

mento und auch seine Analyse der »Abstraktheite, die imKosmo-

politismus und imUniversalismus der italienischen Kultur und der

italienischen Intellektuellen liegt; eine Antwort darauf ist aber

auch die heftige Kritik der Beschranktheit des Kampfes der Arbei-

ter, seiner kulturellen Armut und seiner mangelnden nationalen

Reichweite.

Aus diesen Analysen ergibt sich im wesentlichen die Feststel-lung einer Diskrepanz zwischen der universalistischen Kultur der

Italiener und der Politik des burgerlichen Staates. Diese Diskre-

panz ist sicherlich der Grund fur die politische Unfruchtbarkeit

oder »Abstraktheite der italienischen Kultur. Die Politik des bur-

gerlichen Staates jedoch ist aufgrund dieser Diskrepanz ohne jede

Offnung zum Yolk und oboe historische Reichweite, und tendiert

somit stark zur Anwendung von Zwang und zur gewaltsamen Un-

terdruckung. Aus den selben Grunden scheint Gramsci der Arbei-

terbewegung die umfassende Operation einer Weiterentwicklung

der kulturellen Tradition vorzuschlagen, die so beschaffen sein

muS, daB sie die italienische Bourgeoisie in der Fiihrung des na-

tionalen Staates ablOsen kann. Diese Operation ist nur dann mog-

lich, wenn es der Arbeiterklasse gelingt, ihren Korporativismus zu

tiberwinden, und damit ihre eigenen Interessen nicht nur als Ter-

rain der Befreiung der Klasse zur Geltung bringt, sondem auch alsLeitlinie zur Vereinheitlichung und Ftihrung der Interessen eines

gesamten historischen Blocks.

6. Aus den Gedanken Gramscis tiber die Beziehung zwischen

der Kultur und den subaltemen Klassen kann man, wenn man sie

durch die weiteren Gedanken tiber die Geschichte Italiens und die

Funktion, die die Kultur darin gehabt hat, erganzt, die grundle-

genden Elemente einer allgemeinen Theorie der Kultur ableiten-

und das heiSt einer allgemeinen Theorie der historisch determi-

nierten Beziehung zwischen okonomisch-korporativen Interessen

(oder Klasseninteressen im engeren Sinne) und den intellektuel-

len Projektionen, in denen die Intellektuellen einer Klasse histo-

risch nach ihrer eigenen Universalisierung streben.

133

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Der Entwurf einer derartigen allgemeinen Theorie der Kultur

ist nieht nur ein Versueh, in der Naehfolge Gramscis eine histo-

risch-materialistische Anthropologie zu skizzieren, obgleieh dies

angesiehts des Mangels anthropologiseher Ausfiihrungen im tradi-

tionellen Marxismus von groBer Bedeutung ware. Er ist die Lo-

sung eines poIitiseh auBerst relevanten Problems, des Problems

der systematischen Verknupfung von PoIitik und Kultur.

Ausgehend von den hier angefiihrten Gedanken Gramscis ist

eine synthetisehe Erfassung jener Theorie der Kultur moglich, auf

die ieh bei Gramscis Problem der Abstufung von AlItagsbewuBt-

sein, aufgeklartem AlItagsverstand und kritischer Philosophiehingewiesen habe. Es handelt sieh jedoeh urn eine Abstufung, die

weiterer Spezifizierungen bedarf; in den Gefangnisheften sind

dazu implizit wiehtige Aspekte angegeben, die bisher nieht weiter-

entwiekeIt wurden. Bei einer differenzierten Interpretation kann

der Begriff der kritisehen Philosophie das sogenannte Klassenbe-

wu8tsein in seinen unterschiedIiehen Ausdrueksformen als korpo-

ratives BewuBtsein, als poIitisehes BewuBtsein und als politisches

Bewu8tsein der Hegemonie beinhalten, in dem bereits die grund-

legenden Merkmale einer kritischen Philosophie im eigentliehen

Sinne zur Wirkung kommen.

Man muS auch annehmen, daB die in der marxistisehen Tradi-

tion tiberlieferte Verbindung von politisehem Bewu8tsein und kri-

tiseher Philosophie, die aufgefaBt wurde als ein Proze8 der tiber-

wiegend deduktiven Ubertragung der »ideologischene Aspekte

auf die PoIitik, in der kritischen Reflexion Gramscis beachtliehenWidersprueh hervorgerufen hat. Eben dies veranlaBte ihn zu dem

Versueh, auf induktivem Wege - dureh genau festgelegte histori-

sche Untersuchungen, vor allem der italienischen Geschiehte - zu

Verallgemeinerungen zu kommen, fur die es in der marxistisehen

Tradition keine bedeutenden Vorbilder gibt.

leh denke dabei an jenen - bisher kaum jemals analysierten und

deshalb problemreiehen - theoretischen Ansatz, der sieh zu der

synthetischen Formel »Universalitat + Politik« verdiehtet; in die-ser Formel faBtGramsci das Programm einer Revolution zusam-

men, die wirklieh dazu fabig ist, die Widerspriiehe der italieni-

schen Geschiehte aufzuheben.

1m Grunde genommen verurteilt Gramsci nieht so sehr und

134·

aueh nieht nur (dies wird haufiger betont) eine Spaltung zwischen

Kultur und Yolk, zwischen Intellektuellen und PoIitik, als viel-

mehr die kompakte und fest verankerte Prasenz einer nicht-politi-

sehen (nicht-nationalen) Kultur und einer Politik, die unfahig ist,

sieh nicht-korporative Perspektiven zu geben, d. h. Perspektiven,

die sieh mit einer historisch-universellen Problematik verbinden

konnen.

Dieser theoretisehe Ausgangspunkt stellt eine spezifische Be-

stimmung dar, wenn Gramsci wiederholt darauf hinweist, daB Ita-

lien eine Revolution braueht, die die intellektuelle-universelle

Kraft der Renaissance hat und das Yolk (oderdie Politik) erfassenkann wie die Reformation.

Bei genauem Nachdenken seheint es also so, daB Gramsci den

nicht-popularen Charakter der Renaissance und der italienischen

Kultur im allgemeinen ebenso kritisiert wie die bezeiehnende kul-

turelle Armut einer poIitischen Reform, die noch auf religiosen

Begriindungen beruhte. Doch vor allem scheint er dem zuzustim-

men, daB eine moderne Revolution des Volkes nieht ohne univer-

selle intellektuelle - weltgeschichtliche" - Perspektive sein kann,

da ja eine authentische intellektuelle UniversaIisierung nieht um-

hin kann, politisch das Yolk miteinzubeziehen (was historisch nur

auf der Gestalt einer Nation als Staat basieren konnte).

W8hrend aber die zweite Passage tiber die Trennung von Kul-

tur und Politik, die sicherlieh eher aufiallt, simplifiziert worden ist,

wobei die Kultur tendenziell auf die Politik zureehtgestutzt wurde,

wurde die erste Ausfiihrung vielleieht nieht einmal registriert, zu-mindest in dem Sinne, daB man die Intention Gramscis, die Not-

wendigkeit einer »universeUenc Beziehung zur Politik hervorzu-

heben, kaum aufgezeigt hat.

Wabrend die Kritik der sogenannten »Abgetrenntheite der

Kultur von der Politik weite Verbreitung fand, hat man also nieht

gesehen, daB Gramsci in WirIdiehkeit nieht nur eine politischere

Kultur sondern aueh eine universelle PoIitik fordert.

Meiner Meinung naeh geniigt hier der Verweis auf die Kritik

des korporativen BewuBtseins; denn die von Gramsci vorgetra-

gene Kritik geht sehr wohl tiber die Renaissance hinaus und be-

• deutsch im Original, Anm. d. O.

135

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trifft zum Beispiel auch die Politik der Aktionspartei, die Politik

des savoyischen Staates und auch die Politik der sozialistischen

Partei, vor allem weil es ihr an »Universalitate mangelt, oder an

jener verbindenden und historisch bestandigen Fiil iigkeit, die sich

nicht aus der blo6en Befriedigung korporativer Klasseninteressen

ergibt, und die daher in einer wirklichen Fahigkeit, die Politik vor-

anzutreiben, verwirklicht werden muS.

Unter diesem Blickwinkel mii6te man vielleicht Gramscis Ana-

lyse des Intellektuellen uberdenken; man hat sie bisher vorwie-

gend soziologisch aufgefaBt, d. h. als eine Analyse der sozialen

und politischen Funktion der Intellektuellen insofem sie die Ver-mitt ler des Konsens sind. In Wirklichkeit riskiert eine derart ig ein-

seitige Lekture die Verminderung des Einflusses der Kultur auf

die Politik und verunmoglicht daher das umfassende Verstandnis

der Formel Gramscis »Universalitat + Politik«.

Es ist wahrscheinlich notwendig, Gramscis Analyse der Intel-

lektuellen durch die Ansatze zu einer wirklichen und eigentl ichen

Kritik der Politik zu erganzen, die man hier und dort in den Ge-

fiingnisheften entdecken kann. Wir stehen dann einem gro6en

theoretischen Problem gegenuber: dem Problem der Beziehung

zwischen der Darstellung der Politik und Okonomie in der histori-

schen Entwicklung und der Darstellung der intellektuell-kulturel-

len Ebene. Wiilirend das Interesse sich aus der ersten Perspektive

auf die Bemiihungen und die Techniken zur Zementierung der hi-

storischen Blocke und der staat lichen Formationen konzentriert,

wiirde unter dem zweiten Gesichtspunkt ein anderes Problem inden Vordergrund geruckt: das Problem des universellen Beitrags,

den jeder historische Block innerhalb bestimmter sozio-politi-

scher Strukturen und unter der Fiihrung einzelner Klassen zum

allgemeinen historischen Fortschri tt, zur Entwicklung des histori -

schen materiellen und geistigen Erbes der Menschheit leistet.

Unter diesem Gesichtspunkt ware es also auch moglich, die hi-

storisch-universelle Tragweite der Kultur des bii rgerlichen Zeital-

ters wiederzugewinnen, insofem sie unter bestimmten histori-

schen Voraussetzungen fii liig war, die historische Universalisie-

rung einer bestimmten Entwicklungsstufe zu verwirklichen, die

dann angeeignet und weitgehend »unverzichtbare war. Wie man

weiS, enthielt bereits das Kommunistische Manifest von 1848 ei-

136·

nen Hinweis auf diesen zweiten Gesichtspunkt der modemen Ge-

schichte, den Marx besonders beachtete, als er sich mit Smith, Ri-

cardo und Hegel auseinandersetzte.

Man versteht nun, daB die Wiedergewinnung der histo-

risch-universellen Ebene nicht zur Uberwindung, sondem zur

Prazisierung der grundliegenden These fuhrt, daB »die Geschich-

te ... Geschichte von Klassenkampfene ist.

Man sollte sie namlich ungefahr so lesen: die Geschichte ist

nicht die Geschichte der Ideen, die die Gesellschaft und die sozia-

len Auseinandersetzungen produzieren, sondem die Geschichte

der sozialen Auseinandersetzungen und der Gesellschaften, diedie Ideen produzieren.

So gesehen verliert die These, daB die Geschichte Geschichte

von Klassenkampfen ist, die Bedeutung, die sie oft gehabt hat, daB

die Geschichte nur Geschichte der Klassen sei, und daB die Ge-

schichte der Ideen umso mehr ein funktional-instrumentelles An-

hangsel der Klassenkampfe sei. Eben dieser Auffassung ent-

stammt genau gesehen die Uberzeugung, daB die Kultur sich in

zwei Kulturen, die burgerliche und die Arbeiterkultur spalten

kann.

Dies ware eine Spaltung, die nicht nur die historische Epoche in

der die Kultur hervorgebracht wird, kennzeichnen wilrde, d. h. ih-

ren konkreten historischen Bezug oder die soziologischen Merk-

male ihrer Exponenten, sondem sie ware auch eine mechanische

Beschreibung der begriff lichen Darstellung. Zudem wird deutl ich,

daB in diesem Falle eine eigentliche und unabhangige kulturelleFragestellung aufhoren wiirde, einen spezifischen Sinn zu haben:

sie ware namlich nur ein abhangiger, untergeordneter und instru-

menteller Aspekt der Politik. Die Kultur ware daher auf die Poli-

tik »reduzierte.

Aus der Perspektive, die hier angedeutet wird, scheint es je-

doch so, daB Gramsci mit der Notwendigkei t einer Universalisie-

rung der Politik eine hohere Stufe der Betrachtung anstrebt, um

sowohl die Poli tik als auch die Klassen und die gesellschaft lichen

Formationen beurteilen zu konnen: ihre Fihigkeit , die Geschichte

kulturell voranzutreiben, oder ihre Fahigkeit, Kriterien und Per-

spektiven der historischen Universalisierung des Menschen zu

formulieren und zu konkretisieren. Daraus wilrde sich notwendig

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die Aufgabe ergeben, die Genesis selbst dieser Frage der Univer-

salisierung zu untersuchen, und zwar als ein spezifisches Problem

der Feststellung der Ursachen und der Formen fiir die allgemeine

Erweiterung der - historisch-okonomischen - Erfahrungswelt ,

und daher des spezifischen Werts der Kultur als Erkenntnis, Kunst

und Wissenschaft.

7. Nur die modeme Bourgeoisie schafft eine authentische und

gleichzeitig laizistisch-universalistische Kultur, denn diese Kultur

ist aufgebaut auf der Hypothese der Gleichstellung aller Glieder

der Menschheit, und weder hat die Natur irgendeinen durch die

Zivilisierung nicht iiberwindbaren Unterschied zwischen ihnen

festgelegt, noch hat Gott seine Gnade unter sie verteil t.

Durch die Bourgeoisie wird die Universalisierung des Indivi-

duums zum ersten Mal mit der Entwicklung der gesamten Gattung

verkniipft. In der klassischen Welt war dies wegen der je nach Ge-

burt unterschiedlichen Zuordnung zu strukturell versehiedenarti-

gen Spharen naturgemii.8 ausgeschlossen: es gab Freie und Skla-

yen. Die Menschheit als solche gab esnicht, zumindest insofem die

natiirliche Bestimmung des Menschen nicht geniigte, um ihn zu ei-

nem Glied der Menschheit zu machen. Es bedurfte stattdessen der

Eingliederung des Individuums in einen sozio-politischen Kon-

text, der wegen seiner gesamten historischen Tradition besonders

dazu geeignet war, da s Individuum seiner »niedrigerene Pflichten,

und das heiSt im wesentlichen der korperlichen Arbeit, zu entzie-

hen. Daher war die Kultur fur den Menschen die konkrete Emani-

pation, der unbeschwerte GenuB des Lebens und die tiefe Lebens-freude; denn die Emanzipation bestand in der Befreiung von der

korperlichen Arbeit und der ausschlieBlichen Hinwendung auf die

geistige Arbeit.

Aber auf diese Weise war die geistige Arbeit genaugenommen

nicht Arbeit, d. h. eine Tiitigkeit fUr alle, ein universalistischer

Beitrag des Individuums, da sie ja die Spaltung der Menschheit in

Freie und Sklaven voraussetzte und bestatigte. Einerseits war die

Tatsache, daB ein Teil der Menschheit dazu verurteil t war zu die-

nen, die Voraussetzung fUrdie vollstandige Freiheit eines anderen

Teils der Menschheit, und andererseits war sie das theoretisch be-

statigte Ergebnis der intellektuellen Aktivitat weniger. Die Kultur

war also die freie Welt der Freien, die andererseits die Unmog-

138 .

lichkeit einer allgemeinen Freiheit fiir Aile sanktionierte.

Insgesamt zeichnet die Freiheit der antiken Welt sich alsodurch

eine gro8e Eintracht und Harmonie aus, an der die Gesamtheit der

Menschen jedoch keinen Anteil hat. Man begreift nun, daB die

Kultur der antiken Welt daher dazu verurteil t ist , auf eine Klas-

senkultur beschrankt zu bleiben, in der der geringe Beitrag der in-

dividuellen PersOnlichkeiten auf der geringen Zahl der Menschen

beruht, die tatsachlich an der geschichtlichen Bewegung teiihaben.

Dies alles tritt in der Erscheinung eines groBen, harmonischen

Zusammenschlusses der Welt der Freien auf, die jedoch indiesem

ZusammenschluB immer noch die halbnaturwiichsigen und kri-tisch-verstandesmabig ungelosten Aspekte einer Gemeinschaft

beinhaltet, die durch die Natur und naturgemiB geformt ist , und

daher nicht vollstandig von den Auseinandersetzungen der Ge-

schichte differenziert ist.Die Harmonie der griechischen Kunst und Literatur ist noch

von diesen naturalistischen Wesensmerkmalen durchtrankt, und

die asthetisehen Ideale des Griechen beruhen noch auf der Vor-

stellung einer Gesamtheit der Menschen; diese gewinnt eher einen

Vorteil aus der Harmonie und aus der Abstimmung einiger Teile

untereinander als aus individuellen, personlichen hochst kreativen

Beitragen der einzelnen Teile als solche. Es fehlt die Vorstellung

eines unendlichen Potentials, das ~ als unbegrenzte Folge von

Menschen als Subjekten - ftir die Menschheit verfiigbar ist; statt-

dessen herrscht die Vorstellung, nur einige wenige Menschen

seien die Urheber intellektueller und historischer AnstoBe, Sub-jekte. Somit beruht die politische und asthetische Universalisie-

rung auf der Gestaltung der gegenseitigen Beziehung derjenigen

Subjekte, die die Natur von den anderen unterschieden hat, und

auf der ausgleichenden Harmonie des geistigen Schaffens dieser

Subjekte.Es besteht also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der

Zugehorigkeit zur herrschenden Klasse und allgemeiner zwischen

Frei-Sein und Mensch-Sein, zwischen der naturgegebenen Frei-

heit von der Sklaverei und der Urheberschaft intellektuellen und

moralischen Lebens.

In der klassischen Welt fehlt die konkrete Moglichkeit - und

folglich auch die Vorstellung - der Einheit der Menschheit, ihrer

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urspriinglich in der Erkenntnis vorhandenen und ihrer in der Zu-

kunft moglichen historischen Vereinigung, Die Vorstellung eines

Aile vereinigenden Schopfers fehlt ebenso wie die Vorstellung des

Strebens aller Menschen nach einem vereinigten Ideal; in dem

Ma8e wie das politische Gebaude der Polis und der Civitas ausein-

anderbricht, bringt die historische Zersplit terung der Menschheit

die Frage nach der potentiellen Bedeutung (oder des Hervortre-

tens) jedes einzelnen Menschen als Subjekt hervor. Und endlich

fehlt - wie auch im Mittelalter - die Moglichkeit, daB eine be-

herrschte Klasse zur fiihrenden Klasse wird.

So reift mit der Auflosung des antikes politischen Gebaudesgleichzeitig die Entwicklung zweier Instanzen zur Einigung der

Menschheit, das Romische Recht und der christliche Monothe-

ismus. Gleichzeitig mit der Entwicklung dieser beiden Instanzen

kommt es zum Fortschritt der Vorstellung, daB die Gleichheit aller

Indiviuen moglich ist, und daB die Teilung in Regierende und Re-

gierte ihrem Wesen nach unnaturlich ist. .

1m Romisehen Recht gerat die Gleichstellung der Menschen

noch in Konflikt mit der Sklaverei; doch die wachsenden Bedurf-

nisse der Warenzirkulation durchbrechen diese Grenze und be-

dingen eine Reihe von Hypothesen tiber die Gleichberechtigung

der Menschen, einschlie8lich der Sklaven. Man denke vor allem an

die Regelung des »Pekulium«* und an die Tatsache, daB auch

Sklaven offentliche Antter ubemehmen konnten, und man denke

auch an die weltlichen Implikationen des romischen Stoizismus.

Dennoch kann diese Struktur menschlicher Gleichwertigkeitsich nicht als herrschende Struktur durchsetzen, sie bleibt auf ein-

zelne Bereiche des Privatlebens beschrankt, sie setzt sichalso nichtals allgemeine offentliche Struktur durch.

Die historische Grenze des Romischen Rechtes ist also genau

diese Unfilhigkeit, ein offemliches Recht zu schaffen, das ein lex

generalis omnium verwirklichen kann und eine Welt vor dem Ge-setz gleicher Rechtspersonen.

Was den weltlichen rechtlichen Institutionen nicht moglich ist,

ist jedoch - nach der Oberwindung der Anfangsschwierigkeiten _

• Vermogen, (urspr. Vieh), das auch Sklaven besitzen konnten und dessen Fixie-

rung im romischen Recht ihnen eine sonst fehlende Moglichkeit der (beschriink-ten) Teilnahme am Geschiiftsleben erlaubte. - Anm. d. D .

140 .

dem abstrakten System der monotheistischen, auf die Schopfung

bezogenen christlichen Religion moglich. Die Vorstellung, daB je-

der einzelne Mensch in der Welt endlich ist, reduziert immer mehr

die Bedeutung der weltlichen, d. h. der konkret erfahrenen Unter-

schiede, wahrend sie die abstrakte Identitat der Subjekte - der

Seelen - betont. Aber all dies beinhaltet, daBes ziemlich unerheb-

lich ist, ob man der gesellschaftlich herrschenden Elite angehort,

doch es beinhaltet auch die grundlegende Bedeutungslosigkeit je-

der gesellschaftlichen Fragestellung und jeder politischen Strate-

gie, eben deshalb, weil die Einigung der Menschheit weder die

Aufgabe einer Klasse, noch die eines Staates oder einer Kultur

sein konnte.

1m Gegenteil: die real existierende Welt des praktischen Le-

bens verknochert in ihren konkreten Differenzen, die als hierar-

chische Pluralitat des Dienens fur eine metapolitische Strategie

zur Einigung der Menschheit aufgefaBt werden: das Diesseits hat

nur dann einen Sinn, wenn es im Dienste des Jenseits steht. Hier

wird der gro8e Vorteil des Christentums gegenuber der antiken

Weltauffassung deutlich: jedes einzelne Individuum wird ebenaLs

solches zumindest insofern aktiviert als es eine Seele hat, und die

Menschheit kann endlich als Gesamtheit der real existierenden

Wesen gedacht werden, wenn diese auch sozusagen nur als ab-

strakte Inhaber einer Seele zahlen, Somit wird endlich die

Menschheit entdeckt, wenn sie auch nur mit einem urspriinglich

gottlichen Erbe versehen wird, das sie dann verlor, und das sie nur

im Himmelreich wiedergewinnen kann. Die Menschheit ist ge-

naugenommen eine Projektion der irdischen Wesen ins Jenseits,

und so ist esbereits moglich, universe lie Aufgaben und universe 1 -

les ethisch-politisches Handeln zu denken, wenn diese auch nur

dadurch eine allgemeine Bedeutung erlangen, daB sie sich selbst

nur als von der Religion abhangige Artikulierungen begreifen.

8. Der historisch-ideelle Gesichtskreis der modernen Bour-

geoisie stellt einen tiefen Bruch mit diesen vorneuzeitlichen~-

schauungen uber den Menschen dar: seine Voraussetzungen sind

im wesentlichen die folgenden: 1.gegen die antike Welt wird die

christliche Idee hochgehalten, daB die politischen und sozialen

Organismen keine Organismen der Natur, sondern kiinstliche

Schopfungen der Menschen sind; 2. gegeniiber der christ lichen

141

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Idee, daB diese Einrichtungen mit dem gottlichen Willen ausge-

stattet seien, wird darauf bestanden, daBes sichhierbei imGegen-

teil urn weltliche und vertragliche Einrichtungen der Menschen

handelt, die ihrer Natur nach von einer unzerstorbaren autono-

men Subjektivitat begabt sind.

So wird erst moglich die Unterstellung einer Universalisierung

des menschlichen Willens in den beiden qrosen Systemen a) der

weltlichen Ethik, auf deren Grundlage die individuelle Entschei-

dung sich ailsuniverseller kategorischer Imperativ darstellt, b) der

gesetzlichen Ordnung, in der die universeUe VeraUgemeinerung

ihre groBte Verwirklichung in der GleichsteUung aller als gleicheSubjekte vor dem Gesetz findet, das von allen abhangt und fur aIlegleich ist.

Auf diese Weise bleiben die Unterschiede zwischen den Indivi-

duen zwar bestehen, aber sie setzen nicht mehr die formelle Dis-

kriminierung der menschlichen Gattung in zwei Abteilungen (die

Herrschenden und die Beherrschten) voraus und ebensowenig die

christliche Vertagung jeglicher universeller Neugestaltung aufsJenseits.

Auf der Ebene der politisch-juristischen Abstraktion, die die

typische Sphare der biirgerlichen Vereinheitlichung der Welt ist,

werden einige Aspekte menschlicher GleichsteUung moglich: 1.

aIle Burger desselben Nationalstaats konnen als gleiche Besitzti-

telhalter jedweden Rechts und jedweder Pflicht aufgefaBt werden;

2. im Bereich der geseUschaftlichen Produktionsverhalmlsss _

also unabhangig von den besagten poIitisch-staatlichen Unter-schieden - konnen sich aUe Menschen als gleiche Besitzer der

Menschen- und Eigentumsrechte verstehen; 3. unter einem zu-

nachst programmatischen Aspekt konnen aUe Individuen, unab-

hangig von ihrem Eigentiimerstatus, als Subjekte der »gro.6en«

Freiheiten betrachtet werden: der Freiheit des Wortes und des

Denkens, der Freiheit von Not, der Freiheit der Person.

Diese verschiedenen Aspekte der Gleichstellung der Menschen

stellen andererseits Ebenen dar, die jeweils in ziemlich unter-

schiedlichen Verhaltnissen zu r praktisch-institutioneUen Realitat

stehen; diesbeziiglich ist der unterschiedliche Grad ihrer Verwirk-

Iichung positiv oder negativ vorgegeben durch die uniiberwindli-

che nationale Souveranitat der Staaten. Von diesen Aspekten

142

menschlicher GleichsteUung ist der zweite zweifellos der meist-

garantierte; hinter ihm wirkt das modeme Eigentumsrecht glei-

cherma.6en auf den, der eine Fabrik betreibt, wie auf den, der sei-

nen eigenen Korper anwendet. Aber es ist klar, daB dieser Aspekt

der Gleichheit nur verwirklicht wird, indem die gesell ige Ungesel-

ligkeit (Kant), die sich in der modemen biirgerlichen Gesellschaft

der einander bekampfenden Privaten etabliert, als unveranderbar

und der »menschlichen Natur« eigentiimlich postuliert werden.

Freilich stiitzt sich diese eher fiktive Gieichstellung der Menschen

alsgleiche Eigentilmer (ihrer selbst oder von Dingen) zugleich auf

die Anerkennung der gle ichen Moglichkei t, in der Welt zuexpan-dieren, die eigenen Bediirfnisse zu befriedigen und »das Glucke zu

erlangen. AUe sind Subjekte und Eigentiimer oder Menschen su i

iuris: sie sind, um mit Kant zu sprechen, Menschen gleicher Wiir-

de, angesichts derer die wahmehmbaren Unterschiede zu ver-

nachliissigen sind. Wenn das auch noch wenig ist, so ist es doch

schon etwas Wesentliches. In der Tat werden die wahmehmbaren

Unterschiede jetzt zwar als unverriickbar, unveranderbar und un-

aufhebbar vorausgesetzt, aber sie werden trotzdem tendenzieU in

ihrer Bedeutung negiert. Ihre Bedeutsamkeit ist vollig an die Tat-

sache gebunden, daB das Subjekt als Person sich als gesondertes

Subjekt betrachtet, das nur auf die abstrakte oder moralische Uni-

versalisierung an sich Anspruch erhebt. Wenn sich das Subjekt in

privates Subjekt und SttulISburger verdoppelt, so ist es ebenso

wahr, daB der Staatsbiirger auf das Privatsubjekt Druck ausiiben

kann, daB die Politik auf die Wirtschaft EinfluS nehmen kann, daBdie juristische Gleichheit theoretisch nicht das Auftauchen der so-

zialokonomischen Gleichheit verhindem kann. SchlieSlich sieht

ein ganzer Kreis von Subjekten (das modeme Proletariat oder die

Klasse derer, die bloBEigentiimer ihrer selbst, aber Produzenten

d er D in ge sind) eben darin die Erlangung des Gliicks.

Der universalistische Antrieb, zu dem die von der Bourgeoisie

reprasentierte Welt fahig ist, geht nicht tiber diese auffallige

Grenze der Ambiguitat hinaus: wir mussen gleich sein, weil wir

konkret zu ungleich sind, aber wir durfen nicht derart gleich sein,daBwir dasjenige aufheben, welches uns so verschieden macht und

eben deshalb unsere bloB abstrakte GleichsteUung notig macht!

Die Gleichheit ist gleichzeitig das notwendige Modell sowohl der

143

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Universalitat als auch der nicht ausloschbaren Utopie, die alIer-

dings in die Grenzen der Ethik, des Rechts und der Politik ver-bannt wird.

1mburgerlichen ZeitaIter, bemerkte Marx, wird die Geschichte

zu universellen Geschichte. Entsprechend entsteht auch die »Idee

zu einer allgemeinen Geschichte in weItburgerIicher Absicht«

(Kant). Das Ende der formellen Privilegien, die Angleichung der

ethisch-juristischen und politischen MogIichkeiten stellt die Ge-

sellschaft tier individuellen Konkurrenz vor das Problem der Uni-

versalisierung. Auch Kant, der groBe Theoretiker des modernen

IndividuaIismus und der abstrakten Gleichheit, mu8 schreiben:»Am Menschen (als dem einzigen vernunftigen GeschOpf auf Er-

den) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch

seiner Vernunft abgezieIt sind, nur in der Gattung, nicht aber im

Individuum vollstandig entwickelne'". Auch fur Kant bestebt die

Kultur »in dem geseIlschaftIichen Wert des Menschen« 15, aber

dieser gesellschaftliche Wert des Menschen wird allein und aus-

schlie8lich alsmoralischer Wert aufgefaSt. Die wabre Grenze der

vollen gesellschaftlichen Entfaltung des menschlichen Wesens be-

steht gerade in der Unfiiltigkeit, dem gesellschaftIichen Charakter

eben der praktiscnen, von den Menschen produzierten We1te

Rechnung zu tragen. Die gesamte klassische, fur Kant zeitgenossi-

sche Okonomie dreht sich in ihrem Bemiihen genau urn das Pro-

blem des Arbeitswerts, um aus der groBen Antinomie des burger-

lichen Denkens herauszukommen: der Mensch ist ein soziales We-

sen, aber seine Gesellschaftlichkeit wird praktisch verunmoglichtdurch die Dominanz des Privateigentums, sei es bei der Beherr-

schung der Natur, sei esbei der Konstruktion der gesetzlichen Au-

tonomie des Individuums, sei es bei der moralischen EntfaItung

der Freiheit. Nicht zufallig stellt sich Kant die Gesellschaft als ei-

nen Wald vor, in dem jeder Baum »dem anderen Luft und Sonne

zu benehmen suchte, sodaS sie »einander notigen, beides uber sich

zu suchen und dadurch einen schonen geraden Wuchs bekommen;

~!att daS die, weIche in Freiheit und voneinander abgesondert ihre

Aste nach Wohlgefallen treiben, kriippelig, schief und krumm

wachsene 16.Man begreift, da8 die Universalisierung in Wirklich-

keit auf Selektion reduziert ist: »Alle Kultur und Kunst, welche

die Menscbheit ziert, die schonste gesellschaftliche Ordnung sind

144

Friichte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genotigt wird sich

zu disziplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der

Natur vollstandig zu entwickeIn» 17. Diese a bg ed ru ng en e K un st ist

das moderne Nationalstaatsrecht: Kunst des Zwangs. Die natur-

wiichsige Freiheit der biirgerlichen Gesellschaft wird durch diese

Kunst diszipliniert, die dann auch die Weltbiirgerschaft der Staa-

ten regiert, die sie ebenso standig entzweit. Fur Kant ist jedoch

(wie fUrMarx!) das, »wasdie Natur zur hochsten Absicht hat, ein

allgemeiner weltbUrgerlicher Zustand«, aber das, was konkret

moglich ist, ist nur ein »ktinftiger gro8er Staatskorpere 18.

Ersteres bleibt das Modell, an dem sich die Praxis der erschei-nenden Existenz der Staaten immer orientiert, ohne es jemals zu

erreichen; ihr Wesen ist aber durch das Wesen der abstrakten und

zwangsweisen Regelung der naturwUchsigen und unaufhebbaren

Ungesellschaftlichkeit der biirgerlichen Eigentiimergesellschaft

vorgegeben.

Aber hier deutet sich eine gefahrliche Spannung an, die zu ei-

nem Bruch fuhren mUfl : in die eine Richtung driingt die geistige

Entdeckung der theoretischen Notwendigkei: einer Universalisie-

rung der Existenz, welche die sozialen, politischen und juristischen

Unterschiede des Eigentums, des Staates und des Rechts uber-

windet, urn in den erscheinenden historischen Institutionen das

»gesellschaftIiche Wesen des Menschen«, aus dem die Kultur be-

steht, zu verwirldichen. In die andere Richtung driingt bingegen

das (klassische) verkehrte Vorurteil, daB Eigentum, Staat und

Recht - die echten Hindernisse einer wirksamen universalisti-schen und kosmopolitischen Ordnung - unverriickbar seien, weil

sie der »schlechten« Natur der Menschen entsprechen. Und zwar,

wohlgemerkt, der schlechten Natur der assoziierten Menschen

(der GeseUschaft), da jedes einzeIne Individuum fU r sich genom-

men ja im Gegenteil bereits ein universeUer Wert sei. Hinter der

Rousseauschen Kritik der Zivilisation kommt schon der modeme

Skeptizismus gegenuber dem Leben in der Gesellschaft, die pri-

vatistische Neigung des modernen Robinson zum Vorschein.

Darin besteht der Bruch: die Kultur driingt in eine Richtung,

die (biirgerliche) GeseUschaft in eine andere. Wenn die (biirgerli-

che!) Kultur sich konsequent universalistisch entwickeIt, driingt

sie in Richtung einer Beseitigung aUer praktischen Hindernisse

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und anerkennt inwachsendem Ma8e deren nieht naturgegebenen,

sondern historisch-kunstlichen Charakter (die abgedrungene

Kunst von Kant), uberdenkt noch einmal kritisch deren Grundlage

und Berechtigung. Aber dergestalt kommt sie mit den Institutio-

nen der etablierten Gesellschaft in Konflikt, wahrend zugleich die

etablierte Gesellschaft mit der Kultur kollidiert . Die Kultur for-

dert die Weltbiirgerschaft und kritisiert die Gesellschaft; die (bur-

gerliche) Gesellschaft weist die Weltbiirgerschaft zuruck und for-

dert eine'auf ihren unabdingbaren Notwendigkeiten - Eigentum,

Staat und Recht - zurechtgestutzte Kultur.

Das biirgerliche Zeitalter gerat notwendig in diese Antinomie:

es produziert immer mehr Kultur aber eben auch immer mehr

Zerstorung der Kultur. Es ist kein Zufall , daB das Vaterland von

Kant auch das Vaterland Hitlers ist .

9. Lesen wir nun Gramsci: »Das Absterben der alten Ideolo-

gien verwirklicht sich als Skeptizismus gegenuber allen Theorien

und allgemeinen Formeln sowie als Hinwendung zum rein oko-

nomischen Tatbestand (Gewinn etc.) und zur Politik - nieht nur im

Sinne faktischer Realpolitik (wie das immer der Fall ist), sondern

zu einer in ihren unmittelbaren Au8erungen zynischen Polit ik

(... ) . Aber diese Reduktion auf Okonomie und Polit ik bedeutet

genaugenommen Reduktion der hoheren Uberbaustrukturen auf

die mehr zur Basis gehorigen, bedeutet also die MOglichkeit und

Notwendigkeit der Herausbildung einer neuen Kultur.e 19Und mit

noch gro8erer Prazision: »Die ruckschrittlichen und konservati-

yen sozialen Gruppierungen kehren immer mehr zu ihrer anfiing-lichen okonomisch-korporativen Phase zuruck, wahrend die fort-

schrittlichen und erneuernden Gruppierungen sich noch in ihrer

anfanglichen, ebenfalls okonomisch-korporativen Phase befin-

den.«lo Um die schone Metapher von Gramsci anzuwenden: das

»Geistigee entfemt sich vom »Irdischen«, sci es weil das Geistige

gegen das - um es so auszudrucken - Irdiseh-Geschaftliche und

Irdisch-Imperiale der Bourgeoisie sich auflehnt, sei es auch, weil

das Irdische selbst das Geistige zuruckweist, das auf der Suche

nach Universalitat ist.l1

1st hier nicht mit gro8er Feinheit ein wahres und wirkliches hi-

storisches Gesetz erfaBt und, im besonderen, die Tendenz unserer

Epoche der allgemeine Krise der biirgerlichen Welt? Die Krise be-

146.

steht gerade in der Tatsache, daB das Alte abstirbt und das Neue

noch nicht ins Leben treten kann. Und, wohlgemerkt, das Alte

stirbt, weil seine praktische Struktur sich von seiner theoretischen

Struktur ablest , weil die Welt seiner Interessen mit der Welt der

Kultur und der bereits proklamierten Universalitat zusammen-

stoBt.Das Neue kann deshalb nicht heraustreten, weildas neue hi-

storische Subjekt - die Arbeiterklasse - noch in seiner okono-

misch-korporative Enge »verpuppt« ist, auf die sieh ihrerseits die

herrschende Klasse selbst mehr und mehr zuruckzieht. Die allge-

meine Bedrohung, die sich ftir die heutige Zeit abzeichnet, ist die

eines allgemeinen okonomisch-korporativen Niedergangs aller,d. h. die Gefahr einer allgemeinen Zersetzting und eines allgemei-

nen Zusammenbruchs der Kultur, der Zivilisation selbst. Und

dazu tragt die Unfahigkeit der Bourgeoisie, an den von ihr selbst

formulierten historischen Aufgaben der Universalisierung festzu-

halten, erheblich bei, ebenso aber die noch unzureichende Fahig-

keit der Arbeiterklasse, von ihren klassenma6ig begrenzten Auf-

gaben zu den universellen historischen Aufgaben aufzusteigen, die

uneingelost blieben und die nur sie kraft ihrer eigenen praktisch-

sozialen Struktur iibemehmen kann. 1m »Aufgabenverzeiehnis«

ihrer eigenen Klassenemanzipation sind eingetragen: die Kritik

des Eigentums, des Staates und des Rechts, die intemationalisti-

sche Solidaritat und die allgemeine Vereinigung in der Weltbiir-

gerschaft der Arbeiter. Die praktischen Klasseninteressen enthal-

ten also objektive Elemente der Universalit it ; Gramsci deckt sie

auf - wie schon der junge Marx -, aber mit gro8erer Scharfe (diedurch unsere Zeit der Krise vorgegeben ist) spricht er ein neues

Verhaltnis zwischen Klassenemanzipation und allgemeiner

Emanzipation aus. Er sieht namlich, daB in den entwickelten Ge-

sellschaften die sozialistische Revolution nur als zunehmende

AuflOsung eines herrschenden historischen Blocks zum Durch-

bruch kommen kann, eines historischen Blocks, der durch histo-

risch-allgemeine Werte der groBen europaischen Kultur (nach

Gramsci der einzigen bistorisch und konkret universellen Kultur)

gefestigt ist; daher ist hier die sozialistische Revolution einzig in

der Form des fortschreitenden Aufbaus eines anderen histori-

schen Blocks moglich, der in der Lage ist , diese Werte durch die

Gestaltung eines neuen Verhaltnisses zwischen Kultur und Klas-

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sen zu assimilieren. Das wird um soeher moglich, als die Ablosung

der biirgerlichen Korporativinteressen von der btirgerlichen uni-

versalistischen Kultur wiihrend der laufenden Krise stattfindet

und gleichzeitig die Arbeiterbewegung ihr eigenes klassenkorpo-

rativistisches Sektierertum kritisiert (Lenin: der Linksradikalis-

MUS als Kinderkrankheit im Kommunismus; die sektiererische

Selbstisolierung des italienischen Proletariats als Voraussetzung

fiir den Siegdes Faschismus; der Stalinismus als Beleg des im Sek-

tiererturri angelegten Masochismus). Es handeIt sich also nur dar-

um, die Uberwindung der Unreife und des Infantilismus der neuen

KJasse, ihr »extra-uterines« Wachstum zu beschleunigen, das dieKJassedazu bringen muS, die Aufgaben der Universalisierung an-

zugehen. PoIitisch besteht das Problem also darin, ein positives

Projekt der Umgestaltung zu entweden, das einen fur die ganze

Gesellschaft annehmbaren Gesamtaufbau vorschlagt; im kulturel-

len Bereich handeIt es sich darum, auser einer wirksamen Orien-

tierung der Kultur an hermeneutische Zwecke, auch eine Rekon-

struktion und ein Programm ethisch-poIitischer Geschichte aus-

zuarbeiten (»Die Philosophie der Praxis wird daher die Verkiir-

zung der Geschichte auf bloBethisch-politische Geschichte als un-

passend und willktirIich kritisieren, ohne diese jedoch auszu-

schlieSen «22.) Wiihrend sichdie Kultur oder Universalirar von den

praktischen Interessen der Bourgeoisie ablest, verbindet sie sich

noch nicht mit den praktischen Interessen der Arbeiterklasse.

Daraus ergibt sich nicht nur eine praktische, sondem auch eine

moralische und geistige Krise, in der das Schicksal der Arbeiter-klasse und das der Gesellschaft gemeinsam aufs Spiel gesetzt sind.

Sollte die Verbindung nicht verwirklicht werden, bleibt die Arbei-

terklasse in den »starken Kettengliederne des kapitalistischen Sy-

stems unterlegen, weil sie nicht die Kraft hat, sie mit einer umfas-

se~den ~ult~n:llen Eroberung zu schwachen. Aber gleichzeitig

bliebe die gelstIge Kultur der modernen Welt ihrer konkreten und

politisch-sozialen Bezugspunkte beraubt und versanke immer

mehr im Labyrinth der Entfremdung und Verzweiflung in der

Trennung der Geschichte. Der leichtere Sieg in den »schwachen

Kettengliedem« kann diese »Flucht« der entwickelten Gesell-

schaft nicht ausgleichen. Von daher ergibt sich die Wichtigkeit der

»Katharsis« in der Geschiehte der Arbeiterbewegung, d. h. des

i. !'t:

148.j,

L

»Ubergangs von der bioS okonomischen (oder egoistisch-Ieiden-

schaftlichen) Aktivitat zur ethisch-politischen Wirksamkeit«,

namlich zur »hoheren Verarbeitung der Basisstruktur zur Uber-

baustruktur im BewuStsein der Menschene+'. Aber diese Kathar-

sis,von der nunmehr sowohl der klassenpolitische Sieg der Arbei-

ter als auch das Uberleben der KuIturgesellschaft (»Sozialismus

oder Barbarei«) abhangt, ist etwas ganzlich anderes als eine bloSe

Anstrengung im Sinne eines politischen Voluntarismus oder einer

blofsen Erweiterung der Btindnisse. Es ist imGegenteil die Fahig-

keit, das eigene Sektierertum zu kritisieren und den praktischen

Kampf auf das Niveau der Allgemeinheit zuheben, also die Fahig-keit, universalistische Probleme und Losungen anzugehen und

auszuarbeiten! Es handelt sich um ein theoretisches und kulturel-

les Wachstum, das sich als Kritik an der egoistisch-leidenschaftli-

chen Enge der sozialistischen Tradition entfalten muS, sowohl am

okonomistischen Reduktionismus der theoretischen Tradition als

auch an der arbeiterfixierten, operaistisch-aktivistischen Tradi-

tion der praktischen Politik. Da es sich nicht schlicht und einfach

um eine Ausweitung der Btindnisse, sondem um eine Vertiefung

des Wissens um die theoretisch-historischen Mechanismen, die die

Arbeiterpolitik mit der Universalitat verbinden, handeIt, muS die

Kritik unter dem zweiten Aspekt notwendig ineine neue Krit ik de r

Grenzen der Po /i ti k als reine Interessenvertretung oder als instink-

tive, leidenschaftliche Korporativpolitik einmtinden. Die wissen-

schaftlich-rationale Grundlage des modemen Sozialismus muS

wiederentdeckt werden, das heiSt, die Politik auf die Analyse derkapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Spharen stiitzen: von

den Basisstrukturen zu den Uberbaustrukturen, vom okono-

misch-egoistisehen zum ethisch-politischen Wirkungszusamme~-

hang.

Hier begreift man die emeuemde Tragweite, die das Denken

von Gramsci in der Geschichte des Marxismus erlangt: Gramsci

geht das Problem an, von der ausschlieBlichen Erforschung der

Anatomie (der Okonomie) zum Studium aller historischen Ge-

staltungen iiberzugehen (»Sicherlich kann man nieht sagen, daB

vom menschlichen Korper die Haut (und auch ein historisch vor-

hemchender Typ physischer Schonheit) bloBIllusionen seien und

nur das Skelett und die Anatomie Realitat besa8en - trotzdem hat

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man lange Zeit Ahnliches behauptere>, Das erfordert eine unmit-

telbare kritische Revision des traditionellen Modells mit dem man

simplerweise die »Einheit von Theorie und Praxis« interpretiert

hat: ein Modell, in dem immer und allein die Theorie zur Einheit

aufgerufen wurde, niemals die Praxis, denn »man spricht von der

Theorie als >Erganzung< oder >Anhangsel< der Praxis, von der

Theorie als Dienstmagd der Praxis«l5. Es handelt sich hingegen

gerade heute - in der Krise - darum, den »theoretischen Aspekt

der Verbindung Theorie-Praxis« zu verstarken, denn: »auf dem

-praknschen, Element der Verbindung Theorie-Praxis zu insistie-

ren (... ),bedeutet eine historisch relativ primitive Phase zudurch-laufen, eine noch okonomistisch-korporative Phase. «16 Das

schlie8t sowohl die Kritik des politischen Pragmatismus ein, als

auch die Kritik einer traditionellen Tendenz des vulgiiren Marxis-

mus, der sichmit dem blo8en Hinweis auf die »Funktionalitat« der

Ideen fur die Welt der Interessen begniigte; darin entblo8t sichdie

Unfiihigkeit, sich mit den Hohepunkten der biirgerlichen Tradi-

tion zu messen: »Man gewinnt den Eindruck (. .. ), als wolle man

nur gegen die schwacheren oder vieUeicht die schwscbsten Posi-

tionen karnpfen (. .. ), urn leicht verba Ie Siege zu erhalten (denn

von realen Siegen kann man nicht sprechenje-", Hier scheint

Gramsci wieder jenen Wettst rei t i iber die Hohepunkte des geistigen

Lebens vorzuschlagen, den Marx in theoretischer Polemik mit

Smith, Ricardo und Hegel sah und nicht etwa blo8 in ideologischer

Polemik, bei der es nur darum geht, das cui prodest der theoreti-

schen Aussagen aufzuzeigen, sondem in echten wissenschaftli-

chen Disku~ionen zur Ermittlung der theoretischen Tragweite

der ~bstr~tionen und Kategorien vermittels der Verifizierung ih-

rer hlstonsch-reaJen Trager. Nicht zufallig nimmt Gramsci die

~tik der spekulativen Philosophie wieder auf, zeigt die Gefahr

emer dogmatischen Verkn&:herung des historischen Materialis-

mus auf und weist eine (leider nicht unbetrachtliche) marxistische

Tradition ZUIiick,die den historischen Materialismus in eine be-

~heidene Sozialpsychologie oder, mehr noch, in eine approxima-tive Wissenssoziologie verwandeIt hatte. .

10. Gramsci entdeckt auf diese Weise wieder, daB der Marxis-

~us mit dem P~mat des Kiassenkampfes iiberhaupt keine Reduk-

non der Geschichts auf die Bereiche der Okonomie und Politik

150

I

L

behauptet, sondem in diesen Bereichen den praktischen und poli-

tischen Schliissel zur theoretischen und praktischen Artikulation

einer wirksamen Universalisierung des Lebens des Menschenge-

schlechts sucht.

Aber worin kann diese Universalisierung bestehen? Wesentlich

in der praktischen Beseitigung jeglicher Spaltung des sozialen

Gemeinwesens, handele es sich urn okonomische oder politische

Spaltungen, und daher in der praktischen Einigung der gesamten

Menschheit unseres Planeten." Wir begegnen auch hier, im Pro-

gramm des wissenschaftliehen Kommunismus einer Perspektive

der Kr it ik t ie r Po li ti k - nicht nur der Politik als geistiger, sondemals institutioneller Dimension der Existenz, d. h. der modemen

Politik als Sphare der Staatlichkeit. Es handelt sichsicher nicht urn

eine Perspektive, die gewisserma8en die einigende Potenz des

Staates in Frage stellte - die Italien aUerdings lange fehlte -, son-

dem die im Gegenteil die potentieUe Fahigkeit der Menschheit

maximal verwirklicht, indem die staat l ichen Grenzen der moder-

nen politischen Vereinigung programmatisch iiberwunden wer-

den. Kurzum, die Kritik der Politik wird entworfen als Kritik des

Nationalstaats gerade im Namen jenes Vereinigungsprogramms,

das der Nationalstaat auferlegt: wenn der Nationalstaat tatsaeh-

lich ein Niveau der Vereinigung ist, das durch das Streben zur

Oberwindung der korporativen Partikularinteressen notwendig

geworden ist, - warum in aller Welt konnte der nationalstaatliche

Korporativismus nicht ebenfalls iiberwunden werden?

Aufgezeigt werden soU,daB die traditionelle marxistiscbe Vor-aussage des »Absterbens des Staatese in der gramscianischen

Sicht der »Universalisierung« der Politik eine voUig neue Trag-

weite eriangt. Was in der Vergangenheit blo8 die doktrinire An-

wendung eines marxistischen »Kanons« war, erscheint nun als ein

Anspruch innerhalb der Politik selbst, soweit sie sich als echte

Einheitsstiftung und Oberwindung des Partikularismus versteht.

Jetzt kommt es dazu, daB das Absterben des Staates gleichzeitig

bedeutet: Uberwindungdes nationalen Marktes, der nationalen

Grenzen, Entwurf einer weltweiten Vereinigung der menschli-

chen Gattung und besonders das Ende der Spaltung in Regierende

und Regierte, IntellektueUe und einfache Menschen.

Gerade die letztgenannten Entsprechungen zeigen, wie die Kri-

151

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rtik der Politik sieh als Universalisierung der Politik erweist, soweit

diese nieht aussehlieBlieh als Macht begriffen wird. In dem MaSe

wie sie das, wassie aUgemein von sieh behauptet, wirklieh sein will,

d. h. Vereinigung und Universalisierung desMensehengesehleehts

muB sich die Politik als Uberwindung der Staats-Herrschaft pra-

sentieren, deshalb aueh als Uberwindung des Nationalstaats und

des Machtmonopols; sie muB als ubernationale Vereinigung und

konsensstiftende Funktion des Gemeinwesens verwirklieht wer-

den. Aber gerade von dieser Seite her muB die Politik ineine kul-

tureUe Perspektive eingefiigt werden und sieh 1000nvon den insti-

tutionell-reprasentativen Determinierungen (Funktion der mo-

dernen bourgeois-geschaftlichen biirgerliehen Gesellschaft) wie

aueh von dem elitaren zwangsstaatliehen Charakter (Funktion der

»Unmoglichkeit« einer eehten Gemeinsehaft in der modernen

Welt der »natiirliehenc Dissoziation und der bloB »kiinstlichenc

Vereinigung). .

Es scheint, daB nur in dieser Perspektive die teehnisehe und

praktische Uberwindung des traditioneUen burgerlichen Natur-

reehts plausibel wird, die Uberwindung der Gegeniiberstellung

der Sphare des »Naturreehtsc des Menschen und der kunstlichen

Sphare des »Sozialvertragesc mit seinen »Garantienc. Jetzt ver-

wandelt siehin derTat jedes »Naturreeht« in konkrete historisehe

Anspruche und jede »Garantiec kann nieht mehr darauf be-

schrankt bleiben, eine rein formal-juristische Garantie zu sein,

sondern muB als historisch-konkretes Muster fungieren, das von

der praktischen Existenz her durehfiihrbar ist.

Das Ende der schon klassischen Entgegensetzung von Natur-

reeht und positivem Recht bietet sieh dar als Aufbau eines inte-

grierten Gemeinwesens, indem die Existenz nieht dureh den oko-

nomischen Partikularismus und die U niversalitat nieht dureh die

juristisch-politische Abstraktheit begrenzt wird.

Das ist eine authentische Wiedergewinnung der marxistischen

Forderung naeh »Absterben des Rechtse. Wiihrend in der tradi-

tioneUen Fassung das Absterben des Staates und das Recht als ab-

schlieSende historische Sehritte erschienen, d. h. nur al s Remltat

und ScbluSfolgerung eines wirtschaftlichen Entwicklungsprozes-

ses (der Leninsche Aufbau der »okonomischen Grundlagen filr

das Absterben des Staatese'"), erseheint die Vberwindung der na-

152 .

tionalen und zwangsstaatliehen Ende - ohne die konkrete histori-

sche Aufeinanderfolge der sozialen Prozesse zu verletzen - in der

neuen Siehtweise von Gramsci schon im voraus als theoretiseher

Ansprueh der Universalisierung der Politik, als gesellschaftliehes

Leben des Gemeinwesens oder, wenn man so will , als kulturell-

geistige Forderung, die in nieht mehr doktrinarer Form das be-

sehleunigt, was vorher nur als eherne Konsequenz der okonomi-

schen Praxis erschien.l''11. Es ist fast i iberfli issig darauf hinzuweisen, daB bei dieser

neuen Siehtweise die untersehiedliehe Bedeutung hervortritt, die

die Frage der Subjektivitat in der allgemeinen Dialektik des »hi-

storisehen, gattungsmii6igen Klassenindividuumse " annimmt.

Hatte man diese Dialektik in der Vergangenheit hauptsaehlieh

aus einer verengenden Perspektive betraehtet, die die Universali-

sierung des Menschen leugnete solange noeh die Klassenspaltung

bestehe, und die daher das historische Problem auf den bloSen

okonomisch-politisehen Klassenkampf »reduziertec, so kann man

nun der Geschiehte wieder ihren vollen Wert zumessen - als Ge-

sehiehte der Klassenkampte. in der sieh zusatzlich ein historiseher

ProzeB der Zivilisierung der Menschheit entwiekelt; und damit

kann man zur gleichen Zeit die Moglichkeit zum historisch kon-

kreten GenieSen des Universalismus der Kultur gewinnen.

Die elitare Abgehobenheit der traditionellen Kultur wird also

nieht zu einem Vorwand, um die mensehliehe Universalisierung

notwendigerweise auf den St. Nimmerleins- Tag der Verwirkli-

chung des Kommunismus aufzuschieben. Nun wird niimlieh - ge-rade weil sie fiir eine kritische Erweiterung der gegenwiirtigen Po-

litik des sozialen Wandels historisch notwendig ist - eine ganz em-

zigartige Hypothese moglich: die intellektuelle und kultureUe

Universalisierung wirkt zugunsten einer Klassenpolitik, wenn es

sieh dabei um die Politik einer Klasse handelt, die nicht an die ein-

engenden Institutionen des Marktes und der Nationalstaaten ge-

bunden ist, und die stattdessen eine kosmopolitisch-internationa-

listische Dimension reflektiert.Wenn die Arbeiterklasse also aueh zunachst eine »okonomisti-

sebec Spannung der menschliehen Verhaltnisse fermentiert , so

bringt ihr politisches Waehstum einen ganz neuen, »fruehtbarenc

Klassenstandpunkt zur Reife: einen Klassenstandpunkt, der aus

153

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rI

der Universalitat jedweder kultureUen (auch abstrakten!) und

wissenschaftlichen Hervorbringung einen Vorteil ziehen kann, in-

sofern er die historische Fahigkeit zur Oberwindung des utilitari-

stischen merkantilen und nationalistischen Partikularismus be-

sitzt.

Je starker man die »politische« Notwendigkeit eines Kampfes

um die Fuhrung eines neuen historischen Blocks entwickelt, umso

groBer wird fUr die Arbeiterklasse die Notwendigkeit und die

Nutzlichkeil der Ausweitung der polit ischen Dimension auf die

Universalitat der Kultur. Gerade indem Augenblick, indem - wie

Gramsci feststellt - die Bedurfnisse der burgerlichen Herrschaft

sich von der Universalitat der Kultur und der Wissenschaft ablo-

sen und sich auf rein okonomisch nutzliche Interessen verengen,

registriert man fur die Arbeiterklasse die Notwendigkeit einer au-

thentischen »Katharsis«, die vom okonomisch-korporativen Re-

duktionismus zu historisch verallgemeinerten Interessen ftihrt.

Auf diese Weise wird die Abgehobenheit der elitaren Darstel-

lung der Kultur durch die Erweiterung der Politik krit isiert , und

dieser Vorgang vollzieht sich als Uberwindung der traditioneUen

politisch-technischen Beschranktheit der Macht.

Eine doppelte Abtrennung, und nieht nur eine einzige, wird

also durch eine revolutionare Politik, die auf potentiell revolutio-

naren Interessen beruht, krit isiert und tiberwunden. Die Tren-

nung der inteUektueUen Arbeit von der gesellschaftlich-histori-

schen Welt des Nationalstaates, die sich auf den nach unterschied-

lichen Berufen geteil ten Arbeitsmarkt grundet, und die Abge-trenntheit einer korperlichen Arbeit, die in untereinander ver-

sehiedene Berufe aufgegliedert ist, und nur durch die professionel-

len Techniken der »Anwendung« mit dem aUgemeinen Gebaude

des Wissens verbunden ist.1n diesem theoretischen Rahmen wird,

wie wir bereits festgesteUt haben, die Rolle der IntellektueUen neu

tiberdacht. Sie konnen nicht mehr nur als »Vermittler des Kon-

sens« aufgefaBt werden, d. h. als soziale Schicht, und dies umso

weniger als sich die Vermittlung des Konsens in der MassengeseU-

schaft durch die Massenmedien voUzieht, d. h. durch institutiona-

lisierte Kanale, in denen die Intellektuellen sich nurmehr als un-

tergeordnete Werkzeuge der Vermittlung fuhlen.1n Wirklichkeit

verlieren die Intellektuellen dort, wo sie die soziale Funktion der

..

I'

l'154 .

Vermittlung des Konsens ausuben, jede inteUektuelle Autono-

mie; und dort, wo sie sich diese Autonomie erhalten konnen, ver-

lieren sie nicht nur jegliche Funktion fiirdie Vermittlung des Kon-

sens, sondern sie werden sogar zu den Organisatoren des sozialen

Dissens. Dieser Prozef betont immer starker die intellektuelle Ta-

tigkeit als solehe und bringt sie in einen objektiven Gegensatz zu

der sozialen Funktion, die der Schicht der IntellektueUen zuge-

dacht ist. Stattdessen entwickelt sich eine Obereinstimmung der

intellektuellen Arbeit mit den produktiven industriellen Arbeits-

ablaufen, in die sich ein wachsender Anteil intellektueller (wissen-

schaftlicher, technischer, kultureller) Tatigkeiten organisch ein-

fugt.Die Proletarisierung der Intellektuellen, die Massenkultur, die

produktive Wirkung der Wissenschaft - die einigen als raffiniertes

Instrumentarium einer modernen »Barbarisierung« erscheinen-

erweisen sich aus dieser Perspektive imGegenteil als Glieder eines

lebendigen Wachstums der neuen historischen Gemeinschaft der

Menschheit, als eine integrierte Gemeinschaft einer inteUektuel-

len Arbeit, die die gesellschaftliche Praxis der Produktion be-

fruchtet, und einer produktiven, praktischen Arbeit, die sich orga-

nisch mit Kultur und Wissenschaft verbindet.

12. GewiS konnte Gramsci diese praktischen Entwicklungen

zur Einigung nicht voraussehen; doch es war sein unzweifelbares

und einzigartiges Verdienst, auf dem historischen Hintergrund ei-

ner agrarisch-industriellen Gesellschaft das historische und so-

zio-politische Gewicht der intellektuellen Arbeit zu erschlieBenund zu betonen, der die heutigen gesellschaftlichen Entwicklun-

gen eine unmittelbare Basis schaffen. Um esmit Gramscis Worten

zu sagen: die Notwendigkeit der Formel »Universalitat + Politik«_ d. h. einer Revolution, die die geistige Kraft der Renaissance hat

und gleichzeitig das Volk erfassen kann wie die Reformation - er-

halt heute konkrete soziale AnstoBe aus dem Proze8 produktiver

Vereinigung der geistigen mit der korperlichen Arbeit (d. h. der

Klasse der InteUektuellen mit der Arbeiterklasse), sowie aus den

Forderungen der revolutionaren Politik nach einer kulturell-wis-

senschaftlicben Bereicherung.Nunmehr - so kann man sagen - merkt eine universalistiscbe

Kultur (oder eine Kultur im Geiste der Renaissance), daB sie sich

155

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immer enger mit der »aIlgemeinen Klasse« der Produzenten ver-

binden muB,weil die partikularistische Klasse der Besitzer ihr In-

teresse an der Universalisierung nach und nach »verliert«; und zur

gleiehen Zeit bemerkt eine Reform fur das Yolk die Notwendig-

keit, zu einer geistigen Kraft (oder einer Kraft im Geiste der Re-

naissance) zu werden, weil die korporative Klassenbeschranktheit

(des Okonomismus) auch die Emanzipation der Arbeiterklasse

bremst. Die Kultur stellt fest, daB ihre universe lie Aufgabe immer

mehr der praktisehen Verwirklichung bedarf, wahrend die prakti-

sehe Emanzipation einer immer starkeren Entwicklung in Rich-

tung auf eine freie universe lie Subjektivitat bedarf. Die Verknup-

fung dieser beiden Aufgaben entsteht ebenso sehr aus einem spe-

zifischuniversalistischen Moment der KuItur, wie aus einem spezi-

fisch »effektivistischen« Moment der Politik und schlieBlich auch

aus einem konkreten gesellschaftlichen Bedurfnis, das durch die

neuen Strukturen des Produktionsprozesses des technologischen

Zeitalters zum Ausdruck kommt. Eben diese Verkntipfung be-

dingt die tiefgreifende Krise der Tradition der Aufklarung (der ra-

tionalistisch-abstrakten Kultur), der Tradition, in der die Politik

nur eine Technik der Macht ist , und der jiingsten Versuchungen

der Technokratie. Wabrend also insgesamt die Bourgeoisie ihre

(begrenzte) historische Aufgabe der Universalisierung erfullt, in-

dem sie auf der Basis einer Kultur, die von der Politik abgetrennt

ist , und einer Polit ik, die von der Kultur abgetrennt ist , vorgeht,

geht die Arbeiterklasse auf der Basis einer Kultur vor, die die Poli-

t ik vermitteIt , und auf der Basis einer PoIitik, die die KuItur ver-

mittelt.

Wenn also eine Theorie der Kultur nur auf einer historischen

Theorie der Klassen aufgebaut werden kann, so ist es genauso

richtig und bedeutsam, daB eine historische Theorie der Klassen

nur auf einer Theorie der sozialen Verhaltnisse als eines histori-

schen Verhaltnisses zur Natur aufgebaut werden kann. Das hei8t,

die historische Existenz und selbst das Wesen der Klassen werden

aus dem historischen Verhaltnis, das die Menschheit gegentiber

der Natur entwickelt, bestimmt. Und genau dieses VerhiiItnis-

das sich zunachst alsmater ielles Verhiil tnis , d. h. als Verhaltnis in

der produktiven Bearbeitung der Natur entwickeIt - ermoglicht

die physische Reproduktion der Menschheit in ihren historischen

156

Auspragungen und verleiht ihnen gleichzeitig die spezifische Kon-

figuration sozialer Klassen, also menschlicher Gruppierungen, die

sich nach einem besonderen und einzigartigen sozialen Modell

produktiver Aktivitat physiscb reproduzieren.

Dennoch: wenn diese primare Beziehung zur Natur sichalsma-

terielles Produktionsverhaltnis ausdrtickt, so erfordert und be-

stimmt seine Reproduktion selbst die Reproduzierbarkeit des so-

zialen ModeIls, und daher eine Reihe politischer Institutionen und

eine Reihe begrifflicher Darstellungen, die gleichzeitig alshistori-

s ches Resul ta t und als l ogi sches Pr inz ip des materiellen Systems

der Produktionsverhaltnisse fungieren. Eben aus diesem Grunde

produzieren und reproduzieren sich die Produktionsverhaltnisse

innerhalb eines eigenen institutioneIl-kultureIlen »Gehduses«,

dessen Widerstandsfabigkeit und Reproduzierbarkeit sich mit der

komplexen Fahigkeit (die der soziale Organismus historisch be-

weist) verbindet, die Niveaus der »bewu8ten« (eben politisch-kul-

turellen) Entwicklung in Gleichgewicht zu jenen der »unbewuB-

ten« (okonomiseh-materieIlen) Entwicklung des historischen Sy-

stems der Klassen zu halten.Daher erseheint eine Theorie der Klassen, die bei den »unbe-

WuBten« Niveaus stehenbleibt, hoehst »reduktionistisch«, doch

ebenso eine Theorie der Klassen, die aIle diese Niveaus in Stufen

des vollendeten Bewu8tseins verwandelt, und die damit den Insti-

tutionen immer weniger die Eigenschaft eines »Instrumentse der

Klassenherrschaft und den begriffIichen Darstellungen immer

weniger die Eigenschaft einer »Klassenkulture zuerkennt.Aus diesem zweiten Blickwinkel versteht man, daB die au8erst

trugerische Illusion reifen konnte, nach der man der sberrschen-

den KuItur« eine »Kultur der Beherrschten« gegeniiber stellen

musse (so als ob diese - im Gegenteil- nieht blo8 ein degradiertes

Residuum der ersteren ware) und so auch insbesondere die Illu-

sion, daB man der biirgerlichen Kultur eine Arbeiterkultur gegen-

uberstellen miisse. Eine derartige Betrachtungsweise laBt voll-

standig die objektiven Bestimmungen der historiehen Entwick-

lungen au8er Aeht, durch die die kulturellen Systeme hervorge-

bracht werden; zudem flihrt sie zum Beispiel notwendigerweise

wieder zur Negation der Moglichkeit einer wissenschaftl ichen

Konstruktion des gesellschaftlichen BewuBtseins als ein BewuBt- ,

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sein von den materiell-objektiven Beziehungen zur Natur, die als

solche verifiziert werden konnen. Aber sie moB dieser - bereits

von der ideologischen Tradition des biirgerlichen Zeitalters pro-

klamierten - Negation der Gesellschaftswissenschaft auch die Ne-

gation der Naturwissenschaften hinzufiigen, die das biirgerliche

Zeitalter prompt in dem Moment verkundete, wo die Geschichte

als die Geschichte der Klassenkampfe jeden »unbewuBten« oder

materiell-objektiven Aspekt aufsog, und daher - allgemeiner ge-

fa8t - die (physische) Natur selbst zerstorte.

Aber diese Zerstorung der Objektivitat ist gleichzeitig auch die

Zerstorung der Moglichkeit einer Universalisierung der Mensch-

heit.

Wenn es wahr ist, daB wie Marx sagte, »ein nicht objektives

Wesen kein Wesen ist«, dann kann nur ein objektives Wesen da-

nach streben, sich als subjektives Wesen zu entfalten, und daher

sein theoretisches Wissen und auch seine praktische Beherrschung

aller Bereiche der natiirlichen Objektivitat zu erweitem. Uberdies

konnte Marx, gerade weil er diese Objektivita t als allgemeines

Feld der Wesen und auch der menschlichen Wesen anerkannte,

eine wissenschaftliche Erklarung der Geschichte, einen Histori-

schen Materialismus entwerfen. Und damit hatte er der entste-

henden a ll gemei ne n K la ss e des modemen Zeitalters ein geistiges

Ziel gewiesen: die Vervollkommnung der Begriindung einer wis-

senschaftlichen Erkenntnis der Welt, und daher auch die Univer-

salisierung des Wesenmerkmals des Menschen: das Denken.

Wenn dies die Aufgabe des Menschen als Arbeiter seinkann, so

bedeutet dies, daB endlich eine Vereinigung der praktischen, intel-

lektuell noch mangelhaften, mit den theoretischen, noch praktisch

begrenzten, Fahigkeiten moglich ist. Eine derartige Vereinigung

scheint die spezifische Aufgabe und das universe lIe Ziel der kom-

menden historischen Epoche des Kommunismus zu sein.

Da8 diese Vereinigung sich bereits heute als ein wesentlicher

Ausdruck des politischen Kampfes der Arbeiterklasse darstelIt,

verdeutlicht den besonderen Wert der Klassentheorie Gramscis.

In dieser Theorie ist nicht nur eine herrschende, nicht-fuhrende

Klasse moglich, d. h. eine Klasse, die historisch keine reale Fahig-

keit zur hegemonialen Fiihrung eines historischen Blocks besitzt,

sondern auch eine fiihrende, nicht-herrschende Klasse, d. h. eine

158

Klasse, die historisch bereits die Fahigkeit zur Fuhrung eines

neuen historischen Blocks mit Hilfe des Konsens besitzt (ohne

uber die herrschende Macht im Staat zu verfugen).

Unsere Epoche scheint genau die Epoche zu sein, in der die

Strategie des Konsens, d. h. die Eroberung des Konsens fiir einen

universalistischen Entwurf, der auf die eigenen Klasseninteressen

gegriindet ist, ftir diese Klasse - in den »starken Kettengliedem«

der Geschichte - nicht nur zueiner spezifischen siegreichen politi-

schen Strategie unter vielen wird, sondem zu jener Strategie, die

die Klasse zum Siegfiihrt. Denn diese Strategie driickt einen »alI-

gemeinen« Entwurf aus, der in der Lage ist , die anderen sozialen

Schichten von der herrschenden Klasse zu losen, und deshalb eine

neue universalistische Ordnung herzustelIen, die nunmehr auf die

bewu8te Vermittlung auch der okonomischen Interessen gegriin-

det ist. Dank einer theoretischen Entwicklung, die durch die engen

Grenzen der okonomisch-korporativen Interessen notwendig

wurde, wird also die Emanzipation der Arbeiterklasse sc ho n a b

heute auch als universelle menschliche Emanzipation entworfen

und verwirklicht. Dadurch wird Foigendes deutlich: wenn ein er-

stes grundlegendes Moment der moralischen Entfremdung aller

Menschen, insofem sie vollstandig vereinzelte Individuen einer

aufgelosten Gattung sind, von der okonomischen Ausbeutung

durch einige wenige Menschen abhangt und nicht aufgehoben

werden kann, ohne daB diese Tatsache iiberwunden wird, so be-

darf die praktische Oberwindung der okonomiscnen Ausbeutung

(wegen eines zweiten - aber nicht sekundaren - Moments) der po-litischen V erm ittlung , in der auf der E bene der K ultu r die organi-

sche Vereinigung der gesamten Menschheit, und daher auch der

th eo re tis ch e P ro ze fJ d er A ufh eb un g d er E ntf re md un g heranreifen

moB.

Anmerkungen

1 Diese polemischen Bemerkungen gehen gro8tenteils von der doktriniiren

Annahme aus, daB die Politik einer sozialistisch-marxistisch orientierten Partei im

wesendichen darin bestehen miisse, einen Gesetzeskanon »anzuwendenc, und

nieht darin, die (politischen) Kimple und die Analysen voranzutreiben. Bezeich-

nenderweise deckt diese Annahme sieh mit jener eines gewissen, sieh hanniickig -

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behauptenden dogmatischen Marxismus. Ich habe diese Posi tionen in me inem

Buch »Crisi ideale e transizione al socialismo«, Rom 1977 kritisiert, auf das ieh

hiermit verweise.

1Die Grund lagen dieser Tradi tion sind in der Theone der l deologie zu suchen,

do rt, wo die Ideologiekriti k dennoeh in die Beg riindung ei ner »Theorie der Wahr-

heite einmunden muB. Aus dieser Tradition erwiichst also der sonderbare SchluB,

im Unterschied zu allen anderen Ideologien und au s dem einfachen Grunde, daB er

d ie Ideo logie einer f ort schri tt li ehen und nieht d ie e iner ausbeu tenden Klas se i st , se i

der Marxismus k e in fa ls ch es Bewup lS e in sondem eine wi ss en s ch a fd i ch e I d eo lo g ie .

Man beachte, daB insbesondere L.Althusser ( »Lenin und die Philosophie« , Rein-

bek 1977) und Adam Schaff (»Geschi eh te und Wahrheit«, Wien 1970 ) auf dieser

L in ie l iegen . In "Wirk li ehkei t s teht d ie se In te rp re ta tion der Wis sens soziolog ie

Mannheims naher als dem marxschen Denken. Es gen tigt darauf hin zuweisen, daB

die se I nterp re ta tion , indem sie den »wissenschaft li eben« Charakter der Ideo logie

auf den Kl assen charakter des Prol et ariats g riindet, folgende Verwieklungen er-

zeugt: 1) sie macht den Verweis auf den Klassenunterschied zum Kriterium der

Wissenscha ft li chke it , obwohl d ie Klassenunter schiede selbs t e rst untersueht wer -

den mt is sen; 2 ) s ie ver te id ig t e inen sozialen Determini smus durch d ie Proklama-

tio n (und die darauffolgende Negi erung) ei ner dureh Proletarier (Marx? Engel s?

Lenin? ) her vorgebrach ten Theorie; 3 ) bei ihr er Denifini tion der Wis senschaf t un-

ter li iB t s ie jede e rfo rderl iche Angabe e iner wis senschaft1iehen Methode und pro-

k lamier t t iberd ie s den P rimat der Ph ilosophie (e iner neuen Philosoph ie ) t iber d ie

(N atur-) Wissenschaft.

3 L.Althusse r, a. a.O. S. 51. Althusse r s chre ib t - wobei e r t ro tz e in iger Beden-'

ken die gesamte Kultur auf Polit ik reduziert: »Und an der Macht sind di e philoso-

ph ischen Gedanken des Bu rgertums. Auch in der Phi losophie ist die Maehtfrage

ent sche idend, Ta ts ach li ch i st d ie Ph ilosophie in letzter I ns tanz Politik«.

4 Man beachtenebenbei, daB die ser Prima t der Klass en bei der E inschi it zung

der Kultur beinhalt et , daB die Kultu r die Klassen nicht u ntersch ei den konne, daB

sie also keine vollendete wissenschaftliche Klassenanalyse erbringen konne, die so

beschaffen ist, daB sie den, der sie durchfuhrt, dazu veraniaBt, sich von seiner

Kl asse abzuwenden und sich auf die Sei te der fo rtschrittl ichen Klasse zu st el len!

Marx hat s chon im »Kommunistischen Manifestc genau das Gegenteil vorausgese-

hen. Andererseits muB man auch daran erinnem, daB das sKapitalc in Bezug auf

die Kl assen diesen Standpunkt beibehiil t und daB Marx selbst geschrieben hatte,

daB JOdieKlass en wiede r e in lee re s Wort s ind, wenn ich die Elemente nicht kenne,

auf denen sie beruhen, Z. B. Lohnarbeit , Kapital etc. e (Karl Marx , Grundrisse zu r

Kritik der poli tischen Okonomie, Berl in (DDR) 1953, S.21)

5 Diese unzul ii ss ige Akzen tu ie rung des» Klasseninter ess ese in der Kul tu r f iihr t

zu e iner Abwertung des »unbewuBteno: und zu einer Uberbewertung des intentio-

n al en Moment s, d. h. des pol itisch en Moment s, i n der begriffli chen Darstellung.

Ein typiseher Ausd ruck dieser Tendenzen ist die Redukti on des Rechts auf die Po-

litik, also die MiBachtung jeden Unterschieds zwischen Schuld und Vorsatz im

Verhalten des Einzelnen, die soweit fUhrt, daB der politische Irrtum in einen

Rechtsbruch umschl iigt ( si ehe me ine Stud ie : I I p en si er o g iu ri di co s ov ie ti co , Rom

1969).

6 Was den geschlos senen Ausdruek e iner Gese ll scha ft s- und Gesch ieht swis-

senschaft verhindert, i st etwas ganz anderes al s das »K18sseni nteresse«: es ist der

tiefverwurzelte h i sto ri s che ldeal i smus , der nur durch ei ne immanente Kriti k korri-

g ie rt werden kann, d ie fi ih ig i st , e inen konsequen ten Hi st or is ch en Ma le ri al ismus

bervorzubringen: genau diese Aufgabe nimmt Marx in Angriff.

160

7 Siebe dazu Max Weber, Die »Objekt ivitiit e sozialwissenschaft1ieher Er-

kenntni s, in: der s. , Soziolog ie , Wei tgesch ieht li ehe Ana lysen, Po li tik, Stut tgart

1964. Weber verdeut licht d en »u topisch ene Charakter seiner Id ealt ypen, denen

keine konkre ten h istor is ch-sozialen Organ ismen entsprechen, durch d ie sie veri fi -

zier t werden konnen : a .a .O. S.239f f. Doch der Histor is che Mater ia li smus wir d zu

einem ganz iihniiehen Ergebnis kommen, wenn sein e Begriffe losgelast von jeder

Oberpri ifung an h istori schen Organ ismen konst ru ie rt und ine ine r neuen a llgeme i-

nen Phil osophi e der Geschichte hypostasiert werden. So bemerkt Gramsci zwar,

daB »die ethisch-polit iscbe Geschiehte (Croces) eine willkiirl iebe und mechanische

Hypos ta se des Moments der Hegemonie i st e ( I I ma le ri aJ i smo s to r ie o e l a f il os of ia di

Benede"o Croce (Der His to ri scbe Mate rial ismus und die Philosophie Benedet to

Croces), Rom 1977, S. 233;-Quademidelearcere (Gefiingnisbefte), Turi n 1975,

S. 1222), aber er weist auch auf die Gefah r einer spekulati ven Umkehrung der Phi-

l osoph ie d er Praxis hin. So schreibt er z. B.: »Wenn der Begri ff der Strukt ur ,spe-

kulativ< aufgefaBt wird, so wird er mit Sieherheit ein >heimlicher Gotte; abe r er dar f

ger ade n ieht speku la tiv aufgefaBt werden , sondem histor is ch a ls Ensemble der so-

zialen Beziehungen, innerhalb deren die realen Menschen sieh b ewegen und ti tig

s ind, a ls Ensemble objek tiver Bedingungen , d ie mi t den Methoden der ,Sprachwis-

s enschaf te unter such t werden mUssen , und n ieht m it denen der >Spe1 tu la tion<. Als

ein »Bestimmtes«, das gewiS auch >wahrc ist, das jedoch vor allem in seiner >Be-

stimmtheit< untersucht werden muB, bevor es in se iner> Wahrheit< untersucht wer-

den kanne ( II m at er ia Ji sm o st or ie o . .. , a.a.O., S .2 3 7;- Qu ad er ni d el c ar ee re , a.a.O.,

S. 1226 ). Man sieht nun, da B die »Wahrhei te hier die Schluflfolprung aus einem

Pro zeB anal ytisch er Ermitt lung ist, u nd nicht umgekehrt! Denn andemfalls »ten-

d ie rt auch d ie Philosoph ie der Praxi s dah in , e ine I deolog ie im schlechtesten Sinne

zu werden , d . h . e in dogmati scher Kanon abso lu te r und ewige r Wahrhe it ene (Mo-

t er ia li sm o s to ri co . .. , a .a .O., S. 11 8 ;- Qu ad er ni de l c ar ce re , a.a .O., S . 1489) . Dieser

Gef ahr kann man nur entgehen, wenn man die Ant ithe se zwischen» Ta ts achenur-

t ei l« und »Wertur te il e (d . h . zwischen Wis senschaft und Ideo logie) auf1Os t, in der

Max Weber noch befangen war: »Die Kausa lana lyse l ie fer t kein e inziges Wer tu r-

teil, und ein Werturt ei l i st niemals eine kausale Erklirunge. Werturteile auf der

Bas is von Kausa lana lysen e rstel len - d ies beweist d ie Notwendigke it eine r kausa-

l en Geschich tswis senscha ft . d . h . einer h is to ri sch-ma te riel len Begri indung der Ka-

tegorien.

8 In diesem Zusammenhang ist meiner Meinung nach die Diskussion tiber

Gramsci s Auffa ssung der Folklore s ehr wieh tig (s iebe dam: A.M. Cirese,lnteUe-

t ue li ,/ ol kl or e, i rs st in to di elasse, Turin 1976; und Gramsc i: am e f o lk lo re , Hrsg. v .

G .Pre st ip ino, Rom 1977). E in er ster Anhal tspunkt fUr di e AuffU1lUDg Gramscls ist

f olgendes Z itat : »Die Posi tion der Ph ilosophie der P raxi s bef inde t s i o o imWider-

sprueh zu der katho li schen: d ie Ph ilosophie der P raxi s i st n ich t darauf gerieh te t,

den >einfachen Leu t ene ihre primi tive Philosoph ie des gew6hnl ichen Antagsbe-

wuBtse ins zu lass en , sondem darauf , s ie zu e iner hoher en Lebensansehauung zu

fUhrene ( II m a te ri al is mo st or ic o . .. a .a .O., S. 12f.;-Quadernidelcarcere, a .a .O., S .

1384). Und man beachte die Prilisierung Gramscis, daB JOdieBeziehung zwischen

shohere« Philosophie und AlltagsbewuBtsein >politisch< garantier t wirde ( I I ma te -

nolisma s to ri co . .. a .a .O., S. 11; -Quaderni de l cercere a .a.O. , S . 1883). Die spez i-

fi sche Bedeu tung dies er PI :i zi si erung l iegt darin, daB »das BewuBtse in , zu e iner be-

s timmten hegemonia len Kra ft zu gehoren (das pol it ische BewuBtsein a lso), das er -

s te Stad ium e ines umfassender en und fort schri tt liOOen (Se lbst -) BewuBtseins i st , in

dem Theor ie und Praxis s ieh endlieh vereinigene ( II m a le ri al is mo s to ri eo . .. , a.a.O.,

S. 13; - Qu ad er ni d el c ar ee re , a .a .O., S. 1385). Die Poli tik i st a lso e ine Bri icke fU r

161

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den Entwicklungsproze8 des kritischen BewuBtseins, aber nicht mehr!

9 Siehe dazu den guten Essay von P.Rossi, A nt on io G ra ms ci s ul la s ci en za m o-

derna, in: Cri tica marx ista , Nr. 2,Miirz-April1976 (jetzt auch in: I mm ag in e d ell a

scienza, Rom 1977), der zu Recht eine positive Bilanz des Verhiiltnisses Gramscis

zur Wissenschaft aufstellt,

10 Meiner Meinung nach unternimmt Gramsci nun imwesendichen zwei mit-

einander verbundene wesendiche Schritte: er kritisiert den historischen Idealismus

und seine :tKulturologie« ausgehend vom Primat der Struktur, und kritisiert dann

den Okonomismus des Vulgi irmarxismus, indem er die Rekonst rukt ion der

ethisch-politisehen Geschichte vorschliigt.

11 Diese F~tstellung gilt fU r den gesamten Marxismus der II. und III. Intema-

tionale: fUrLenin, fU r Rosa Luxemburg, filr Kautsky, fUrRenner und fUr Stalin.

12 Siehe: N ot e s ul M a cc hi av ell i, s ul la po/inca e s ul lo S ta to modemo (Anmer-

kungen zu Macchiavelli , zur Poluik u nd z um m od em en Staat) , Rom 1977, S.55ff;-Q u ad er ni d el carcere, a.a.O., S. 1583ff. Doch man muB sich hier die gesamte Dar-

stellung des Hegemoniebegriffs und des Staatsbegriffs bei Gramsci vergegenwiirti-

gen.

U Siehe z, B.: Q u ad er ni d el carcere, a.a .O., S .424. Man muB hier an den i iu-Berst zutreffenden Ausspruch Gramscis erinnem: :tDer Marxismus hatte zwei

Aufgaben: erstens die modemen Ideologien inihren differenziertesten Ausdrucks-

formen zu bekiimpfen, und zweitens die Volksmassen, deren kulturelles Niveau

mittelalterlich war, aufzukliiren« ( Q ua d er ni d el c ar ce re , a.a.O., S. 422). Hier wird

sehr gut verdeudicht, daB die Kritik der modemen Ideologie nicht »aufkliirerische

und die Unterstiitzung der Volksmassen nicht »populistisch« is t ,

14 Immanuel Kant, I de e z u e in er a li ge me in en G es ch ic ht e i n w elt bu rg er li ch er

Absicht, in: Kan t' s g e samme lt e S chr if te n , hrsg. v. d. Koniglich Preu8ischen Akade-

mie der Wissenschaften, Bd. VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin 1912, S. 18.

15 a.a.O., S. 21.

16 a.a.O., S. 22.

17 a.a.O., S. 22.

18 a.a.O., S. 28. Diese Antinomie zwischen moralischem WeltbUrgertum und

politiscber Staatlichkeit wird spiiter in der hegelscben Konzeption der kosmiseh-hi-

storischen Funktion, die die einzelnen Staaten zugeordneten VOlkernach und nach

iibemehmen, in bedeutender Weise systematisch erfaBt.

19 P as sa to e p re se nt e ( Ve rg an ge nh ei t u nd G eg en wa n) , Rom 1977, S. 48f .; -

Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S. 312.

20 P a ss at o e p re se nt e, a .a .O ., S. 39; - Quademi del carcere, a.a.O., S. 690.

21 P a ss ot o e p re se nt e, ebenda; - Qu ad er ni d el c ar ce re , a.a.O., S. 691.

22 I I m I lt er ia ii sm o s to ri co , a .a .O., S. 235; - Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S.

1224.

23 I I m at er io Ji sm o s to ri co . .. , a.a .O., S . 48; - Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S.

1244.

24 I I m I lt er ia ii sm o s to ri co . .. , a.a .O., S .294; - Qu ad er ni d e l c ar ce re , a.a.O., S.

1321

25 I I m at er ia li sm o s to ri co . .. , a.a .O., S. 14; - Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S.

1386.

26 I I m ar er io Ji sm o s to nc o . .. , a.a .O., S . 15; - Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S.

1386f.

27 I I m ate ria li sm os to ri co .. . , a.a.O., S. 1 6 3 f. ;- Qu ad er ni d el c ar ce re , a.a.O., S.

1423.

28 Hier bleibt dasProblem einer nicht-nivellierenden, also einer die individuel-

162

lenPersonlichkeiten bereichemden Struktur, die diese - in Bezug auf die produkti-

yenTiitigkeiten -egalitiire Gemeinschaft haben mii8te, ausgespart. Es handelt sich

hierbei um eine wichtige Fragestellung, in der die marxsche Gemeinschaft (der

Kommunismus) derjenigen Rousseaus und der Utopisten kritisch gegeniiberge-

stellt wird.29 siehe: W.I. Lenin, Staat und Revolution, Kap. V (Die okonomischen Grund-

lagen fUrdas Absterben des Staates), S. 470ff., in: Lenin, Werke, Bd. 25, Berlin

(DDR) 1960.30 Man kann zu Recht behaupten , daB Gramsci auf diese Weise jene Forde-

rung nach der Gemeinschaft, (im Original deutsch - Anm. d."O.),die ein grundle-

gendes Moment des marxschen Denkens gewesen, und dann spiiter durch die im-

mer weitere Vertagung auf die Zei t des »Aufbausc des zweiten Stadiums des

Kommunismus verkiirzt worden war, in eigenstiindiger Form wiedergewinnt. Da-

bei handelt es sich natUrlich um eine ideelle Wiedergewinnung, die das Modell

praktisch-ckonomischer Abstufungen in keinster Weise aufhebt.

31 Ich sehe hier einen Zusammenhang zwischen der Fragestellung Gramscis

und der des fri ihen Marx. Es handelt sich um die angedeutete »Kritik der Polit ike

als Prinzip einer politiscben FUhrung und auch politischer Institutionen, die fiihig

sind, den entfremdeten und entfremdenden Charakter der Politik soweit wie mog-

li ch bewuBt zu kontrol li eren . A1lgemeiner kann man sagen, daB Gramsci den

Aspekt der Subjektivit ii t als BewuBtsein im komplexen Rahmen der Aufhebung

der Entfremdung aufiOst. Ich betone hier vor allem die (natiirlich indirekte) Wie-

deraufnahme der Frage des »Gattungswesens« des Menschen, das Marx in den

O k on om is ch -P hil os op hi sc he n M a nu sk ri pt en a us dem Jahre 1844, (in: MEW, Er-giinzungsband I, Berlin DDR) erliiutert, in dieThematikderder Politikbeigefiigten

Universalitiit. Damit gelingt es Gramsci, die praktische Revolution so anzulegen,

daBsie sofort zum Ferment einer intellektuellen und moralischen Revolution wird

(und nicht umgekehrt), also eine die Erafremdung a u fh eb en de P o li ti k zu entwer-

fen; diese Polit ik kann die Entfremdung nicht nur deshalb aufheben, weil sie auf

das zukiinftige Ziel der praktischen Uberwindung der Ausbeutung gerichtet ist ,

sondem vor a1lemauch deshalb, weil sieschon heute die kritisch-bewuBte Rekon-

struktion der Subjektivitiit ist, die Eroberung einer ku lt u reUen Pe r sp e kt iv e bereits

impolitischen Kampf, und also di e Uberwindung nicht nur der :tabgebobenen KuI-

ture, sondern auch der :tabgehobenen Politik«, d. h. allgemein gefaBt der geistigen

Entmenschlichung, von der der fri ihe Marx spricht, und der »Immoralitiit, MiBge-

burt, Hebetismus der Arbeiter uDd der Kapitalistenc (Okonomisch·Phiiosophi-

sc he M an us krip te ... , a.a.O., S. 524). Man kann diese Penpektive eher einlesen,

wenn man sich die mansche Kritik des :t.noch ganz roben ulld gedankenlosen

Kommunismuse (ebenda, S.534) vor Augen hilt, von dem man sagen kann, daBer

, . .. . indem er die PersOnlichkeit des Menschen iiberall negiert , . . nur der konse-

quente Ausdruck des Privateigentums, welches diese Negation iste, ist (ebenda, S.

534). Marx kritisiert an diesem rohen Marxismus einige Merkmale, an denen man

durch einen Vergleich die Bedeutung des Beitrags Gramscis zur »Verfeinerung«

des Kommunismus ermessen kann: den allgemeinen Neill, die Nivellierungssucht

und schlie8lich wohlgemerkt die :tabstrakte Negation der ganzen Welt der Bildung

und der Zivil isatione (ebenda, S.535). Die Gemeinschaft, die daraus entsteht und

die Marx weiterhin kritisiert, ist nur »eine Gemeinschaft der Arbeite, oder :tdie

Gemeinsclwft als der allgemeine Kapitaliste (ebenda, S. 535). Die Universalitiit,

von der Gramsci spricht, deckt sich also mit dem marxschen Kriterium dafiir, in-

wieweit der Mensch in seinem g es el ls cl wj tl ic he n V er hi il tn is l ur N a tu r (dessen un-

mittelbarster Ausdruck das VerhiiItnis des Mannes zur Frau ist) sals Gattungswe-

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sen, a J s Mensch s iehgeworden ist und erfaS t hate (ebenda, S .535); d .h . mi t dem

Kriterium dafiir , . . .. in(wie)weit das Bedurfnis des Menschen zum menschlichen

Bedurfnis, inwieweit also der andere Mensch a1sMensch zum Bediirfnis geworden

ist, inwieweit er in seinem individuellen Dasein zugleieh Gemeinweisen ish, (eben-

da, S.535), und eben dies bedeutet Universalit ii t. Indem Gramsci also die unmit-

telbare Wirkung der Kultur auf die revolutioniire Politik bloblegt, verdeutlieht erin

gewisser Weise - sowie Marx - , , . ... wie die Losung der theoretischen Gegensiitze

selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie desMenschen

moglich iste, und , . .. . ihre Uisung daher keineswegs nur die Aufgabe der Erkennt-

nis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welehe die Philosophie nieht losen

konnte, eben W4; i l sie dieselbe nur als theoretische Aufgabe faStee (ebenda, S.

542). Und er verdeutlieht auch, wie unter dieser Voraussetzung die Uisungauch

eine Aufgabe des Bewu8tseins, der Philosophie und der Kultur ist . Damit deckt

Gramsci den tiefen Sinn der letzten marxschen These zu Feuerbaeh auf: wenn diePhilosophen die Welt nur interpretiert haben, wiihrend es darum geht, sie zu ver-

i indem, so kann man die Welt n ieht ver iindem, ohne s ie zu in terpretieren; und

wenn man sie interpretiert, urn sie zu veriindern, soist auch die Interpretation eine

Art der Veriinderung. Die Theone kann die Praxis sieherlieh nieht ersetzen, doch

wenn sie dies begriffen hat, so wird sie selbst zu einer Aufgabe der Emanzipation

des Menschen.

164

TeD 4

Gramsd original

. . ' $

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D ie s iiditaH e nisc he F ra ge

Einige Gesicbtspunkte der Frage des Siidens

Die Veranlassung zu den folgenden Bemerkungen hat die im "Quarto

State"! vom 18. September erlolgte Veroltentlirhung eines mit Ulen-

spiegel gezeiehneten Artikels tiber das Problem des Sildens gegeben,

dem die Redaktion der Zeitschrif t e ine etwas sonderbare Einleitung

vorausgesehickt hal Ulenspiegel weist in seinem Artikel auf das neueste

Bueh von Guido Dorso ("Die Revolut ion des Slidens", Verlag Piero

Gobetti, Turin 1925) hin und spielt auf das Urteil an, da a Dorso uber

die Einstellung unserer Partei zu der Fruge des Sndene gegehen hat.

Die Redaktion des "Quarto Stato", die verktmdet, s ie bestehe aus ,Jun-

gen Leuten, die das Problem des Sudens in seinen allgemeinen Umris-

sen (lie!) ,,'Pollkommen beherrschen", protestiert in ihrer Einleitung ge-

schlossen dagegen, daB der Kommunistisehen Partei irgendwelche "Ver-

dienste" zuerkannt werden konnten. Soweit ist die Sache nicht schlimm.

Die jungen Leute vom "Quarto Stato"haben 'zu jederZeit und an jedem

Ort dem Papier noch ganz andere Ansichten und Proteste aufgenotigt ,

ohne daB sich das Papier dagegen aufgelehnt hitte. Dann aber fugen

diese , jungen Leute" wortl ich hinzu: "Wir haben nieht vergessen, daB

die Zauberlormel der Turiner Kommunisten lautete: den GroBgrund-bcsitz unter das l indl iche Proletariat verteilen. Diese FormeI ist mi t

jeder gesunden und realist ismen Auffassung des Problems des Sndens

absolut unvereinbar." Und bier mnssen die Di~ zurechtgeri ldtt wer-

den, denn "zauberhaft" ist bier nur die Fredlheit und der oberOiehliehe

Di lettanti smus der "jungen Leute", die sich beim "Quarto Stato" ala

Schriftsteller beUitigen.

Die "Zauberlormel" ist eine reine Erfindung. Die "jungen Leute" vom

"Quarto Stato" mussen eine sehr geringe Meinung von ihren hoehgehil-

deten Lesem haben, wenn sie es riskieren, die Wahrhei t mit so wor t-

reicher Dreistigkeit auf deo Kopf zu stellen. Vor mir li~ ein Exemplar

des "Ordine Nuovo" (vom 3.Januar 1920) . in dem der Standpunkt der

Turiner Kommunisten zusammengefaBt ist:

"Die Bourgeoisie des Nordens hat Siiditalien und die Inseln unter-

166

jocht und hat sie zu einer ausgebeuteten Kolonie herabgewfirdigt. Wenn

das Proletariat des Nordens sich-selbst von der kapitalistischen Sklaverei

befreit , wird es auch die Bauemmassen des Sildens befreien, die unter

der Knechtschaft der Banken und des parasitaren Industriekapitals des

Nordens leben. Die wirtschaftl iche und polit ische Wiedergeburt der

Bauem ist nieht in einer Verteiloungder unbebauten und schlecht be-

bauten Landereien zu suchen, sondem in der SolidariUit des Industrie-

proletariats, das seinerseits die Solidaritit der Bauem braucht, das daran

interessiert ist , daB der Kapitalismus nicht aus dem Grundeigentum

wirtschaftlich wiederersteht und daB Siiditalien und die Inseln nicht zu

einer miliUirischen Basis der kapitalistischen G~enrevolution werden.

Durch die Erzwingung der Arheiterkontrolle in der Industrie wird das

Proletariat die Industr ie auf die Produktion von Landmaschinen, von

StofJen und Schuhwerk sowie von elektrischer Energie fur die Bauem

orientieren; es wird verhindem, daB die Industrie und die Banken die

Bauem weiterhin ausbeuten und sie als Sklaven ihren Geldschranken

untcnverfen. Dadurch, daB die Arbeiter die Autokratie in der Fahrik zer-

trtimmern, den Unterdriidtungsapparat des kapitalistischen Staates zer-

tri immem und den Arbeiterstaat errichten, der durch Gesetz die Kapi-

talisten zur niitzlichen Arbeit zwingt, werden sie aile Ketten zerbrechen,

die den Bauem an sein Elend und an seine Verzwei8ung fesseln. Indem

das Proletariat die Arheiterdiktatur erriehtet und die Industriebetriehe

und die Banken in der Hand hat, wird es die ungeheure Macht der

staatlichen Organisation dazu verwenden, die Bauem in ihrem Kampf

g~n die Grundbesitzer, gegen die Natur, gegen das Elend ~ unter-

stiitzen. Es wird den Bauern Kredite geben, Genossenschaften grunden,

die Sicherheit der Person und des Besitzes gegen die Auspl1inderer

garantieren, es wird oftentliche Mittel fiir Melioration und Bewilsserungzur Verfugung stellen. All das wird es tun, weil es in seinem eigenen In-

teresse liegt, die landwirtschaftliche Produktion zu steigem, wei l es in

seinem eigenen Interesse liegt, die Solidaritat der Bauemmassen zu ge-

winnen und zu erhalten, weil es in seinem eigenen J nteresse liegt, die

industr ie lle Produktion auf niitz liche Arbeit f iir den Frieden und fur

briiderliche Beziehungen zwischen Stadt und Land, zwischen dem Nor-

den und dem Siiden zu orientieren."

Dies ist im Januar 1920 ge!!chrieben worden. Seitdem sind siehen

Jahre vergangen, und wir sind auch politisch urn sieben Jahre ilter ge-

worden. Manche Gedanken konnten heute besser ausgedrildtt werden.

Die Periode unmittelbar nach der Eroberung der Staatsmacht, die durdt

die einfache Arbeiterkontrolle fiber die Industr ie charakterisiert ist ,

konnte und muBte besser von den nachfolgenden Perioden untersehie-

167

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den werden. Aber hier ist vor allem festzustellen, daB der Grundgedanke

der Turiner Kommunisten nicht die "Zauberformel" der Aufteilung des

Gro/lgrundbesitzes gewesen ist, sondern der des politisehen Biindnisses

zwischen den Arbei tern des Nordens und den Bauern des Sudens, urn

der Bourgeoisie die Staalsmacht zu entreiBen. Nicht nur das, gerade die

Turiner Kommunisten (diebetonten, daB die Aufteilung des Bodens der

solidarischen Aktion der beiden Klassen untergeordnet sei) warnten vor

dem Wunderglauben an die schematische Verteilung des GroBgrund-

besi tzes. In dem gleichen Artikel vom 3..Ianuar 1920 heiBt es: "Was

erreicht ein ariner Bauer, wenn er sich eines unbebauten oder schlecht

bebaulen Landstiicks bemiichtigt7 Ohne Maschinen, ohne Wohnung an

der Arbeitssti it te, ohne Kredi t bis zur Zeit der Ernte, ohne genossen-schaft liche Organe, die die Ernte aufkaufen (wenn er die Ernte erlebt ,

ohne sichvorher an dem stiirksten Strauch in den Wiildern oder aneinem

noch nicht vullig verkriippelten wilden Feigenbaum auf dem unbebauten

Land erhiingt zu haben) und ihn vor den Klauen der Wucherer bewah-

ren k6nnen - was kann ein armer Bauer ohne dies alles durch die

Landbesetzung erreichen 7" Und trotzdem waren wir filr die sehr reali-

stische und keineswegs "zauberhafte" Formel: Das Land den Bauern!

Aber wir wollten, daB sie in eine allgemeine revolutionii re Aktion der

beiden verbiindeten Klassen unter der Fiihrung des Industrieproletariatseingefiigt wiirde.

Die Schreiberlinge vom "Quarto Stato" haben die den Turiner Kom-

munisten zugeschriebene "Zauberformel" frei erfunden. Damit haben

sie bewiesen, wie wenig ernst sie als Publizisten zu nehmen und wie

bedenkenlos solche intellektuel len Quacksalber s ind. Auch dies sind

politische Momente, die gewichtig und folgenschwer sind.

1m prole tarischen Lager haben die Turiner Kommunisten ein un-

bestreitbares "Verdienst" gehabt : Sie haben die Vorhut der Arbeiter-

kJasse auf die Frage des Sildens aufmerksam gemacht und diese Frage

als ein wesentliches Problem d"l' nationalen Politik des revolutioniiren

Proletariats aufgeworfen. In diesem Sinne haben sie praktisch dazu bei-

getragen, die Frage des Sildens aus der Phase der Vnbestimmtheit , des

Intellektualismus, des sogenannten Konkretismus herauszuheben und

in eine neue Phase ilbeJ7JUfilhren.Jetzt wurde das revolutionlire Pro-

letariat von Turin und Mailand der Vorkiimpfer in der Frage des Sudens

slatt der Giust ino Fortunato, Gaetano Salvemini, Eugenio Azimonti

und Arturo Labriola, um nur die Namen der Gotter zu nennen, die den

"jungen Leuten" vom "Quarto Stato" besonders teuer sind.

Die Turiner Kommunisten hatten sich konkret die Frage der "Hege-

168

monie des Proletariats" gestellt, das heiBt die Frage der sozialen Basis

der proletarischen Diktatur und des Arbeiterstaats. Das Proletariat kann

in dem MaBezur filhrenden und herrschenden Klasse werden, wie esihm

gelingt, ein System von Klassenbilndnissen zu schafJen, das ihm gestat-

tet, die Mehrheit der werktAtigen Bev6lkerung gegen den Kapitalismus

und den bilrgerlichen Staat zu mobilisieren; und dies bedeutet in Italien,

unter den realen, in ltalien bestehenden Klassenverhiiltnissen, in dem

MaBe, wie es ihm gelingt, die Zustimmung der breiten biiuerlichen Mas-

sen zu erlangen. Aber die Bauernfrage in Italien ist geschichtlich bedingt,

sie ist nicht die "Bauern- und Agrarfrage im allgemeinen"; in Italien bat

die Bauernfrage infolge der bestimmten italienischen Tradition, infolge

der bestimmten Entwicklung der italienischen Geschichte zwei typische

und besondere Formen angenommen, die Frage des Sudens und die

Frage des Vatikans. Will also das italienische Proletariat die Mehrheit

der Bauernmassen erobern, so muB es sich diese beiden Fragen vom so-

zialen Gesichtspunkt aus zu eigen machen, muB es die von ihnen ver-

t retenen Klassenforderungen verstehen, muB es diese Forderungen

seinem revolutionii ren Ubergangsprogramm einverleiben und unter

seine eigenen Kampllorderungen aufnehmen.

Das erste Problem, das die Turiner Kommunisten zu losen hatten, be-

stand darin, die poii tische Richtung und die allgemeine Ideologie des

Proletariats selbst als eines nationalen Elements, das in der Gesamtheit

des staatlichen Lebens existiert und unbewuBt dem EinDuB der Schule,

der Presse, der bilrgerl ichen Tradition unterliegt, zu verindern_ Ea

ist bekannt, welche Ideologie von den Propagandisten der Bourgeoisie

in der ralf iniertesten Form unter den Massen des Nordens verbreitet

worden ist. Danach ist der Suden die Bleikugel, die schnellere Fortschritte

in der zivilisatorischen Entwicklung ltaliens verhindert, sind die Sild-linder biologisch minderwertige Wesen, sind sie durch natilrliche Be-

stimmung Halbbarbaren oder v611igeBarbaren; wenn der Snden rildt-

standig ist, so tragen nicht das kapitalistische System oder irgendeine

andere geschichtliche Vrsache die Schuld daran, sondern die Natur, die

die Si idliinder als Faulpelze, Dummkepfe, Verbrecher und Barbaren

geschafJen hat und dieses ihr stiefmiltterliches Los nur dadurch mildert,

daB plotzlich und ganz vereinzelt groBe Geister aultauchen, die wie die

einsamen Palmen in einer durren und ururuchtbaren Wuste sind. Die

Sozialist ische Par tei war zu einem groBen Tei l der Vermittler dieser

biirgerlichen Ideologie unter dem Proletariat des Nordens. Die Soziali-

stische Partei gab ihren Segen zu der gesamten "meridionalistischen"

Literatur der Clique von Schriftstellern der sogenannten positiven Schule, .

zu den literarischen Erzeugnissen der Ferri, Sergi, Niceforo, Orano und

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ihrer kleineren Nachahmer, die in Artikeln, Skizzen, Novellen, Ro-

manen, in Reisebesmreibungen und Erinnerungsbilmem in versehie-

denen Fonnen immer das gleiehe Lied sangen. Nom einmal diente die

"Wissenschaft" dazu, die Annen und Ausgebeuteten zu treten, aber

diesmal kleidete sie sim in sozialisti scl te Farben und erhob den An-

spruch, die Wissensmaft des Proletariats zu sein.

Die Turiner Kominunisten traten dieser Ideologie energisclt entgegen,

gerade in Turin, wo die Erzlihlungen und Smilderungen der Veteranen

des Krieges gegen das "Rliuberunwesen"l im Suden und auf den Inseln

die Haltung una den Geist des Volkes stArker beeinOuBt hatten. Sie

reagierten energism und praktism und erreiehten konkrete Ergebnissevon groBter gescltichtlimer Tragweite. Gerade in Turin gelang es

ihnen, Ansiilze zu der kiinftigen Losung des Problems des Sudens zu

schaffen.

Ubrigens war es schon vor dem Kri~ in Turin zu einem Vorfall ge-

kommen, der im wesentlichen die gesamte Tatigkeit und Propaganda

der Kommunisten in der Nachkriegszeit vorwegnahm, Ais im Jahre 1914

durch den Tod des Abgeordneten Pilade Gay der IV. Wahlbezirk

der Stadt frei und die Frage des neuen Kandidaten gestellt wurde, maehte

eine Gruppe der sozialistischen Sektion, der die kiinftigen Redakteure

des "Ordine Nuovo" angehorten, den Vorsmlag, Gaetano Salvemini als

Kandidaten aufzustellen. Salvemini war damals der radikalsteExponent

der bauerliehen Massen des Sudens. Er stand aullerhalb der Sozialisti-

schen Partei, ja, er filhrte gegen die Partei eine sehr energisehe und ge-

fiihrliche Kampagne; deon seine Behauptungen und Beschuldigungen

riefen unter den werktiitigen Massen des Sudens nieht nur gegen Leute

wie Turati, Treves und d'Aragona, sondem auch gegen das Industr ie-

proletariat in seiner Gesamtheit Hall hervor. (Viele der Kugeln, die diekoniglichsn Garden in den Jahren 1919, 1920, 1921 und 1922 gegen die

Arbeiter nbfeuerten, waren aus dem gleichen Blei gegossen, das dazu

diente, die Artikel Salveminis zu drurken.) Trotzdem wollte diese Tu-

riner Gruppe Salvemini Untersti itzung zusichem, und zwar in dem

Sinne, wie er ihm von Genossen Ottavio Pastore, der sich naeh Florenz

begab, urn Salveminis Zustimmung zu der Kandidatur zu erreichen,

voigetragen werden sollte. "Die Arbeiter von Turin wolleneinen Ab-

geordnelen filr die Bauem Apuliens wiihlen. Die Arbeiter von Turin

wissen, dall bei den allgemeinen Wahlen von 1913 die Bauem von Mol-

Ietta und Bitonto in der ilbergroBen Mehrheit f iir Salvemini gewesen

sind; der administrative Drurk der Regierung Giolitt i und die Brutali-

taten der Ordnungshiiter und der Polizei haben es den apulischen

Bauem unmoglim gemaeht, ihrem Willen Ausdrurk zu verleihen. Die

170

Arbeiter von Turin verlangen keinerlei Verpfiichtungen von Salvemini,

weder in bezug auf die Partei noch in bezug auf das Programm oder hin-

sichtlich der Fraktionsdisziplin im Parlament. Wenn Salvemini gewiihlt

isl soIl er sich an die apuli schen Bauem halten, nicht an die Turiner

Arbeiter, die die Wahlpropaganda nach ihren Prinzipien betreiben und

sieh durch die politische Tatigkeit Salveminis in keiner Weise gebunden

fublen werden."Salvemini wollte die Kandidatur nicht annehmen, obwohl er durch

den Vorschlag stark beeindruckl, ja erschiittert war (damals sprach man

nom nicht von kommunistischer "Arglist" , und die Verkehrsfonnen

waren noch korrekt und angenehm). &schlug Mussolini als Kandidaten

vor und verpOichtete sieh, nach Turin 2JU kommen, urn die Sozialistisehe

Partei im Wahlkampf zu unterst iitzen. Tatsichlich fiihrte er im Ge-

werkschaftshaus und auf der Piazza Statuto zwei groBartige Versamm-

Iungen durch, auf denen die Massen ihn als den Vert reter der Bauem

des Sudens, die nom abscheulicher und brutaler unterdriirkt und aus-

gebeutet wurden als das Proletariat des Nordens, sturrnisch begriillten.

Die in diesem Vorfall potentiell enthaltene Orientierung, die nur des-

halb nieht zu weiterer Entwirklung gedieh, weil Salvemini es nimt

wol lte, wurde von den Kommunisten in der Namkriegszeit wieder-

aufgenommen und in die Tat umgesetzt. Wir wollen an die hervor-

steehendsten und bedeutsamsten hierher gehOrigen Tatsaehen erinnem.

1mJahre 1919 entstand die Vereinigung ,Junges Sardinien", aus der

sich spdter die Sardisehe Aktionspartei entwirkelte . Das ,Junge Sar-

dinien" wollte aIle Sarden auf der Insel und auf dem Festland in einem

regionalen Block zusammenfassen, der auf die Regierung einen heil-

samen Drurk ausiiben sollte, urn 21 U erreiehen, daB die den Soldatenwiihrend des Krieges gemamten Versprechungen gehalten wurden. Der

Organisator der Vereinigung auf dem Festland war ein gewisser Pro-

fessor Pietro Nurra, ein Sozialist, der heute sehr wahrseheinlieh zu den

"jungen Leuten" gehort, die im "Quarto Stato" allwomentlim der For-

sehung neue Horizonte eroffnen. Mit der Begeisterung, die jede neue

Miiglimkeit hervorruft, Orden, Pfriinden und Medaillen einzuheimsen,

sehlossen sich Rechtsanwiilte, Lehrer und Beamte der Vereinigung an.

Die Griindungsversammlung, die von den in Piemont lebenden Sarden

naeh Turin einberufen worden war, verlief dank der grollen Zahl der

Erschienenen sehr eindrurksvoll. Es waren zumeist anne Leute, Men-

sehen aus dem Volk ohne Titel und Wiirden, Handarbeiter, kleine Rent-

ner ehemalige Karabinieri, ehemalige Gefiingniswiirter, ehemalige Zoll-

be:mte, die die versmiedenartigsten kleinen Geschiifte betrieben. Sie aIle

1 7 1

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rbegeisterte der Gedanke, wieder einmal unter Landsleuten zu sein und

Reden iiber ihre Heimat anzuhoren, an die sic sich nach wie vor durch

unziihlige Bande der Verwandtschaft, der Freundschaft, der Erinnerung,

des Leids und der HolTnung gebunden fiihlten - der HofJnung, in ihre

Heimat zuriickzukehren, aber in eine gliicklichere und reichere Heimat,

die ihncn ein wenn auch beschcidenes Auskommen bieten wiirde.

Die sardischen Kommunisten, genau acht an der Zahl, erschienen

ebenlalls in der Versammlung, legten der Versammlungsleitung einen

Antrag vor und baten, ein Korreferat halten zu diirfen. Nach dem leiden-

schaftlichen, sch~ungvoUen und mit aller Anmut und allen Bluten der

heimatlichen Redekunst venierten Vortrag des offiziellen Referenten,nachdem die Zuhorer in Erinnerung an die Leiden der Vergangenheit

und an das im Kriege von den sardischen Regimentern vergossene Blut

geweint und sich bis zur Veniickung begeistert hatten bei dem Gedan-

ken an einen geschlossenen Block aller edlen Sohne Sardiniens, war es

sehr schwierig, das Korreferat an den Mann zu bringen. Selbst die groB-

ten Optimisten sahen, wenn nicht ein Lynchgerieht, so doch mindestens

einen Spaziergang zurn Polizeipriisidium voraus, nachdem man vor den

Konsequenzen des "edlen Zoms der Menge" bewahrt worden wire. Das

Korreferat erregte zwar gewaltige Verwunderung, wurde aber aufmerk-

sam angehlSr t. Nachdem einmal der Bann gebrochen war, wurde es

rasch, aber methodisch, seinem revolutioniiren SchiuB zugefiihrt. Die

Alternat ive: "Seid ihr armen Teufel von Sarden fii r einen Block mit

den Herren aus Sardinien, die euch ruiniert haben und die ortlichen

Statthalter der kapitalistischen Ausbeutung sind, oder seid ihr fiir einen

Block mit den revolutioniiren Arbeitern des Festlands, die jegliche Aus-

beutung abschafJen und aIle Unterdruckten befreien wollen?" - diese

Alternative wurde den Anwesenden eingehimmert. Die getrennte Ab-

stimmung wurde ein ungeheurer Erfolg: auf der einen Seite ein Grilpp-

chen von auffnllend gekleideten Damen, von Beamten im Zylinder, vor

Wut und Angst fahlen Geschifts leuten neost einigen vierzig Polizei-

spitzeln, die der allgemeinen Zustimmung den letzten SchlifJ geben

sollten, und auf der andern Seite die ganze Schar der armen Teufel und

der Frauchen im Feiertagsgewand rings urn den kleinen kommunisti-

schen Kern. Eine Stunde spater wurde im Gewerkschaftshaus der Sa",

dische Sozialistische Bildungskreis mit 25 6 Mitgliedern gegrilndet; die

Grilndung des "Jungen Sardinien" WlUrdeauf unbestimmte Zeit vertagt

und fand niemals statt,

Dies war die politische Basis fiir die Aktion, die unter den Soldaten

der fast vollstindig aus Sarden zusammengesetzten Brigade Sassari

172

durchgefiihrt wurde. Die Brigade Sassari war an der Unterdriickung der

Turiner Aufstandsbew~ng vom August 1917 beteil igt gewesen; man

war sicher, daB sie sich niemals mit den Arbeitern verbrudern wiirde,

weil ja jede Unterdriickung HaBgefiihle hinterli8t, die sichin der Menge

auch gegen die Unterdriickungswerkzeuge richten und in den Regimen-

tern durch die Erinnerung an die unter den SchusseDder Aufstindischen

gefaUenen Soldaten genihrt werden. Die Brigade wurde von einer Menge

Herren und Damen empfangen, die den Soldaten Blumen, Zigarren und

Obst schenkten. Kennzeichnend fiir die Mentalitit der Soldaten ist fol-

gender Bericht eines Gerbereia~beiters aus Sassari , der zu den ersten,

versuchsweise vorgeschickten Propagandatrupps geMrte: "Ich nlihertemich einem Biwak auf der Piazza X (die sardischen Soldaten biwakierten

in den ersten Tagen unter freiem Himmel wie in einer eroberten Stadt)

und begann ein Gespriich mit einem jungen Bauem, der mich freundlich

begrilBt hatte , weil ich, wie er selbst , aus Sassari stammte. ,Wozu seid

ihr nach Turin gekommen?' ,Um auf die Herren zu schie8en, die bier

streiken. ' ,Aber die Streikenden sind keine Herren, sie sind Arbeiter

und anne Teufel .' ,Hier sind aUe Herren, sie t ragen aUe Kragen und

Schlips. Sie verdienen 30 Lire tiglich. Ich kenne anne Teufel und wei8,

wie sie gekleidet sind. In Sassari, ja, da gibt es viele arme Teufel; wir

Erdarbeiter sind aUearm und verdienen 1,50 Uiglich.' ,Aber ich bin auch

Arbei ter und bin arm.' ,Du bist ann, weil du aus Sardinien bist ,' ,Aber

wenn ich mi t den anderen streike, wirst du dann auf mich schie8en?'

D~ Soldat dachte einen Augenblick nach, dann legte er mir eine Hand

auf die Schulter und sagle: ,H6re, wenn du mit den andem streikst,

bleib zu Hause!'"Das war der Geist der uberwiegenden Mehrheit der Brigade, der nur

ganz wenige Bergarbeiter aus dem Revier von Iglesias angeharten. Unddoch wurde die Brigade nach wenigen Monaten, am Vorabend des Ge-

neralstreiks vom 20. und 21. Juli, aus Turin abgezogen. Die llteren Sol-

daten wurden entlassen, und der Verband wurde in drei Teile auf-

getei ll Ein Drittel wurde nach Aosta, ein Drittel nach Triest uad ein

Drittel nach Rom verlegt. Der Abzug der Brigade erfolgte ganz plDtz-

lich, mitten in der Nachl Keine elegante Menge bejubelte sie auf dem

Bahnhof. Ihre Lieder klangen zwar noch immer kriegerisch, hatteD aber

nicht mehr denselben Inhalt wie bei der Ankunfl

Sind diese Vorfille ohne Folgen geblieben? Nein, sie haben Ergeb-

nisse gezeitigt, die noch heute in der Tiefe der Volksmassen weiter wir--

ken. Sie haben fur einen Augenblick ein Licht entzundet in KDpfen, die

nie in dieser Richtung gedacht hatten und die doch beeindruckt und

grilndlich umgefonnt worden sind. Unsere Archive sind zerstreut wor-

173

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den; viele Papiere haben wir selbst vernichtet, urn keine Verhaftungen

und Verfolgungen hervonurufen. Aber wir erinnern uns an Dutzende

und Hunderte von Briefen, die aus Sardinien bei der Turiner Hedak-

tion des "Avanti" eingingen; es waren oft Gemeinschaftsbriefe, und oft

waren sie von allen ehemaligen Angehorigen der Brigade Sassari aus

einem bestimmten Dorf unteneichnet. Auf unkontrollierten und unkon-

trolIierbaren Wegen griff die von uns verfochtene poli tisehe Haltung

urn sich. Die Bildung der Sardischen Aktionspar lei wurde dadurch in

der. Basis star~ beeinflnfh, und man konnte in diesem Zusammenhang

an Interessante und bedeutungsvolle Episoden erinnem.

Die letzte dolwmentierte Auswirkung dieser Aktion stammt aus dem

Jahre 1922, als 300 Karabinieri der Cagl iari-Legion zu dem gleichenZweck wie einst die Brigade Sassari nach Turin gesehickt wurden. Die

Redaktion des "Ordine Nuovo" erhielt damals eine von einem sehr

groBen Teil dieser Karabinieri unteneichnete Prinzipienerkliirung, in

der unsere Auffassung der siiditalienischen Frage ihren Widerhall fand

und die die entscheidende Probe auf die Richtigkeit unsererOrientierungwar.

Das Proletariat muBte sich in dieser Richtong orientieren, urn ihr

poli tische Wirkungskraft zu verleihen; das versteht sich von selbst .

Keine Massenaktion ist moglieh, wenn die Masse selbst nicht iibeneugt

ist von den Zielen, die sie erreichen wil l, und von den anzuwendenden

Methoden. Urn als Klasse herrschen zu konnen, muB das Proletariat

aile ziinftlerischen Uberreste, aile Vorurteile oder Einschliige syndikalisti-

scher Art abstreifen. Was bedeutet dies? Es bedeutet, daB nieht nur die

zwischen den einzelnen Berufen bestehenden Unterschiede iiberwunden

werden miissen, sondem daB die Arbeiterklasse, urn das Vertrauen und

die Billigung ihrer Haltung durch die Bauem und gcwisse halbproletari-

sche Schichten der stiidtischen Bevolkerung zu gewinnen, manche Vor-

urteile und egoistische Tendenzen iiberwinden muB, die in ihr bestehen

konnen und tatsiichlich bestehen, auch wenn der' Berufspartikularismus

in ihren eigenen Reihen verschwunden ist, Der Metallarbeiter, der Holz-

arbeiter, der Bauarbeiter usw. miissen nieht mehr nur als Proletarier

als Metallarbeiter, als Holzarbeiter, als Bauarbeiter usw. denken, son-

dem sie miissen noch einen Schr it t weitergehen. Sie miissen als Mit-

glieder einer Klasse denken, die die Bauem und die IntelIektuellen

fiihren will, einer Klasse, die nur dann siegen und den Sozialismus auf-

bauen kann, wenn die groBe Mehrhe~ dieser sozialen Schichtell sie

unterst ii tzt und ihr folgL Wenn das nicht erreicht wird, wird das Pro-

letariat nicht die fiihrende Klasse, und diese Schichten, die in Italien die

174

Mehrheit der Bevolkerung bilden, bleiben unter biirgerlicher Fuhrung

und ermogliehen es dem Staat, dem Ansturm des Proletariats stand-

zuhalten und ihn zu brechen.

Nun, das, was in der Frage des Si idens gesehehen ist , beweist, daB

das Proletariat diese seine Pfliehten verstanden hat. Zwei Vorfiille sind

hier zu erwiihnen. Der eine hat sich in Turin abgespielt, der andere in

Reggio Emilia. also in der Hochburg des Reformismus, des Korporativis-

mus, des Klassenegoismus der Arbeiterschaft . wie zum 'Beispiel die

Meridionalisten" ihn in ihrer Propaganda unter den Bauem des Sudens"aufweisen.

NaCh der Besetzung der Fabriken machte die Direktion der Fiat-

Werke den Arbei tem den Vorsmlag. den Betrieb in genossensehaft-

Iicher Form wiederaufzunehmen. Die Reformisten waren natiirlich da-

fiir. Es drohte eine Wirtschaftskrise. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit

iingstigte dieArbeiterfamilien. Wenn dieFiat-Werke ein genossenschaft-

Iicher Betrieb wurden, hiitte von der Belegschaft und besonders von den

politisch aktiveren Arbeitem, die uberzeugt waren, daB sie auf der Ent-

lassungslisle standen, eine gewisse Sicherheit in bezug auf ihre SteUung

erreicht werden konnen.

Die unter kommunistischer Flihrung stehende sozialistische Sektion

griff energisch in die Frage ein. Den Arbeitem wurde gesagt: Ein groBer

Betrieb wie die Fiat-Werke kann von den Arbeitem als Genossenschaft

nur iibemommen werden, wenn diese gewill t s ind. sieh in das System

der biirgerlichen politischen Kriifte. das heute Italien beherrscht, ein-

zuordnen. Der Vorschlag der Fiat-Direktion l iiuft auf die pol it ische

Konzeptio~ Giolittis hinaus. Worin besteht diese Konzeption? Schon

vor dem Kriege konnte die Bourgeoisie nieht mehr ungestort regieren.

Der Aufstand der sizilischen Bauem im Jahre 1894 und der Maili inderAufstand von 1898. waren das ezpenmentum crucis der italienischen

Bourgeoisie. Nach dem.blutigen Jahrzehnt von 1890 bis 1900 muBte die

Bourgeoisie auf eine allzu exklusive, allzu gewaltsame, a l Jzu unmittel-

bare Diktatur verzichten; denn die Bauern des SQdens und die Arbeiter

des Nordens erhoben aich SleichuitiS. wenn auch nieht koordiniert,

gegeo sie. 1m Degen Jahrhundert leitete die herrschende Klasse eine

neue Poli tik ein, eine Poli tik der Klasseabundnisse, dee pol it iseheo

Blockbildungen unter den Klassen. das heiBt die Poli tik der burger-

lichen Demokratie. Sie hatte die Wahl: entweder eine auf das flame

Land orientierte Demokratie, das heiBt ein Biindnis mit den Bauem des

SQdens, eioe Politik der ZoWreiheit, des allgemeinen Wahlrechts, der

Dezentralisierung der Verwaltung. der niedrigen Preise fur Industrie-

produkte, oder eio Industriebloek der Kapi talisten und der Arbei ter-

175

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klasse, ohne allgemeines Wahlrecht, mit SchutzzoIlen, mit Beibehaltung

der Zentralisierung des Staates (was die Herrschaft der Bourgeoisie Uber

die Bauem, speziell im Suden und auf den Inseln ausdrUckte), mit einer

Politik der Reformen in bezug auf die Lohne und die gewerkschaftlichen

Freiheiten. Sie entschied sich nieht zufil lig fUr diese zweite Lesung;

Giolitti verkorperte die Herrschaft der Bourgeoisie, die Sozialistische

Partei wurde das Instrument seiner Politik. Wenn man genau zusieht, so

vollzogen sich in dem Jahrzehnt von 1900 bis 1910 tiefgreifende Krisen

in der soe ia l i s t igchen Bewegung und der Arbeiterschaft: Die Masse rea-

gierte spontan gegen die Politik der refonnistischen FUhrer. Es entstand

der Syndikalismus, der der instinktive, elementare, primitive, aber ge-

sunde Ausdruck der Reaktion der Arbeiterschaft gegen den Block mit

der Bourgeoisie und fUreinen Block mit den Bauern, in erster Linie mit

den Bauern de. Sadens, ist. Genauer gesagt, ist der Syndikalismus sogar

in gewissem Sinne ein schwacher Versuch der von ihren fortsehrittliehe-

ren Intellektuellen vertretenen Bauem des SUdens, die FUhrung Uber

das Proletariat zu gewinnen. Wer bildet den fUhrenden Kern. des italieni-

schen Syndikalismus? Was ist c1asideologische Wesen des italienischen

Syndikalismus? Der fUhrende Kem des Syndikalismus besteht fast aus-

schlieBlich aus SUditalienem: Labriola, Leone, Longobardi, O,ano. Das

Wesen der Ideologie des Syndikalismus ist ein neuer Liberalismus, der

energischer, aggressiver, kimpferischer ist als der traditionelle. Wenn

man genauer zusieht, sind eszwei Grundmotive, mit denen die folgenden

Krisen des Syndikalismus und der allmiihliche Ubergang der syndikali-

stischen FUhrer ins bUrgerliche Lager zusammenhingen: die Auswan-

derung und der Freihandel, zwei Motive, die eng mit dem Meridionalis-

mus zusammenhingen. Aus der Tatsache der Auswanderung erwichst

Enrico Corradinis Auffassung der nproletarischen Nation"; der Krieg inLibyen erscheint einer ganzen Schicht von Intellektuellen ais der Be-

ginn der Offensive der "groBen proletarischen Nation" gegen die Welt

des Kapitalismus und der Plutokratie. Eine ganze Gruppe von Syndi-

kalisten geht zum Nationali llmus aber, oder vielmehr die Par tei der

Nationalisten wird urspriinglich von ehemals syndikalistischen Intellek-

tuellen gebildet (Monicelli, Forges-Davanzati, Maraviglia). Labriolas

Buch ..Geschichte eines Jahrzehnts" (des Jahrzehnts von 1900 bis 1910)

ist der typischste und charakteristischste Ausdruck dieses gegen Giolitti

gerichteten sUdlichen Neoliberalismus.

In diesen zehn Jahren erstarkt und entwickelt sich der Kapitalismus

und konzentriert einen Teil seiner Energien au f die Landwirtschaft der

Poebene. Der kennzeichnendste Zug dieser zehn Jahre sind die Massen-

streiks der Landarbeiter der Poebene. Unter den Bauem des Nordens

176

vollzieht sich eine tiefgreifende Umwilzung; es kommt zu einer starken

Klassendifferenzierung (die Zahl der Tagelohner steigt gemiB der Volks-

ziihlung von 1911 um 50 Prozent) , und ihr entspricht eine Umfonnung

der politischen Stromungen und der geistigen Haltung. Die christliche

Demokratie und der Mussolinismus sind die beiden bemerkenswertesten

Ergebnisse der Epoche: Die Romagna wird zum Priifstein fii r diese

beiden neuen Richtungen; der Tagelohner scheint die soziale Haupt-

person im politischen Kampf geworden zu sein. Die soziale Demokratie

in ihren links orientierten Organen (die "Azione" aus Cesena) und auch

der Mussolinismus geraten schnell unter den EinOuB der "Meridionali-

sten". Die "Azione" aus Cesena ist eine Bezirksausgabe der "UnitA'"

Gaetano Salveminis. Der von Mussolini geleitete "Avanti" wird langsam,

aber sicher zu einem Tummelplatz fUr die syndikalist ischen und meri-

dionalistischen Schriftsteller. Fancello, Lanzillo, Panunzio und Ciccotti

werden seine stiindigen'Mitarbeiter. Salvemini selbst Macht keinen Hehl

aus seinen Sympathien fiir Mussolini, der auch ein Liebling von Prezzo-

linis"Voce" wird. Jedermann erinnert sichnoch, daBMussolini, als eraus

dem "Avanti" und aus der Sozialistischen Partei aussehied, inWirklichkeit

von dieser Kohorte von Syndikalisten und Meridionalisten umgeben war.

Die bemerkenswerteste Auswirkung dieser Periode im revolutioniiren

Lager ist die Rote Wochevom Juni 1914; die Romagna und die Marken

sind das Zentrum der Roten Woche. 1m Lager der biirgerlichen Polit ik

ist die bemerkenswerteste AQswirkung der Gentiloni-Vertrag. Da die

Sozialistische Partei unter der Einwirkung der lindlichen Bewegungen

in der Poebene seit1910 zurTaktik der Unversohnlichkeit zuriickgekehrt

war, verliert der von Giolitti gestiitzte und repriisentierte Industrieblodt

seine Schlagkraft. Giolit ti n immt eine Schwenlwng vor. An die Stelle

des BUndnisses zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklas88 trittdas Biindnis zwischen der Bourgeoisie und den Kathol iken, die die

Bauernmassen Nord- und Mittelitaliens vertreten. Durch dieses Bund-

nis wird die konservative Partei Sonninos vollig vernichtet. Nur in Sad-

ita lien erhil t s ich eine sehr kleine Gruppe um Antonio Salandra. Wiih-

rend des Krieges und in der Nachkriegszeit kommt es zu einer Reihe

-von au.8erordentlich wichtigen Umschichtungsprozessen innerhalb der

Bourgeoisie. Salandra und Nitti waren die ersten heiden Retrierungs-

chefs aus dem Siiden (abgesehen natiil"lichvon den Sizilianem wieCrispi,

-der der tatkriftigste Vertreter der biirgerlichen Diktatur im 19. Jahr-

hundert war). Sie suchten den Block der Industr iebourgeoisie mit den

Agrariern des Siidens zu verwirklichen, Salandra auf konservativem

Boden, Nitti auf demokratischem (unterstiitzt wurden sie beide tatkrif-

t ig vom "Corriere della Sera", das heiBt von der lombardischen Textil-

(

I

, I

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industrie). Schon wiihrend des Krieges suchte Salandra die technischen

Kriifte der staatlichen Organisation zugunsten des Siidens auszuweeh-

seln, suchte er die Giolitt i ergehenen Beamten durch neues Personal zu

ersetzen, das den neuen politischen Kurs der Bourgeoisie verkdrpem

sollte. Erinnert euch an die Kampagne, die die "Stampa" hesonders in

den Jahren 1917 und 1918 fiir eine enge Zusammenarheit zwischen den

Anhiingern Giolittis und den Sozialisten fiihrte, um die "Apulisierung"

des Staates zu verhindern. Diese Kampagne der "Stampa" wurde von

Francesco Ci~cotti geleitet, das hei8t, sie war faktiseh ein Ausdruck des

zwischen Giolitt i und den Reformisten hestehenden Abkommens. Es

ging um einen nicht geringen Einsatz, und die Anhiinger Giolitt is he-gannen schlie8lich in ihrer erhitterten Verteidigung die einer Partei der

Gro8hoorgeoisie gesteckten Grenzen zu uherschreiten; sie gingen his

zu jenen antipatriotischen und defiitistischen Manifestationen. an die

wir uns aIle noch erinnem. Heute ist Gioli tti abermals an der Macht,

ahermals vertraut die Gr08hourgeoisie sich ihm an, weil sie angesichts

der sti irmischen Bewegung der Volksmassen von panischer Furcht ere

fii lI t ist , Giolit ti will die Turiner Arbeiter zli .hmen. Zweimal hat er sie

geschlagen, hei dem Streik vom vergangenen April und hei der Beset-

zung der Fabriken, heide Male mit Hille des Allgemeinen Gewerkschafts·

hundes, das heiBt mit Hille des' korporativen Reformismus. Er glauht

die Stunde gekommen, wo er die Arbeiter in das hi irger liche Staats-

system eingliedem kann. In der Tat, was wird geschehen, wenn die

Fiat-Belegsehalt die Vorsrhliige der Direktion annimmt? Die gegen-

wiirt igen Industr ieaktien wurden Ohligationen werden, das heiSt, die

Genossenschaft mii8te den Ohligationsinhabem unabhiingig vom Um-

satz eine feste Dividende zahlen. Die Fiat-Betriehe wiirden auf jede

Weise von den Kreditinstituten geschrOpft werden, die in der Hand derBourgeoisie hleihen wiirden, in deren Interesse es liegt, sich die Arheiter

gefiigig zu Machen. Die Belegschaft mii8te sich wohl oder iihel an den

Staat hal ten, der "den Arhei tem zu Hille kommen" wiirde, niimlich

durch die Arheiterabgeordneten, durch die Unterordnung der politischen

Partei der Arheiterschaft unter die Regierungspolitik. Das ist Giolittis

Plan in voller Aktion. Das Turiner Proletariat wiirde nicht mehr als un-

ahhiingige Klasse existieren, sondem nur als ein Anhiingsel des burger-

lichen Staates. Das Klassenziinftlertum hiitte triumphiert, aber das Pro-

letariat hli tte seine Stellung und seine Aufgahe als Leiter und Fiihrer

eingehiiBt; es wiirde den Massen der iirmeren Arheiter als privilegiert

und den Bauem als ein Ausheuter vom gleichen Schlage wie die Bour-

geoisie erscheinen, weil die Bourgeoisie, wie sie es immer getan hat, den

Bauel'Jlmassen die privilegierten Arheitergruppen als die einzige Ur-

178

sache ihrer Leiden und ihres Elends darstellen wiirde.

Die Fiat-Belegschaft akzeptierte unseren Standpunkt fast einmiitig,

und die Vorschliige der Direktion wurden abgelehnt. Aher dieser Ver·

such konnte nicht der letzte sein. Das Turiner Proletariat hatte in einer

ganzen Reihe von Akt ionen hewiesen, daB es einen sehr hohen Grad

polit ischer Reife und Fahigkeit erreicht hatte . Die Techniker und die

Betriehsangestellten konnten 1919 ihre Lage nur verbessem, weil sie

von den Arheitem unterstiitzt wurden. Urn die Agitation der Techniker

zu unterhinden, srhlugen die Untemehmer den Arheitern vor, sich selhst

neue Schicht- und AbteiluIl6sleiter zu wahlen. Die Arheiter lehnten den

Vorsrhlag ab, ohwohl sie geniigend Griinde zum Konflikt mit den Tech-

nikem hatten, die stets in den Handen der Untemehmer ein Werkzeug

der Bedriickung und Verfolgung gewesen waren. Damals entfesselten

die Zeitungen eine wiitende Kampagne, um die Techniker zu isolieren,

indem sie deren hohe Gehiilter, die his zu 7000 Lire monatlich hetrugen,

in den Vordergrund riickten. Die Facharheiter unterstiitzten die Agita-

tion der Hilfsarheiter, denen es nur so gelang, sichdurchzusetzen. Inner-

halh der Fabriken wurden aIle Privilegien und Vorteile, die die qua l i f i -

zierteren Kategorien zum Nachteil der weniger qualifizierten genossen,

abgeschaflt, Durch diese Aktionen erwarh die proletarische Vorhut sich

ihre soziale Vormachtstellung; auf dieser Basis entwickelte sich die Kom-

munistische Partei in Turin. Aber au8erhalb Turins? Nun, wir wollten

die Frage absichtlich stellen, und zwar gerade in hezug auf Reggio

Emilia, wo der Reformismus und das Klassenziinftlertum am stiirksten

konzentriert waren.

Reggio Emilia war stets die Zielscheihe der "Meridionalisten" ge-

wesen. Wenn Camillo Prampolini einmal sagte: "Italien ist in Nordlan-

der und Sudlander geteilt", so war dies gewissermal3en der priignan-teste Ausdruck des wutenden Hasses, der unter den Siiditalienem gegen

die Arheiter des Nordens herrschte . In Reggio Emilia lag das Prohlem

ahnlieh wie in den Fiat-Werken. Ein Gr08hetrieh sollte als genossen-

schaft licher Bet rieh in die Hande der Arheiter uhergehen. Die orts-

ansiissigen Reformisten waren hegeistert iiher das Ereignis und posaun-

ten es in ihren Zeitungen und in ihren Versammlungen in die Welt

hinaus, Ein Turiner Kommunist· hegab sich nach Reggio, ergrifJ in der

Betriehsversammlung das .Wort, verhreite te sieh iiher den gesamten

Komplex der Frage des Nordens und Siidens, und es geschah ein "Wun·

der": Die Arheiter lehnten mit iiherwiiltigender Mehrheit die reformisti-

sche und ziinftlerische These ab. Es erwies sich, daS die Reformisten

nicht den Geist der Arheiter von Reggio verkdrperten; sie verklirperten

nur ihre Passivitiit und andere negative Zuge. Auf Grund der hemerkens-

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werten Konzentration von Organisatoren und Propagandisten in ihren

Reihen, die uber eine gewisse berufsmaBige Tuchtigkeit verfugten, war

es ihnen gelungen, ein polit isches Monopol zu schafJen und auf diese

Weise die Entwicklung und Organisation einer revolutionaren Stro-

mung zu verhindem; aber die Anwesenheit eines flihigen Revolutionlirs

genugte, sie matt zu setzen und an den Tag zu bringen, daB die.Arbei-

ter von Reggio tapfere Kampfer sind und nieht mit Regierungsfuttergemlistete Sehweine.

Im April 1921 wurden 5000 revolutionare Arbeiter von den Fiat-

Werken entlassen, die Betriebsrilte wurden abgesehafJt und die Real-

lohne gesenkt. In Reggio Emilia gesehah vermutlieh etwas XhnIirhes.

Die Arbeiter wurden also gesehlagen. Aber ist das Opfer, das sie gebrarht

hatten, vergeblieh gewesen? Wir glauben das nieht, wir sind vielmehr

sirher, daB es nieht vergeblirh gewesen ist. GewiB ist es srhwierig, eine

ganze Reihe graDer Massenereignisse anzufilhren, die die unmittelbare

und bIitzartige Wirksamkeit dieser Aktionen beweisen konnten. Was

Obrigens die Bauem betr iRt, so sind derart ige Feststellungen immer

sehwierig und beinahe unm6gIieh; noeh sehwieriger sind sie hinsirhtIiehder Bauemmassen des Sildens.

Der Si lden kann als ein Gebiet des weitgehenden sozialen Ausein-

anderfallens bezeirhnet werden; die Bauern, die die ~oBe Mehrheit sei-

ner Bevolkerung bilden, haben keinerlei Zusammenhang untereinander

(sf!lbstvel'StlindIirh gibt es Ausnahmen, wie ApuIien, Sardinien und Si-

ziI ien, die im ~oBen Rahmen der Struktur des Sudens ihre besonderen

Merkmale aufweisen). Die Gesellsehaft des Sndens ist ein graBer agrari-

srher Block, der sieh aus drei sozialen Schiehten zusammensetzt: der

groBen gestaltIosen und zusammenhanglosen Bauernmasse, den In-

teIIektueIIen aus der kleinen und mittleren Dorfbourgeoisie sowie denGro8grundbesi tzem und den gra8en InteIIektueIIen. Die Bauem des

Sildens befinden sieh in st lindiger Glirung, aber als Masse s ind sie un-

flihig, ihren Bestrebungen und ihren N6ten einen zentralisierten Aus-

druck zu verleihen. Die Mittelsrhieht der InteUektuenen erhlilt von der

bli~er)j~en Basis die I~puIse filr ihre poIitische und ideologisehe Tlitig-

kelt. DIe Gro8grundbesltzer und die gra8en Intellektuellen zentraIisie-

ren und beherrsehen in letzter Instanz diesen ganzen Komplex von Wil-

lensAuDerungen auf politisehem beziehungsweise ideologisehem Gebiet.

Auf ideologisehem Gebiet ist diese Zentralisierung naturgemli8 wirk-

samer und prilziser. Daher nehmen MAnner wie Giustino Fortunato

und Benedetto Croce sozusagen die SchlQsselstellung im System des

SOdens ein. In einem gewissen Sinne sind sie die beiden ~68ten Fi -guren der italienisehen Reaktion.

180

Die InteIIektueIIen des Sudens sind eine der interessanteslen und

wirhtigsten sozialen Srhirhten im nationalen Leben Italiens. Urn das

einzusehen, braueht man nur daran zu denken, daB mehr als drei Ftinf-

tel der staat liehen Burokratie aus Suditalienem bestehen. Urn nun die

besondere Psyehologie der InteIIektueIlen des Sudens zu verstehen,

muB man sieh einige Tatsaehen gegenwartig haIten:

1.In allen Lsndern ist die Sehieht der InteIIektueIlen durch die Ent-

wicklung des Kapitalismus tiefgreifend umgestnltet worden. Der In-

telIektueIIe al ten Typs war das organisierende Element einer Gesell-

sehaft, deren Basis vorwiegend aus Bauern und Handwerkem bestand;

urn den Staat zu organisieren, urn den Handel zu organisieren, zuehtete

die herrsrhende Klasse einen hesonderen Typus des Intellektuellen. Die

Industrie hat einen neuen Typus des InteIIektueIIen gesrhafJen, den tech-

nischen Organisator, den Spezialisten der angewandten Wissensrhaft.

II I den GeseIIsrhaften, in denen sieh die okonomisrhen Kriifle im kapita-

Iistisehen Sinne bis zur Aufsaugung des groBten Teils der nationalen

Energien entwickelt haben, hat dieser zweite Typus des InteIlektueIIen

mit dem ihm eigenen Sinn fur Ordnung und Disziplin die Oherhand ge-

wonnen. In den Landern dagegen, in denen die Landwirtschaft noch

cine bemerkenswerte oder geradezu vorherrsrhende Rolle spielt, uber-

wiegt naeh wie vor der alteTypus; er stellt den groBten Teil der Beamten-

sehaft und iibt im lokalen MaBstah, auf dem Dorf und in der Land-

gemeinde, die Funkt ion des Vermit tlers zwischen dem Bauern und der

Verwaltung im allgemeinen aus. In St lditalien herrseht dieser Typus

mit all seinen charakteristisehen Merkmalen vor. Er ist demokratiseh

gegenuber den Bauern und reaktionlir in seiner Haltung gegeniiber dem

Grol3grundbesi tzer und der Regierung, er ist poIi tiseher Geschii fte-

macher, korrupt und unehrlich. Die traditionelle Erscheinung der politi-sehen Parteien des Siidens bliehe unverstandlich, wenn man sich nicht

den Charakter diescr sozialen Sehieht vergegenwartigte,

2. Der Intellektuelle des Sudens stammt vorwiegend aus einer Klasse,

die im Sllden noch eine groBe Rolle spielt, namlieh aus der Dorfbourgeoi-

sie. Es sind dies die kIeinen und mittleren Grundhesitzer, die keine Bauem

sind, die ihr Land nieht bearbeiten, die sichdessen sogar srhlimen wiir-

den, die aber aus dem wenigen ihnen gehOrenden Land, das sie in Paeht

oder Halbpacht gegeben haben, so viel Nutzen ziehen wollen, daB sie

standesgemliB leben, ihre Sohne auf die Universitiit oder ins Priester-

seminar schicken und ihren Tochtem, die einon Offizier oder einen

Staatsbeamten heiraten sollen, eine entsprechende Mitgift gehen kon-

nen. Von dieser Schieht ubemehmen die InteIlektueIlen eine heftige

Abneigung gegen den werktatigen Bauem, der als Arheitstier hetrachtet

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wird, das bis auf die Knochen ausgesaugt werden muB und infolge der

Ubervolkerung leicht ersetzt werden kann. Daher stammt auch das

atavistische und instinktive Gefiihl torichter Furcht vor dem Bauern und

seiner Neigung 2lU gewaltsamen Zerstonmgen, woraus eine gewohn-

heitsmiiBige raffinierte Heuchelei und eine ganz besonders raffinierte

Kunst stammen, die Bauernmassen zu betriigen und im Zaum zuhalten.

3. Da zu der sozialen Gruppe der Intellektuellen auch die Geistlichkeit

gehOrt, muB a!lf die Wesensverschiedenheiten zwischen der Geistlichkeit

des Siidens in ihrer Gesamtheit und der Geistlichkeit des Nordens hin-

gewiesen werden. 1m Norden ist der Pfarrer gewohnlieh der Sohn eines

Handwerkers oder eines Bauern; er hat demokratische Neigungen und

ist mehr mit der Masse der Bauern verbunden; moralisch ist er sauberer

als der Plarrer im Silden, der hiiufig beinahe ofTenmit einer Frau zu-

sammenlebt, und er iibt daher sein geistliches Amt in sozialer Hinsieht

vol lkommener aus, das heiBt , er hat maBgeblichen EinfluB auf die ge-

samte Tiitigkeit der Famil ien. 1m Norden ist die Trenmmg der Kirche

vom Staat und die Enteignung des Kirchenvermogens radikaler gewesen

als im Siiden, wo die Plarren und Kloster betriichtliche Immobilien und

Mobilien gerettet oder wiedergewonn~n haben. Im Siiden erscheint der

Plarrer dem Bauem a) als Gu tsverwa lter, mit dem der Bauer in der

Pachtfrage in KonOikt geri it, b) als Wucherer, der enorme Zinsen ver-

langt und das religiose Moment ins TrefTen fiihrt, urn die Pachtgebilhren

oder dieWucherzinsen mit Sicherheit einzutreiben, und c)als ein Mensch,

der den gewohnlichen Leidenschaften (Frauen und Geld) unterworfen

ist und daher als Geistlicher keinerlei Vertrauen hinsichtlich Verschwie-

genhei t und Unpar teil ichkei t einfl5Bl Die Religion spielt daher hum

eine fiihrende Rolle, und wenn der Bauer des Siidens auch aberglaubischim heidnischen Sinne ist, so ist er doch nicht klerikal. So erkliirt es sich,

daB die Volkspartei im Silden (mit Ausnahme einiger Gebiete Siziliens)

keine bemerkenswerte Stellung einnimmt und niemals i iber ein Netz

von Masseneinrichtungen und Massenorganisationen verfiigt hal Die

Einstellung des Bauem gegeniiber der Geistl ichkeit laBt sich in dem

Volkswort zusammenfassen: "Der Plarrer ist Pfarrer am Altar, drau8en

ist er ein Mens«;hwie aile anderen."

Der Bauer des Si idens is t mit dem GroBgrundbesitzer durch den In-

tellektuellen verbunden. Die Bew~ngen der Bauern, sofern sie nicht in

autonomen und unabhiingigen Massenorganisationen, sei es auch nur

formal, zusammengefaBt sind (das heiBt fiihig sind, Bauemkader b1iuer-

Iicher Herkunft zu wiihlen und die in der Bewegung verwirklichten

DifTerenzierungen und Fortschritte festzuhalten und auszubauen), wer-

182

den schlieBlich immer in den gewohnlichen Instanzen des Staats-

apparats - den Gemeinden, Provinzen, der Abgeordnetenkammer -

beigelegt, und zwar durch Vereinbarungen beziehungsweise Gruppen-

bildungen innerhalb der ortl ichen Parteien, deren Personal sich zwar

aus Intellektuellen zusammensetzt, die aber von den GroBgrundbesit-

zem und ihren Vertrauensleuten, wie Salandra, Orlando oder di Cesaro,

beherrscht werden. Der Krieg schien in diesen Organisationstypus ein

neues Element einzufiihren mit der Bewegung der ehemaligen Front-.

kiimpfer, in der die Soldaten biiuerl icher Herkunft und die Off iziere

intellektueller Herkunft einen geschlossenen Block bildeten, der in einem

gewissen Grade im Gegensatz zu den GroBgrundbesi tzem stand. Das

dauerte nicht lange, und der letzte Uberrest davon ist die von Amendola

gegriindete Nationale Union, die auf Grund ihres Antifllschismus eine

Scheinexistenz fiihrt. Immerhin muB angesichts des Fehlens jeglicher

Tradition hinsichtlich einer ausgesprochenen Organisation der demo-

kratischen Intellektuellen im Siiden auch diese Gruppe hervorgehoben

und beachtet werden, weil sie bei einer allgemeinen Veri inderung der

poli tischen Situat ion sozusagen aus einem diinnen Wasserstrahl zu

einem triiben Strom anschwellen kannte. Das einzige Gebiet, in dem die

Bewegung der ehemaligen Frontkiimpfer schiirfere Umrisse angenommen

hat und sich eine festere soziale Basis hat schafTenk5nnen, ist Sardinien.

Das ist verstiindlich, weil gerade in Sardinien die Klasse der GroBgrund-

besi tzer sehr schwach ist , hum eine Rolle spielt und nicht die alten Tra-

ditionen des festliindischen Siidens in bezug auf Kuhur, geistiges Leben

und Regierungsbeteiligung besitzt. Der von den Massen der Bauem und

Hirten ausgeiibte Druck von unten stoBt in der sozialen Oberschicht dell

GroBgrundbesitzer nicht auf eine erdriickende Gegenwirkung: die ffib-

renden Intellektuellen bekommen ihn voll zu spiiren und machen daherbemerkenswertere Schritte nach vorwiirts als die Nationale Union. Die

Situation in Sizilien unterscheidet sich sehr wesentlich von der in Sar-

dinien und im festliindischen Siiden. Die GroBgrundbesitzer treten hier

viel geschlossener und energischer auf als im fest liindischen Suden,

AuBerdem gibt es bier eine gewisse Industrie und einen stark entwickel-

ten Handel (Sizilien ist das reichste Gebiet des ganzen Siidens und eins

der reichsten in ganz ltalien). Die Oberklassen sind sich ihrer Bedeutung

fil r das nationals Leben sebr bewuBt und bringen sie zur Geltung. Si-

zilien und Piemont sind die beiden Gebiete, die dem italienischen Staat

die groBte Anzahl fiihrender Politiker gesteUt und seit 1870 eine fiber-

ragende Rolle gespielt baben. Die sizilischen Volksmassen sind fort -

schrittlicher als die des sfidlichen Festlands, aber ihr Fortschritt hat eine

typisch sizilische Form angenommen. Es gibt einen sizilischen Massen-

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sozialismus, der iiber seine besondere Tradition und Entwicklung ver-

fiigt. In del ' Kammer von 1922 war er durm etwa 20 Abgeordnete unter

den 52 auf del ' Insel gewihlten Abgeordneten vertreten.

Wir haben gesagt. da8 del' Bauer des Siidens mit dem Gr08grund-

besitzer durch den Intellektuellen verbunden ist. Diesel' Organisations-

typus ist del' im ganzen festlandisrhen Si lden und in Sizil ien am mei-

sten verbreitete. Er schafft einen gewaltigen Agrarblock, del ' in seiner

Gesamtheit als Vennittler und Aufseher des nordlirhen Kapita]ismus

und del ' groBen Banken fungiert. Sein einziges Ziel ist es, den Status

quo zu erhalten. Innerhalb dieses Blocks gibt es keinerlei Aufklirung,

keinerlei Programm, keiner]ei Drang zu Verbesserungen und Fortsehrit-ten. Wenn irgendwelrhe Ideen und Programme IProklamiert worden

sind, so haben sie ihren Ul'sprung auBerhalb des Siidens gehabt, in iIen

politischen Groppen del' konservativen Agrarier, besonders aus Toscana

die im Parlament den Konservativen des sildlichen Agrarb]ocks ass~

ziiert waren. Sonnino und Franchetti gehOrten zu den wenigen einsich-

tigen Bourgeois , die das Problem des Si ldens als nationales Problem

sahen und ein R~e"mgsprogramm fOr seine Losung entwanen. Von

welehem Gesichtspunkt gingen Sonnino und Franehetti aus? Sie gingen

von del' Notwendigkeit aus, in Siiditalien eine unabhiingige wirtschaft-

liche Mitte]sehieht zu sehaffen, die, wie man damals zu sagen pflegte, als

"offentlirhe Meinung" fungieren und der brutalen WillkOr del' Grund-

besitzer einerseits wie der Aufsllssigkeit der. annen Bauem anderseits

Zilgel an]egen soUte. Sonnino und Franehett i waren tief ersehrocken

fiber die Popu]aritllt, die die Ideen des Bakunismus aus der Zeit der

I. Internationale im Silden genossen. Diesel' Schrecken ]ieB Ii" oft in

groteske Irrtiimer verfallen. In einer ihrer Zeitsrhriften wird zum Bei-spiel darauf hingewiesen, daB ein vielbesurhtes Wirtshaus odeI' Restau-

rant in einem Done Kalabriens (wir zitieren naeh dem Gedaehtnis) sich

"scioperanti" [Zu den Streikenden. Die Red .] nenne, womit sie beweisen

wollen, wie verbreitet und wie fest eingewurzel t die Ideen del ' Inter-

nationale dort seien. Wenn das wahl' ist (und angesirhts del ' Gewissen-

haftigkeit del' Autoren mu8 man es wohl als wahl' unterstelIen) so

erklii rt es sieh viel einfarher , wenn man daran denkt , da8 es im S~den

zahlreirhe albanisehe Siedlungen gibt und daB das Wort Skipetaren

[Albanier. D ie R ed .] in den Dialekten die sonderbarsten und kuriose-

s ten Entstellungen erfahren hat (so ist zum Beispiel in einigen Doku-

men ten del' Republik Venedig von miIitirisehen "S'ciopeta"-Verbinden

die Rede). Nun waren im Siiden nicht so sehr die Theorien Bakunins

verbreitet; vielmsh- waren die Verhiiltnisse selbst derart, daB sie ver-

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mutlieh Balrunins Theorien nahegelegt hiitten. Sieherlieh darhten die

armen Bauem des Siidens schon viel fruher an den "Zusammenbrurh",

als Bakunin an seine Theorie del' "allgemeinen Zerstdrung" darhte.

Das Regierungsprogramm Sonninos und Franrhettis erreirhte nieht

einmal die ersten Stadien seiner Verwirklirhung und konnte sie auch

nieht erreirhen. Das Verhiiltnis zwischen Norden und Siiden in del' Or-

ganisation del' Vo]kswirtschaft und des Staates ist so besrhafJen, daB die

Entstehung einer weitverbreiteten wirtsrhaftlichen Mittelklasse (was

dann die Entstehung einer weitverbreiteten kapitalistisehen Bourgeoisie

bedeutet) fast unmoll] ieh gemarht wird. Jede Akkumulation von Ka-

pita] an Ort und Stelle und [ede Akkumulation von Erspamissen wird

nnmlSf{li rhf lCmaeht durch das Steuer- und Zollsystem und dureh die

Tatsaehe, daB die kapitalistischen Besitzer del' Wirtschaften ihren Profit

nieht im Siiden in neues Kapital umwandeln, weil sie nieht aus dem

Siiden stammen, Ais die Auswanderung im 20 . Jahrhundert die bekann-

ten riesigen AusmaBe annahm und die ersten Geldsendungen aus

Amerika einzutreffen begannen, triumphierten die liberalen National-

okonomen: Del'Traum Sonninos gehe in Erfiillung. 1m Siiden vollziehe

sieh eine stil le Revolution, die langsam, abel' s ieher die ganze okono-

mische und soziale Struktur des Landes veriindem werde . Abel' de l'

Staat griff ein, und die sti lle Revolution wurde im Keim erst ickt . Del'

Staat bot Scltatzanweisungen zu festem ZinsfuB an, und die Auswan-

derer und ihre Famil ien verwandel ten sich aus Agenten del' sti llen Re-

volution in Agenten dCHStaale!!, dic diesem die finnnziellen Mittel zur

Unterstiitzung del' parasitiiren Industrie des Nordens zur Verfiigung

stell ten. Francesco Nitti , der, auf demokratis rher Ebene und fonnell

auBerhalb des siidlichen Agrarblocks stehend, als aktiver Verwirklicher

von Sonninos Programm erscheinen konnte, wurde jedoch del ' bes te

Agent des ndrdliehen KapitaJismus, um dem Siiden die letzten Erspar-

nisse zu entreiBen. Die Mill iarden, die die Banca di Sconto schluckte,

stammten fast restlos aus dem Siiden. Dievierhunderttausend Kreditoren

del'BIS waren in ibrer iibergroBen Mehrheit Sparer aus dem Siiden.

Uber dem Agrarblock fungiert im Siiden ein Block von Intellektuellen.,

del' es bisher prakt isch verhindert hat , daB die Risse im Agrarblock zu

gefiihrlich wurden und einen Erdrutsch verursachten. Exponenten die-

ses Blocks del' Intellektuellen sind Giustino Fortunato und Benedetto

Croce, die deshalb als die aktivsten Reaktioniire del ' Halbinsel betrach-

tet werden konnen.

Wir haben gesagt. daB Siiditalien ein Gebiet weitgehender sozialer

Zersetzung ist, Diese Feststellung gilt nieht nul' fiir die Bauern, sondern

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auch fi ir die Intellektuel len. Bemerkenswert is t die Tatsache, daB im

Suden, abgesehen von dem GroBgrundbesitz, einzelne Personen oder

beschr iinkte Gruppen von bedeutenden Intellektuellen iiber rcichc

Schitze an Bildung und Wissen verfi igen, wihrend es keine Organisa-

tionen der geistigen Mittelschichten gibl 1m Siiden existieren der Verlag

l.aterza und die Zeitschri ft "La Crit ics" , es gibt Akademien und kul-

turelle Untemehmen allerersten Ranges; dagegen gibt es keine kleinen

und mittleren Zeitschriften und keine Verlage, urn die sich die mittleren

Schiehten der Intellektuellen des Siidens zusammensehlieBen konnten,

Diejenigen Siidtiinder, die sich vom Agrarblock losen und die Frage des

Siidens in radikaler Weise formulieren wollten, haben bei Zeitschriften

die auBerhalb des Siidens gedruckt werden, Gastfreundschaft gefundenund sieh urn diese zusammengesehlossen. Man kann sogar sagen, daB

aile auf die mittleren Intellektuellen zuriickgehenden kulturellen Vor-

haben, zu denen es im 20 . Jahrhundert in Mit tel- und Norditalien ge-

kommen ist , einen sl1dliehen Eioschlag besaBen, weil sie von den In-

tellektuellen des Siiden8 aufs stiirkste beeinfluBt wurden. Hierher ge-

horen aile Zeitsehriften der F10rentiner InteIIektuellen, die" Voce" und die

"Unit!", die Zeitschriften der ehristlichen Demokraten, wie die "Azione"

aus Cesena, G.Borellis jungliberale Zeitschriften inEmilia und Mailand,

wie die "Patria" in Bologna oder die "Azione" in Mailand und sehl ieB-

lich Gobettis "Rivoluzione Liberale". Nun, die obersten politisehen und

geistigen Leiter aller dieser Untemehmen sind Giustino Fortunato und

Benedetto Croce gewesen. In einem weiteren Umkreis als dem des dump-

fen Agrarblocks hahen sie erreieht, daB die Formulierung der Probleme

des Siidens bestimmte Grenzen nieht iibersehritt, daB sie nicht revolutio-

nar wurde. Als Minner von feinster Bildung und reichem WisseD die in

den trber lieferungen des Si idens groB geworden waren, aher mit der

europai~en Kultur und daher auch mit der Weltkultur Fiihlung hatten,

besaBen sie aile Gaben, die geistigen Bedurfnisse der ehrlieheren Ver-

treter der gebildeten Jugend des Siidens zu befriedigen, ihre unruhigen

Anwandlungen zur Revolte g~en die herrsehenden Zustinde zu dampfen

und sie auf einer mitt leren Linie klass ischer Abgekli rtheit im Denken

und Handeln zu halten. Die sogenannten Neoprotestanten oder Kalvi-

nisten haben nieht begrifTen,daB sieh in Italien, wo eine die Massen er-

greifende religiose Reformation unter den neuzeitlichen kulturellen Ver-

hiltnissen nicht mdglieh war, mit der Philosophie Benedetto Croces die

einzige geschiehtlich mogliehe Reformation vollzogen hal Sie hat die

Riehtung und Methode des Denkens verandert und eine neue Welt-

an~chauung gesehafTen,die den KathoIizismus und aile anderen mytho-

logisehen Rel igionen iiberwunden hal In diesem Sinne hat Benedetto

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Croce eine sehr wichtige "nationale" Mission erfiillt. Er hat die radiknl~n

Intellektuellen des Siidens von den Bauemmassen losgeldst, indem er sie

an die nationale und die europaisehe Kultur heranfiihrte, und hat sie auf

dem Wege iiber diese Kultur in der nationalen Bourgeoisie und infolge-

dessen im Agrarblock aufgehen lassen. .

Der Ordine Nuovo" und die Turiner Kommunisten konnen zwar ID

einem gewissen Sinne den Sehiehten der IntellektuelIen, auf die wir bin-

gewiesen haben, zugerechnet werden und hahen deshalb ebenfalls den

geistigen EinfluB Giustino Fortunatos und Benedetto Cro~es.erfahren,

aber sie vertreten doeh gleichzeitig einen volligen Brueh mit dieser Tra-

dition und den Beginn einer neuen Entwicklung, die bereits Friiehte ge-tragen hat und weiter Friiehte tragen wird. Sie hahen, wi~ ~ereits.~

das stiidtisehe Proletariat als die Hauptperson der neuzeitlichen italieni-

schen Gesehichte und daher aueh der Frage des Siidens herausgestelIt.

Da sie als Vermitt ler zwisehen dem Proletariat und bestimmten links-

geriehteten Sehiehten von Intellektuellen gedien~ hahen, ist. es ihnen

gelungen, deren Mentalitiit , weon nieht vollstandig, so doeh ID bemer-

kenswertem MaBe zu verandern. Dies is t, weon man es reeht iiberlegt ,

das Wesentl iehe an der Erseheinung Piero Gobettis. Er war kein Ko~-

munist und ware es wahrseheinlieh niemals geworden. aber er hatte die

soziale und gesehiehtliehe Stellung des Proletariats begrifTen und konnte

ohne diese neue Erkenntnis nieht mehr denken. Bei der gemeinsamen

Arbei t an der Zeitung hatten wir Gobetti mit einer lebendigen Welt ? tKontakt gebraeht, die er vorher nur aus Biiehern gekannt hatte. Sel~

auffallendster Wesenszug war intellektuelle Ehrlichkeit und vdllige Frei-

heit von jeglieher Eitelkeit und subaltemer Kleinlichkeit. Daher mu~te

er einsehen daB viele der iiberlieferten Ansiehten fiber das Proletanat

falschund ungereeht waren. Welehe Folgen batte fur Gobetti dieser Kon-

takt mit der Welt des Proletariats? Er war die Quelle und der AnstoB

fur eine Auffassung die wir nieht naher eror tern und ver tiefen wollen,

eine Auffassung, di~ sieh zu einem groBen Teil wieder dem Syndikalis-

mus und der Mentalitiit der syndikalistischen Intellektuellen zuwendet.

Die Prinzipien des Liberalismus werden dahei von der Eb~~~ der in-

dividuellen Phiinomene auf die der Massenphli.nomene projmert, D~s

VortreIniehe und Riihmliehe im Leben des Individuums woo auf die

Klassen ubertragen, die beinahe als KoUektiviodividuen aufg~~t wer-

den. Eine solehe Konzeption fiibrt unter den Intellektuellen, die sle ver-

treten, gewohnlieh zu reiner Betraehtung und Feststellung. ~on ~er-

diensten und Mangeln, zu der hiiBl ichen und albernen Posit ion emes

Schiedsriehters im Streit, eines Verteilers von Belohnungen und Strafen.

Gobetti ist diesem Schicksal praktiseh entgangen. Er erwies sieh als em

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Organisator des kulturellen Lehens von auBerordentlicher Kraft und

i ihte in dieser letzten Periode eine Funktion aus, die die Arheiter nicht

ubersehen und unlerschiitzen diirfen. Er schuf eine POsilion, hinter die

diejenigen Gruppen von ehrlichen und aufrechten Intellektuellen nicht

mehr zuriickgingen, die in den Jahren 1919 his 1921 empfanden, daB

das Proletariat als fiihrende Klasse der Bourgeoisie iiherlegen seinwiirde.

Immer wieder hat man manehmal in gutem Glauhen und ehrlich

rnanclunal wider hesseres Wissen und unehrlich, hehauptet, Gohetti sei

niehts ~nderes gewesen als ein getamler Kommunist, als ein Agent,

wenn nieht def Kommunistischen Partei, so doch mindestens der kom-

munistisehen Gruppe des "Ordine Nuovo". Dies ahgeschmackte Gerede

bedarf keiner Widerlegung. Die Gestalt Gohett is und die von ihm ver-Irelene Bewegung erwuchsen spontan aus dem neuen geschichtlichen

Klima Italiens; dar in hesteht ihre Bedeutung und ihre Tragweite. Von

~arleigenossen ist uns manchmal vorgeworfen worden, wir halten gegen

die Ideen der "Rivoluzione Liherale" nicht angekampft, und das konne

als ein Beweis dafi ir aufgefaBt werden, daB zwischen uns und Gohetti

eine organische Verhindung machiavellistischer Art (wie man zu sagen

p.f1egt)hestanden habe. Wir konnlen Gohetti nieht hekampfen, weil er

el.neBewegung entwickelte und repriisentierle, die, wenigslens prinzipiell,

nicht hekampft werden darf. Wer das nicht hegreift, der versteht die

Frage der Intellektuel len und die Funktion, die sie im Klassenkampf

a,~siihen, nieht. Gohetti diente uns praktisch als Verhindungsglied erstens

mit den aus der kapitalistisehen Technik erwaehsenen Intellektuellen

di.e in.den Jah~~n 19~9/1920 eine fiir die Diktatur des Proletariats giin~

stige hnke Position emgenommsn hatten, und zweitens mit einer Reihe

von Intel~ekluellen des Siidens, die aus verschiedenen Zusammenhangen

heraus die Frage des Siidens anders stell ten, als es hisher i ihlich war,

und das Proletariat des Nordens in sie hineinzogen. Von diesen Intellek-

tuellen ist Guido Dorso die hedeutendste und interessanteste Erschei-

nung. Warum hat ten wir die Bewegung der "Rivoluzione Liheralc" he-

kampfen sollen? Etwa weil sie nicht 'lUS reinen Kommunisten hestand

d~eunser Programm und unsere Lehre von A his Z annahmen? Das w~

D1.~tzu .verlangen, weil es politiseh und geschichtlich paradox gewesen

~fare. DIe Intel~ektuellen entwickeln s idl langsam, viel lqsamer als

Jed~ an~ere soZJale.Grup~e, aus Grunden ihres Wesens und ihrer g e-

schlchtllehen Funktion, Sia repriisentieren die gesamte kulturell Tra-,I" • V e aunion emes olkes, sie wollen seine g&nzeGeschichte zusammenf asd in Svnth . aen

un ID yn ese hnngen. Das gilt speziell fiir den alten Typus des In-

tellekluellen, des aus hauerlichem Boden erwaehsenen Intellektuellen.

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Dcr Gedanke, er konne in seiner Masse mit der ganzen Vergange~heit

hrechen, urn sich vorhehal tlos auf den Boden einer neuen Ideologie zu

stellen, ist absurd, absurd fiir die Intellektuellen als Masse und woh~auch

ahsurd im Hinhlick auf die Mehrheit der Intellektuellen als Einzel-

personen, trotz aller ehrlichen Anstrengungen, die sie machen und ~a~

chen wollen. Uns interessieren nundie Intellektuellen als Masse und D1~t

nur als Individuen. Es ist gewiB wichtig und niitzlich ffir das Proletariat,

daB sich einer oder mehrere einzelne Intellektuelle ZIU seinem Programm

und zu seiner Lehre hekennen, im Proletariat aufgehen, mit ~ ver-

schmelzen und sich als Teil des Proletariats f iihlen. Das Proletanat als

Klasse is t arm an organisierenden Elementen, es hesitzt keine eigeneSchicht von Intellektuellen und kann sie sich nur sehr langsam und

miihsam erst nach der Eroberung, der Staatsmacht schafIen. Aher ehenso

wichtig und nii tzlich is t es, daB es in der Masse der Intellektuel len zu

einem geschichtlich hestimmten Bruch organischen Charakters kommt,

daB sich eine Linksrichtung immodemen Sinne des Wortes als Mas~-

schicht heraushildet, das heiBt eine Ridltung, die sidl auf das revolutio-

nare Proletariat orient iert , Das Biindnis zwischen dem Prole~at und

den Bauemmassen hedarf dieser Schicht, und erst recht hedarf ihrer das

Biindnis zwischen dem Proletariat und den Bauemmassen des Siidens.

Das Proletariat wird den Agrarhlock des Siidens in dem MaBe zers~la-

gen, in dem es ihm auf dem Wege iiher se!ne Part~i g~lingen wird,

immer grol3ere Massen von armen Bauern m selhstan~en undo UII-

ahhangigen Verhanden zu organisieren; aher die Bewaltigung dieser

seiner unerliiBlichen Aufgahe hiingt mehr oder weniger auch von sein~r

Fahi k it ab den Block der Intellektuellen zu zersetzen, der die elasti-a Ig e , . B'sche aber iiuBerst widerstandsfihige Riistung des Agrarhlocks IsL ei

der Losung dieser Aufgahe ist das Proletariat von Piero Gohetti unter-

stiitzt worden, und wir denken, daB die Freunde des Verstorhenen ~uch

ohne seine Fiihrung das untemommene Werk fqrtfiihren werden. DIMes

Werk ist gewaltig und schwierig, aher gerade deshalh s1!er O~fer wert,

(auch des Lehens , wie es hei Gohet ti der Fall gewesen ist) seitens der-

jenigen Intellektuellen (und ihrer sind viele, viel mehr, als man. gla~ht)

des Nordens und des Siidens, die h~fJen haben, daB esnur zwei soziale

Krafte von wesentlicher nationaler und zukunftstriichtiger Bedeutung

giht: das Proletariat und die Bauern . ..

(Hier hricht das Manuskript ah.)

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1

Gramsci-DisktJssionen

192Seiten, DM 16,-

Luciano Gruppi

GRAMSCI - Philosophie der

Praxis und die Hegemonie

des Proletariats

ISO Seiten; DM 14,SO

Einzelheft DM9,-

Abo (6Hefte im J ahr)DM44,- (+ Porto)

Bruno Trentin

Arbeiterdemokratie

Gewerkschaften, Streiks,

Febrikrete: Herausgegeben. ' = ' 'I- ~~ " von Detlev

' .• .:ieiten; DMlS,-

Pietro Ingrao d P lir . nguerl A.' GramscilMassenbewegung un 0 1- 1 : ' L~~·~olP.Togliatti

~~~, :~hmr lS :~ :i f j i i i f r ~ i~mpromi61329085/188

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