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    DIE ZEIT, 23.04.2009 Nr. 18 - 23. April 2009

    http://www.zeit.de/2009/18/C-Tuebingen

    B O L O G N A - P R O Z E S S

    Macht Studieren dumm?

    An der Universitt Tbingen kann man beobachten, was die neuenBachelorstudenten von jenen Kommilitonen unterscheidet, die noch nach dem altenSystem studieren

    VON JAN-MARTIN WIARDA

    Vor ein paar Wochen schlielich wusste auch Sigi Lehmann, die ewige Optimistin,

    dass es so nicht weitergehen konnte. Sie starrte auf das riesige Loch im

    Dienstplan und begann zu tippen. Der Brief, den sie schrieb, hatte etwas von einer

    Selbstaufgabe: Die Chefin der Tbinger Uniwelle beantragte beim Uni-Rektor,

    ihre Sendezeit zu krzen. 15 Jahre lang hatte Lehmann Hunderte Freiwillige aller

    Studienfcher zu nebenberuflichen Radiojournalisten ausgebildet, hatte bei ihrenLivesendungen mitgefiebert, sie gepusht und manchmal auch gergert. Bis die

    Studenten pltzlich keine Zeit mehr hatten. Jetzt sitzt Lehmann in ihrem Bro

    neben dem verwaisten Studio und ringt um Erklrungen. Es ist diese neue Art zu

    studieren, sagt sie.

    Etwa zur selben Zeit, als die 57-jhrige Radiochefin das Loch in ihrem Dienstplan

    wachsen sah, begann Philipp Lottholz, einen berlebenskampf auszufechten. Der

    22 Jahre alte VWL-Student mit der Popperfrisur gehrt zum Tbinger AIESEC-

    Vorstand, einer europaweiten Studentenorganisation mit dem hartnckigen Ruf,

    ein Club von Strebern zu sein. Was in guten Zeiten ein Vorteil war, Streber gibt esschlielich immer. AIESEC vermittelt Praktikanten an Unternehmen und organisiert

    internationalen Austausch. In besagten guten Zeiten standen auf der Mitgliederliste

    50 Namen. Im vergangenen Wintersemester waren es noch 17. Selbst die Streber

    hatten Wichtigeres zu tun. Lottholz wurde klar: Wenn nichts passiert, knnen wir

    dichtmachen.

    An Deutschlands Hochschulen ereignet sich eine Kulturrevolution, und auf den

    ersten Blick ist es keine, die zu Hoffnungen Anlass gibt: Ob in Tbingen, Kln,

    Mnchen oder Chemnitz, Professoren finden keine Hiwis mehr, Studentencafs

    mssen frher schlieen, weil ihnen die Barkeeper ausgehen, Hochschulgruppenaller Parteien stemmen sich gegen die Selbstauflsung. Labil seien die

    Jungakademiker, teilnahmslos und immer unpolitischer so lauteten die

    Schlagzeilen von Focus bis Tagesspiegel, als Konstanzer Hochschulforscher

    krzlich vermeldeten, dass sich nie zuvor so wenige Studenten fr Politik

    interessiert htten wie heute: nur noch 37 Prozent. Materialismus, Fachidiotie und

    Karrieredenken trten an die Stelle des freien Geistes, klagen Querdenker wie der

    Berliner Politikwissenschaftler Peter Grottian: Der Bachelor macht dumm!

    Der Bachelor und sein groer Bruder, der Master, sind die neuen, europaweit

    gltigen Studienabschlsse, die bis Ende des Jahrzehnts die traditionellen Titelvon Magister bis Diplom ablsen sollen mit exakt vorgegebenen Studienplnen

    http://www.zeit.de/2009/18/C-Tuebingen
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    und Credits genannten Leistungspunkten, die als Belohnung fr regelmige

    Semesterprfungen das Hammerexamen am Ende ersetzen.

    Ins selbe Horn wie Grottian blst der Bamberger Soziologe Richard Mnch,

    der zum vielleicht meistzitierten Kronzeugen der Feuilletons gegen die

    konomisierung der Bildung aufgestiegen ist: Anstatt ihrer Wissbegierde zu

    folgen, jagen die Studenten nur den Credits hinterher! Die Leistungspunktemachten jedes aueruniversitre Engagement wertlos, die Attraktivitt von

    Vorlesungen messe sich nicht mehr am Erkenntnisgewinn, sondern am

    Punktewert. Und pltzlich erhlt sogar eine Frage ihre Berechtigung, die zunchst

    nach einer billigen Pointe klingt: Macht Studieren dumm? Und wenn ja, was hat die

    Bologna-Prozess genannte Studienreform damit zu tun?

    Kaum ein Ort ist fr eine Spurensuche nach dem, was ein Studium

    heute tatschlich in seinem Kern ausmacht, geeigneter als Tbingen, die

    mittelalterliche Stadt in der schwbischen Provinz, wo jeder vierte Einwohnereine Immatrikulationsbescheinigung besitzt. Die Eberhard-Karl-Universitt mit

    ihren 22.000 Studenten bietet 70 Studienfcher von der Archologie bis zur

    Zahnmedizin, ist weder Reform- noch Elite-Uni, dafr aber ausgestattet mit einer

    532-jhrigen Geschichte, seit sie von Graf Eberhard im Bart gegrndet wurde.

    Entsprechend unaufgeregt und in lngeren Zeitrumen betrachtet man hier die

    Dinge.

    Was das bedeutet, lsst sich am besten in einem Gesprch mit Hartmut Krause

    erfahren, denn wenn es so etwas wie das personifizierte Gedchtnis einer

    Universitt gibt, dann ist es der Mann im gelben Freizeitpulli. Morgens steht ermanchmal in der Eingangshalle der Neuen Aula mit ihrem Marmorprotz, und

    manchem der Studenten, die dann an ihm vorbeiziehen, erscheint es so, als

    habe er immer hier gestanden. Immerhin: Vier Rektoren hat Krause tatschlich

    kommen und gehen sehen, dazu jedes Jahr eine neue Studentengeneration, die

    erste langhaarig und im Schlabberlook, die letzte in Sakko und gestrktem Hemd.

    Heute haben die Professoren die Jeans an und ihre Hiwis den Anzug, sagt

    Krause in seinem langsamen schwbischen Singsang.

    Vor 29 Jahren hat er in Tbingen als Uni-Hausmeister angefangen. Inzwischen

    trgt er den Titel des Oberpedells und immer seltener den blauen Arbeitsmantelseiner drei Dutzend Mitarbeiter. 1980 konnte er das Haus um 18 Uhr zusperren,

    heute hocken die Studenten auch sonntags in der Bibliothek. Neuerdings

    latschen sie sogar samstags frh um acht hier rein. Das gibts gar nicht, sagt

    Krause, hlt inne, korrigiert sich: Frher htte es das nicht gegeben. Doch dann

    sagt der Hausmeister etwas Unerwartetes: Ich kann die jungen Leute verstehen.

    Drauen wartet keiner mehr auf dich. Wenn du schlau bist, machst du schnell

    deinen Abschluss und bist hier wieder weg. Die Angst, dass da drauen keiner

    auf sie wartet ist sie es, die die heutige Studentengeneration so hektisch macht?

    Die Angst, trotz Hochschulstudiums spter mit Hilfsttigkeiten abgespeist zu

    werden? Seit der Medienkarriere der Generation Praktikum haben zahlreiche

    Umfragen nach ihr gefahndet mit zum Teil widersprchlichen Ergebnissen.

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    Whrend laut DGB 70 Prozent der befragten Hochschulabsolventen optimistisch in

    ihre berufliche Zukunft blicken, bewerteten im Studierendensurvey der Konstanzer

    AG Hochschulforschung von 2007 65 Prozent ihre Aufstiegschancen als schlecht

    der hchste je gemessene Wert. Das Hochschulinformationssystem (HIS)

    wiederum berichtete, dass neun Monate nach dem ersten Praktikum nur noch

    vier Prozent der Uni-Abgnger ohne Job dastehen. Zehn Jahre nach dem

    Abschluss, besagt die neueste HIS-Absolventenstudie, liegt die Arbeitslosenquote

    gar, fast unglaublich, bei einem Prozent. Allen guten Zahlen zum Trotz: Unter

    Erstsemestern war die Angst vorm Abstieg schon lange vor der gegenwrtigen

    Rezession real. Doch woher kommt sie blo? Womglich liegt die Auflsung des

    Widerspruchs ja in der Erkenntnis, dass das Gros der heutigen Studenten in der

    jahrelangen, tiefen Krise nach dem Dotcom-Boom das politische Denken gelernt

    hatte, eine Krise, in der Deutschland schon zum kranken Mann Europas erklrt

    worden war.

    Als Andrea Rdiger sie hrt, die Frage nach der Angst, sitzt sie in einem Caf

    an der Neckarbrcke und nippt an ihrem Tee. Wenn es archetypische Vertreter

    der neuen Studentengeneration gibt, dann zhlt sie dazu: 23, Bachelorstudentin

    der Politologie und Volkswirtschaftslehre, 24 Pflichtstunden in der Woche, vier

    Klausuren am Semesterende. Sie sagt: Bei mir schlagen zwei Herzen in einer

    Brust. Einerseits versuche ich, mich marktfrmig zu verhalten. Andererseits sollte

    die Uni ein geschtzter Raum sein, um mich in Ruhe bilden zu knnen. So

    pendelt Andrea Rdiger stndig zwischen dem Leistungsdruck und Wissensdurst:

    Sie hat ein Jahr in Paris studiert, sich in ein Doppelstudium gestrzt und ist aktives

    Mitglied bei den Grnen. Umgekehrt aber sorgt sie sich, dass sie so statt der

    blichen sechs Semester womglich acht brauchen wird. Und trstet sich mitdem Gedanken, dass sich die zustzliche Zeit, wie sie es formuliert, auszahlen

    werde. Auszahlen ist das die Punktesammelmentalitt, von der Mnch spricht?

    Zumindest klingt es nach einem Widerspruch: Eine Studentin, die sich selbst zum

    linken Spektrum zhlt, hat Angst, nicht konform genug zu sein. Und da ist noch

    etwas: Andrea Rdiger steht den Stress nicht nur durch, sie lsst sich bewusst auf

    ihn ein. Die meisten Leute brauchen den Druck, die Orientierung, sagt sie. Zu

    diesen Leuten gehre ich.

    Das Schwanken zwischen den Extremen von Karrieredenken und ehrlich

    empfundenen Idealen ist typisch fr Studenten wie Andrea Rdiger. Sogarehrenamtliches Engagement steht noch hoch im Kurs solange es sich in den

    engen Stundenplan einpassen lsst. Diese Erfahrung haben auch Philipp Lottholz

    und seine verbliebenen Mitstreiter gemacht. Bei AIESEC-Infoabenden rcken sie

    seitdem nicht mehr die Pflichten einer Mitgliedschaft in den Vordergrund, sondern

    preisen die Mglichkeit an, Erfahrung mit kleineren Projekten zu sammeln, der

    Vorbereitung politischer Diskussionsabende etwa immer mit dem Nachsatz, dass

    der Wiederausstieg mglich sei. Mit Erfolg: In Tbingen hat AIESEC wieder 30

    Mitglieder.

    Man kann ber diese unbedingte Strebsamkeit erschrecken, man kann sieaber auch als positive Umdeutung der Angst vor dem Abstieg betrachten, wie

    der Jugendforscher Klaus Hurrelmann es tut. Ich wrde mich davor hten,

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    die Haltung der jungen Leute einfach so abzuwerten, sagt der Leiter der

    Shell-Studie, die zuletzt 2006 den drastischen Wertewandel der Jugend hin zu

    beruflichem Ehrgeiz und dem Streben nach familirem Glck dokumentiert hatte.

    Hat Hurrelmann recht, dann wre die neue Leistungsbereitschaft der Studenten,

    ihre vermeintliche Stromlinienfrmigkeit, eine gesunde Strategie angesichts

    von Wirtschaftskrise und Jugendarbeitslosigkeit. Mit dem Bachelor htte all das

    wenig zu tun. Woraus sich die Frage ergibt: Sind die verbliebenen Magister- und

    Diplomstudenten vielleicht gar nicht so anders?

    Mglicherweise bringt ein Besuch bei den verbliebenen nicht stromlinienfrmigen

    Studenten Aufschluss. Wenn es die in Tbingen berhaupt noch gibt, dann findet

    man sie an einem Abend im Semester im Studentenclub gegenber der Neuen

    Aula, einem unverputzten Schlichtbau auf der Abrissliste des Rektorats. Drauen

    hngt ein Betttuch mit der Aufschrift: Clubhausfest Mathe, bis 0:00 Uhr Bier

    fr 1 Euro, drinnen im Bro der Fachschaften-Vollversammlung hockt eine 31-

    jhrige Studentin im schwarzen Kapuzenpulli auf dem Boden, die ihren echten

    Namen nicht in der Zeitung lesen will, das bringe nur rger. Sie hat einen Ph.D.

    in Philosophie, ein Diplom in Biologie, dazu das Physikum in Medizin. Gerade

    schreibt sie an ihrer Promotion in Biologie, Thema: Rezeptoraktivierung und

    Gewebeschdigung. Seit Jahren hlt sie sich mit Studentenjobs ber Wasser.

    Empfindet sie keinen Druck, endlich richtig Geld zu verdienen? Ich verstehe die

    Frage nicht, sagt sie.

    Im Erdgeschoss dreht einer die Bsse auf, die Musik beginnt zu wummern,

    die Mathematiker-Party beginnt. Neben der Studentin im Kapuzenpulli sitzt

    Roland Schwiese, dessen Vollbart ein bisschen zu den Akten in den Regalenpasst: Protokolle alter Vorstandssitzungen von 1977 und Flugbltter von 1981.

    Schwiese ist studentisches Mitglied im Uni-Senat und hat das Glck, wie er

    sagt, noch ein Magisterprogramm erwischt zu haben. Der 27-Jhrige studiert

    Politikwissenschaft im Hauptfach, fgt aber gleich hinzu, dass er bereits eine

    Goldschmiedelehre abgeschlossen habe. Nicht dass am Ende einer denkt, er

    habe all die Jahre getrdelt. Jetzt ist er im 7. Semester, vier knnte es wegen

    seines hochschulpolitischen Engagements noch dauern, vielleicht auch sechs.

    Natrlich, sagt Schwiese, werde er durch die Verzgerung Nachteile haben. Der

    Rechtfertigungsdruck ist da. Den anderen gegenber. Auch mir selbst gegenber.

    Whrend seine Kommilitonin neben ihm noch aus einer anderen Zeit zu

    stammen scheint, ist Schwiese lngst im Hier und Jetzt von Leistungsdruck und

    Leistungswillen angekommen wie all die anderen Magisterstudenten in Tbingen,

    die genauso wie ihre Bachelorkollegen auf die Regelstudienzeit schielen und sich

    Sorgen um ihre Jobchancen machen.

    Und was ist mit dem von Bologna-Gegnern gepflegten Ideal, die

    Magisterstudenten widmeten sich dank ihrer wenigen Pflichtveranstaltungen wie

    frhere Studentengenerationen dem freiwilligen Besuch weiterer Vorlesungen?

    Eine Frage, bei der Felix Haa unwillkrlich grinsen muss. Der 23-jhrige Hiwisteht am Overheadprojektor und ordnet die Folien, die er gleich fr seinen

    Professor auflegen soll. Es geht um die Menschenrechte weltweit, der holzgetfelte

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    Hrsaal beginnt sich langsam zu fllen. Haa ist auch fr das Fhren der

    Anwesenheitsliste zustndig. Und die besagt: Von den 14 Magisterstudenten,

    die sich zu Beginn des Semesters eingetragen haben, tauchen noch ganze

    vier hin und wieder auf. Die anderen haben wohl das Selbststudium zu

    Hause vorgezogen, sagt Haa, der selbst Masterstudent ist, trocken. Laut

    des Uni-eigenen Career Centers ist es aber wohl eher so, dass viele von

    ihnen sich in die fr Magisterstudenten ebenfalls freiwilligen Coaching- und

    Berufsvorbereitungskurse einbuchen.

    Sogar Richard Mnch sagt inzwischen: Die Vorstellung eines Studiums gem

    den sogenannten Humboldtschen Idealen, allein der Selbstentfaltung und einem

    ganzheitlichen, verwertungsfreien Bildungsbegriff gewidmet, war schon vor

    Bologna und Bachelor nur Fiktion. Sicher haben auch die Studiengebhren

    in Baden-Wrttemberg ihr briges getan, dass die Studentin im Kapuzenpulli

    bilanziert, sie kenne mittlerweile jeden Langzeitstudenten persnlich.

    Nein, die neuen Abschlsse sind nicht schuld am Mentalittswandel. Wahr ist aber,dass sie hervorragend zu den neuen Studenten und ihrer Sehnsucht nach Struktur

    passen. Was auch heit: Ein schlechter Bachelor kann eine Menge kaputt machen

    dann nmlich, wenn er, wie Mnch kritisiert, nur noch den Wunsch der Studenten

    nach Ordnung befriedigt, sie mit Stoff berldt und nicht mehr zum selbststndigen

    Denken anregt. Doch sind die neuen Studiengnge wirklich so mies, wie ihr Image

    nahelegt?

    Wenn auf diese Frage jemand die Antwort kennt, dann Christine Renz. Jede

    Woche kommen verunsicherte Bachelorstudenten in ihre Sprechstunde. Nicht

    nur, weil sie wie die allermeisten Studenten in Deutschland unter katastrophalen

    Studienbedingungen leiden, sondern weil sie dazu auch noch jede Woche in der

    Zeitung lesen mssen, wie katastrophal ihr Abschluss angeblich ist, schimpft die

    Dozentin fr neue deutsche Literaturwissenschaft. Wir reden eine Studienreform

    schlecht, bevor wir ihre Folgen abschtzen knnen. Renz hat ihr Bro im fnften

    Stock des Brechtbaus, einer jener Siebziger-Jahre-Betonburgen, in der die meisten

    Universitten ihre Geisteswissenschaften untergebracht haben. Der Blick aus dem

    Fenster geht auf bewaldete Hnge mit schicken Villen, doch Renz ist nicht in der

    Stimmung, ihn zu genieen. Das Gercht, das Bachelorstudium kratze nur an

    der Oberflche, ist so hartnckig, wie es falsch ist, sagt sie. In Germanistik zumBeispiel lernten die Studenten heute in sechs Semestern fast so viel, wie sie frher

    in einem viel lngeren Magisterstudium gelernt htten. Die Guten werden durch

    den Bachelor nicht schlechter. Aber diejenigen, die vorher unterzugehen drohten,

    haben eine bessere Chance.

    Und es gibt sie wirklich in Tbingen, anspruchsvolle Bachelorprogramme, und zwar

    mehr, als mancher Beobachter zunchst vermutet: Studiengnge mit Tiefgang

    und Wahlmglichkeiten und mit Studenten, die neugierig sind und Antworten auf

    ihre Fragen finden. Da sitzen dann zum Beispiel 25 Studenten in einem Seminar

    und lesen Das Kapital I von Karl Marx, und zwar alle 802 Seiten, halten sichgegenseitig Referate ber Akkumulation, Mehrwert und das Verstndnis von

    Eigentum. Zu der seltsamen Realitt der Studienreform gehrt aber auch, dass die

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    meisten Studenten denken, ihr Bachelor sei eine seltene Ausnahme, whrend alle

    anderen genauso schlecht seien, wie der Ruf es behauptet: Schmalspur eben.

    Wenn es allerdings jemanden gibt, der zu Recht und frei von jeder vermeintlichen

    Humboldt-Nostalgie die Studienreform kritisiert, dann ist es Michael Schmidt. Seit

    13 Semestern studiert der 27-Jhrige mit Dreitagebart und Geheimratsecken Ur-

    und Frhgeschichte, Paloanthropologie und Germanistik auf Magister. Zweimaldie Woche streift er sich eine bekleckerte Arbeitshose ber, dazu Knieschtzer

    und Handschuhe, fhrt hinaus zu irgendeiner Baustelle und verlegt Fliesen. Acht

    Stunden lang. Im Sommer zehn. Ich bin dankbar, dass ich keinen Bachelor

    machen muss, sagt er. Da knnte ich mir keine kompletten Tage freihalten. Und

    dann msste ich mein Studium an den Nagel hngen. Das ist die eigentliche

    Bologna-Misere: Das vollgestopfte Studium schrnkt nicht nur das ehrenamtliche

    Engagement ein, sondern macht das Leben mit und von Studentenjobs fast

    unmglich. Ganz zu schweigen von den Auslandsaufenthalten, die in dem

    engmaschigen Netz an Kursen, Klausuren und Praktika kaum mehr Platz finden.

    Womit am Ende der Tbinger Spurensuche eine letzte Frage steht: Ist ein anderer

    Bachelor mglich? Einer, der den Studenten die Orientierung bietet, die sie wollen,

    sie intellektuell herausfordert und ihnen trotzdem die Zeit lsst, die sie brauchen?

    Mglich ja. Auf jeden Fall aber sieht ein solcher Bachelor anders aus als der,

    den wir fast berall eingefhrt haben, sagt Bernd Engler. Vor dem Uni-Rektor

    liegt ein dicker Stapel bedruckten Papiers, Leitfaden fr die berarbeitung der

    BA-Studiengnge steht drauf. Jetzt knnte man sagen: Noch mehr Papierkrieg,

    als ob Bologna nicht lngst ein Fest fr Brokraten geworden wre. Doch die

    Reform der Reform knnte sich als Segen erweisen, Englers Leitfaden will Schluss

    machen mit dem 6-Semester-Bachelor als Normalfall, wieder mehr Freirumeschaffen fr ein Leben neben dem Studium. Dann, so hofft Engler, wird er vielleicht

    auch einen weiteren Brief von Sigi Lehmann erhalten. Mit der Bitte, die Uniwelle

    wieder sonntags senden zu lassen.

    ZEIT ONLINE 2009

    http://www.zeit.de/