binnenwanderungen zwischen ost- und westdeutschland seit 1990 · dieser „aufschwung ost“...
TRANSCRIPT
Universität Trier
Fachbereich IV - Volkswirtschaftslehre - Stadt- und Regionalökonomie -
Sommersemester 2004
Seminar „Räumliche Wirkung des demografischen Wandels“
Prof. Dr. H. Spehl und Dipl.-Geogr. M. Gensheimer
Binnenwanderungen zwischen Ost- und Westdeutschland seit 1990
-
Darstellung der Zahl und Struktur, von Determinanten
und zukünftiger Entwicklung
Christopher Stange
6.Semester Angewandte Geografie/ Fremdenverkehrsgeografie
Weidengasse 7 54292 Trier
[email protected] Matr.Nr.:686864
Inhaltsverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 3
1. Einleitung 4
2. Der Verlauf der Binnenwanderung – Umfang und Determinanten der Migration 5
2.1. 1989/90: Die Wiedervereinigung und die Zeit danach 5
2.2. „Aufschwung Ost“ 6
2.3. „Annäherung – aber keine Angleichung“ 6
2.4. Stagnation der weiteren Annäherung 7
2.5. Fazit 8
3. Alters- und geschlechtsspezifische Merkmale der Binnenwanderung 8
4. Wanderungsmuster – der räumliche Ablauf der Binnenwanderung 12
4.1. Gewinner und Verlierer der Binnenwanderung im wiedervereinigten Deutschland 13
4.2. Wanderungsmuster - der räumliche Ablauf der Binnenwanderung 15
4.2.1. Wanderungsmuster im geteilten Deutschland 15
4.2.2. Die räumlichen Muster der Binnenmigration nach der Wiedervereinigung 15
4.2.3. Der Wandel der Wanderungsmuster und die räumlichen Auswirkungen 16
5. Fazit 18
Literatur 19
2
Abbildungsverzeichnis
Abb.1: Zu- und Abwanderung von Menschen in den neuen Bundesländern sowie 5
Binnenwanderungssalden mit dem alten Bundesgebiet seit 1989
Abb.2: Geschlechtsspezifische Abwanderung aus den neuen Ländern 8
Abb.3: Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland 10
Abb.4: Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland nach Geschlecht 11
Abb.5: Durchschnittliche jährliche Wanderungssaldorate 1997 bis 2001 je 1.000 Einwohner 17
Tabellenverzeichnis
Tab.1: Altersselektivität der Binnenmigration: Wanderungen zwischen Ost- und 9
Westdeutschland nach Altersgruppen (in 1000)
Tab.2: Binnenwanderungssalden der Bundesländer mit Ost- und Westdeutschland zwischen 13
1991 und 1998
3
1. Einleitung Erst mit der Wiedervereinigung kann seit 1990 wieder von Binnenwanderungen zwischen
Ost- und Westdeutschland gesprochen werden. Zuvor war die Migration zwischen den
beiden deutschen Staaten – der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik – durch die 1961 errichtete Berliner Mauer und das politische
System des sozialistischen Staates stark eingeschränkt. Für Bürger der DDR war die
Möglichkeit zur Ausreise von der Willkür der Staatsobrigkeit abhängig und, im Falle das
keine Bewilligung des Ausreiseantrags erfolgte, nur als lebensbedrohliche Flucht zu
realisieren (vgl. WENDT, S.533). Beides - sowohl die staatliche Beschränkung als auch
die Notwendigkeit einer Flucht - gehört seit dem Fall der innerdeutschen Grenze der
Vergangenheit an: „Mit der Bildung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am
1.Juli 1990 wurden die deutsch-deutschen Wanderungen zu Binnenwanderungen“
(WERZ, S.24).
Binnenmigrationen bilden zusammen mit der Außenwanderung die sogenannte
räumliche Bevölkerungsbewegung. Daneben bestimmen Fertilitätsniveau und
Mortalitätsrate die natürlichen Bevölkerungsbewegungen – und damit über das Wachsen
oder Schrumpfen einer Gesellschaft.
In Deutschland ist der Binnenwanderung ein beträchtlicher Anteil am demografischen
Wandel beizumessen. Besonders deshalb, da die, nach der Wiedervereinigung
offensichtlich werdenden Disparitäten zwischen Ost und West, enorme Migrationsströme
zur Folge hatten, die durch ihren selektiven Verlauf, den demografischen Wandel in
Teilen Deutschlands stark beschleunigt haben.
In dieser Arbeit wird dargelegt, in welchem Ausmaß die Binnenwanderung zwischen Ost-
und Westdeutschland bisher vonstatten gegangen ist, welche Determinanten Einfluss
darauf hatten und wie sich die Zahl der Wanderer im zeitlichen Verlauf seit der
Wiedervereinigung entwickelt hat. Dabei wird auch das Jahr 1989 betrachtet und zum
Zeitraum der Wiedervereinigung gezählt, da schon zu diesem Zeitpunkt viele „Bürger die
immer mehr in Auflösung begriffene DDR“ (WENDT, S.533) verließen. Außerdem sollen
die Besonderheiten der Wanderungen im Hinblick auf alters- und geschlechtsselektive
Tendenzen herausgearbeitet werden. Des Weiteren werden Quell- und Zielgebiete der
Migranten aufgezeigt und die räumlichen Muster, die sich daraus ergeben haben,
beleuchtet. Außerdem werden die Auswirkungen der jeweiligen Wanderungssalden auf
die - in erster Linie neuen - Bundesländer diskutiert. Abschließend wird ein Ausblick auf
mögliche zukünftige Entwicklungen der Binnenwanderung in Abhängigkeit von den
genannten Determinanten gegeben.
4
2. Der Verlauf der Binnenwanderung – Umfang und Determinanten der Migration Betrachtet man den zahlenmäßigen Umfang der Binnenwanderung im zeitlichen Verlauf
seit der Wiedervereinigung Deutschlands, so können deutlich vier Phasen unterschieden
werden. Diese Phasen zeichnen sich durch erheblich voneinander abweichende
Wanderungssalden aus, die sich aus den Veränderungen der Zu- und Fortzüge während
der einzelnen Jahre ergeben (vgl. Abb.1).
Abb.1: Zu- und Abwanderung von Menschen in den neuen Bundesländern sowie
Binnenwanderungssalden mit dem alten Bundesgebiet seit 1989
-400.000
-300.000
-200.000
-100.000
0
100.000
200.000
300.000
400.000
1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001
ZuzügeAbwanderungSaldo
Quelle: BÜTTNER; WENDT, S.535; eigene Darstellung
2.1 1989/90: Die Wiedervereinigung und die Zeit danach Die Jahre 1989 und 1990 bilden den ersten prägnanten Abschnitt der Binnenwanderung.
Mit fast 400.000 Menschen, die in diesem Zeitraum das heutige Ostdeutschland jährlich
per Saldo verließen, wird eine regelrechte „Fluchtbewegung mit teilweise panikartigem
Charakter“ (WERZ, S.24) aus den neuen Bundesländern deutlich. Durch den Fall der
Berliner Mauer sowie der innerdeutschen Grenze war es mit einem Mal problemlos
möglich, das Staatsgebiet der ehemaligen DDR zu verlassen, was zur Zeit des geteilten
Deutschlands nur wenigen offiziell erlaubt worden war, und anderen „nur als
lebensgefährliche Flucht“ (WENDT, S.533) glückte. So gehörten zu den ersten, die die
neuen Bundesländer in der Zeit der Wende verließen, wohl viele Bürger, die durch den
sich abzeichnenden Umbruch und ihrer Unzufriedenheit mit der politischen und
wirtschaftlichen Situation, bereits „auf gepackten Koffern saßen“ (ebd.). Als vorwiegende
Beweggründe kann hier also von sowohl politischen, als auch sozioökonomischen
Motiven ausgegangen werden (vgl. WERZ, S.24). Des Weiteren spielte auch die
Unsicherheit, mit der die Zukunft der neuen Länder einzuschätzen war, eine wichtige
Rolle für die enorme Abwanderung von dort. Dieser Umstand spiegelt sich in der, mit
lediglich 5.000 (1989) bzw. etwa 36.000 Menschen (1990) umfassenden, recht geringen
Zuwanderung aus den alten Bundesländern in den Osten wider (vgl. Abb.1). Neben den
5
genannten Gründen sind als weitere wanderungsauslösende Motive noch die damals
bestehenden, eklatanten Disparitäten in den Lebensbedingungen zwischen dem Gebiet
der ehemaligen DDR und der alten BRD anzuführen. Diese werden in Abschnitt 2.3
rückblickend auf diese Zeit der Wende betrachtet, um so durch eine Gegenüberstellung
die Erfolge des im Folgenden behandelten „Aufschwung Ost“ zu verdeutlichen.
2.2 „Aufschwung Ost“
Die Folgejahre zwischen 1991 und 1995, die als zweite Phase im Verlauf der
Binnenwanderung zwischen Ost- und Westdeutschland zusammengefasst werden
können, sind mit dem oftmals gebrauchten Ausdruck „Aufschwung Ost“ zu
überschreiben. Durch enorme Investitionen in die marode Infrastruktur der Länder der
ehemaligen DDR, begannen die, vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl
versprochenen „blühenden Landschaften“ im Osten Deutschlands zu entstehen.
Dieser „Aufschwung Ost“ äußert sich beim, in Abbildung 1 dargestellten
Binnenwanderungssaldo zwischen den alten und neuen Bundesländern, in einem starken
Rückgang der Bevölkerungsverluste des Ostens. Zurückzuführen ist dies zum einen auf
eine gestiegene Ost-Wanderung „westdeutscher Chancensucher“ (GEIßLER, S.448) und
auf Personen, die ihre ostdeutsche Heimat im Zuge der Wende verlassen hatten, nun
aber dorthin zurückkehrten. Zum anderen sank auch die Zahl der Abwanderungen aus
den neuen Bundesländern – ebenfalls ein Indiz für den beginnenden Aufwärtstrend und
die nun besser einschätzbare und einzuschätzende zukünftige Entwicklung im Osten
Deutschlands. Während sich die Abwanderung bereits 1992 gegenüber dem Wert von
1990 halbiert hatte (400.000 vs. 200.000) und 1994 mit 163.034 Personen ihren
Tiefststand erreichte, stieg die Zahl der Zuwanderer aus den alten Ländern von 5.135 im
Jahr 1989 zunächst bis 1991 auf 80.267 und bis 1995 dann kontinuierlich auf 143.063
Menschen (vgl. Abb.1).
2.3 „Annäherung – aber keine Angleichung“
Der höchste Stand der West-Ost-Wanderung wurde mit 157.348 Migranten 1997 erreicht,
was in Verbindung mit dem vergleichsweise geringen Volumen an ostdeutschen
Abwanderern (167.789) auch gleichzeitig den bislang ausgeglichensten Saldo ergab.
Bereits 1996 war es durch die geringe Abwanderung aus Ostdeutschland zu einem
annähernden Ausgleich bei den Wanderungssalden gekommen. So verließen in dieser,
nur zwei Jahre andauernden, dritten Phase im Verlauf der Binnenwanderung nur noch
24.475 Menschen mehr die neuen Bundesländer, als aus Westdeutschland dorthin zogen
(vgl. Abb.1).
Der Grund hierfür ist in der fortgeschrittenen Annäherung bei den Lebensbedingungen in
den alten und neuen Bundesländern zu sehen – auch wenn es weder zu diesem
Zeitpunkt noch später zu einem wirklichen Ausgleich gekommen ist (vgl. 2.4). „Dennoch
ist das Ost-West-Wohlstandsgefälle innerhalb weniger Jahre ein erhebliches Stück
verringert worden, wenn auch nicht alle Blütenträume, die in der Anfangseuphorie nach
6
dem Zusammenbruch der DDR reiften, in Erfüllung gingen“ (GEIßLER, S.89). Als Erfolge
des „Aufschwung Ost“ sind hier beispielsweise die Steigerung der Ertragskraft
Ostdeutschlands, die Annäherung hinsichtlich der Einkommen, oder die Verbesserung
der Wohnverhältnisse sowie der Konsumgüterausstattung der Bürger des Ostens zu
nennen. So wurde die Lücke beim verfügbaren Einkommen je Einwohner zwischen West
und Ost, die 1991 noch etwa 43% betragen hatte, im Zuge einer „nachholenden
Einkommensexplosion“ (ebd.) bis 1996 auf 17% verringert (vgl. ebd.). Hier kann also von
einer Annäherung gesprochen werden. Die Lücke völlig zu schließen gelang jedoch nicht.
Ebenfalls ersichtlich wird der Aufholprozess der neuen Länder, wenn man die dortige
Entwicklung der Wohnversorgung zwischen 1989 und 1997 betrachtet. Durch die
Renovierung von etwa zwei Dritteln aller ostdeutscher Wohnungen wurde beispielsweise
der Anteil der Wohnungen ohne Bad von 18% im Jahre 1989 auf nur noch 5% 1997
reduziert. Bei Wohnungen ohne moderne Heizung sank die Zahl im gleichen Zeitraum
von 53 auf 15%. Auch die zur Verfügung stehende Wohnfläche je Einwohner wurde bis
1997 von 28m² (1989) auf 34m² gesteigert. Ebenfalls erhöht werden, und zwar auf 31%
(1997), konnte die Wohneigentumsquote die 1993 noch bei 26% gelegen hatte (vgl. ebd.,
S.86). Da jedoch, wie bei allen nun angeführten Indikatoren, auch hierbei die bestehende
Lücke zum Westniveau lediglich verringert, nicht aber geschlossen werden konnte, lässt
sich diese dritte Phase der Binnenwanderung mit dem Slogan „Annäherung – aber keine
Angleichung“ (ebd., S.89) beschreiben.
2.4 Stagnation bei der weiteren Annäherung
Die ausbleibende Beseitigung der Disparitäten zwischen Ost und West ist maßgeblich
dafür verantwortlich, dass sich der positive Trend, der sich bis zu diesem Zeitpunkt mit
einem Rückgang der Wanderungsverluste Ostdeutschlands abgezeichnet hatte, ab 1998
umkehrte. In dieser vierten Phase im Verlauf der Binnenwanderung seit 1989, verließen
fortan wieder immer mehr Menschen die neuen Bundesländer (vgl. Abb.1). Der
stockende Aufholprozess äußert sich beispielsweise darin, dass die in Abschnitt 2.3
angesprochene Verdienstlücke von 1996 bis heute nahezu unverändert erhalten
geblieben ist. Noch 2001 bekam ein ostdeutscher Arbeitnehmer durchschnittlich nur 83%
des Westverdienstes ausbezahlt (vgl. GEIßLER, S.90). Die Enttäuschung der Bürger
Ostdeutschlands über diese Entwicklung zeichnet sich deutlich im nun wieder steigenden
Negativsaldo zwischen den neuen Ländern und dem alten Bundesgebiet ab. Waren
1997, im Jahr der per Saldo geringsten Abwanderung, lediglich etwa 10.000 Personen
mehr aus den neuen Bundesländern abgewandert, als aus dem Westen zuzogen, so
hatte sich diese Zahl bereits im folgenden Jahr nahezu verdreifacht: Ostdeutschland
verlor 1998 über 30.000 Menschen an die alten Bundesländer. Dass sich dieser
Negativtrend auch während der letzten Jahre bestätigte, zeigt der Wanderungssaldo von
2001: in diesem Jahr belief sich die Zahl der Abwanderer aus Ostdeutschland auf
192.000; mit 94.441 Menschen nahmen weniger als die Hälfte den umgekehrten Weg
(vgl. Abb.1).
7
Aus der dargestellten, seit 1998 wieder negativen Tendenz bei den
Binnenwanderungssalden zwischen Ost- und Westdeutschland geht hervor, dass „die
soziale Einheit, im Sinne der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ein
langwieriger Prozess ist“ (GEIßLER, S.91), bei dem nicht zu erwarten war, dass „die
Folgen von fast einem halben Jahrhundert ungleicher Entwicklungen [...] innerhalb
weniger Jahre zu beseitigen“ sind (ebd.).
2.5 Fazit
Ostdeutschland hat zwischen 1989 und 2001 per Saldo rund 1,36 Millionen Menschen an
den Westen verloren. Dies entspricht über acht Prozent seiner etwa 16,7 Millionen
Einwohner des Jahres 1989. Die Folgen, die sich für die neuen Länder aus dieser
massiven Abwanderung unmittelbar ergeben, sind bekannt: Wohnungsleerstand,
sinkende Steuereinnahmen der Länder und Kommunen, sinkende Kaufkraft oder
Ausdünnung der Infrastruktur, um nur einige zu nennen (vgl. BÜTTNER). Jedoch sind
neben diesen Konsequenzen, die aus einem allgemeinen Bevölkerungsverlust
resultieren, noch weitere anzuführen, welche erst durch die im Folgenden beschriebene
Alters- und Geschlechtsselektivität der Binnenwanderung offensichtlich werden.
3. Alters- und geschlechtsspezifische Merkmale der Binnenwanderung Die Betrachtung des Untersuchungszeitraumes liefert im Hinblick auf die
Binnenwanderung zwischen Ost- und Westdeutschland die Erkenntnis, dass es stets die
neuen Länder waren, die Wanderungsverluste haben hinnehmen müssen. Besonders
drastisch wird diese, ohnehin als äußerst negativ einzuschätzende Entwicklung, sobald
man die Wanderungen nach Alter und Geschlecht der Migranten differenziert analysiert.
Hierbei wird deutlich, dass nicht alle Bevölkerungsteile gleichermaßen an der
Abwanderung aus den neuen Ländern beteiligt sind, sondern dass diese sowohl alters-
als auch geschlechtsspezifische Besonderheiten aufweist (vgl. KEMPER, S.11f).
Abb.2: Geschlechtsspezifische Abwanderung aus den neuen Ländern
-250.000
-200.000
-150.000
-100.000
-50.000
0
1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999
Männer
Frauen
Quelle: KEMPER, S. 11; eigene Darstellung
8
Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, waren zum einen stets mehr Frauen aus
Ostdeutschland ab- als zugewandert und zum anderen überstieg diese Abwanderung
weiblicher Personen ab dem Jahr 1991 auch den Negativsaldo der Männer. Während
1996 und 1997 die Zahl der zugewanderten Männer die der abgewanderten gar übertraf,
blieb der Saldo bei den Frauen aus Sicht der neuen Bundesländer über den gesamten
Betrachtungszeitraum hinweg negativ.
Dieser Wanderungsverlust weiblicher Bürger hat dazu geführt, dass beim
Geschlechterverhältnis mancher ostdeutscher Landkreise mittlerweile weniger als 80
Frauen zwischen 18 und 29 Jahren auf 100 gleichaltrige Männer kommen (vgl. BERLIN
INSTITUT FÜR WELTBEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG, S.38). Extrembeispiele hierfür sind die
Landkreise Parchim oder Uecker-Randow in Mecklenburg-Vorpommern, wo dieser Wert
79,3/100 bzw. gar 76,1/100 beträgt (vgl. GEO MAGAZIN, S.9). Bedingt wird dies jedoch
nicht nur durch die höhere Abwanderung von Frauen, sondern auch dadurch, dass an
der entgegen gerichteten West-Ost-Wanderung tendenziell mehr Männer als Frauen
beteiligt sind. Dieser „allgemeine“ Frauenmangel ist an sich bereits ein erstes Argument,
um die mit 1,1 Kindern pro Frau (1999) extrem geringe Geburtenrate der neuen Länder
zu erklären (vgl. GEIßLER, S.53).
Ein zweiter Faktor, der für diesen Geburtenmangel verantwortlich ist, ist der
altersselektive Charakter der Abwanderung aus Ostdeutschland (vgl. Tab.1).
Tab.1: Altersselektivität der Binnenmigration: Wanderungen zwischen Ost- und
Westdeutschland nach Altersgruppen (in 1000)
Quelle: WERZ, S.26
„Seit 1997/98 wird der negative Saldo vor allem durch die 18- bis unter 25-Jährigen
verursacht und mit steigender Tendenz auch durch die 25- bis unter 30-Jährigen“ (WERZ,
S.25). 1998 waren von den 30.700 Personen, die in diesem Jahr die neuen
Bundesländer verließen, 68% zwischen 18 und 25 Jahre alt (vgl. Tab.1). Verknüpft man
nun diese erhöhte Abwanderungsbereitschaft der jüngeren Bevölkerungsteile mit der
geschlechtsspezifischen Abwanderung, so zeigt sich, dass gerade Frauen zwischen 18
und 35 Jahren die Hauptgruppe der Abwanderer stellen: der Anteil weiblicher Personen
betrug in dieser Altersgruppe 1998 fast 65%. Beides, sowohl die übermäßige
Abwanderung jüngerer Bevölkerungsteile, als auch die größere Zahl weiblicher
Menschen, hat sich 1999 fortgesetzt. Zwar sank der Anteil der abgewanderten 18- bis
9
unter 25-Jährigen wegen der gestiegenen Beteiligung anderer Altersgruppen etwas; mit
25.600 von 43.600 Personen (59%) stellen sie jedoch nach wie vor die
Hauptabwanderungsgruppe. Der Frauenanteil blieb bei diesen Jahrgängen mit 64,5%
gegenüber 1998 nahezu unverändert (vgl. Tab.1).
In diesem Negativsaldo bei Frauen im gebärfähigem Alter ist die bereits angeführte,
eminent niedrige Geburtenrate in Ostdeutschland begründet. Diese Konstellation würde
an sich bereits zu einer Überalterung und Schrumpfung der ostdeutschen Bevölkerung
führen. Allerdings wird diese, sich bereits abzeichnende demografische Entwicklung noch
dadurch beschleunigt, dass die einzige Altersgruppe, die aus Sicht der neuen Länder seit
1996 über einen positiven Wanderungssaldo verfügt, diejenige der über 50-Jährigen ist.
Zusätzlich liegt hier der Anteil derer, die bereits älter als 65 Jahre sind, noch einmal
höher (vgl. KEMPER, S.12 sowie Tab.1).
Zusammengefasst ergibt sich für die neuen Bundesländer aus der Abwanderung junger
Leute, sowie der Zuwanderung älterer, und somit oftmals nicht mehr berufstätiger
Personen, eine äußerst negative Entwicklung. Durch den einerseits rückläufigen Anteil
kaufkräftiger Menschen und der steigenden Zahl an Rentnern andererseits, wird das
Sozialsystem Ostdeutschlands stark belastet. Hierin und in der Schrumpfung der
ostdeutschen Bevölkerung sind die fehlenden Steuereinnahmen der Länder und
Kommunen mitbegründet, die notwendig wären, diese Negativentwicklung in der
Sozialstruktur der neuen Bundesländer verkraften zu können (vgl. BÜTTNER).
Für beide dargelegten Besonderheiten, also sowohl für die alters- als auch für die
geschlechtsspezifischen Tendenzen bei der Abwanderung aus Ostdeutschland, lässt sich
- neben familiären und anderen persönlichen Gründen, die vor allem die Gruppe der
sogenannten „Familienwanderer“ (30-50-Jährige, sowie unter 18-Jährige) betreffen - als
primärer Push-Faktor die hohe Arbeitslosigkeit anführen (vgl. GANS u. KEMPER, S.17
sowie Abb.3).
Abb.3: Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland
0
2
4
6
8
10
12
14
16
18
20
in %
1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
West
Ost
Quelle: SOZIALPOLITIK IN DEUTSCHLAND; eigene Darstellung
10
Hier erschließt sich zunächst der unmittelbare Zusammenhang zwischen der
Wanderungsrichtung jüngerer Bevölkerungsgruppen und dem Umstand, dass die
Arbeitslosenquoten des Ostens während des Betrachtungszeitraumes durchschnittlich
um das 1,9fache höher lagen, als die des Westens. Da bei den 18- bis unter 30-Jährigen
die Suche nach einer Ausbildungs- bzw. Arbeitsstelle als maßgebliches
Wanderungsmotiv gilt, wird diese Altersgruppe auch als „Arbeitsplatzwanderer“ (KEMPER,
S. 12) bezeichnet, womit ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Lage des
Arbeitsmarktes und der Abwanderung zum Ausdruck gebracht wird. Gleichzeitig ist hierin
eine mögliche Erklärung für die Wanderungsgewinne des Ostens bei den über 50-
Jährigen zu sehen: Bei diesen sogenannten „Altenwanderer(n)“ (ebd.) hat die
Beschäftigungslage keinen – oder nur sehr untergeordneten - Einfluss auf deren
Wanderungsentscheidung (vgl. ebd.).
Unterscheidet man bei der Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland nun
zusätzlich nach dem Geschlecht der Erwerbslosen, so wird ebenfalls ersichtlich, weshalb
so viele junge Frauen die neuen Bundesländer verlassen (vgl. Abb.4).
Abb.4: Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland nach Geschlecht
0
2
4
6
8
10
12
14
16
18
20
22
24
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000
in %
Männer OstFrauen OstMänner West Frauen West
Quelle: STATISTISCHES BUNDESAMT (2002), S.99; eigene Darstellung
Während im alten Bundesgebiet nur geringfügige Abweichungen zwischen der
Arbeitslosenquote von Männern und Frauen auftreten, ist dieser Unterschied im Osten
wesentlich ausgeprägter. Zwar hat sich diese Differenz seit 1995 erheblich verringert,
allerdings ist dies vorwiegend auf eine stark angestiegene Arbeitslosigkeit unter den
Männern in Ostdeutschland zurückzuführen. Diese stieg bis 2001 von 10,7% (1995) um
7% auf ihren bisherigen Höchststand, während das Maximum der Frauenarbeitslosigkeit
mit 22,5% bereits 1997 erreicht wurde und seitdem leicht rückläufig ist. Frauen sind also
auf dem, im Vergleich zu Westdeutschland ohnehin sehr viel problematischeren
ostdeutschen Arbeitsmarkt, noch einmal schlechter gestellt als Männer, was die
11
überdurchschnittlichen Abwanderungssalden der weiblichen Bevölkerung aus den neuen
Ländern begründet.
Neben der, durch den alters- und geschlechtsselektiven Charakter der Binnenwanderung
zu erklärenden Überalterung und Schrumpfung der ostdeutschen Bevölkerung, kommt
noch ein dritter Faktor hinzu, der die Lage der neuen Länder zusätzlich verschärft: die
bestehende Abwanderungsbereitschaft höher qualifizierter Menschen. Der Grund hierfür
ist in der stark abweichenden Qualifikationsstruktur der Arbeitslosen in Ost- und
Westdeutschland zu sehen. Während im Jahr 2000 auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt
46,3% der als arbeitslos gemeldeten Personen über keine abgeschlossene
Beraufausbildung verfügten, konnten im Osten Deutschlands mehr als drei Viertel der
Arbeitslosen trotz eines erlernten Berufes keinen Arbeitsplatz finden (vgl. STATISTISCHES
BUNDESAMT (2002), S.107). Aus diesem Umstand ergibt sich die erhöhte Abwanderung
qualifizierter Menschen aus den neuen Ländern. Nimmt man nun noch die Disparitäten in
den Verdienstmöglichkeiten zwischen Ost und West hinzu, wird ersichtlich, weshalb die
Bundesländer Ostdeutschlands zunehmend einen Fachkräftemangel zu beklagen haben
(vgl. BÜTTNER).
In diesem Abschnitt wurde dargestellt, welch hoher Stellenwert der Arbeitslosigkeit als
wanderungsauslösendes Motiv beizumessen ist. Es bleibt abzuwarten, wie sich die
kürzlich beschlossene Reform des Arbeitsmarktes im Zuge des sogenannten Hartz IV –
Konzeptes entwickeln wird. Abzusehen ist jedoch, dass die neuen Länder an der
Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe schwerer zu tragen haben
werden, als der Westen. Aufgrund der hohen Arbeitslosenquote im Osten Deutschlands
werden dort anteilsmäßig wesentlich mehr Menschen von den zukünftig geringeren
Unterstützungszahlungen betroffen sein. Für besonders strukturschwache Räume wurde
eine Zusatzförderung in Form von Lohnkostenzuschüssen beschlossen. Ob dies
ausreicht, den absehbaren Kaufkraftverlust auszugleichen, wird sich zeigen müssen.
Diese förderungsberechtigten Regionen definieren sich anhand einer Arbeitslosenquote
von über 15%, was auf die große Mehrheit der ostdeutschen Kreise und kreisfreien
Städte zutrifft. Die weitere Entwicklung dieser strukturschwachen Räume wird ein
Erfolgsmesser für den künftigen Verlauf der Beseitigung bestehender Ost-West-
Disparitäten sein.
4. Wanderungsmuster – der räumliche Ablauf der Binnenwanderung In den vorangegangenen Abschnitten wurde dargelegt, welchen Verlauf die
Binnenwanderung zwischen Ost- und Westdeutschland bisher genommen hat, und
welche Determinanten deren Entwicklung beeinflusst haben. Dabei wurde bisher außer
Acht gelassen, dass sowohl im Westen als auch im Osten, nicht alle Bundesländer in
gleichem Maße von Zu- bzw. Abwanderung betroffen waren und sind. Im Folgenden
sollen daher nun die Quell- und Zielgebiete der Migranten aufgezeigt werden, um somit
zu verdeutlichen, welche Räume von Zuwanderung profitieren konnten, und welche
12
Regionen Bevölkerungsverluste haben hinnehmen müssen. Des Weiteren wird
beleuchtet, wie sich die Siedlungsstruktur innerhalb der neuen und alten Länder durch
sich verändernde Wanderungsmuster entwickelt hat.
4.1 Gewinner und Verlierer der Binnenwanderung im wiedervereinigten Deutschland
Um die Auswirkungen der Binnenwanderung auf die Bevölkerungsentwicklung der
einzelnen Bundesländer analysieren, und damit auch Aussagen über entstandene
Wanderungsmuster treffen zu können, erscheint es sinnvoll, die jeweiligen
Wanderungssalden differenziert nach der Wanderungsrichtung zu betrachten. Hierzu
wurden die von ROLOFF veröffentlichten Daten (vgl. ebd. S.27-183) verwendet und zu der
in Tabelle 2 zu sehenden Übersicht zusammengefasst. Der an die Tabelle anschließende
Text bezieht sich daher vollständig auf diese Datengrundlage.
Tab.2: Binnenwanderungssalden der Bundesländer mit Ost- und Westdeutschland
zwischen 1991 und 1998
mit den alten
Bundesländern*
mit den neuen
Bundesländern* Gesamtsaldo* je 1000 Einwohner
Baden-Württemberg -57.579 +77.066 +19.487 +1,9
Bayern +144.545 +123.060 +267.605 +22,1
Berlin – Ost +14.243 -38.328 -24.085 -18,9
Berlin – West -6.007 -64.344 -70.351 -33,1
Brandenburg -47.616 +36.987 -10.627 -1,5
Bremen -27.234 +7.181 -20.053 -29,8
Hamburg -16.661 +20.027 +3.366 +1,9
Hessen +31.271 +53.172 +84.443 +14,0
Mecklenburg-
Vorpommern -69.245 -1,764 -70.991 -39,5
Niedersachsen -147.055 +58.289 -88.766 -11,3
Nordrhein-Westfahlen +15.726 +84.780 +100.506 +5,6
Rheinland-Pfalz +121.188 +29.583 +150.771 +37,4
Saarland -9.500 +610 -8.890 -8,4
Sachsen -128.483 -2.938 -131.421 -29,3
Sachsen-Anhalt -105.255 -4.296 -109.551 -41,0
Schleswig-Holstein -48.769 +28.901 -19.868 -7,2
Thüringen -81.828 +3.639 -78.189 -31,7
Quelle: ROLOFF, S.27-183; *eigene Berechnungen; eigene Darstellung
Aus den in Tabelle 2 dargestellten Zahlen geht hervor, dass die Bundesländer zwischen
1991 und 1998 in sehr verschiedenem Maße von der Binnenwanderung betroffen waren.
Man kann hierbei vier Arten unterscheiden, wie sich der letztlich ausschlaggebende
Gesamtsaldo zusammensetzt, und die Länder so in vier Gruppen einteilen.
Zur ersten Gruppe zählen diejenigen Länder, die per Saldo sowohl gegenüber den alten,
als auch den neuen Bundesländern Zuwächse zu verzeichnen hatten. Dies waren im
besagten Zeitraum ausschließlich Länder des ehemaligen Bundesgebiets, nämlich
Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfahlen und Rheinland-Pfalz, die somit als die größten
13
Gewinner der Binnenwanderung anzusehen sind. Insbesondere gilt dies für Rheinland-
Pfalz, wie aus der auf je 1000 Einwohner bezogenen, sehr hohen Zuwanderung von 37,4
Bürgern hervorgeht.
Ebenfalls über einen Bevölkerungszuwachs durch innerdeutsche Wanderungen
verfügten Baden-Württemberg und Hamburg. Diese Steigerung kam hier jedoch dadurch
zustande, dass die Zuzüge aus den neuen Bundesländern den Saldo der in andere
westdeutsche Länder Abgewanderten übertraf, und somit den Ländern dieser zweiten
Gruppe einen positiven Gesamtsaldo verschaffte.
Dies gelang den Bundesländern der dritten Gruppe nicht: in Bremen, Niedersachsen,
dem Saarland und Schleswig-Holstein konnten die Verluste an die übrigen
westdeutschen Bundesländer nicht durch die erfolgte Zuwanderung aus Ostdeutschland
ausgeglichen werden. Für Bremen bedeutete dies einen Verlust von 29,8 Bürgern je
1000 Einwohner – hinter West-Berlin der höchste Wert unter den alten Bundesländern.
Ebenfalls einen negativen Gesamtsaldo hatten Brandenburg und Thüringen zu
verzeichnen. Hier überstieg die Zahl der in den Westen Abgewanderten, die der aus den
neuen Ländern zugezogenen Personen. Während Brandenburg jedoch als
Hauptzielgebiet für rein ostdeutsche Wanderungen anzusehen ist – worauf im Weiteren
noch näher eingegangen wird - und daher seine Bevölkerungsverluste an den Westen
etwas kompensieren konnte (-10.627), war die Zahl der nach Thüringen erfolgten Zuzüge
hierfür zu gering: mit 78.189 per Saldo Abgewanderten verlor dieses Bundesland
zwischen 1991 und 1998 statistisch gesehen 31,7 Bürger je 1000 Einwohner.
Auch Ost-Berlin unterlag in diesem Zeitraum räumlichen Bevölkerungsverlusten, was hier
jedoch auf die höhere Abwanderung in andere neue Bundesländer zurückzuführen ist.
Diese übertraf die vorhandene Zuwanderung aus Teilen Westdeutschlands deutlich, so
dass ein Negativsaldo von 24.085 Personen entstand, was einem Minus von 18,9
Bürgern je 1000 Einwohnern entspricht.
Die vierte Gruppe setzt sich letztendlich aus jenen Bundesländern zusammen, die sowohl
mit den ost-, als auch den westdeutschen Ländern Negativsalden aufwiesen. Mit
Ausnahme von West-Berlin waren dies nur neue Bundesländer, nämlich Mecklenburg-
Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt, die so zusammen mit den Ländern der
dritten Gruppe zu den Verlierern der Binnenwanderung zwischen 1991 und 1998 gezählt
werden müssen. Mecklenburg-Vorpommern verlor in diesem Zeitraum 39,5, Sachsen-
Anhalt gar 41 von 1000 Bürgern an ein anderes Bundesland (vgl. Tab.2).
Aus den nun dargelegten Zahlen und Entwicklungen geht hervor, welche Bundesländer
die Quellgebiete der Binnenwanderung zwischen 1991 und 1998 darstellten und welche
zu den Wanderungszielen gehörten. Jedoch verlief die Abwanderung aus einem, bzw.
die Zuwanderung in ein Bundesland natürlich nicht gleichmäßig auf dessen Fläche
verteilt, wie im folgenden Abschnitt näher erläutert wird.
14
4.2 Wanderungsmuster - der räumliche Ablauf der Binnenwanderung
Durch strukturell unterschiedlich verlaufende Bevölkerungsbewegungen haben sich
deutliche Wanderungsmuster herausgebildet. Für den eigentlichen Betrachtungszeitraum
dieser Arbeit, der sich auf die Zeit nach der Wiedervereinigung erstreckt, werden diese in
den Punkten 4.2.2 sowie 4.2.3 genauer beleuchtet.
Jedoch hatte auch der Verlauf der Binnenwanderung in den beiden Staaten des noch
geteilten Deutschlands Einfluss auf diese Entwicklung, weshalb an dieser Stelle auch
darauf kurz eingegangen wird.
4.2.1 Wanderungsmuster im geteilten Deutschland
Vor der Wende bestanden hinsichtlich der Binnenwanderung erhebliche Unterschiede
zwischen dem Gebiet der DDR und dem der ehemaligen Bundesrepublik. Dies bezieht
sich sowohl auf das Volumen der Migration, deren Umfang im sozialistischen Osten
aufgrund staatlicher Einflussnahme auf das Wanderungsgeschehen, nicht das
Westniveau erreichte, als auch auf deren räumliche Struktur (vgl. WENDT, S.529).
Während in den Ländern des alten Bundesgebiets deutliche Suburbanisierungsprozesse
und „phasenweise eine interregionale Deurbanisierung (...) mit Wanderungsgewinnen
von ländlichen Räumen“ (KEMPER, S.10) abliefen, traf auf das Gebiet der ehemaligen
DDR eher das Gegenteil dessen zu: Hier waren es Urbanisierungsprozesse, die
„zunehmend vom Wohnungsneubau, der sich auf die Bezirksstädte, vor allem aber Berlin
mit ihrer Hauptstadtfunktion, konzentrierte“ (WENDT., S.529), ausgelöst worden waren. In
der DDR erfuhren die Kernstädte also, im Gegensatz zu Westdeutschland, erhebliche
Zuwachsraten, während ländliche, peripher gelegene Regionen die höchsten Verluste zu
verzeichnen hatten (vgl. KEMPER, S.10).
4.2.2 Die räumlichen Muster der Binnenmigration nach der Wiedervereinigung
Das im vorangestellten Abschnitt erläuterte, durch Konzentration charakterisierte
Wanderungsmuster der DDR, änderte sich nach der Wiedervereinigung grundlegend.
Zunächst war, wie in dieser Arbeit dargelegt, eine enorme West-Wanderung ostdeutscher
Bürger festzustellen, die alle regional verlaufenden Migrationen überdeckte (vgl. ebd.,
S.13). Nach dieser, bis 1993 andauernden Phase trat ab 1994/95 ein erneuter Wandel
der Wanderungsmuster ein: „Ostdeutschland ist in den 90er Jahren durch eine Welle der
Wohn-Suburbanisierung gekennzeichnet“ (ebd., S.10), die auf einen „Nachholbedarf an
Stadt-Umland-Wanderung“ (BUCHER et al., S.118) zurückzuführen ist. Deutlichstes
Beispiel dieser nachholenden Suburbanisierung ist die Region Berlin-Brandenburg. Der
aus Tabelle 2 zu entnehmende, für ein neues Bundesland mit 10.627 Personen zwischen
1991 und 1998 sehr niedrige Bevölkerungsverlust Brandenburgs, resultiert zu einem
beträchtlichen Teil aus solchen Suburbanisierungsprozessen des Berliner Stadtgebiets.
Aus „Gesamtberlin“ zogen zwischen 1991 und 1998 mehr als 100.000 Bürger in das
brandenburgische Umland, und reduzierten so die ansonsten erheblich höheren Verluste
15
dieses Bundeslandes (vgl. ROLOFF, S.139). Während die Umlandregionen also von
solchen Suburbanisierungsprozessen profitieren, ergeben sich daraus gleichzeitig
vielschichtige Probleme für die Quellgebiete der Randwanderung – den Kernstädten: „So
erhält diese Tendenz (...) eine bisher nicht da gewesene Brisanz, die zu Störungen des
traditionellen „Gleichgewichtes“ zwischen Bestand und Nachfrage auf dem
Wohnungsmarkt, Nutzung und Leerstand sowie Funktion, Struktur und Gestalt der Städte
führen muss“ (KEIM, S.15f.). Neben den Kernstädten müssen auch die peripher
gelegenen Regionen Ostdeutschlands zu den Quellgebieten der Binnenwanderer gezählt
werden, da von dort ebenfalls Migrationsströme ausgehen.
4.2.3 Der Wandel der Wanderungsmuster und die räumlichen Auswirkungen
Der beschriebene Wandel im Migrationsgeschehen hatte und hat erhebliche
Auswirkungen auf die Raum- und Siedlungsstruktur der Bundesländer. Da sich jedoch
aus den bisher dargestellten Wanderungssalden der einzelnen Länder keine
Rückschlüsse auf die „interne Struktur“ der Zu- oder Abwanderung ziehen lassen, soll
hier nun stärker räumlich differenziert auf die Auswirkungen der Binnenwanderung
eingegangen werden.
Um die entstandenen Wanderungsmuster darzustellen, hat das BERLIN INSTITUT FÜR
WELTBEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG die dargelegten Tendenzen für das gesamte
Bundesgebiet ermittelt und, wie in Abbildung 5 zu sehen, veranschaulicht. Hierzu wurden
die einzelnen Landkreise der Bundesländer für den Zeitraum 1997 bis 2001 hinsichtlich
ihrer Binnenwanderungssalden untersucht (vgl. BERLIN INSTITUT FÜR WELTBEVÖLKERUNG
UND ENTWICKLUNG, S.13).
Aus Abbildung 5 wird ersichtlich, dass das zu Beginn der 90er Jahre bestehende
Wanderungsmuster von durchgängigen Verlusten des Ostens, und ebensolchen
Gewinnen des Westens, keine Gültigkeit mehr besitzt. Vielmehr scheint es nun, als seien
es „große regionale Differenzierungen vor allem in den neuen Bundesländern“ (KEMPER,
S.13), die vorherrschend an der Entstehung von Wanderungsmustern beteiligt waren und
sind. Zu diesen regional unterschiedlich verlaufenden Prozessen zählen in erster Linie
die bereits erwähnten Suburbanisierungsprozesse, die Bevölkerungsgewinne für das
Umland zu Lasten der Kernstädte mit sich bringen. Hinzu kommt die voranschreitende
Entleerung peripher gelegener, ländlicher Regionen, deren abwandernde Bevölkerung
ebenfalls hauptsächlich die Umgebung von Agglomerationsräumen zum Ziel hat. So
liegen „die Kreise mit den höchsten Zuwanderungsgewinnen (...) ausnahmslos in den
Speckgürteln der Städte“ (BERLIN INSTITUT FÜR WELTBEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG,
S.13).
Dass sowohl die Verluste der Kernstädte, als auch die Stadt-Umland-Wanderung im
gesamten Bundesgebiet voranschreiten, belegen die, in Abbildung 5 grün respektive rot
dargestellten - und damit Ab- bzw. Zuwanderung signalisierenden - Stadt- und
16
Umlandkreise. Dies trifft sowohl auf den Westen, als auch auf den Osten zu, was an der
vergleichbaren Illustration der Städte Berlin, München, Hamburg und Bremen, sowie
Rostock, Leipzig, Halle und Magdeburg deutlich wird (vgl. Abb.5). In den Großräumen um
diese Städte waren, mit per Saldo zwischen 10 und über 15 Zugewanderten je 1000
Einwohner, die höchsten Zuwachsraten durch Binnenwanderungen zu verzeichnen.
Dem hingegen scheint die erwähnte Entleerung ländlicher Räume ein Problem zu sein,
das wesentlich stärker den Osten Deutschlands betrifft. Während „für die alten Länder
flächenweite Gewinne für Bayern, Baden-Württemberg, und Rheinland-Pfalz, aber auch
für Schleswig-Holstein und Niedersachsen“ (KEMPER, S.13) zu verzeichnen waren, wird in
vielen peripher gelegenen Regionen der neuen Bundesländer ein starker
Bevölkerungsverlust ersichtlich (vgl. Abb.5).
Vergleichbare Negativsalden hatten - neben den Kernstädten - auch diejenigen
westdeutschen Regionen zu verkraften, in denen es durch den Strukturwandel der
Wirtschaft zu enormen Problemen auf dem Arbeitsmarkt gekommen war. Hierzu sind in
erster Linie altindustriell strukturierte Räume wie das Ruhrgebiet, das Saarland oder
Bremerhaven zu zählen (vgl. Abb.5).
Abb.5 Durchschnittliche jährliche Wanderungssaldorate 1997 bis 2001
je 1.000 Einwohner
Quelle: BERLIN INSTITUT FÜR WELTBEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG, S.13
17
Mittlerweile hat sich der Trend der Suburbanisierung wieder abgeschwächt. Der
diesbezügliche Nachholbedarf scheint nunmehr weitgehend gedeckt zu sein, nachdem
die Stadt-Umland-Wanderung und damit der Landschaftsverbrauch, vor allem zur Mitte
und gegen Ende der 1990er Jahre in Ostdeutschland ein enormes Ausmaß erreicht
hatte. So wird für die Kernstädte erwartet, dass sie nicht mehr in solch hohem Maße von
der Abwanderung betroffen sein werden, und so ihre Verluste - im Gegensatz zu den
ländlichen Regionen der neuen Länder – werden verringern können (vgl. KEMPER, S.14).
Somit ist zu erwarten, dass es, bei einem Fortbestehen der momentanen Entwicklung,
durch die Entleerung peripherer Gebiete zu Konzentrationen auf bestehende
Agglomerationsräume kommen wird.
5. Fazit In dieser Arbeit wurde dargelegt, dass durch die Wiedervereinigung von 1990, die beiden
ehemals geteilten Staaten - die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche
Demokratische Republik – zwar formal wieder als Einheit anzusehen sind, es jedoch
noch viele Disparitäten zwischen Ost- und Westdeutschland zu beseitigen gilt.
Es wurde zum einen gezeigt, welches die Faktoren waren und sind, die die zeitweise
enorme, und mittlerweile - nach einer Phase der Annäherung - auch wieder zunehmende
Abwanderung aus den neuen Bundesländern, ausgelöst haben. Zum anderen wurde
verdeutlicht, inwieweit der alters-, geschlechts- und qualifikationsselektive Charakter
dieser Abwanderung, die sich daraus ergebenden Probleme noch weiter verstärkt.
Abschließend wurde auf die räumlichen Auswirkungen der Binnenwanderung zwischen
Ost- und Westdeutschland seit der Wiedervereinigung eingegangen. Hiermit wurde
gezeigt, dass die Binnenmigration unterschiedliche Intensitäten aufwies, und damit auch
ungleiche Auswirkungen auf die Bundesländer, Landkreise und Städte der
Bundesrepublik hatte und weiterhin haben wird. Dies betrifft vor allem den
demografischen Wandel und dessen zukünftige Entwicklung. Um hierfür einen
Zukunftsausblick geben zu können, bedarf es jedoch der Betrachtung und Analyse
weiterer demografischer Faktoren. Dies wären das Fertilitätsniveau und die Sterblichkeit,
sowie die Außenwanderung als zweite Komponente der räumlichen
Bevölkerungsbewegung, was jedoch nicht Thema dieser Ausführungen sein soll.
Dessen ungeachtet ist der, in dieser Arbeit behandelten Binnenwanderung „eine
determinierende Bedeutung“ (ROLOFF, S.185) in Bezug auf den demografischen Wandel
beizumessen. Um also die beschriebenen Negativfolgen der selektiven Abwanderung
aus Ostdeutschland – die beschleunigte Schrumpfung und Überalterung der Bevölkerung
der neuen Länder - mindern zu können, bedarf es letztendlich einer wirklichen
Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West. Nur so kann ein weiteres
„ausbluten“ der betroffenen Regionen vermieden werden. Dabei muss es künftig darauf
ankommen, ein - wie GEIßLER (S.92) es formuliert hat - „goldenes Tempo zu finden, das
weder die Geduld der Ostdeutschen noch die Solidaritätsbereitschaft der Westdeutschen
überfordert.“
18
LITERATUR BERLIN INSTITUT FÜR WELTBEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG (Hrsg.) (2004): Deutschland 2020. Die demografische Zukunft der Nation. www.berlin- institut.org/kompl.pdf (02.07.2004) BUCHER, H.; SCHLÖMER, C.; LACKMANN, G. (2004): Die Bevölkerungsentwicklung in den
Kreisen der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1990 und 2020. In: Informationen zur Raumentwicklung, 4/2004, Heft 3, S.118.
BÜTTNER, H.: Abwanderung stoppen. www.bundestag.de/mdbhome/BuettHa0/abwanderung.htm (16.06.2004)
GANS, P.; KEMPER, F.-J. (2003): Ost-West-Wanderungen in Deutschland – Verlust von Humankapital für die neuen Länder?. In: Geographische Rundschau, Jg. 55, Nr.6, S.16-18. GEIßLER, R. (2002): Die Sozialstruktur Deutschlands. Die gesellschaftliche Entwicklung
vor und nach der Vereinigung, Bd.384, Bonn 2002.
GEO MAGAZIN (2004): Deutschlands Zukunft. Beilage zu den demographischen Perspektiven Deutschlands. www.geo.de/GEO/static/demographie/beilage.pdf (06.07.2004)
KEIM, K.-D. (Hrsg.) (2001): Forschungs- und Entwicklungsprogramm zur Regenerierung
der ostdeutschen Städte. In: Regenerierung schrumpfender Städte – zur Umbaudebatte in Ostdeutschland. S.9-41.
KEMPER, F.-J. (2003): Binnenwanderungen in Deutschland: Rückkehr alter Muster?. In: Geographische Rundschau, Jg. 55, Nr.6, S.10-15.
ROLOFF, J. (2000): Die demographische Entwicklung in den Bundesländern Deutschlands (=Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Bd. 100). Wiesbaden. STATISTISCHES BUNDESAMT (Hrsg.) (2002): Datenreport 2002. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bd.376, Bonn 2002., SOZIALPOLITIK IN DEUTSCHLAND AKTUELL (2004): Arbeitsmarkt und Erwerbstätigkeit.
http://www.sozialpolitik-aktuell.de/docs/4/tab/TabelleIV.13.pdf (06.7.2004) WENDT, H. (1994):Wanderungen nach und innerhalb von Deutschland unter besonderer
Berücksichtigung der Ost-West-Wanderungen. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Jg.19, Nr.4, S.517-540.
WERZ, N. (2001): Abwanderung aus den neuen Ländern von 1989 bis 2000. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 39-40, S. 23-31.
19