c tuebingen
TRANSCRIPT
-
7/26/2019 C Tuebingen
1/6
DIE ZEIT, 23.04.2009 Nr. 18 - 23. April 2009
http://www.zeit.de/2009/18/C-Tuebingen
B O L O G N A - P R O Z E S S
Macht Studieren dumm?
An der Universitt Tbingen kann man beobachten, was die neuenBachelorstudenten von jenen Kommilitonen unterscheidet, die noch nach dem altenSystem studieren
VON JAN-MARTIN WIARDA
Vor ein paar Wochen schlielich wusste auch Sigi Lehmann, die ewige Optimistin,
dass es so nicht weitergehen konnte. Sie starrte auf das riesige Loch im
Dienstplan und begann zu tippen. Der Brief, den sie schrieb, hatte etwas von einer
Selbstaufgabe: Die Chefin der Tbinger Uniwelle beantragte beim Uni-Rektor,
ihre Sendezeit zu krzen. 15 Jahre lang hatte Lehmann Hunderte Freiwillige aller
Studienfcher zu nebenberuflichen Radiojournalisten ausgebildet, hatte bei ihrenLivesendungen mitgefiebert, sie gepusht und manchmal auch gergert. Bis die
Studenten pltzlich keine Zeit mehr hatten. Jetzt sitzt Lehmann in ihrem Bro
neben dem verwaisten Studio und ringt um Erklrungen. Es ist diese neue Art zu
studieren, sagt sie.
Etwa zur selben Zeit, als die 57-jhrige Radiochefin das Loch in ihrem Dienstplan
wachsen sah, begann Philipp Lottholz, einen berlebenskampf auszufechten. Der
22 Jahre alte VWL-Student mit der Popperfrisur gehrt zum Tbinger AIESEC-
Vorstand, einer europaweiten Studentenorganisation mit dem hartnckigen Ruf,
ein Club von Strebern zu sein. Was in guten Zeiten ein Vorteil war, Streber gibt esschlielich immer. AIESEC vermittelt Praktikanten an Unternehmen und organisiert
internationalen Austausch. In besagten guten Zeiten standen auf der Mitgliederliste
50 Namen. Im vergangenen Wintersemester waren es noch 17. Selbst die Streber
hatten Wichtigeres zu tun. Lottholz wurde klar: Wenn nichts passiert, knnen wir
dichtmachen.
An Deutschlands Hochschulen ereignet sich eine Kulturrevolution, und auf den
ersten Blick ist es keine, die zu Hoffnungen Anlass gibt: Ob in Tbingen, Kln,
Mnchen oder Chemnitz, Professoren finden keine Hiwis mehr, Studentencafs
mssen frher schlieen, weil ihnen die Barkeeper ausgehen, Hochschulgruppenaller Parteien stemmen sich gegen die Selbstauflsung. Labil seien die
Jungakademiker, teilnahmslos und immer unpolitischer so lauteten die
Schlagzeilen von Focus bis Tagesspiegel, als Konstanzer Hochschulforscher
krzlich vermeldeten, dass sich nie zuvor so wenige Studenten fr Politik
interessiert htten wie heute: nur noch 37 Prozent. Materialismus, Fachidiotie und
Karrieredenken trten an die Stelle des freien Geistes, klagen Querdenker wie der
Berliner Politikwissenschaftler Peter Grottian: Der Bachelor macht dumm!
Der Bachelor und sein groer Bruder, der Master, sind die neuen, europaweit
gltigen Studienabschlsse, die bis Ende des Jahrzehnts die traditionellen Titelvon Magister bis Diplom ablsen sollen mit exakt vorgegebenen Studienplnen
http://www.zeit.de/2009/18/C-Tuebingen -
7/26/2019 C Tuebingen
2/6
und Credits genannten Leistungspunkten, die als Belohnung fr regelmige
Semesterprfungen das Hammerexamen am Ende ersetzen.
Ins selbe Horn wie Grottian blst der Bamberger Soziologe Richard Mnch,
der zum vielleicht meistzitierten Kronzeugen der Feuilletons gegen die
konomisierung der Bildung aufgestiegen ist: Anstatt ihrer Wissbegierde zu
folgen, jagen die Studenten nur den Credits hinterher! Die Leistungspunktemachten jedes aueruniversitre Engagement wertlos, die Attraktivitt von
Vorlesungen messe sich nicht mehr am Erkenntnisgewinn, sondern am
Punktewert. Und pltzlich erhlt sogar eine Frage ihre Berechtigung, die zunchst
nach einer billigen Pointe klingt: Macht Studieren dumm? Und wenn ja, was hat die
Bologna-Prozess genannte Studienreform damit zu tun?
Kaum ein Ort ist fr eine Spurensuche nach dem, was ein Studium
heute tatschlich in seinem Kern ausmacht, geeigneter als Tbingen, die
mittelalterliche Stadt in der schwbischen Provinz, wo jeder vierte Einwohnereine Immatrikulationsbescheinigung besitzt. Die Eberhard-Karl-Universitt mit
ihren 22.000 Studenten bietet 70 Studienfcher von der Archologie bis zur
Zahnmedizin, ist weder Reform- noch Elite-Uni, dafr aber ausgestattet mit einer
532-jhrigen Geschichte, seit sie von Graf Eberhard im Bart gegrndet wurde.
Entsprechend unaufgeregt und in lngeren Zeitrumen betrachtet man hier die
Dinge.
Was das bedeutet, lsst sich am besten in einem Gesprch mit Hartmut Krause
erfahren, denn wenn es so etwas wie das personifizierte Gedchtnis einer
Universitt gibt, dann ist es der Mann im gelben Freizeitpulli. Morgens steht ermanchmal in der Eingangshalle der Neuen Aula mit ihrem Marmorprotz, und
manchem der Studenten, die dann an ihm vorbeiziehen, erscheint es so, als
habe er immer hier gestanden. Immerhin: Vier Rektoren hat Krause tatschlich
kommen und gehen sehen, dazu jedes Jahr eine neue Studentengeneration, die
erste langhaarig und im Schlabberlook, die letzte in Sakko und gestrktem Hemd.
Heute haben die Professoren die Jeans an und ihre Hiwis den Anzug, sagt
Krause in seinem langsamen schwbischen Singsang.
Vor 29 Jahren hat er in Tbingen als Uni-Hausmeister angefangen. Inzwischen
trgt er den Titel des Oberpedells und immer seltener den blauen Arbeitsmantelseiner drei Dutzend Mitarbeiter. 1980 konnte er das Haus um 18 Uhr zusperren,
heute hocken die Studenten auch sonntags in der Bibliothek. Neuerdings
latschen sie sogar samstags frh um acht hier rein. Das gibts gar nicht, sagt
Krause, hlt inne, korrigiert sich: Frher htte es das nicht gegeben. Doch dann
sagt der Hausmeister etwas Unerwartetes: Ich kann die jungen Leute verstehen.
Drauen wartet keiner mehr auf dich. Wenn du schlau bist, machst du schnell
deinen Abschluss und bist hier wieder weg. Die Angst, dass da drauen keiner
auf sie wartet ist sie es, die die heutige Studentengeneration so hektisch macht?
Die Angst, trotz Hochschulstudiums spter mit Hilfsttigkeiten abgespeist zu
werden? Seit der Medienkarriere der Generation Praktikum haben zahlreiche
Umfragen nach ihr gefahndet mit zum Teil widersprchlichen Ergebnissen.
-
7/26/2019 C Tuebingen
3/6
Whrend laut DGB 70 Prozent der befragten Hochschulabsolventen optimistisch in
ihre berufliche Zukunft blicken, bewerteten im Studierendensurvey der Konstanzer
AG Hochschulforschung von 2007 65 Prozent ihre Aufstiegschancen als schlecht
der hchste je gemessene Wert. Das Hochschulinformationssystem (HIS)
wiederum berichtete, dass neun Monate nach dem ersten Praktikum nur noch
vier Prozent der Uni-Abgnger ohne Job dastehen. Zehn Jahre nach dem
Abschluss, besagt die neueste HIS-Absolventenstudie, liegt die Arbeitslosenquote
gar, fast unglaublich, bei einem Prozent. Allen guten Zahlen zum Trotz: Unter
Erstsemestern war die Angst vorm Abstieg schon lange vor der gegenwrtigen
Rezession real. Doch woher kommt sie blo? Womglich liegt die Auflsung des
Widerspruchs ja in der Erkenntnis, dass das Gros der heutigen Studenten in der
jahrelangen, tiefen Krise nach dem Dotcom-Boom das politische Denken gelernt
hatte, eine Krise, in der Deutschland schon zum kranken Mann Europas erklrt
worden war.
Als Andrea Rdiger sie hrt, die Frage nach der Angst, sitzt sie in einem Caf
an der Neckarbrcke und nippt an ihrem Tee. Wenn es archetypische Vertreter
der neuen Studentengeneration gibt, dann zhlt sie dazu: 23, Bachelorstudentin
der Politologie und Volkswirtschaftslehre, 24 Pflichtstunden in der Woche, vier
Klausuren am Semesterende. Sie sagt: Bei mir schlagen zwei Herzen in einer
Brust. Einerseits versuche ich, mich marktfrmig zu verhalten. Andererseits sollte
die Uni ein geschtzter Raum sein, um mich in Ruhe bilden zu knnen. So
pendelt Andrea Rdiger stndig zwischen dem Leistungsdruck und Wissensdurst:
Sie hat ein Jahr in Paris studiert, sich in ein Doppelstudium gestrzt und ist aktives
Mitglied bei den Grnen. Umgekehrt aber sorgt sie sich, dass sie so statt der
blichen sechs Semester womglich acht brauchen wird. Und trstet sich mitdem Gedanken, dass sich die zustzliche Zeit, wie sie es formuliert, auszahlen
werde. Auszahlen ist das die Punktesammelmentalitt, von der Mnch spricht?
Zumindest klingt es nach einem Widerspruch: Eine Studentin, die sich selbst zum
linken Spektrum zhlt, hat Angst, nicht konform genug zu sein. Und da ist noch
etwas: Andrea Rdiger steht den Stress nicht nur durch, sie lsst sich bewusst auf
ihn ein. Die meisten Leute brauchen den Druck, die Orientierung, sagt sie. Zu
diesen Leuten gehre ich.
Das Schwanken zwischen den Extremen von Karrieredenken und ehrlich
empfundenen Idealen ist typisch fr Studenten wie Andrea Rdiger. Sogarehrenamtliches Engagement steht noch hoch im Kurs solange es sich in den
engen Stundenplan einpassen lsst. Diese Erfahrung haben auch Philipp Lottholz
und seine verbliebenen Mitstreiter gemacht. Bei AIESEC-Infoabenden rcken sie
seitdem nicht mehr die Pflichten einer Mitgliedschaft in den Vordergrund, sondern
preisen die Mglichkeit an, Erfahrung mit kleineren Projekten zu sammeln, der
Vorbereitung politischer Diskussionsabende etwa immer mit dem Nachsatz, dass
der Wiederausstieg mglich sei. Mit Erfolg: In Tbingen hat AIESEC wieder 30
Mitglieder.
Man kann ber diese unbedingte Strebsamkeit erschrecken, man kann sieaber auch als positive Umdeutung der Angst vor dem Abstieg betrachten, wie
der Jugendforscher Klaus Hurrelmann es tut. Ich wrde mich davor hten,
-
7/26/2019 C Tuebingen
4/6
die Haltung der jungen Leute einfach so abzuwerten, sagt der Leiter der
Shell-Studie, die zuletzt 2006 den drastischen Wertewandel der Jugend hin zu
beruflichem Ehrgeiz und dem Streben nach familirem Glck dokumentiert hatte.
Hat Hurrelmann recht, dann wre die neue Leistungsbereitschaft der Studenten,
ihre vermeintliche Stromlinienfrmigkeit, eine gesunde Strategie angesichts
von Wirtschaftskrise und Jugendarbeitslosigkeit. Mit dem Bachelor htte all das
wenig zu tun. Woraus sich die Frage ergibt: Sind die verbliebenen Magister- und
Diplomstudenten vielleicht gar nicht so anders?
Mglicherweise bringt ein Besuch bei den verbliebenen nicht stromlinienfrmigen
Studenten Aufschluss. Wenn es die in Tbingen berhaupt noch gibt, dann findet
man sie an einem Abend im Semester im Studentenclub gegenber der Neuen
Aula, einem unverputzten Schlichtbau auf der Abrissliste des Rektorats. Drauen
hngt ein Betttuch mit der Aufschrift: Clubhausfest Mathe, bis 0:00 Uhr Bier
fr 1 Euro, drinnen im Bro der Fachschaften-Vollversammlung hockt eine 31-
jhrige Studentin im schwarzen Kapuzenpulli auf dem Boden, die ihren echten
Namen nicht in der Zeitung lesen will, das bringe nur rger. Sie hat einen Ph.D.
in Philosophie, ein Diplom in Biologie, dazu das Physikum in Medizin. Gerade
schreibt sie an ihrer Promotion in Biologie, Thema: Rezeptoraktivierung und
Gewebeschdigung. Seit Jahren hlt sie sich mit Studentenjobs ber Wasser.
Empfindet sie keinen Druck, endlich richtig Geld zu verdienen? Ich verstehe die
Frage nicht, sagt sie.
Im Erdgeschoss dreht einer die Bsse auf, die Musik beginnt zu wummern,
die Mathematiker-Party beginnt. Neben der Studentin im Kapuzenpulli sitzt
Roland Schwiese, dessen Vollbart ein bisschen zu den Akten in den Regalenpasst: Protokolle alter Vorstandssitzungen von 1977 und Flugbltter von 1981.
Schwiese ist studentisches Mitglied im Uni-Senat und hat das Glck, wie er
sagt, noch ein Magisterprogramm erwischt zu haben. Der 27-Jhrige studiert
Politikwissenschaft im Hauptfach, fgt aber gleich hinzu, dass er bereits eine
Goldschmiedelehre abgeschlossen habe. Nicht dass am Ende einer denkt, er
habe all die Jahre getrdelt. Jetzt ist er im 7. Semester, vier knnte es wegen
seines hochschulpolitischen Engagements noch dauern, vielleicht auch sechs.
Natrlich, sagt Schwiese, werde er durch die Verzgerung Nachteile haben. Der
Rechtfertigungsdruck ist da. Den anderen gegenber. Auch mir selbst gegenber.
Whrend seine Kommilitonin neben ihm noch aus einer anderen Zeit zu
stammen scheint, ist Schwiese lngst im Hier und Jetzt von Leistungsdruck und
Leistungswillen angekommen wie all die anderen Magisterstudenten in Tbingen,
die genauso wie ihre Bachelorkollegen auf die Regelstudienzeit schielen und sich
Sorgen um ihre Jobchancen machen.
Und was ist mit dem von Bologna-Gegnern gepflegten Ideal, die
Magisterstudenten widmeten sich dank ihrer wenigen Pflichtveranstaltungen wie
frhere Studentengenerationen dem freiwilligen Besuch weiterer Vorlesungen?
Eine Frage, bei der Felix Haa unwillkrlich grinsen muss. Der 23-jhrige Hiwisteht am Overheadprojektor und ordnet die Folien, die er gleich fr seinen
Professor auflegen soll. Es geht um die Menschenrechte weltweit, der holzgetfelte
-
7/26/2019 C Tuebingen
5/6
Hrsaal beginnt sich langsam zu fllen. Haa ist auch fr das Fhren der
Anwesenheitsliste zustndig. Und die besagt: Von den 14 Magisterstudenten,
die sich zu Beginn des Semesters eingetragen haben, tauchen noch ganze
vier hin und wieder auf. Die anderen haben wohl das Selbststudium zu
Hause vorgezogen, sagt Haa, der selbst Masterstudent ist, trocken. Laut
des Uni-eigenen Career Centers ist es aber wohl eher so, dass viele von
ihnen sich in die fr Magisterstudenten ebenfalls freiwilligen Coaching- und
Berufsvorbereitungskurse einbuchen.
Sogar Richard Mnch sagt inzwischen: Die Vorstellung eines Studiums gem
den sogenannten Humboldtschen Idealen, allein der Selbstentfaltung und einem
ganzheitlichen, verwertungsfreien Bildungsbegriff gewidmet, war schon vor
Bologna und Bachelor nur Fiktion. Sicher haben auch die Studiengebhren
in Baden-Wrttemberg ihr briges getan, dass die Studentin im Kapuzenpulli
bilanziert, sie kenne mittlerweile jeden Langzeitstudenten persnlich.
Nein, die neuen Abschlsse sind nicht schuld am Mentalittswandel. Wahr ist aber,dass sie hervorragend zu den neuen Studenten und ihrer Sehnsucht nach Struktur
passen. Was auch heit: Ein schlechter Bachelor kann eine Menge kaputt machen
dann nmlich, wenn er, wie Mnch kritisiert, nur noch den Wunsch der Studenten
nach Ordnung befriedigt, sie mit Stoff berldt und nicht mehr zum selbststndigen
Denken anregt. Doch sind die neuen Studiengnge wirklich so mies, wie ihr Image
nahelegt?
Wenn auf diese Frage jemand die Antwort kennt, dann Christine Renz. Jede
Woche kommen verunsicherte Bachelorstudenten in ihre Sprechstunde. Nicht
nur, weil sie wie die allermeisten Studenten in Deutschland unter katastrophalen
Studienbedingungen leiden, sondern weil sie dazu auch noch jede Woche in der
Zeitung lesen mssen, wie katastrophal ihr Abschluss angeblich ist, schimpft die
Dozentin fr neue deutsche Literaturwissenschaft. Wir reden eine Studienreform
schlecht, bevor wir ihre Folgen abschtzen knnen. Renz hat ihr Bro im fnften
Stock des Brechtbaus, einer jener Siebziger-Jahre-Betonburgen, in der die meisten
Universitten ihre Geisteswissenschaften untergebracht haben. Der Blick aus dem
Fenster geht auf bewaldete Hnge mit schicken Villen, doch Renz ist nicht in der
Stimmung, ihn zu genieen. Das Gercht, das Bachelorstudium kratze nur an
der Oberflche, ist so hartnckig, wie es falsch ist, sagt sie. In Germanistik zumBeispiel lernten die Studenten heute in sechs Semestern fast so viel, wie sie frher
in einem viel lngeren Magisterstudium gelernt htten. Die Guten werden durch
den Bachelor nicht schlechter. Aber diejenigen, die vorher unterzugehen drohten,
haben eine bessere Chance.
Und es gibt sie wirklich in Tbingen, anspruchsvolle Bachelorprogramme, und zwar
mehr, als mancher Beobachter zunchst vermutet: Studiengnge mit Tiefgang
und Wahlmglichkeiten und mit Studenten, die neugierig sind und Antworten auf
ihre Fragen finden. Da sitzen dann zum Beispiel 25 Studenten in einem Seminar
und lesen Das Kapital I von Karl Marx, und zwar alle 802 Seiten, halten sichgegenseitig Referate ber Akkumulation, Mehrwert und das Verstndnis von
Eigentum. Zu der seltsamen Realitt der Studienreform gehrt aber auch, dass die
-
7/26/2019 C Tuebingen
6/6
meisten Studenten denken, ihr Bachelor sei eine seltene Ausnahme, whrend alle
anderen genauso schlecht seien, wie der Ruf es behauptet: Schmalspur eben.
Wenn es allerdings jemanden gibt, der zu Recht und frei von jeder vermeintlichen
Humboldt-Nostalgie die Studienreform kritisiert, dann ist es Michael Schmidt. Seit
13 Semestern studiert der 27-Jhrige mit Dreitagebart und Geheimratsecken Ur-
und Frhgeschichte, Paloanthropologie und Germanistik auf Magister. Zweimaldie Woche streift er sich eine bekleckerte Arbeitshose ber, dazu Knieschtzer
und Handschuhe, fhrt hinaus zu irgendeiner Baustelle und verlegt Fliesen. Acht
Stunden lang. Im Sommer zehn. Ich bin dankbar, dass ich keinen Bachelor
machen muss, sagt er. Da knnte ich mir keine kompletten Tage freihalten. Und
dann msste ich mein Studium an den Nagel hngen. Das ist die eigentliche
Bologna-Misere: Das vollgestopfte Studium schrnkt nicht nur das ehrenamtliche
Engagement ein, sondern macht das Leben mit und von Studentenjobs fast
unmglich. Ganz zu schweigen von den Auslandsaufenthalten, die in dem
engmaschigen Netz an Kursen, Klausuren und Praktika kaum mehr Platz finden.
Womit am Ende der Tbinger Spurensuche eine letzte Frage steht: Ist ein anderer
Bachelor mglich? Einer, der den Studenten die Orientierung bietet, die sie wollen,
sie intellektuell herausfordert und ihnen trotzdem die Zeit lsst, die sie brauchen?
Mglich ja. Auf jeden Fall aber sieht ein solcher Bachelor anders aus als der,
den wir fast berall eingefhrt haben, sagt Bernd Engler. Vor dem Uni-Rektor
liegt ein dicker Stapel bedruckten Papiers, Leitfaden fr die berarbeitung der
BA-Studiengnge steht drauf. Jetzt knnte man sagen: Noch mehr Papierkrieg,
als ob Bologna nicht lngst ein Fest fr Brokraten geworden wre. Doch die
Reform der Reform knnte sich als Segen erweisen, Englers Leitfaden will Schluss
machen mit dem 6-Semester-Bachelor als Normalfall, wieder mehr Freirumeschaffen fr ein Leben neben dem Studium. Dann, so hofft Engler, wird er vielleicht
auch einen weiteren Brief von Sigi Lehmann erhalten. Mit der Bitte, die Uniwelle
wieder sonntags senden zu lassen.
ZEIT ONLINE 2009
http://www.zeit.de/