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Arbeitsstelle „Kirche im Dialog“ Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland „The times, they are a-changin’…“ Kasualien neben den Kirchen

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Arbeitsstelle „Kirche im Dialog“Evangelisch-LutherischeKirche in Norddeutschland

„The times, they are a-changin’…“Kasualien neben den Kirchen

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„The times, they are a-changin’…“Kasualien neben den Kirchen

Arbeitsstelle „Kirche im Dialog“Evangelisch-LutherischeKirche in Norddeutschland

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Inhalt

1. „The times, they are a-changing…“ 6

2. Kasualien in der Nordkirche – ein statistischer Überblick 8

3. Einstellungen zu kirchlichen Kasualangeboten 13

4. Passagerituale – Näherung an ein modernes Praxisfeld 164.1 Ritualdesign zwischen Tradition und Innovation 164.2 Ritualdesigner – eine neue Profession 18

5. „Fast wie in der Kirche…“ 205.1 Namensweihe 215.1.1 Freie Ritualdesigner 215.1.2 Humanistische Organisationen 225.1.3 Weitere Angebote 23

5.2. Jugendweihe 255.2.1 Jugendweihe im Wandel der Zeiten 255.2.1.1 Jugendweihe vor 1933 265.2.1.2 Jugendweihe 1933–1945 275.2.1.3 Jugendweihe 1945–1989 285.2.1.4 Jugendweihe ab 1990 305.2.2 Freie Ritualdesigner 335.2.3 Weitere Angebote 33

5.3 Hochzeit 345.3.1 Freie Ritualdesigner 345.3.2 Humanistische Organisationen 385.3.3 Weitere Angebote 38

5.4 Trauerfeier 395.4.1 Freie Ritualdesigner – Trauerredner 425.4.2 Humanistische Organisationen 445.4.3 Weitere Angebote 45

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6. Erlebnisse und Ergebnisse mit einem fremden Blick 466.1 Der fremde Blick – Bestattungspraxis und Kirchenfremde

(Oktober 2013) 466.2 Der fremde Blick II – Taufe (Februar 2016) 49

7. Amtshandlungen auf dem Areopag des Ritualdesigns 54

Literaturverzeichnis 58

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Die Titelzeile des über fünfzig Jahre alten Bob Dylan-Songs trifft auch für die überlange Zeiten hin fast ausschließlich von den christlichen Kirchen angebotenen Pas-sagerituale zu. Die Monopolstellung christlicher Sakramente und Kasualien- bzw.Amtshandlungsangebote ist einer bunten Vielfalt gewichen. Neben den Kirchen isteine vielgestaltige und stetig größer werdende Szene von Rednern und Ritualdesig-nern entstanden, auch wenn im Gesamt die Zahlen der nichtkirchlichen Passageri-tuale das Niveau der kirchlichen noch nicht erreichen.

Ritualdesigner bieten ihre Dienste für Namensweihe- bzw. Geburtsfeste, für Fei-ern um die Adoleszenz, zur Heirat, anlässlich des Todes und für andere besondereAnlässe (Silberne und Goldene Hochzeit, Jubiläen, Berufsende etc.) an.

Mittlerweile gibt es je nach Passageritual eine steigende Anzahl von Menschen,die sich an Redner bzw. Ritualdesigner wenden, um eine rituelle Begleitung zu einem Wendepunkt im Leben zu erhalten. In den Medien wird dieses Thema seit einigen Jahren verstärkt aufgegriffen. 1 Im bundesdeutschen Durchschnitt dürfteninzwischen nach Schätzungen zwischen 5% und 10% der Hochzeiten und rund25% der Bestattungsfeiern durch entsprechende Angebote begleitet werden. Nichtnur die Konfessionslosen und Kirchenfernen nehmen die Dienste von Ritualdesig-nern in Anspruch. Auch Kirchenglieder wenden sich offenbar in zunehmendemMaße an außerkirchliche Anbieter. 2

Diese Broschüre soll Einblicke in ein erst in Ansätzen erforschtes Feld der Le-bensbegleitung geben. Denn die große Selbstverständlichkeit, mit der Kasualienals „fast so etwas wie die letzte Bastion gegen die fortschreitende Marginalisierungin der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen“ 3 angesehen wurden, ist angesichts der vorliegenden Daten nur noch mit Einschränkungen aufrecht zu er-halten. 4 Immer mehr Menschen machen Erfahrungen mit Ritualdesignern, erleben

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1. „The times, they are a-changin’…“

1 Fernsehsendungen: Pfarrer zu mieten, in: Gott und die Welt, Das Erste, Sendung in der ARD am 4.11.2012,17:30–18:00 Uhr. Sterben ohne Glauben, in ARD-Themenwoche „Leben mit dem Tod“, Exclusiv im Ersten,Sendung in der ARD am 24.11.2012, 15:30–16:00. Presseberichte: Büchse, Nikolas /Rabsch, Thomas: Der Letzte macht das Licht aus, in: Stern 39/2011, vom 22.9.2011, S.54–65. Dänzer-Vanotti, Irene: Gänsehautund Tränen. Enttäuscht von ihrer Kirche, arbeiten zwei ehemalige Pfarrerinnen heute als freie Theologinnen, in:Publik-Forum, Nr. 11, 2012, S. 40–41. Bianka Echtermeyer: Reden für Verstorbene – von Traurigkeit und Lachen, ohne Datum (2014), http://www.brigitte.de/liebe/persoenlichkeit/reden-fuer-verstorbene-1222018/(Letztmaliger Zugriff auf alle in den Anmerkungen genannten Internetadressen wenn nicht anders angegebenam 24.05.2016.). Tim Kummert: Mehr als Standesamt und Imbiss, in: FASZ, 05.06.2016.2 Vgl.: „Pfarrer zu mieten“ aus der Sendereihe „Gott und die Welt“, Das Erste, ARD, 4.11.2012; „Sterben ohneGlauben“, ARD-Themenwoche: „Leben mit dem Tod“, Exclusiv im Ersten, Das Erste, ARD, 24.11.2012.3 Vgl. Bernd-Michael Haese: Kasualien – Lust und Last im pastoralen Dasein. Impulsreferat auf dem Konventdes KK Althamburg, Koppelsberg/Plön, 20.06.2005, Download am 06.02.2014 von: http://www.uni-kiel.de/fak/theol/pt/haese/moodle/file.php/1/lustundlast.pdf.4 Stefan Schütze: Die Kasualie Trauung im Wandlungsprozess. „Alternative Trauungen“ und „Lebensfeiern“durch „Freie Theologen“ als Herausforderung für kirchliches Handeln, in: Materialdienst der EZW 3/05, Berlin2005, S.102.

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diese etwa bei Hochzeitsfeiern auf dem Schiff oder nehmen Abschied in einer Trau-erfeier, die von einem Redner im Wald gestaltet wird. Dies hat Einfluss auch auf diekirchlichen Kasualien – nicht allein wegen der entstandenen Konkurrenz, sondernauch, weil Gestaltungselemente und Inhalte nichtkirchlicher Feiern oft als ganzselbstverständlich auch bei kirchlichen Kasualien vorausgesetzt und verlangt wer-den.

Neben einem Blick auf die Statistiken zu den Kasualien im Bereich der Nordkir-che möchte diese Broschüre einen Überblick über die Grundlagen und die Praxisdes Ritualdesigns geben. Betrachtet werden die Angebote von Ritualdesignern, humanistischen Organisationen und – exemplarisch – weiteren Anbietern der frei -religiösen und neuheidnischen Szene, die im Bereich der Nordkirche eine Rollespielen. Ausgespart bleibt der Bereich der esoterischen Szene; die Darstellung derdort angebotenen Ritualbegleitung hätte den Rahmen dieser Studie gesprengt.

Zudem wird auf zwei Seminare eingegangen, die das Gottesdienstinstitut derNordkirche gemeinsam mit der Arbeitsstelle Kirche im Dialog durchgeführt hat undin deren Rahmen Konfessionslose kirchliche Kasualgestaltung wahrnahmen unddarauf mit ihren Beobachtungen und Fragen reagierten. Dies kann einer kirchlichenAmtshandlungspraxis helfen, besser zu verstehen, ob und wie die intendierte Bot-schaft bei denen ankommt, die der Kirche innerlich fern sind. Und es kann helfen,eine Sprache zu finden für jene, die auch das andere – Ritualdesign – kennen undgleichwohl zur Kirche kommen und um Begleitung in einem schönen oder belaste-ten Moment des Lebens bitten.

Kirchliche Kasualien und Ritualdesign existieren nebeneinander. Und so sollendie folgenden Ausführungen zum Verstehen dessen beitragen, was oftmals nur amRande wahrgenommen wird.

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Der Blick auf die statistischen Daten zu den Taufen, Konfirmationen, Trauungen undTrauerfeiern im Bereich der Nordkirche zeigt, dass die Wahrnehmung kirchlicherKasualien gemäß der von der EKD jährlich veröffentlichten Statistik „Die Äußerun-gen des kirchlichen Lebens“ abnimmt. Diese Entwicklung ist nicht nur in Bezug aufdie absoluten Zahlen festzustellen; auch die Kirchenmitgliedschaft ist offenbar nichtmehr für alle Mitglieder ausschlaggebend, die Dienste der Kirche auch tatsächlichin Anspruch zu nehmen. Insofern ist der Rückgang der Amtshandlungszahlen nichtnur der demographischen Entwicklung geschuldet, sondern auch Ausdruck einerEntkirchlichung und einer Entfremdung von den kirchlichen Kasualangeboten, dienicht vor den Kirchenportalen Halt macht. 5

KirchenmitgliedschaftDie Kirchenmitgliedschaftszahlen in der Nordkirche haben in den letzten Jahrzehn-ten kontinuierlich abgenommen. Die degressive Mitgliedschaftsentwicklung betrifttdas gesamte Gebiet der Nordkirche, wenn auch mit regionalen Unterschieden zwi-schen dem Großraum Hamburg und Schleswig-Holstein, innerhalb Schleswig-Hol-steins zwischen urbanen und ländlichen Räumen und innerhalb der beiden Spren-gel Mecklenburg-Vorpommerns. So werden in den nachstehenden Grafiken dieVeränderungen im Bereich der drei ehemaligen Landeskirchen, die 2012 zur Nord-kirche fusionierten, betrachtet: Nicht regionale Unterschiede zwischen Stadt undLand bzw. zwischen verschiedenen urbanen Milieus, sondern vielmehr jene auf-grund der durch die unterschiedliche historische Entwicklung im östlichen und imwestlichen Teil der Nordkirche.

Während zur Jahrtausendwende im Gebiet der heutigen Nordkirche noch rund50% der Bevölkerung im Westen und rund 20% im Osten der ev.-luth. Kirche ange-hörten, sind es 2014 im Westen etwas mehr als 40% und im Osten 16%. Diese

2. Kasualien in der Nordkirche – ein statistischer Überblick

5 Die in den Grafiken dargestellten Zahlen beruhen auf den von der EKD jährlich veröffentlichten Statistiken„Äußerungen des kirchlichen Lebens“ für die Jahre 2000(https://www.ekd.de/download/kirch_leben_2000.pdf), 2005(https://www.ekd.de/download/kirch_leben_2005.pdf,https://www.ekd.de/download/kirch_leben_2005_bundeslaender.pdf), 2010(https://www.ekd.de/download/kirch_leben_2010.pdf,https://www.ekd.de/download/kirch_leben_2010_bundeslaender.pdf,https://www.ekd.de/download/kirch_leben_2010_bundeslaender.pdf) und 2014(https://www.ekd.de/download/kirch_leben_2014.pdf). Darüber hinaus sind in den Grafiken Daten aufgenom-men worden, die vom Landeskirchenamt der Nordkirche am 03.05.2016 zur Verfügung gestellt wurden.Die jeweiligen Quoten sind anhand der Zahlen des Statistikamts Nord für Hamburg und Schleswig-Holstein(http://www.statistik-nord.de/daten/bevoelkerung-und-gebiet/), des Statistischen Landesamts Mecklenburg-Vorpommern (http://www.statistik-mv.de/cms2/STAM_prod/STAM/de/bhf/index.jsp) und des StatistischenBundesamtes(https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerung.html) berechnet worden.

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Zahlen erklären sich zum einen durch die demographische Entwicklung (Sterbe-fälle) und durch Kirchenaustritte, denen gegenüber die Zahlen für Wiedereintritteund Taufen deutliche geringer bleiben.

TaufenEinhergehend mit den sinkenden Kirchenmitgliedschaftszahlen haben auch dieZahlen für Amtshandlungen (Taufe, Konfirmation, Trauung, Trauerfeier) seit 2000zum Teil deutlich abgenommen.

Während im Jahr 2000 im Gebiet der Nordkirche im Westen noch 24.300 und imOsten 2.600 Taufen gefeiert wurden, waren es 2014 im Westen nur mehr 17.300 undim Osten 1.900. Bei der Taufquote wurden alle Getauften (einschließlich der Konfirman-den- und Erwachsenentaufen) ins Verhältnis zu den Neugeborenen des jeweiligen Jahr

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gesetzt. Während im Westen der Nordkirche die Zahl der Neugeborenen zwischen2000 (43.079) und 2014 (41.382) nur um 2,9% sank, ging die Zahl der Taufen um19,5% zurück. Im Osten der Nordkirche nahm die Zahl der Neugeborenen von 2000(13.319) bis 2014 (12.830) um 3,7% ab; die Zahl der Taufen verringerte sich um 21,5%.

KonfirmationenBei den Konfirmationen sind die Zahlen im Westen der Nordkirche nach einem Hö-hepunkt im Jahr 2005 (25.273) kontinuierlich gesunken; im Jahr 2014 wurden19.585 Konfirmationen gefeiert. Zu der aus den absoluten Zahlen abzulesendengeringen Resonanz der Konfirmation bei Jugendlichen korrespondieren mit dennach wie vor recht hohen Zahlen bei der Jugendweihe im Osten Deutschlands. Da-rüber hinaus wiesen diese Zahlen auch darauf hin, dass trotz der im Westen derNordkirche noch hohen Bereitschaft unter Jugendlichen, sich konfirmieren zu las-sen, der Anteil der Jugendlichen im konfirmationsfähigen Alter, die diese Kasualiewahrnehmen, sich zwischen 2010 und 2014 bei rund 40% bis 45% der Jugendli-chen einpendelt; in den Jahren vor 2005 lag der Anteil regelmäßig deutlich über50%. Im Osten der Nordkirche sind die Konfirmationszahlen schon zur DDR-Zeitdurch die repressive Kirchenpolitik des Staates und die Propagierung der Jugend-weihe als dem staatskonformen Passageritual gering gewesen. Der Anteil der Ju-gendlichen im entsprechenden Alter, die sich für die Konfirmationen entschieden,lag in den Jahren zwischen 2010 (11%) und 2014 (9%), nimmt in der Tendenz ab.

Aussagekräftig ist neben der absoluten Zahl der Konfirmationen auch der Index„Konfirmierte je 100 Gemeindeglieder“. Dieser Index ist im Westen der Nordkirchenach einem Höhepunkt im Jahr 2005 kontinuierlich leicht gesunken. Auch der In-dex „Konfirmierte je 100 Gemeindeglieder“ ist im Osten der Nordkirche deutlich ge-ringer als im Westen. Er lag im Jahr 2000 bei 0,73 Konfirmierte je 100 Gemeinde-glieder und ist im Jahr 2014 auf 0,45 gesunken. Diese Zahlen verdeutlichen, dasssich auch ohne den demographischen Wandel und Kirchenaustritte jüngere Gene-rationen die Kirchenmitgliedschaftszahlen nicht werden stabil halten können.

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TrauungenEine den Taufzahlen vergleichbare Entwicklung ist im Westen der Nordkirche auchbei den Trauungen (einschließlich der Gottesdienste anlässlich der Eheschließung)festzustellen. Dort sank die Zahl der Paare, die eine standesamtliche Eheschließungfeierten, vom Jahr 2000 (25.714) um 13,7% im Jahr 2014 (22.182). Im gleichen Zeit-raum nahm die Zahl der Trauungen um 42,4% ab (im Jahr 2000: 7.355; im Jahr2014: 4.239). Im Osten der Nordkirche hingegen war die Zahl der standesamtlichenEheschließungen gegenüber 2000 (8.083) im Jahr 2014 (10.678) um 32,1% höher;die Zahl der Trauungen nahm im gleichen Zeitraum von 774 (2000) auf 875 (2014)zu, hat sich also um 13% erhöht; die deutlich gestiegene Zahl der Eheschließungenhat zu einer leichten Erhöhung bei den kirchlichen Trauungen geführt. Hinzuweisenist hier zudem darauf, dass im Osten der Nordkirche die Trauungen, bei denen beide

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Partner der Kirche angehören, und die Gottesdienste anlässlich der Eheschließung,bei denen zumindest ein Partner der Kirche nicht angehört, in etwa gleich sind.

BestattungenBestattungen sind zwar nach wie vor die am stärksten in Anspruch genommenekirchliche Kasualie. Allerdings sinkt auch die Zahl der kirchlichen Trauerfeiern signi-fikant. So ist im Westen der Nordkirche die Zahl der Sterbefälle in der Gesamtbevöl-kerung zwischen 2000 (48.031 Sterbefälle) und 2014 (48.455) stabil geblieben; dieZahl kirchlicher Bestattungen (2000: 24.685 ev. Bestattungen; 2014: 18.451) je-doch ist um 25,3% zurückgegangen. Im Osten der Nordkirche ist die Bestattungs-quote noch deutlicher gesunken. Hier ist die Zahl der Sterbefälle von 2000 (17.460Sterbefälle) bis zum Jahr 2014 (18.918) um 8,4% – und damit auch die Zahl der ver-storbenen ev.-luth. Gemeindeglieder – gestiegen. Gleichzeitig nahm die Zahl kirch-licher Bestattungen um 18,7% von 3.754 (2000) auf 3.052 ab.

Auffallend an den statistischen Daten ist die nur für einige Jahre erhobene Be-stattungsquote der verstorbenen evangelischen Kirchenmitglieder, für die aucheine evangelische Trauerfeier durchgeführt wurde: Im Jahr 2010 wurden im Westender Nordkirche von den 28.350 verstorbenen Kirchenmitgliedern nur 20.207 mit ei-ner kirchlichen Trauerfeier begleitet (71,28%). Es steht zu vermuten – auch wennhierzu seit einigen Jahren keine statistischen Daten vorliegen –, dass die Quote derdurch eine kirchliche Trauerfeier begleiteten verstorbenen evangelischen Kirchen-mitglieder weiter gesunken sein dürfte. Neben der Inanspruchnahme von Trauer-rednern durch Angehörige 6 ist zudem davon auszugehen, dass für einen großenTeil dieser Verstorbenen keine Trauerfeier durchgeführt wurde.

Die Abnahme bei den Kirchenmitgliedschaftszahlen korreliert mit einer sukzes-sive geringer werdenden Inanspruchnahme kirchlicher Kasualien. Diese Wahrneh-mung des durch die Zugehörigkeit zur Kirche bestehenden Anspruchs auf kirch -liche Begleitung in den Schwellenmomenten des Lebens und Sterbens ist ganz offenkundig auch für Kirchenmitglieder nicht mehr selbstverständlich.

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6 S. u. 5.4.1.

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Vor allem bei Hochzeiten und Trauerfeiern hat sich neben den Kirchen in den letz-ten zwei Jahrzehnten ein immer breiteres Angebot von Ritualdesignern, Trauungs-und Trauerrednern etabliert. Im Folgenden werden stichprobenartig erhobene Er-gebnisse aus acht Interviews mit Ritualdesignern, Trauerredner und Bestattern, diesich bei Besuchen von rund fünfzehn durch freie Redner gestalteten Trauerfeiernbestätigten, zusammenfassend dargestellt. Die Namensweihefeier spielte in derFeldforschung eine untergeordnete Rolle; dieses Angebot wird zumindest im Wes-ten nur sehr selten in Anspruch genommen; auch im Osten erfährt es nur eine ver-gleichsweise geringe Resonanz und ist dort vor allem bei den Jugendweiheverbän-den verortet. Ebenfalls nicht berücksichtigt werden Jugendweihefeiern, die weitest-gehend verbandsmäßig organisiert sind und kein Marktsegment darstellen, das innennenswerter Weise von Ritualdesignern „bespielt“ wird.

Kunden von Ritualdesignern/Rednern wünschen eine Kasualie ohne Überraschun-gen, aber ein individuelles und persönliches Ritual hinsichtlich:– der Form und des Ablaufs, die zwischen Klienten (Kunden) und

Ritualdesigner/Redner ausgehandelt werden;– des Ortes bei Hochzeiten;− der Musik, die den individuellen Wünschen entsprechen soll;− weitgehenden Verzichts auf gemeinsames Singen;− der Symbolhandlungen im Rahmen der Hochzeit bzw. Trauerfeier;− der Texte für individuell angepasste Hochzeiten und Trauerfeiern.

Um das Ritual im Sinne des Paares bzw. des Verstorbenen und der Angehöri-gen zu gestalten, wird oft gewünscht, „eigene Texte der Verblichenen vor ihremAbleben, Texte der Angehörigen oder gemeinsam ausgearbeitete Grabreden zuverlesen.“ 7

− der Erwartung, dass das Einmalige des Paares bzw. des Verstorbenen in den Mittelpunkt gestellt wird.

Es gibt eine Reihe von Gründen, sich für einen Ritualdesigner zu entscheiden, diesich oftmals im Gegenüber zu traditionell-kirchlichen Kasualangeboten konturierenlassen. Einige dieser Vorbehalte, Erfahrungen und Vorurteile im Gegenüber zur Kir-che sollen hier aufgeführt werden.

3. Neben den Kirchen

7 http://www.bestattungsredner.info/index.php (Letztmaliger Zugriff am 07.02.2013.).

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Institutionelle VorbehalteDas Einmalige und Individuelle gehe verloren, weil unterstellt wird, der Pastor bzw.die Pastorin „muss seine [ihre] Botschaft sagen“: „In der Kirche passiert nur 08/15,was man schon kennt!“ Damit verbindet sich das Bild, Kirche sei altbacken, ver-staubt und traditionell, so dass bei einer Hochzeit nicht das Paar bzw. bei einerTrauerfeier nicht der Verstorbene und die Angehörigen im Mittelpunkt stünden. Eswird eine private und persönlich gestaltete, aber keine öffentliche Feier gewünscht,an der jedermann teilnehmen könnte. So wäre gegebenenfalls ein privater Gottes-dienst akzeptabel; der Öffentlichkeitscharakter jedoch, der jedem Kasualgottes-dienst innewohnt, wird abgelehnt.

Individuelle ÄngsteImmer wieder berichteten die Gesprächspartner davon, dass Menschen Angst vordem Kirchenraum, vor der Atmosphäre und Größe von Kirchen hätten. Dies verbin-det sich oftmals auch mit einer Aversion gegen traditionell-kirchliche Musik und gegen die Orgel als Instrument.

Eine Bestatterin erzählte, dass Menschen ihre Angst vor dem Pastor bzw. derPastorin als einer auch moralisch richtenden Instanz im Blick auf das Leben desVerstorbenen oder hinsichtlich nicht gelungener Beziehungen formulierten. Undein Ritualdesigner hat mehrfach von Brautpaaren erfahren, dass Pastorinnen undPastoren von Kirchenmitgliedern deshalb nicht in Anspruch genommen würden,weil diese nicht nur für die schönen und hellen Seiten des Lebens stünden, son-dern sich auch mit Sterben und Tod auseinandersetzen müssten: „Wir wollen kei-nen Pastor, der vor unserer Trauung gerade eine Beerdigung eines Kindes gemachthat.“ 8

EnttäuschungserfahrungenAuch Enttäuschungserfahrungen in der Begegnung mit Kirche und Gemeindenwerden als Gründe angeführt, sich an nichtkirchliche Anbieter zu wenden. Auf dereinen Seite führen eher allgemeine, nicht spezifisch mit einer Kasualie verbundeneErlebnisse dazu, sich wegen einer Hochzeit oder einer Trauerfeier nicht an die Kir-che zu wenden – etwa, der Pastor oder die Pastorin habe sich für einen (Geburts-tags-)Besuch keine oder nicht genug Zeit genommen, weil andere Verpflichtungenim Vordergrund gestanden hätten. Dem entspricht der subjektive Eindruck, derPastor oder die Pastorin sei – unabhängig von der tatsächlichen gemeindlichen Ar-beit – in der Gemeinde nicht präsent, weshalb auf einen anderen Anbieter für einPassageritual ausgewichen wird: „Was der Pastor macht, weiß ich gar nicht, der in-teressiert sich für seine Gemeindemitglieder nicht. Dann frage ich auch nicht, ob erfür mich da ist.“ 9 Zum anderen gibt es die Befürchtung oder die Erfahrung, seitensder Kirche würden Wünsche (z.B. Brautzuführung durch den Brautvater) und inhalt-liche Gestaltungsvorstellungen (Musik, Texte) abgewiesen werden.

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8 Zitat eines Hochzeitsredners aus dem Gespräch mit einem Brautpaar. Vgl. Bettina Kolwe-Schweda: Trauung im neuen Design? Kirche auf dem Markt zwischen Angebot und Nachfrage, in: Evangelische Stimmen 9, September 2014, Kiel 2014, S. 4 f.9 Zitat eines Bestatters aus Gesprächen mit Angehörigen.

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Gesellschaftliche NormenMöglicherweise gibt es gerade im Blick auf kirchliche Kasualien auch die Sorge, ge-sellschaftlichen, kirchlichen oder familiären Erwartungen nicht entsprechen zu kön-nen. So nahmen am großen Elbtauffest im Kirchenkreis Hamburg-West/Südhol-stein im Juni 2011 auch Familien teil, die eine Taufe ihres Kindes in einer Kirche ausunterschiedlichen Gründen nicht wahrgenommen hätten. Für einige Familien hättedie Ausrichtung einer eigenen großen Tauffeier den finanziellen Rahmen gesprengt.Andere hätten nach einer Trennung der Eltern oder aufgrund familiärer Konfliktekeinen geeigneten Raum für eine gemeinsame Tauffeier finden können oder wärenaufgrund unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten der Eltern nicht zu einer Taufein eine Kirche gekommen.

Religiös-weltanschauliche EinstellungenEin gewichtiges Motiv, sich für eine freie Trauung oder Trauerfeier zu entscheiden,sind nach Erfahrung der interviewten Ritualdesigner und Trauerredner abneh-mende Transzendenzvorstellungen. So stehen bei Hochzeiten immanente Zusagen,die ohne die Bitte um göttlichen Segen für Partnerschaft und Ehe auskommen, undbei Trauerfeiern immer häufiger eher szientistische Positionen, denen keine Erwar-tung an eine Weiterexistenz nach dem Tode innewohnt, im Zentrum. Diese schlei-chende Abnahme eines Jenseitsbezugs geht nach Eindruck eines Beerdigungs-redners quer durch alle Schichten und auch quer durch die Mitgliedschaften allerKirchen und Religionsgemeinschaften. 10

10 Aus einem Interview mit einem Trauerredner am14.01.2013.

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Passagerituale im nichtkirchlichen Bereich werden je nach Anlass bei einer großenBandbreite unterschiedlicher Einzelanbieter oder Organisationen nachgefragt. BeiNamensweihefeiern erfolgt die Nachfrage sowohl bei Ritualdesignern wie auch beihumanistischen Verbänden; letztere werden offenbar vor allem im Osten Deutsch-lands um die Durchführung entsprechender Feiern gebeten. Im Bereich der Jugend-weihe sind die Angebote der humanistisch ausgerichteten Verbände und Ju gend -weiheanbieter marktbeherrschend; die Angebote von Ritualdesignern spielen bei die-sem Passageritual nur eine marginale Rolle. Für Hochzeiten und Trauerfeiern werdenvor allem selbständige freie Redner und Ritualdesigner in Anspruch genommen,auch wenn humanistische Verbände hier entsprechende Angebote vorhalten.

Für die Passagerituale gibt es weder grundsätzlich festgelegte Abläufe noch ein-heitliche inhaltliche Prägungen. Vielmehr unterscheiden sich die Feiern je nachdem,ob ein freier Ritualdesigner, ein humanistischer Verband oder eine neuheidnischeGemeinschaft dafür in Anspruch genommen wird.

4.1 Ritualdesign zwischen Tradition und Innovation

„Meinen Beruf bezeichnen in jüngster Zeit manche Menschen auch als ‚Ritualde-signer‘ oder als ‚Zeremonienmeister‘. Dies rührt aus der Tatsache, dass ein Ritual-Designer in weltlichem Sinne überlieferte Rituale beispielsweise aus kirchlichenHandlungen überträgt und umgestaltet. Rituale geben dem Menschen einen ge-wissen Halt. Und so gestaltet der Ritual-Designer diese Rituale nach den Wünschenseiner Auftraggeber.“ 11

Ritualdesign ist als Terminus im deutschsprachigen Raum zur Jahrtausend-wende aufgekommen und fasst begrifflich die nicht kirchlich oder explizit religiösgebundenen Feiern zu lebensverändernden Übergängen in eine neue Lebens-phase (Geburt, Erwachsenwerden, Heirat, Tod) zusammen. 12 Darüber hinaus bie-ten Ritualdesigner eine Fülle weiterer Übergangsrituale an. 13 Der etwas unscharfe

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11 http://www.bestattungsprediger.de/.12 Dass der Begriff „Ritualdesign“ in der Regel nicht auf Jugendweihe bzw. Jugendfeier angewendet wird,liegt wohl vor allem in der inzwischen hundertjährigen Tradition begründet. 13 M. Kramer Abebe listet folgende Anlässe beispielhaft auf: Schwangerschaft, Schuleintritt, Erwachsenwer-den, Menarche, Beziehungsfeier, Krisen im Lebenslauf, Krankheit, Behinderung, Eheprobleme, Trennung,Scheidung, Abschiede, Wohnungseinweihung, Geburtstag, Wechseljahre, Menopause, Stationen des Berufs-lebens, Jubiläum, Pensionierung, Eintritt in ein Altenheim, Erinnerungsfeiern. Vgl. Marianne Kramer Abebe:Aufbruch zu neuen Ritualen. Eine Annäherung an die Praxis freiberuflicher Ritualbegleiter und Ritualbegleite-rinnen, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 2000, Göttingen 2000, S.37.

4. Ritualdesign – Näherung an ein modernes Praxisfeld

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Begriff „Ritualdesign“ hat sich in den letzten Jahren durchgesetzt und umfasst dievon den Ritualakteuren (jene, die die Durchführung der Rituale anbieten, und jene,die als Klienten bzw. Kunden dieses Angebot für sich in Anspruch nehmen) situativund kreativ angepassten kontextgebundenen individuellen Ritualhandlungen.

Übergangsrituale hatten und haben für das Zusammenleben von Menschen seitjeher eine sozial stabilisierende Funktion, indem sie das individuelle und gemein-schaftliche Leben in einen Beziehungszusammenhang stellen. Sie verankern dasindividuelle Leben in der Gemeinschaft und weisen darauf hin, dass durch wieder-kehrende Feiern von Passageritualen überindividuelle und gesellschaftliche Sinnzu-sammenhänge konstituiert und stabilisiert werden. 14

Die Selbstverständlichkeit allerdings, mit der Übergangsrituale, beruhend auf ei-nem gesellschaftlichen Konsens, in einem tradierten Rahmen (Taufe, Firmung/ Kon-firmation, Trauung, Trauerfeier) hierzulande bei den Kirchen wahrgenommen wurden,hat sich in den letzten Jahrzehnten in der west- und mitteleuropäischen Bevölkerungaufgelöst. Die Hinwendung zu nichtreligiös geprägten Übergangsritualen ging undgeht im Westen Deutschlands mit der zunehmenden Distanz und Entfremdung vonden großen Kirchen einher. Im Osten Deutschlands hingegen wurde diese Entwick-lung durch die repressive Religionspolitik der DDR befördert, die sich zunächst inder politisch motivierten Strategie, die Jugendweihe zulasten der Konfirmation bzw.Firmung als das Übergangsritual zu implementieren, ausdrückte. Diese politisch for-cierte Entfremdung von den Kirchen hat im Osten Deutschlands in der Folge auchdie Zahlen bei Taufen, Trauungen und Bestattungen deutlich sinken lassen. Aberauch wenn je nach Region unterschiedliche Gründe für die zahlenmäßige Abnahmeder kirchlichen Kasualien festzuhalten sind, so lässt sich insgesamt eine deutlicheZunahme bei den nicht kirchlich geprägten Übergangsritualen feststellen. Nebendem im Osten Deutschlands nach wie vor starken Zuspruch zur Jugendweihe hatsich in den letzten dreißig Jahren zunächst eine auch zahlenmäßig immer stärkereSzene von freien Rednern und freien Theologen für Trauerfeiern und dann auch fürdie Begleitung weiterer Lebensübergänge (v.a. Geburt und Heirat) etabliert. 15

Ritualdesign kann auf verschiedene Weise geschehen: 16

– RitualtransformationBestehende Rituale können aufgegriffen und in leicht abgewandelter Form, etwadurch geringfügige Veränderungen im Ablauf oder durch Anpassungen an kultu-relle oder geographische Bedingungen, durchgeführt werden. Hierunter wärenetwa die Ergänzung einer Trauung durch das Lesen nicht-biblischer Texte, dieEinführung neuer Musik bei Gottesdiensten oder das Entzünden von Gedenk-kerzen im Rahmen einer Trauerfeier zu fassen.

– RitualinnovationDie Ritualakteure modellieren tradierte Rituale mit erheblichen Eingriffen aufgrund

14 Arnold van Gennepp: Übergangsriten, Frankfurt/M, New York 3 2005, S.181 ff.15 Marianne Kramer Abebe, a. a.O. Andreas Fincke: Freie Theologen, freie Redner, freie Ritendesigner, in:Materialdienst der EZW 4/04, Berlin 2004, S.123 ff. Anja Kirsch: Freie Bestattungsredner, in: Michael Klöck-ner/ Udo Tworusckka: Handbuch der Religionen, 12. Ergänzungslieferung I -11, München 1997 ff, 1 ff. StefanSchütze: a. a.O..16 Mit der folgenden Differenzierung orientiere ich mich an Gregor Ahn: „Ritualdesign“ – ein neuer Topos derRitualtheorie? in: Janina Karolewski et alii: Ritualdesign. Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse„neuer“ Rituale, Bielefeld 2012, S.33 ff.

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veränderter historischer oder kultureller Kontexte oder aufgrund individueller Wün-sche neu. Beispiele hierfür sind die Liturgiereform des II. Vaticanum oder auch dieDurchführung von Hochzeiten auf einer Hafenbarkasse oder als Open-Air am See.

– RitualinventionDurch die Ritualakteure werden völlig neue Rituale, „die sich aus der Kritik an beste-henden Ritualen, dem Abbruch einer Ritualtradition oder aus veränderten Kontext-situationen ergeben“ können, entwickelt bzw. erfunden. 17 Beispielhaft sind zu nen-nen Übergangsrituale beim Eintritt in den Ruhestand oder Trennungsrituale nachdem Scheitern einer Beziehung.

Als Ritualdesign lassen sich alle drei Formen des verändernden Umgangs mitbestehenden oder neu entwickelten Ritualen verstehen. Die Ritualakteure – Anbie-ter wie Klienten bzw. Kunden – finden sich in der Absicht zusammen, einen lebens-geschichtlichen Übergang in aus dem Alltag herausgehobener Weise mit einem Ri-tual zu gestalten: „Erst das Ritual markiert ‚so richtig‘ die Wichtigkeit des Ereignis-ses und grenzt es vom Alltag ab.“ 18 Ritualdesigner, die unabhängig von Kirchenoder Religionsgemeinschaften ihre Dienste anbieten, orientieren sich in aller Regelbei der Inszenierung der Übergangsrituale an entsprechenden christlichen Kasua-lien (Konfirmation, Trauung, Trauerfeier). Das heißt, die allermeisten Ritualdesignerbleiben trotz der nicht an Kirchen oder andere religiöse Gemeinschaften gebunde-nen Tätigkeit nahe an der kulturell bzw. religiös geprägten Formensprache. DieFeststellung eines Bestatters lässt sich auch auf andere traditionell verankerte Pas-sagerituale übertragen: „Der Code unseres Kulturkreises gibt den Rahmen vor, inden Trauerfeiern eingebettet sind.“ 19

4.2 Ritualdesigner – eine neue Profession

Für die Tätigkeit der Akteure, die alternative, nicht an Religionsgemeinschaften ge-bundene Passagerituale anbieten, wird hier der Begriff „Ritualdesigner“ verwandt.Angesichts der Vielfalt der Selbstbezeichnungen 20 und der Heterogenität der Be-rufsbiographien der Akteure umfasst diese Bezeichnung die unterschiedlichen As-pekte des Umgangs mit Ritualen (Ritual-Transformation, -Innovation und -Inven-tion) 21. Festzuhalten ist, dass es in Deutschland keine anerkannten Ausbildungs-gänge für einen solchen Beruf gibt 22. In Österreich und der Schweiz kann eine ent-sprechende Qualifikation an privaten Akademien, in Großbritannien in speziellen

18

17 A.a.0., S.37.18 Christian Ruch: Extra eccesliam etiam salus? Ritualdesign im außerkirchlichen Bereich, in: Materialdienstder EZW 7/12, Berlin 2012, S.244.19 Aus einem am 30.10.2012 geführten Interview mit einem Bestatter.20 Als Berufsbezeichnungen werden z.B. genannt: Freier Redner, Freier Theologe, Festredner, Hochzeitsred-ner, Ritualgestalter, Zeremoniar, Freier Priester, Ritualbegleiter, Zeremonienleiter, Ritualdesigner, Feier Redner,Trauerredner, Lebensbegleiter u. a. m. Vgl. Daniela Leitner: „Ritualdesign“ als Beruf. ReligionswissenschaftlicheÜberlegungen zur (In-)Varianz freier Trauungen, in: Forum Ritualdynamik, Nr.19, Heidelberg 2013, S.4f.http://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/ritualdynamik/article/view/11459/5314.21 S.o. 1.1.22 Vgl. hierzu 4.4.1.

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Ausbildungsgängen sogar ein beruflicher Abschluss („Master of Ceremony“) erwor-ben werden. 23

Redner und Ritualdesigner arbeiten in aller Regel selbständig und haben sich inmehreren Verbänden oder für gemeinsame Internetplattformen zur Verbreitung ih-rer Angebote organisiert. U. a. gibt es seit 2002 die „Arbeitsgemeinschaft FreierTheologen“, die neben Passageritualen auch Aus-, Fort- und Weiterbildungendurchführt und eine erhebliche Bandbreite weiterer Angebote (z. B. Beratung, Su-pervision und Retreats) bereithält. 24 Über das Internetportal „Pastor2Go“ habensich mehr als dreißig Theologinnen und Theologen zusammengeschlossen: „Siesuchen einen Pastor zu einem besonderen Anlass? Bei uns müssen Sie nicht Mit-glied einer Kirche sein. Es gibt keine Zeremonie von der Stange, und Sie könnenauch außerhalb kirchlicher Gebäude Ihre Zeremonie erleben!“ 25 Auch der „Huma-nistische Verband Deutschland e.V.“ bietet Passagerituale für die klassischen Le-bensübergänge (Geburt, Adoleszenz, Eheschließung, Beerdigung) an. 26 Als Ver-mittler tritt das Internetportal zeremonienleiter.de auf, das Interessierten die Aus-wahl aus mehr als 500 freien Rednern und Theologen, aber auch von Schamanenund Hexen ermöglicht. 27 Allerdings ist es nicht möglich, eine verlässliche Zahl derAnbieter im Bereich des Ritualdesigns zu erheben; die in einem Zeitungsartikel ge-nannten 5.000 Trauerredner berücksichtigen nur ein Segment und sind allenfallsals grobe Schätzung anzusehen. 28

Viele Anbieter bewerben ihre Dienstleistung durch eigene Internetpräsenzen, dieneben oftmals ausführlichen persönlichen Informationen, einer Darstellung der Ri-tualangebote und der anfallenden Kosten auch Dankesschreiben der Kunden alsReferenzen enthalten. Bei einer intensiven Internetrecherche im Jahr 2012 habe ichdie Angebote von 45 Ritualdesignern aus dem Bereich der Nordkirche ausgewer-tet; eine Überprüfung im Jahr 2015 ergab, dass bis auf drei Anbieter alle anderenweiterhin tätig waren, zwischenzeitlich aber eine Vielzahl neuer hinzugekommen ist.Dies weist darauf hin, dass es eine nachhaltige und weiterhin steigende Nachfragenach Ritualangeboten gibt, die unabhängig von Kirchen bzw. Religionsgemein-schaften in Krisensituationen Sinnstiftung und Kontingenzbewältigung eröffnen.Der Trend hin zu Passageritualen, die nicht im agendarischen Rahmen und in denGebäuden von Kirchen bzw. anderen Religionsgemeinschaften stattfinden, scheintsich also zu verstetigen. Die Nachfrage nach kirchlichen Kasualien wandert – regio-nal unterschiedlich stark – aus und trifft auf einem immer breiter aufgestellten Marktdes Ritualdesigns auf eine Vielzahl unterschiedlichster Angebote. Zudem ist aufdiesem Markt eine nachhaltige und zunehmende Professionalisierung zu beobach-ten, die sich auch durch die Verbände und ihre berufsständischen Fort- und Weiter-bildungsangebote dokumentiert.

Die bis weit in die 1980er Jahre von den Kirchen wahrgenommene singuläreStellung bei Ritualangeboten hat sich seither zugunsten einer Pluralität von Ange-boten und Anbietern aufgelöst.

23 Stephanie Himmel: Neue Berufe: Ritualdesigner/in, Hessischer Rundfunk 06.06.2005, Manuskript, S.5 f.24 http://www.freie-theologen.de/weitere-angebote/.25 http://pastor2go.de/ (Stand 18.09.2015).26 http://www.humanismus.de/feierkultur.27 http://www.zeremonienleiter.de/.28 idea-Spektrum, 45.2013, 06.11.2013: Ihr Beruf ist der Tod, S.20.

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Ritualdesigner stellen ein individuell auf den jeweiligen Anlass zugeschnittenes unddas Einmalige des entsprechenden Kasus betonendes Angebot in den Mittelpunkt:

„Sie möchten selbst ein entscheidendes Wort bei Ihrer Trauung mitreden und aneinem besonderen Ort heiraten, den Sie bestimmt haben. Gemeinsam finden wireine Hochzeitszeremonie, die zu Ihnen passt, und eine Traurede, in der Sie sichwiederfinden.“ 29

„Sie wollen bewusst Abschied nehmen und Ihres Verstorbenen in seiner Einma-ligkeit gedenken. Sie wünschen sich eine exklusive Gedenkrede, die maßge-schneidert […] Ihnen Ihre Antworten auf Ihre Fragen […] gibt.“ 30

Diese beiden Zitate spiegeln die entscheidenden Elemente eines veränderten Ver-ständnisses von Passageritualen wieder. Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde hier-zulande den großen Kirchen weitestgehend die alleinige Kompetenz für derenDurchführung zugesprochen; es gab neben den Kirchen nur die seitens des Staates zwischen 1855 und 1875 als Zivilehe eingeführte standesamtliche Ehe-schließung sowie seit den 1920er Jahren die von den Freidenkerverbänden in zahlenmäßig relevanter Größe durchgeführte Jugendweihe. In den letzten Jahr-zehnten jedoch hat eine zunehmende Popularisierung und Demokratisierung derRitualkompetenz dahingehend stattgefunden, dass grundsätzlich nunmehr jedemzugesprochen wird, Handlungen, Ausdrucksformen und Symbole für ein situativund persönlich angemessenes Passageritual zu kreieren. 31

Als Anbieter treten neben freiberuflichen Ritualdesignern, Hochzeits- und Trauer-rednern vor allem humanistische und atheistische Verbände, freireligiöse bzw. unitarische Organisationen sowie neuheidnische und rechtsextreme deutsch-völ -kische Gruppierungen auf.

Ritualdesigner kommen damit mehreren gesellschaftlichen Entwicklungen undindividuellen Erwartungshaltungen entgegen. Dem Wunsch nach institutionaler Un-abhängigkeit entspricht die Tendenz nach individueller Ausgestaltung eines lebens-begleitenden Rituals. Dabei werden die Ritualfeiern den Bedürfnissen, der Situationund der Geschichte der beteiligten Personen angepasst. Unter der Überschrift „Ritualdesign“ verbindet sich sowohl auf Kunden- wie auf Anbieterseite der An-

20

29 http://www.thomasdomroese.de/portal.html.30 http://www.irene-wahle.de/trauer-abschied-tra.html.31 Dorothea Lüddeckens: Neue Rituale in allen Lebenslagen. Beobachtungen zur Popularisierung des Ritual-diskurses, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 56(1), 2004, S. 42; 47f;http://www.zora.uzh.ch/51457/1/L%C3%BCddeckens_Neue_Rituale.pdf.

5. „Fast wie in der Kirche…“

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spruch auf jeweilige Einmaligkeit, die zur Kreation eines (vermeintlich) neuen Ritualsführt. In einem solchen Verständnis orientieren sich Rituale nicht primär an einemtradierten Rahmen aufgrund eines gesellschaftlichen Konsenses, an einer die Ge-sellschaft stabilisierenden Wiederholbarkeit durch einen gemeinsamen Kanon vonRitualen. In diesem Verständnis sind Rituale nur noch in das Symbolsystem einesIndividuums oder einer präzise umrissenen Gruppe (z. B. Familie, Freundes- undKollegenkreis) eingebunden – und im äußersten Fall auch nur noch für diese Perso-nen verständlich und relevant. 32 Auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens kanndann nur noch hinsichtlich des jeweiligen Anlasses (Geburt, Adoleszenz, Heirat,Tod) abgehoben werden; alles weitere bleibt der individuellen Ausgestaltung über-lassen. Allerdings – dies gilt es einschränkend hinzuzufügen –bewegen sich dievon Ritualdesignern durchgeführten Passagerituale meist im überlieferten Codedes Kulturkreises. So verändert sich die Form des „Über-Individuellen“ von Ritualen.Sie dienen nicht mehr primär der individuellen Vergewisserung, in einen größerengesellschaftlichen Rahmen eingebunden zu sein. Vielmehr sollen sie das Zufälligeund Nicht-Beherrschbare individueller Lebensschicksale ausdeuten und einen „gu-ten“ Start in eine neue Lebens- oder Daseinsphase eröffnen.

5.1 Namensweihe

Zum Lebensbeginn machen sowohl religiöse und weltanschauliche Gemeinschaf-ten wie auch Ritualdesigner Angebote, die u. a. als „Namensweihe“, als „Namens-feier“ oder als „weltliche Taufe“ 33 eine Alternative zur Taufe darstellen. Dabei ist zuunterscheiden zwischen Ritualen, die von Anbietern bzw. Ritualdesignern gemein-sam mit den Eltern und Familien entworfen und gestaltet, und jenen, die in einemgeprägten religiös-weltanschaulichen Rahmen durchgeführt werden.

5.1.1 Freie RitualdesignerFür Ritualdesigner stehen bei einer Namensweihefeier die individuellen Gestal-tungswünsche der Eltern im Mittelpunkt. Auch die inhaltliche Schwerpunktsetzungwird gemeinsam mit den Eltern und den Familien ausgearbeitet:

„Ich frage die Eltern, was sie sich vorstellen, was vorkommen soll, was nicht vor-kommen soll. Ob die Paten, der Name des Kindes oder die Gemeinschaft betontwerden sollen. Und natürlich an der Location, wo die Feier stattfinden soll. Viel-leicht gibt’s ja auch ein Motto – rosa-weiß oder blau-weiß. Auch die vier Urele-mente Wasser, Erde, Luft und Feuer können eine Rolle spielen. Und dann überle-gen wir gemeinsam, wie das Fest aussehen soll.“ 34

32 Vgl. Lüddeckens, a. a.O., S.42 ff.33 Weitere Bezeichnungen: „Wasserweihe“, „Begrüßungsfeier“, „Willkommensfest“, „Begrüßungszeremonie“,„Namensgebungsfeier“, „Geburtsfest“, „Lebensleite“, „Lebensweihe“, „Wiegenfest“.34 Aus einem Interview mit einer Ritualdesignerin am 18.12.2015.

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Das Fest kann zuhause, in einer besonders schönen Umgebung oder auch an un-gewöhnlichen Orten (z.B. auf See) gefeiert werden. Für das Kind soll ein ganz be-sonderer Tag gestaltet und der Lebensbeginn gewürdigt werden. Es soll seinen Na-men und im Familien- und Freundeskreis gute Wünsche für seinen Lebensweg zu-gesprochen bekommen. Oft geht es auch darum, das Kind in die Gemeinschaft auf-zunehmen, andere Verantwortliche („Paten“) zu benennen und mit symbolischenHandlungen alle Beteiligten für die Herausforderungen der Zukunft zu stärken.

5.1.2 Humanistische OrganisationenDer „Humanistische Verband Deutschland e.V.“ (HVD) 35 sowie Jugendweihever-bände 36 bieten Feiern zur Namensweihe bzw. Namensgebung an. Diese Feiernkönnen je nach Anbieter entweder in einem privaten oder aber in größerem Rah-men stattfinden. Die Mitgestaltung durch Eltern und Familien wird ebenso eröffnetwie die Möglichkeit, eine vollständige Feier durch einen der Anbieter planen unddurchführen zu lassen. Ein „kleiner Erdenbürger“ soll mit einer solchen Feier „im Le-ben willkommen geheißen und feierlich in die Familie und den Kreis der Freundeaufgenommen“ 37 werden. Neben einer musikalischen Rahmung, anderen Darbie-tungen 38 und einer Rede sollen dem Neugeborenen gute Wünsche mit auf denWeg gegeben werden. Die Eltern erhalten eine Urkunde, und dem Kind werden

„Paten“ zur Seite gestellt.Auch bei nicht religiös gebundenen Menschen, für die eine Taufe nicht in Frage

kommt, weckt die Geburt eines Kindes den Wunsch, diese Veränderung der fami-liären Situation zu feiern und das Kind mit einem Ritus im Leben zu begrüßen:

„Unsere Tochter hat im letzten Jahr ihre Namensweihe bekommen. Wir habenauch nichts mit der Kirche am Hut und wollten aber, dass sie ‚offizielle‘ Paten be-kommt, und haben uns daher dafür entschieden. Die Veranstaltung ist in einemsehr netten Rahmen gestaltet worden, mit Musik und Ansprache und sogar einemGeschenk fürs Kind. Die Paten und unsere Tochter haben dann auch eine Ur-kunde erhalten. Wir haben die Namensweihe in Stralsund gefeiert. Dort wird sieeinmal im Frühjahr und dann nochmal im Herbst veranstaltet. Die Kosten beliefensich bei uns auf 45,00 für die Veranstaltung plus je 3,00 für die Patenurkunde und3,00 je Sitzplatz für die Gäste. Also ich habe es nicht bereut und würde es immerwieder in diesem Rahmen feiern.“ 39

In welchem Umfang diese verbandsmäßig angebotenen Namensweihefeiern durch-geführt werden, ist statistisch nicht verlässlich zu erheben. Allerdings besteht offen-bar eine Nachfrage zu einem solchen Übergangsritual nach der Geburt eines Kin-des – wenn auch auf eher niedrigem Niveau. Dies lässt sich aus den Zahlen von „Ju-

22

35 http://www.humanismus.de/namensfeier.36 http://jugendweihe.de/namensgebung-feiern.html; http://www.jugendweihemv.de/namensweihe.html.37 http://www.humanismus.de/namensfeier.38 2012 wurden z.B. bei einer Namensweihefeier in Güstrow von Gruppen einer Musikschule Tänze aufgeführt. http://www.jugendweihe.info/downloads/aktuell-4_2012_web.pdf?PHPSESSID=1b46a549a002f10d89b10dbe3cdb9e66.39 http://forum.gofeminin.de/forum/relationsfamille/__f450_relationsfamille-Namensweihe.html.40 http://www.jugendweihe.info/downloads/aktuell-4_2012_web.pdf?PHPSESSID=1b46a549a002f10d89b10dbe3cdb9e66.

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gendweihe Mecklenburg-Vorpommern e.V.“ ableiten. Hier werden Feierstundendurchgeführt, bei denen mehreren „Kindern die Namensweihe erteilt“ wird. 40 Beidiesem Verband „erhielten seit Vereinsgründung [i. e. 1. Dezember 1990 – J. P.] fast2.000 Mädchen und Jungen in feierlichem Rahmen ihre Namensweihe.“ 41 Über ei-nen Zeitraum von rund 22 Jahren wurde von diesem Verband in Mecklenburg-Vor-pommern also für so viele neugeborene Kinder die Namensweihefeier gestaltet, wieinnerhalb eines Jahres dort Kinder in den evangelisch-lutherischen Kirchen getauftwerden. 42 In Hamburg wird in Kooperation von HVD und Jugendweihe Hamburg e.V. jährlich für rund 50 Kinder eine Namensweihefeier durchgeführt. 43 Dass die Na-mensweihefeiern sich im Osten Deutschlands zahlenmäßig einer größeren Beliebt-heit als im Westen erfreuen, verdankt sich wohl auch der Tatsache, dass – vergleich-bar der Jugendweihe – in der DDR die sozialistische Namensweihe der christlichenTaufe zur Schwächung der Kirchen entgegengesetzt und mit dem ausdrücklichenZiel der „Entwicklung einer sozialistischen Persönlichkeit“ inszeniert wurde. 44

5.1.3 Weitere AngeboteFreireligiöse SzeneDie Unitarier bieten eine Lebensleite an, durch die ein Kind im Leben begrüßt wird,um die Eltern in ihrer Verantwortung für die Entwicklung des Kindes zu bestärken;zudem sollen Verwandte, Freunde und Gemeindemitglieder bei der Lebensleite-Feier ihre Bereitschaft zur Unterstützung der Eltern bekräftigen. 45

Neuheidnische SzenenEine dezidiert religiöse, wenn auch nicht-christliche Prägung haben im neuheidni-schen Spektrum Feiern zur Namen(s)- und Wasserweihe bzw. zur Lebensleite. Imvermeintlichen Rückgriff auf alte naturreligiöse oder germanische Traditionen wer-den Rituale für Neugeborene durchgeführt:

„Man nehme ein Kind, sammele ein paar nette und verantwortungsbewussteLeute, nehme ein wenig Wasser aus einer guten Quelle, erbitte den Segen derGötter, träufele ein paar Tropfen auf das Kind, verleihe demselben mit wohlgesetz-ten Worten einen wohlüberlegten Namen und erkenne es gleichsam als Verwand-ten an. Dann gibt man einen aus und opfert Göttern und Ahnen.“ 46

Bei allen neuheidnischen und germanischen Gruppen spielt das vermeintliche An-knüpfen an ein germanisches Altertum, dessen religiöse Praxis durch das Christen-tum überformt bzw. zerstört worden wäre, die zentrale Rolle. Zwar wird zugestan-

41 Ebd.42 Kindertaufen in Mecklenburg-Vorpommern 2.271 (2000), 1.964 (2005), 2.010 (2010).43 Mündliche Auskunft von Konny Neumann (Jugendweihe Hamburg e. V.) am 10.12.2015.44 Vgl. Dokumentation: „Sei willkommen, Kind!“ – Auf dem Wege zur sozialistischen Lebensweise, Material-dienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 10/1983, Berlin 1983, S. 283–288. Wort-laut der 1983 von den Eltern zu sprechenden Verpflichtung: „Wir, die Eltern und Paten, wollen alles tun, umdas Kind im Geiste des Friedens, der Völkerfreundschaft und zur Liebe zu unserem Staat zu erziehen und ihmeine glückliche Zukunft im Sozialismus zu sichern.“Vgl. auch: http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Sozialistische_Namensweihe.45 http://www.unitarier.de/unitarier/was-wir-tun/feiern/.46 Das Ritualbuch des Eldaring e. V. Version 1.5, 07.01.2015, S. 11, http://www.eldaring.de/media/ -Webseite/pdf/Ritualbuch.pdf.

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den, dass Ordnung und Inhalte entsprechender heidnischer Rituale nicht mehr fest-stellbar sind. Dies sei aber kein Kriterium, sie nicht als authentisch heidnisch-germa-nisch zu akzeptieren:

„Es gibt aber sehr wenig über den Kult zu finden, und das zu Findende gibt nichtannähernd ein geschlossenes Bild. Daher ist es legitim und notwendig, sich Ri-tuale zu schaffen. Das Ziel ist eben nicht die historische Korrektheit, sondern derZweck, den sie für die Gemeinschaft und den Einzelnen erfüllen.“ 47

Im Mittelpunkt dieser Feiern für Neugeborene stehen sechs Aspekte: 1. Begrüßung des neugeborenen Kindes, 2. Aufnahme in die Sippe, 3. Weihungdes Kindes im Wasser, 4. Stärkung der elterlichen Verantwortung für das Kind, 5.Bekräftigung der Bereitschaft von Verwandten, Freunden und Sippenmitgliedern,die Eltern zu unterstützen, 6. Übernahme einer Patenschaft mit besonderer Verant-wortung für das Wohlergehen des Kindes und der Hilfe in Notsituationen. 48

Zahlen für diese neuheidnisch-germanischen Namensweiherituale sind nicht zuermitteln; immerhin scheint es kleinere neuheidnische Milieus zu geben, denendiese Ritualpraxis selbstverständlich ist. 49

Für neuheidnische Namensweihefeiern werden zwar neuzeitlich konstruierte ver-meintlich altgermanische und heidnische Traditionen aufgegriffen, i. d.R. aber nichtmit völkisch-rechtsextremen Vorstellungen verbunden. Diese Verknüpfung wird je-doch bei deutsch-völkischen Gruppen, die germanische und nationalsozialistischeTraditionen miteinander verbinden, hergestellt und somit an die Tradition von NS-Namensweihefeiern inhaltlich angeknüpft. 50 So bietet die völkische „Artgemein-schaft Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltunge.V.“ im Rahmen der Lebensfeiern auch ein Fest zur Geburt an. 51

24

47 Aus einem Internetblog mit der Überschrift „Das Ritual – Die Handlung als Weg. Eine persönliche Betrach-tung des Kultes im modernen Asatru“, http://eldaring.domainfactory-kunde.de/ELDARING_4/board58-germa-nisches-heidentum/board63-brauchtum-und-feste/785-das-ritual-die-handlung-als-weg/; Fehler im Original).Zur rezenten Konstruktion einer heidnisch-germanisch-keltischen Vergangenheit vgl. Stefanie von Schnurbein:Transformation völkischer Religion seit 1945, in: Stefanie von Schnurbein/ Justus H. Ulbricht (Hrsg.): VölkischeReligion und Krisen der Moderne, Würzburg 2001, S.422–424. Vgl. auch René Gründer: Blótgemeinschaften.Eine Religionsethnografie des ‚germanischen Neuheidentums‘, Würzburg 2010, S.320 f.48 Das Ritualbuch des Eldaring, a. a. O., S. 12.49 Vgl.: http://www.naturglaube.de/system/include.php?path=forum/showthread.php&threadid=505&chan-gestyle=1&PHPKITSID=3549ce51028ff5d7f87ea5a9af8e1df3; http://www.asentr.eu/kindsweihe.html;http://eldaring.domainfactory-kunde.de/ELDARING_4/board38-thingplatz/board41-die-gro%C3%9Fe-halle/7588-heidnische-taufe/; http://www.asatru-forum.de/index.php/Thread/19710-Geburt-und-Namens-weihe-Taufe/.50 Vgl. Christian Zentner/ Friedemann Bedürftig (Hrsg.): Lexikon des III. Reiches, München 1985, S.345Schlagwort „Lebensfeiern“. Vgl. auch: P. Eberhard Schlund: Neugermanisches Heidentum im heutigenDeutschland, Nachdruck der 2. Auflage, München 1924, Augsburg o. J., S.45. Vgl.: http://www.karwi.de/else-oventrop/textd/datiert/14-19061937-ansprache-zur-5-namensweihe-4-s.html; http://www.karwi.de/else-oven-trop/textd/datiert/13-28051937-ansprache-zur-4-namensweihe-5-s.html.51 http://asatru.de/infomaterial/inhalt/flugblatt9.pdf.

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5.2 Jugendweihe

Die Darstellung der Jugendweihe konzentriert sich vor allem auf die durch Freiden-kerverbände und Jugendweiheverbände angebotenen Passagerituale für Jugendli-che in der Adoleszenz. Die historische Entwicklung wird im Folgenden in grobenZügen umrissen, denn sie bildet die weltanschauliche Grundlage, die zu den heuti-gen Jugendweihefeiern führte.

5.2.1 Jugendweihe im Wandel der ZeitenDie Geschichte der Jugendweihe hat ihren Ursprung in Deutschland im Umfeld derRevolution von 1848. Im katholischen Raum bildeten sich rund 250 von Rom unab-hängige katholische nationalkirchliche Gemeinden mit ca. 80.000 Mitgliedern; improtestantischen Bereich gründeten rationalistische Kreise erste kleinere Gemein-den. 1859 schlossen sich die verschiedenen Bewegungen zum „Bund freireligiöserGemeinden Deutschlands“ zusammen. Vor allem in den sich Mitte des 19. Jahrhun-derts entwickelnden industriellen Zentren (Sachsen, Provinz Sachsen, BadischesRheinland, Schlesien) fasste die freireligiöse Bewegung Fuß; ein enger Zusammen-hang besteht „zwischen industrieller Entwicklung, Migration, sozialer Frage und derEntstehung einer freien Religion bzw. des Atheismus“ 52. Inhaltlich verband die frei-religiöse bzw. freidenkerische Bewegung 53 vor allem ein sich immer mehr verstär-kendes atheistisches und naturwissenschaftliches Weltbild sowie die Ablehnungder traditionellen Kirchen; deshalb waren 1881 an der Gründung des „DeutschenFreidenkerbundes“ auch freireligiöse Prediger beteiligt. 54

Zu den weltanschaulichen Grundprinzipien der freigeistigen Bewegung in derausgehenden Kaiserzeit und in der Weimarer Republik gehörten fünf Elemente.Hauptthema war eine Religionskritik, insbesondere eine Kritik an den traditionellenGroßkirchen. Daraus abgeleitet wurde die klare Trennung von Staat und Kirche ge-fordert, wobei nach 1918 vor allem der Einfluss der Kirchen auf die Schulen zu lei-denschaftlichen Auseinandersetzungen führte. Hinzu kam die Übernahme desmarxistischen Weltbildes und die Ausprägung einer szientistisch geprägten Weltan-schauung mit einer „beinahe messianisch verklärte[n] Hoffnung auf eine bessereGesellschaftsordnung, die ohne Ausbeutung, aber auch ‚ohne religiösen Aberglau-ben‘ auskommen“ 55 sollte. Dieser Weltanschauung entsprach als vierter weltan-schaulicher Baustein die Entwicklung einer neuen Anthropologie, nach der derMensch Herr und Autor seiner Geschichte sei und nicht ein Geschöpf, das sein Le-ben einem Schöpfer verdanke. Dies alles sollte durch eine neue freidenkerische,von der Arbeiterbewegung geprägte Kultur weiten Bevölkerungskreisen zugänglichgemacht werden. Dazu gehörten neben der Bildungs- und Sozialarbeit in denWohnquartieren auch Jugendweihestunden bzw. -feiern und die Propagierung derFeuerbestattung mit der Gründung von Feuerkassen. 56

52 Albrecht Döhnert: Jugendweihe zwischen Familie, Politik und Religion, Leipzig 2000, S.18.53 „Eine trennscharfe Unterscheidung von ‚freireligiös‘ und ‚freidenkerisch‘ bezüglich der einzelnen Organisation ist schwer zu treffen.“ Döhnert, a. a.O., S.19.54 Döhnert, a. a.O., S.17–25.55 Döhnert, a. a.O., S.27.56 Döhnert, a. a.O. S.25–31.

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5.2.1.1 Jugendweihe vor 1933Die freireligiös-freigeistige Bewegung hat – ihren Ursprüngen entsprechend – bis1860 Kasualien in althergebrachten Formen mit neuen Inhalten gefüllt. Währendandere traditionelle Formen (insbesondere Taufe und Abendmahl) in den Hinter-grund traten, erfreuten sich nichtkirchliche Feiern für Jugendliche in der freireligiö-sen Bewegung, zunächst unter dem Namen „Confirmation“, steigender Beliebtheit.Zwar prägte sich in den Folgejahren im Süden und Westen Deutschlands zunächstein positiver, naturmystisch geprägter Jugendweihetypus mit weitgehend unpoliti-schem Charakter aus, der aber in der ausgehenden Kaiserzeit und in der WeimarerRepublik zugunsten der Betonung dieser Feier als eines Passageritus, der aus derSchule ins Berufsleben entlässt, in den Hintergrund trat. 57 Die meisten freireligiösenGemeinden betonten immer stärker die o. a. fünf Grundprinzipien der freigeistigenBewegung 58 und führten eigene, kirchenfreie und von kirchlichen Riten abgelösteJugendweihefeiern durch. In deren Rahmen spielten eine ethisch-soziale Verpflich-tung ebenso eine zunehmende Rolle wie die durch den Feierritus zugesprocheneAufnahme in die Welt der Erwachsenen durch das Schulende und den Einstieg insBerufsleben. 59

Die „proletarische“ Jugendweihe blieb weitgehend auf Berlin (ab 1889) und aufHamburg (ab 1890) mit vergleichsweise geringen Teilnahmezahlen beschränkt; für1900 werden reichsweit ca. 575 Teilnehmende genannt. 60 Erst in der Weimarer Re-publik stiegen die Zahlen signifikant an: „[D]ie Jugendweihebewegung [hatte sich]zu einer Gattung proletarischer Festkultur entwickelt, die für breite Arbeiterschich-ten akzeptabel war.“ 61 Insbesondere in der Hochburgen der Arbeiterbewegung sol-len über 20% aller Schulentlassenen an Jugendfeiern teilgenommen haben. 62 So-wohl die von sozialdemokratischer wie auch die von kommunistischer Seite veran-stalteten Jugendweihen hatten eine klare politische Zielsetzung, indem sie die Ju-gendlichen den Parteijugendorganisationen zuleiten sollten. Dabei wurde bei derSPD eine Lebenssinn stiftende Dimension „in der Überhöhung des eigenen Le-bensalltags in Richtung der übergreifenden Idee“ als Ersatz der religiösen Dimen-sion bisheriger Konfirmationen angeboten 63, ohne dass für die von ihr organisiertenJugendfeiern ein Ausschließlichkeitsanspruch (Jugendfeier oder Konfirmation) be-ansprucht wurde. Die KPD hingegen setzte die Jugendweihe offensiv für ihre Partei-politik und zur Rekrutierung kommunistisch gesinnter Jugendlicher ein. 64

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57 Döhnert, a. a.O.; S.38. 58 S.o. 5.2.1.59 Döhnert, a. a.O., S.42.60 Döhnert, a. a.O., S.35, Fußnote 43.61 Manfred Isemayer: Jugendweihe/ -feier zwischen Tradition und Moderne, in: Manfred Isemayer: Jugendweihe und Jugendfeier in Deutschland, Marburg 2014, S. 36 f; 44.62 Ebd. Vgl. auch Döhnert, a. a.O., S.44 f.63 Döhnert, a. a.O., S.48–54.64 Döhnert, a. a.O., S.54–56.

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5.2.1.2 Jugendweihe 1933–1945Mit der Machtergreifung der NSDAP 1933 kam das Ende der atheistisch-proletari-schen Jugendweihetradition. Auch wenn heute von Anbietern der Jugendweihe be-stritten wird, dass „der Zeitraum 1933 bis 1945… in die Geschichtsdarstellung einersich humanistisch verstehenden Jugendweihe“ 65 gehöre, so ist dennoch trotz dervollständigen Liquidierung der freidenkerisch-atheistisch-proletarischen Jugendfei-ern auch auf Kontinuitäten hinzuweisen. Letztere drückten sich zunächst in einer vo-rübergehenden Verbindung freireligiöser und deutschgläubiger Kreise in den Jah-ren 1933/34 aus 66 und wurden zudem dadurch deutlich, dass sich die neuen, andie nationalsozialistische Ideologie angelehnten Feiern für 14-Jährige vor allem anden gleichen konfessionslosen Adressatenkreis, der auch vor 1933 Jugendweihe-feiern in Anspruch genommen hatte, richteten.

In den Folgejahren führte die „Deutsche Glaubensbewegung“ so genannte„Deutsche Jugendweihen“ (z.B. 1937 in Leipzig) und die „Deutschen Christen“ Kon-firmationen durch, die stark von deutschreligiösen und antikirchlichen Motiven ge-prägt waren. Döhnert erkennt hier die „Verpflichtung zur Festigung der deutschenReligion, Aufnahme in die Gemeinschaft, weihevolle Stunde“ als tragende Ele-mente einer kulturkämpferischen Abgrenzung gegenüber der Kirche, die auf dem-selben Boden stehe wie das Freidenkertum in der Weimarer Republik. 67 Zudemwurden in der NS-Zeit in offenbar zunehmendem Maße Schulentlassungsfeiern alsLebenswendefeiern deutschnational instrumentalisiert. Auch die Überweisungs-feier in die „Hitler-Jugend“ (HJ) bzw. in den „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) wurdeab 1940 als Passageritus inszeniert: „Alle bisher üblichen Feste müssen nach undnach in die Feiern zur Verpflichtung der Hitler-Jugend übergehen, so daß diese dieeinzigen sind, die in würdiger Weise den neuen Lebensabschnitt der 14jährigenJungen und Mädchen einleiten.“ 68 Inhalt dieser Passageriten waren v. a. eine Ver-pflichtung bzw. ein Gelöbnis gegenüber dem nationalsozialistischen Staat und demFührer. Dementsprechend wurden 1942 die Überweisungsfeiern in die HJ bzw. inden BDM unter das Motto „Weihetag der deutschen Jugend“ gestellt. 69

Nach Ende der NS-Zeit beheimateten sich deutschgläubige und völkische Kreisezum Teil in anderen Organisationen und führten dort in neuem Gewand Jugend -feiern durch („Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft“ 70 und die „Artgemein-schaft e.V.“ 71).

65 Isemayer, a. a.O., S.46. Helga Kutz-Bauer/Konny G. Neumann: Was ist der Mensch, was soll der Mensch?Hamburg 1990, S.98. Vgl. auch: Weltanschauung. Jugend verändert die Welt. Das Buch zur humanistischenJugendweihe, Berlin 32012, S.15.66 Döhnert, a. a.O., S.65–73.67 Döhnert, a. a.O., S.77.68 Verpflichtung der Hitlerjugend, In: Die Spielschar, 14 (1941), Zitiert nach Döhnert, a. a.O., S.103.69 Neue Leipziger Tageszeitung, 23.03.1942. Zitiert nach Döhnert, a. a.O., S.107.70 Handbuch Weltanschauungen, Weltanschauungen, Freikirchen, Hg. im Auftrag der VELKD von Christiane Jahn/Matthias Pöhlmann, S.400.Die Unitarier haben seit den 1950er Jahren mehrere Abspaltungs- und Neuorientierungsprozesse durchlau-fen. Die „Unitarier – Religionsgemeinschaft freien Glaubens“ bekennt sich zu Toleranz, Menschenrechten undDemokratie, während der „Bund deutscher Unitarier – Religionsgemeinschaft europäischen Geistes e. V.“ völkische Vorstellungen propagiert.71 Ebd. S.598. Vgl. Friedrich-Wilhelm Haack: Wotans Wiederkehr. Blut-, Boden- und Rassereligion, München 1981, S.85 ff.

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5.2.1.3 Jugendweihe 1945–1989In den Nachkriegsjahren wurde die freidenkerische Jugendweihetradition aus derWeimarer Zeit wieder aufgegriffen und führte im Westen Deutschlands insbeson-dere in den Großstädten bis in die 1950er Jahre hinein mit relativ großem Erfolgzum Wiederaufblühen der Jugendweihefeiern. So nahmen in Hamburg 1953 mit3.020 Jugendlichen etwa 14% des Jahrgangs der 8. Klassen an der Jugendweiheteil. Die SPD knüpfte jedoch nicht an die frühere enge Verbindung zu den Freiden-kerverbänden an; insgesamt blieb die Reichweite der durch die freidenkerischenund freigeistigen Verbände angebotenen Jugendweiheveranstaltungen eher gering.Im Osten Deutschlands wurde in den ersten Nachkriegsjahren ein neuer Typus, die

„sozialistische Jugendfeierstunde“, entwickelt, ab 1950 war dann die Jugendweihe„im Sinne der früheren Freidenkerverbände“ 72 verboten; stattdessen wurden dieSchulentlassungsfeiern für einige Jahre als kulturpolitisches Instrument zur Inkorpo-ration der Jugendlichen in die sozialistische Gesellschaft eingesetzt. Schon 1954allerdings wurde die Jugendweihe als Kampfinstrument gegen die kirchliche Ju-gendarbeit durch die SED wieder eingeführt und leitete eine der schärfsten Ausei-nandersetzungen zwischen Kirche und Staat in der DDR ein. Kirchlicherseits wurdezunächst eine Entweder-Oder-Position vertreten, die durch die repressive staatlichePolitik allerdings ab 1958 nicht mehr durchgehalten werden konnte: Immer mehrJugendliche nahmen an der Jugendweihe teil; auch viele jener, die sich konfirmie-ren ließen. 73 Döhnert beschreibt verschiedene Etappen der Feiergestaltung: In denersten Jahren (1955–1957) waren die Feiern patriotisch geprägt und wurden als

„aggressiver Akt gegen die Kirchen“ 74 flächendeckend eingeführt. Das den Jugend-lichen abverlangte Gelöbnis von 1955 spiegelt dies wider. 75 Ab 1957 wurden dieJugendweihen als parteilich-sozialistische und atheistische Kult- und Kulturveran-staltung mit einem deutlichen Bekenntnis zur Politik der SED inszeniert. 76 Undnach 1960, als mehr als 80% der Jugendlichen an der Jugendweihe teilnahmenund die Mitgliedschaftszahlen in den Kirchen rapide sanken, wurde der antikirch-

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72 Beschluss des Politbüros der SED vom 13.02.1950. Zitiert nach Döhnert, a. a.O., S.118.73 Vgl. die Grafik bei Döhnert, a. a.O., S.136.74 Andreas Fincke: Anmerkungen zur Jugendweihe aus kirchlicher Sicht. In: Isemayer, a. a. O., S. 110.75 „Liebe junge Freunde! Seid Ihr bereit, für ein glückliches Leben der werktätigen Menschen und ihren Fort-schritt in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst zu wirken? Ja, das geloben wir! Seid Ihr bereit, für ein einheitli-ches, friedliebendes, demokratisches und unabhängiges Deutschland mit Eurem ganzen Wissen und Könneneinzutreten? Ja, das geloben wir! Seid Ihr bereit, im Geiste der Völkerfreundschaft zu leben und restlos EureKräfte einzusetzen, um gemeinsam mit allen friedliebenden Menschen den Frieden zu verteidigen und zu si-chern? Ja, das geloben wir!“ http://www.jugendweiheverein-jungseinerwachsenwerden.de/Geschichte.htm(Letztmaliger Zugriff am 01.04.2016.).76 „Liebe junge Freunde! Seid Ihr bereit, als treue Söhne und Töchter unseres Arbeiter- und Bauernstaatesfür ein glückliches Leben des ganzen deutschen Volkes zu arbeiten und zu kämpfen, so antwortet mir: Ja, dasgeloben wir! Seid Ihr bereit, mit uns gemeinsam eure ganze Kraft für die große und edle Sache des Sozialis-mus einzusetzen, so antwortet mir: Ja, das geloben wir! Seid Ihr bereit, für die Freundschaft der Völker einzu-treten und mit dem Sowjetvolk und mit allen friedliebenden Menschen der Welt den Frieden zu sichern und zu verteidigen, so antwortet mir: Ja, das geloben wir! Wir haben euer Gelöbnis vernommen, Ihr habt euch einhohes und edles Ziel gesetzt. Ihr habt euch eingereiht in die Millionenschar der Menschen, die für Frieden undSozialismus arbeiten und kämpfen. Feierlich nehmen wir euch in die Gemeinschaft aller Werktätigen in unserer Deutschen Demokratischen Republik auf und versprechen euch Unterstützung, Schutz und Hilfe. Mit vereinten Kräften vorwärts!“ http://www.ddr-schulrecht.de/Schulrechtssammlung%20-%20DDR-Dateien/pdf/GELoeBNIS1966.pdf.

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77 „Liebe junge Freunde! Seid ihr bereit, als junge Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik mituns gemeinsam, getreu der Verfassung, für die große und edle Sache des Sozialismus zu arbeiten und zukämpfen und das revolutionäre Erbe des Volkes in Ehren zu halten, so antwortet: Ja, das geloben wir! Seid ihrbereit, als treue Söhne und Töchter unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates nach hoher Bildung und Kultur zustreben, Meister eures Faches zu werden, unentwegt zu lernen und all euer Wissen und Können für die Ver-wirklichung unserer großen humanistischen Ideale einzusetzen, so antwortet: Ja, das geloben wir! Seid ihr bereit, als würdige Mitglieder der sozialistischen Gemeinschaft stets in kameradschaftlicher Zusammenarbeit,gegenseitiger Achtung und Hilfe zu handeln und euren Weg zum persönlichen Glück immer mit dem Kampffür das Glück des Volkes zu vereinen, so antwortet: Ja, das geloben wir! Seid ihr bereit, als wahre Patrioten diefeste Freundschaft mit der Sowjetunion weiter zu vertiefen, den Bruderbund mit den sozialistischen Ländernzu stärken, im Geiste des proletarischen Internationalismus zu kämpfen, den Frieden zu schützen und den Sozialismus gegen jeden imperialistischen Angriff zu verteidigen, so antwortet: Ja, das geloben wir! Wir habeneuer Gelöbnis vernommen. Ihr habt euch ein hohes und edles Ziel gesetzt. Feierlich nehmen wir euch auf indie große Gemeinschaft des werktätigen Volkes, das unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer revolutionä-ren Partei, einig im Willen und im Handeln, die entwickelte sozialistische Gesellschaft in der Deutschen Demo-kratischen Republik errichtet. Wir übertragen euch eine hohe Verantwortung. Jederzeit werden wir euch mitRat und Tat helfen, die sozialistische Zukunft schöpferisch zu gestalten.“ http://www.ddr-geschichte.de/Bildung/Schule/Jugendweihe/Jugendweihe-Gelobnis/jugendweihe-gelobnis.html.78 Döhnert, a. a.O., 146.79 Kutz-Bauer/Neumann, a. a.O., S.128–131. Döhnert, a. a.O., S.148 f.80 Kutz-Bauer/Neumann, a. a.O., S.111.81 Isemayer, a. a.O. S.52 f.82 Döhnert, a. a.O. S.149.

lich-kämpferische Grundton allmählich zurückgefahren; die Jugendweihe war inbreiten Bevölkerungsschichten als Übergangsritual akzeptiert. Ab 1968 dannwurde sie als quasi-religiöse und politisch aufgeladene Bekenntnisfeier mit einemTreuegelöbnis gegenüber dem sozialistischen Staat verbunden. 77

Ab Ende der 1950er bzw. Anfang der 1960er Jahre gehörte die Jugendweihe zumLeben der allermeisten Familien in der DDR und zur gesellschaftspolitischen Reali-tät. Sie gewann rasch als Familienfeier einen hohen Stellenwert und wurde zu einerfamiliären Festtradition, die die Konfirmation in ihrer gesellschaftlichen Bedeutungals Passageritual weitgehend ersetzte; 1989 nahmen rund 95% aller Jugendlichendaran teil. Der gewünschte Erfolg allerdings, klassenbewusste sozialistische Per-sönlichkeiten zu formen, wurde offenbar in weiten Teilen verfehlt. 78

Im Westen hingegen ist die Jugendweihe ab Mitte der 1950er auch als Folge dessich anbahnenden Kalten Krieges und der in den Westen rückwirkenden politi-schen Instrumentalisierung in der DDR in der Ruch der geistigen Nähe zur DDR-Ju-gendweihe geraten. In den Folgejahren fristeten die Jugendweiheangebote im Wes-ten ein Nischendasein. Interne Auseinandersetzungen innerhalb des „DeutschenFreidenker Verbands“ (DFV) mit Abspaltungen und Neugründungen von Jugend-weiheorganisationen (Trennung des DFV-Landesverbands Berlin vom DFV mit Sitzin Dortmund 1958, Gründung von „Jugendweihe Hamburg e.V.“ 1982) taten einÜbriges. 79 Verlässliche Zahlen über durchgeführte Jugendweihefeiern und die Teil-nehmenden in Westdeutschland sind nicht zu erheben. Nach internen Angabennahmen in Hamburg von 1950 bis 1960 jährlich zwischen 2.000 und 3.000 80 undin den 1980er Jahren in Berlin und Hamburg zwischen 200 und 400 Jugendlichean Jugendweihefeiern teil 81.

Die nach dem Krieg im Westen ebenfalls wieder aufgenommenen bzw. fortge-führten Jugendweiheveranstaltungen der freireligiösen Gemeinden nahmen nacheinem kurzen Wiederaufleben in den Nachkriegsjahren kontinuierlich ab. 82

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5.2.1.4 Jugendweihe ab 1990Nach 1989 wurden die Jugendweihefeiern in den östlichen Bundesländern ihrer po-litischen Instrumentalisierung entkleidet und stabilisierten sich nach einem kurzenEinbruch ab 1993 zahlenmäßig auf hohem Niveau. Dabei griffen die Verbände auferfahrene Mitarbeiter und bewährte Strukturen aus der Zeit vor 1989 zurück 83 undkonnten an die in vielen Familien nach zwei Generationen schon traditionell veran-kerte Jugendweihetradition der DDR anknüpfen, denn im Osten Deutschlands istdie Jugendweihe genau dies: „Ausdruck einer positiv besetzten Familientradition“. 84

So wurde schon Ende 1990 der Verein „Jugendweihe Mecklenburg-Vorpommerne.V.“ gegründet 85; er gehört ebenso wie „Jugendweihe Hamburg e.V.“ 86 als Lan-desverband dem „Bundesverband Jugendweihe Deutschland e.V.“ an 87. An den imJahr 2013 vom Bundesverband durchgeführten Jugendweihefeiern, für die es keineverpflichtenden Vorbereitungsstunden gibt, nahmen 34.500 Jugendliche teil, 88 imZeitraum 1991 bis 2014 waren es insgesamt mehr als 1,5 Millionen Jugendliche 89.Es gibt eine stabile, in den östlichen Bundesländern von einer großen Zahl der Ju-gendlichen wahrgenommene Tradition der Jugendweihe, während sie in den westli-chen Bundesländern ein Nischendasein fristet. 90

Beim „Humanistischen Verband Deutschland“ (HVD), der die Jugendliche überein halbes Jahr auf die Abschlussfeier vorbereitet, beteiligten sich 2013 bundesweitmehr als 10.000 Jugendliche an Jugendfeiern 91. Der HVD stellt sich zwar in die Tra-dition der ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Jugendweihe, nennt seine Feiernaber bewusst nicht Jugendweihefeier, vor allem, um sich von der Instrumentalisie-rung der Jugendweihe in der DDR zu distanzieren. 92

Inhaltlich haben sich die Jugendweihefeiern in ihrer Feiergestalt weitgehend vonantikirchlichen und antireligiösen Affekten sowie vom ideologischen Ballast der po-litischen Instrumentalisierung der DDR-Zeit gelöst 93 und stehen heute für eine religi-onslose und atheistische Feiertradition.

Die humanistische bzw. atheistische Ausrichtung wird bei „JugendweiheDeutschland e.V.“ durch das als Jugendweihegeschenk überreichte Buch deutlich.Diese Geschenkbücher haben inhaltlich unterschiedliche Ausrichtungen: Es gibt

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83 Vgl. http://www.zeit.de/2011/23/S-Jugendweihe/seite-2.84 Andreas Fincke: Anmerkungen zu Jugendweihe aus kirchlicher Sicht, in: Isemayer, a. a. O., S. 117.85 http://www.jugendweihemv.de/wir-ueber-uns.html.86 http://www.jugendweihe-hamburg.de/.87 http://www.jugendweihe.de/index.html.88 http://jugendweihe.de/news---informationen.html.89 http://www.jugendweihe.de/files/Statistiken-JWDL-2015-JW.pdf.90 Vgl. Emilia Handke: Weder Jugendweihe noch Konfirmation. Erkundungen in einem unbekannten Feld, in:Pastoraltheologie 105, Göttingen 2016, S.107 f. Während im Osten Deutschlands knapp ein Drittel der Jugendlichen eines Jahrgangs die Jugendweihe in Anspruch nehmen (2010: ca. 33.000), sind es im WestenDeutschlands weniger als 0,1% (2010: 327).91 Margrit Witzke: JugendFEIER heute. In: Manfred Isemayer, a. a.O. S.140.92 Horst Groschopp: Eine kleine Geschichte der Jugendweihe, in: diesseits, Berlin 14/2000,http://fowid.de/fileadmin/textarchiv/Groschopp_Horst/Jugendweihe_Geschichte_TA2000_9.pdf, Seite 2 f.93 Das bedeutet nicht, dass insbesondere bei Interessenkonflikten bzw. Forderungen hinsichtlich der Gleich-stellung mit den Kirchen, aber auch in der Selbstpositionierung gegenüber den Kirchen auf antireligiöse Af-fekte verzichtet wird. Vgl. Horst Groschopp: Die Jugendweihe, in Isemayer, a. a.O., S.98 ff; Siegfried R. Krebs:Passageritus: Jugendweihe und Jugendfeier in Deutschland, insbes. der Abschnitt: Zerrbilder aus kirchlicherSicht, http://www.freigeist-weimar.de/beitragsanzeige/passageritus-jugendweihe-und-jugendfeier-in-deutsch-land/. Vgl. auch die Zitate von Friedrich Heer, Hermann Hesse und Ralf Penczig in: Kutz-Bauer/Neumann, a. a.O., S.212.

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Bände, die historische Darstellungen zur Jugendweihe enthalten 94, andere, die alsAlmanach mit Kurzbeschreibungen der Kontinente und Länder 95 oder als Text- undArbeitsbuch zu einer Fülle jugendspezifischer (z.B. Liebe und Partnerschaft, Dro-gen, Mobbing, Beruf) und allgemeiner Themen (z.B. Staat und Gesellschaft, wissen-schaftliches Weltbild, Sinnfragen, Werte und Wertewandel, globale Entwicklung) ge-staltet sind 96. Grundlegend sind den Geschenkbüchern die Vermittlung humanisti-scher Werte, die Betonung der menschlichen Vernunft zur Gestaltung des persönli-chen und des gesellschaftlichen Lebens sowie die Befürwortung einesszientistischen Weltbildes. In einem Programmheft zur Jugendweihe 2016 wird be-tont, dass die humanistische „Weltanschauung nicht auf veraltete Dogmen und Bi-belweisheiten [reduziert], sondern […] die Ergebnisse weltweiter Forschung in unserWeltbild“ einbeziehen würde. 97 In diesem Weltbild gibt es keinen Raum für denchristlichen Gottesglauben, der einerseits wissenschaftliche Erkenntnisse akzep-tiert 98 und andererseits an durch die Bibel vermittelten Glaubensüberzeugungenund an der Glaubenshoffnung, über den Tod hinaus bei Gott geborgen zu sein, fest-hält 99. So werden Religionen im Rückgriff auf Feuerbach als menschengemachteWunschbilder zur Lebensbewältigung definiert 100 oder rein deskriptiv behandelt. 101

Bei der Entscheidung Jugendlicher für die Jugendweihe ist die Rolle der Eltern„kaum zu überschätzen“. 102 Gerade im Osten Deutschlands dürfte es für die nachwie vor weite Verbreitung der Jugendweihe vor allem folgende Gründe geben: El-tern tradieren eine von ihnen als positiv erlebte Feierkultur. Jugendliche, die die Ju-gendweihe in Anspruch nehmen, verhalten sich mehrheitskonform im sozialen Um-feld, das vor allem durch die Schule repräsentiert wird; dieses mehrheitskonformeVerhalten innerhalb einer Peer-Group ist nicht begründungspflichtig, sondernselbstverständlich. Des Weiteren wird die Jugendweihe von Jugendlichen auchdeshalb befürwortet, weil sie bei älteren Geschwistern oder in der Verwandtschaftals Statuszugewinn erlebt wurde. Für Jugendliche – auch im Westen –, die bewusstfür die Jugendweihe und gegen eine Konfirmation bzw. Firmung optieren, ist derfehlende Bezug zum Christentum bzw. die familiär tradierte, bewusste Teilnahmean säkularen Ersatzhandlungen (Namensweihe, Jugendweihe) Grundlage der Ent-scheidung. Für manche Jugendliche ist die Jugendweihe auch aufgrund ihrer Un-verbindlichkeit ohne weitere biographische Konsequenzen oder inhaltliche Inan-spruchnahme attraktiv. 103

94 Kutz-Bauer/Neumann, a. a.O.95 Die Welt in der wir leben, Stuttgart 1998.96 Weltanschauung – Jugend verändert die Welt: Das Buch zur humanistischen Jugendweihe, a. a.O.97 Kursheft 2016. Informationen für Eltern und Jugendliche, Hg.: Jugendweihe Hamburg e.V. Landes -verband Hamburg/Schleswig-Holstein, Hamburg, o. J., S.5.98 Vgl. Konny G. Neumann: ID: Die Alternative zur Evolution, in Glauben: Menschen machen Religion, S.95 –9799 Vgl.: Für die Jugend. Mit der Jugend. 20 Jahre Jugendweihe Deutschland e. V., Berlin 2010, S. 161.100 Konny G. Neumann: Glauben: Menschen machen Religionen, in: Jugend verändert die Welt: Das Buchzur humanistischen Jugendweihe, Berlin 2009, S.134 f. Ders.: Glauben: Menschen machen Religionen, in: Jugendweihe. Wendepunkt. Weltanschauung. Werte. Das Buch zur humanistischen Jugendweihe, Berlin2016, S.171 ff.101 Die Welt in der wir leben, a. a.O., passim. Weltanschauung – Jugend verändert die Welt: Das Buch zurhumanistischen Jugendweihe. Berlin 2009, 136 ff.102 Döhnert, a. a.O. 313.103 Döhnert, a. a.O., S. 313–322.

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Immer wieder werden vor allem zwei kritische Anfragen an die Jugendweihe ge-stellt: Worin liegt der biographische Mehrwert einer Jugendweihe für Jugendliche?Und woraufhin erfolgt eigentlich die Weihe?

Die Jugendweihefeier nur auf einen schönen, in der Familientradition begründe-ten Event zu reduzieren, greift sicherlich zu kurz. Denn die Jugendlichen erfahren inihrem Leben einen Statusgewinn, stehen sie doch – oft erstmalig – in einem größe-ren Rahmen im Mittelpunkt. Für sie und ihre Familien verschränken sich Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft in einem privaten und in einem das Private trans-zendierenden Rahmen. So wird durch die lokale mediale Aufmerksamkeit, durchdas Auftreten von Personen aus der Öffentlichkeit (z.B. Politiker, Künstler, Sportler,Verbandsvertreter), durch das Hineintreten des Jugendlichen und seiner Familie indie Öffentlichkeit der private, familiäre Raum zur Gesellschaft hin geöffnet. Unddiese bestätigt durch ihre Vertreter und die von ihnen gehaltenen Festreden dieSinnhaftigkeit dieses Ritus, will die Jugendlichen auf ihrem Weg zum Erwachsen-werden stärken und spricht ihnen damit zu, in der Erwachsenenwelt willkommen zusein. Dass die Festreden oftmals unverbindlich und appellativ wirken und recht ein-dimensional von den Höhen und Tiefen des Lebens sprechen, 104 tut der „gefühlten“größeren Dimension des Lebens, die diese Feier eröffnet, und der ihr beigemesse-nen Bedeutung keinen Abbruch. 105

Für den festlichen Charakter der Jugend(weihe-)feier wird ein mehr als einstündi-ges Programm geboten mit einem feierlichen Ein- sowie abschließenden Auszugder Jugendlichen, die während der Veranstaltung auf einem Podium oder in denersten Reihen sitzen. Bestandteil der Feiern sind Musikdarbietungen, zu denen ne-ben Pop-Repertoire (z. B. von den Beatles, Peter Maffay, Elton John) auch traditio-nelle Volks- bzw. Freiheitslieder („Die Gedanken sind frei“) gehören können. Rezita-tionen aus der Literatur, eine Festrede, die Übergabe der Geschenkbücher und Ur-kunden sowie ein Dankeswort der Jugendlichen sind zentrale Bestandteile von Ju-gendweihefeiern. 106

Nach wie vor ist die Frage des „Weihe“-Charakters der Jugendweihefeier nichthinreichend geklärt. Denn der Begriff „Weihe“ impliziert eine wie auch immer gear-tete religiös-spirituelle Handlung bzw. eine Statusveränderung des Geweihten. Dementsprachen in den Jahren vor 1989/90 die je nach politischem Hintergrund unter-schiedlichen Gelöbnisse, sich in einem größeren Rahmen für die Ideen der Arbei-terbewegung einzusetzen, in die religiöse Verehrung des Arisch-Deutschen unddes Führers einzustimmen oder sich dem DDR-Sozialismus mit allen Kräften zu ver-schreiben. Durch den Verzicht auf ein Gelöbnis bei allen Jugendweiheverbänden

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104 Vgl. z.B. die Festreden von: Stefan Liebich (Die Linke, MdB), http://www.stefan-liebich.de/de/article/2464.nehmt-euer-leben-in-eure-eigenen-haende.html; Birgit Klaubert (Die Linke, Ministerin für Bildung, Jugendund Sport in Thüringen), http://www.dr-birgit-klaubert.de/reden/jugendweihe_04.htm (Letztmaliger Zugriff11.04.2016.).105 Albrecht Döhnert: Kein Grund zu überlegenem Lächeln. Jugendweihe zwischen Konkurrenz und Lern-verhältnis, in: Lernort Gemeinde, 20. Jahrgang, Heft 2/2002, Hannover 2002, S. 25 f. Vgl.: Albrecht Döhnert:Jugendweihe zwischen Familie, Politik und Religion. Eine empirische Studie zum Fortbestand der Jugend-weihe in Ostdeutschland, in: Detlef Pollack/Gert Pickel: Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland1989–1999,Opladen 2000, S. 236–258.106 Programmheft der Jugendweihe-Feiern 2015 am Samstag 14. Und 28. März, Hg.: Jugendweihe Deutschland e.V., Hamburg o. J., S.18 f.

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werden all diese mit dem Begriff „Weihe“ verbundenen, aus der Geschichte der Ju-gendweihe sich nahelegenden Assoziationen vermieden. So kann hier nur vermutetwerden, dass der Begriff „Weihe“ deshalb beibehalten wurde, um neben der Tradi-tionsverhaftung des Begriffs vor allem das Besondere und Einmalige der Feier zubetonen und den Beteiligten zudem die Anknüpfung an die eigene Familientradi-tion zu eröffnen.

5.2.2 Jugendweihe bei RitualdesignernAngebote zur Jugendweihe finden sich auch bei Ritualdesignern, die in einem fami-liär-privaten Rahmen eine Feier zum Erwachsenwerden anbieten. Es ist allerdingsdavon auszugehen, dass die Nachfrage nach diesen privaten Feiern angesichts derin fast allen Regionen Deutschlands durch Verbände durchgeführten Jugendweihein einem zahlenmäßig bescheidenen Umfang stattfinden. Die Vorbereitung, Gestal-tung und Durchführung dieser Feiern wird genauso individuell vollzogen wie beiden Namensweihefeiern. 107

5.2.3 Weitere AngeboteFreireligiöse SzeneDie Unitarier bieten eine Jugendleite „für den wichtigen Übergang von der Jugend-zeit zum Erwachsenenwerden“ auch für Jugendliche aus nicht-unitarischen Familienan. In der Vorbereitungszeit auf die Jugendleite-Feier soll den Jugendlichen „Kritikfä-higkeit, Selbstvertrauen und religiöse Eigenständigkeit“ vermittelt werden. Den vor-läufigen Abschluss dieses „Weg[s] zur Eigenständigkeit“ bildet die festliche Feier. 108

Neuheidnische SzenenIn neuheidnisch-germanischen Kreisen gibt es eine Jugendleite, auch Muntfeier ge-nannt, die den Übergang zum Erwachsenwerden begleitet und nach der erstenMenstruation bzw. nach dem Stimmbruch erfolgen soll. 109 Allerdings scheint diesesLebenskreisfest in neuheidnischen Kreisen eher am Rande eine Rolle zu spielen.

Auch in völkisch-rechtsextremen Kreisen gibt es eine Jugendfeier, die den Über-gang zum Erwachsenwerden begleiten soll, in deren Mittelpunkt aber das bewussteHineinnehmen der Jugendlichen in völkisch-germanische Vorstellungen steht. 110

107 S.o. 3.1.1.108 https://www.unitarier.de/unitarier/was-wir-tun/feiern/.109 Das Ritualbuch des Eldaring e. V., a. a.O., S.13 ff.110 http://www.asatru.de/nz/index.php?option=com_content&view=article&id=39:die-jugendfeier&catid=15:schrifttum&Itemid=18.111 http://www.freie-trauung.com/brautpaar-referenzen/.

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5.3 Hochzeit

Hochzeiten sind die Kasualien, für die in den letzten Jahrzehnten zahlenmäßig amstärksten alternative und neue Formen neben den Kirchen entwickelt wurden. Sobieten neben den im Folgenden dargestellten Angeboten Standesämter seit Länge-rem neue Möglichkeiten für die standesamtliche Eheschließung an: standesamt -liche Eheschließungen werden z. B. in Schlössern, auf Schiffen, in historischen Ge-bäuden oder auch in Hotels ermöglicht.

Hochzeiten sind die Kasualien, die am intensivsten einer dynamischen Pluralisie-rung unterliegen. Diese Veränderungen betreffen alle für eine Hochzeit relevantenBereiche: Orte, inhaltliche Gestaltungselemente, Symbolhandlungen und musikali-sche Schwerpunkte.

5.3.1 Freie Ritualdesigner„So mancher unserer Gäste war dieser ‚Zeremonie ohne Pfarrer und dann auchnoch im Freien‘ sehr kritisch gegenübergestanden. Und die, denen wir den Preiseiner freien Trauung verraten haben, waren sogar der Meinung, so etwas brauchtman nicht. Doch wir wollten etwas Besonderes und haben uns nicht beirren lassen.Nach Ende unserer Trauung waren alle eines Besseren belehrt. Es gab Lob aus al-len Ecken. Absolut jeder war der Meinung, noch nie eine so persönliche undschöne Traurede gehört zu haben. Die meisten hatten feuchte Augen und sogardie Generation 70+ hat bei der Aussage ‚besser als jeder Pfarrer‘ nickend zuge-stimmt!“ 111

Diese Danksagung an eine freie Rednerin verdeutlicht exemplarisch, was sichdie Klientel von Ritualdesignern für ihre Hochzeit wünscht: Ein individuelles, sich –vermeintlich – von anderen Feiern abhebendes und als schön empfundenes Hoch-zeitsritual. Zudem wird das Vorurteil bestätigt, dass die persönlichen Vorstellungenund Wünsche von Brautpaaren in kirchlichen Trauungen nicht angemessen be-rücksichtigt würden.

Entsprechend veröffentlichen Ritualdesigner Danksagungen auf ihrer Internet-präsenz, aus denen deutlich wird, wie das Kunde-Dienstleister-Verhältnis den Kon-takt bestimmt:

„Dass unsere Wünsche für diesen Tag recht groß waren, wussten wir von Anfangan. Von der Limousine zur Trauung im Turm mit Stein setzen, Helikopter fliegen,Schifffahrt, weiße Tauben, die weiße Kutsche, die Torte und das herrliche Feuer-werk hast du mit viel Ruhe und Harmonie für uns den perfekten Tag gestaltet.“ 112

Hauptgrund der Brautpaare, sich an einen Ritualdesigner zu wenden, ist derWunsch nach einer auf die Vorstellungen des Paares abgestimmten rituell gestalte-ten Hochzeitsfeier. Im Mittelpunkt stehen hier nach der Ergebnissen der Interviewsmit Ritualdesignern vor allem folgende Vorstellungen zur Gestaltung eines Ritus:

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111 http://www.freie-trauung.com/brautpaar-referenzen/ 112 http://www.traumhochzeitaufruegen.de/?page_id=11&title=referenzen (Letztmaliger Zugriff am07.02.2013.).

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113 „Traumhochzeit“, 1992 bis 2000, RTL, moderiert von Linda DeMol.114 „Vier Hochzeiten und eine Traumreise“, seit Dezember 2012, VOX, moderiert vom Eventmanager Frank(„Froonck“) Mathée; vgl.: http://www.wedding-agency.de/.115 Vgl. hierzu auch: Jo Reichertz: „Traumhochzeit“ – Magie und Religion im Fernsehen oder: Die Wieder -entdeckung des Religiösen, in: Pastoraltheologie 88, Göttingen 1999, S.2–15. Michael Schibilsky: Kasualienin der Mediengesellschaft, Anmerkungen zu den Beobachtungen von Jo Reichertz zur „Traumhochzeit“, in: Pastoraltheologie 88, Göttingen 1999, S.16–23. Martin Dutzmann: Das Fernsehen ist nicht die Kirche. „Traumhochzeit“ und kirchliche Trauung. Kritische Anmerkungen zum Aufsatz von Jo Reichertz, in: Pastoral-theologie 88, Göttingen 1999, S.24–28. Eberhard Hauschildt: Kirchliche Trauungen zwischen Magiebedürfnisund Interpretationschance. Zu den Beiträgen von Jo Reichertz und Martin Dutzmann, in: Pastoraltheologie 88,Göttingen 1999, S.29–33.

– Paare möchten ihre Feier an einem besonderen Ort durchführen (z.B.: am See, in einer Barkasse, am Strand, in einer Scheune, auf einer Verkehrsinsel etc.);

– die Hochzeitsrede soll das Paar und gegebenenfalls die Mitfeiernden in den Mittelpunkt stellen;

– ein Äquivalent zur agendarisch vorgesehenen Traufrage soll die gegenseitige Zusage des Paares, in Liebe und Treue einander verbunden zu bleiben, besiegeln;

– Symbolhandlungen (Aufsteigen-Lassen von Luftballons, Schwimmkerzen auf dem See, Feuerwerk u. a.m.) sollen dem Wunsch des Paares für Ehe und Partnerschaft während der Hochzeitszeremonie Ausdruck verleihen;

– musikalisch soll die Feier den Vorlieben des Paares entsprechen.

Auch Paare, die aus verschiedenen Gründen keine standesamtliche Eheschließungvollziehen lassen können oder denen aufgrund einer vorausgegangenen Schei-dung in der römisch-katholischen Kirche eine erneute Trauung versagt bleibt, wen-den sich oftmals an Ritualdesigner.

Mediale Einflüsse haben in den letzten 25 Jahren die Vorstellungen zur Gestal-tung von Hochzeiten in starkem Maße geprägt. Zu nennen sind hier in erster Liniezwei um Hochzeiten inszenierte Fernsehshows, bei denen man entweder die Aus-richtung der Feier durch einen Fernsehsender („Traumhochzeit“, RTL) 113 oder eineeinwöchige Hochzeitsreise („4 Hochzeiten und eine Traumreise“, VOX 114) gewinnenkonnte bzw. kann. Abgesehen vom Wettbewerbsrahmen werden hier Gestaltungs-und Inhaltselemente vorgegeben und Geschmacksbeurteilungen abgegeben, dieauch Rückwirkungen auf kirchliche Trauungen hatten und haben. Auch TV-Übertra-gungen von Hochzeiten aus Königshäusern mit den einer breiten Öffentlichkeit zu-gänglichen Ritualformen dürften auf die Bild- und Vorstellungswelt, wie eine Trau-ung durchgeführt werden könnte, Einfluss haben. 115 So ist beispielsweise bis An-fang der 1990er Jahre die Begleitung der Braut in den Trauungsgottesdienst durchihren Vater über Jahrzehnte hin immer mehr in den Hintergrund getreten; seit 1992mit der ersten Staffel der „Traumhochzeit“ wird die Brautzuführung bei der überwie-genden Zahl kirchlicher Trauungen gewünscht. Auch die Aufforderung nach vollzo-genem Traubekenntnis und Segnung des Paares „Nun dürfen Sie die Braut küs-sen!“ bzw. „Nun dürft Ihr einander küssen!“, die keinen Anhalt in evangelischenTrauagenden hat, aber im Rahmen der Trauhandlung erwartet wird, dürfte auf ent-sprechende medial geprägte Vorstellungen zurückzuführen sein.

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Es hat sich eine breit aufgestellte Angebotspalette unterschiedlichster Ritualde-signer und Festredner etabliert, von denen die meisten Hochzeiten und Trauerfei-ern als Kern ihrer Angebote beschreiben. In einer der Internetpräsenzen mit mehrals 500 Zeremonienleitern werden die Merkmale einer nichtkirchlichen Hochzeitauch im Gegenüber zur kirchlichen Trauung und zur standesamtlichen Eheschlie-ßung dargestellt:

Was ist der Unterschied zwischen freier Trauung und kirchlicher Trauung?Die freie Trauung bietet mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Hier nur die wichtigstenPunkte:

Freie Trauung Kirchliche Trauung

Ort frei wählbar Kirche, KapelleZeitpunkt frei wählbar beschränkt wählbarAblauf frei wählbar nicht wählbarRituale frei wählbar nicht wählbarInhalt frei wählbar beschränkt wählbarZeremonienleiter frei wählbar beschränkt wählbarReligion(en) frei wählbar nicht wählbar

Was ist der Unterschied zwischen freier Trauung und standesamtlicher Trauung?Die freie Trauung bietet mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Hier nur die wichtigstenPunkte:

Freie Trauung Standesamtliche Trauung

Ort frei wählbar beschränkte AuswahlZeitpunkt frei wählbar beschränkte AuswahlAblauf frei wählbar nicht wählbarRituale frei wählbar nicht wählbarInhalt frei wählbar nicht wählbarZeremonienleiter frei wählbar nicht wählbarReligion(en) frei wählbar nicht wählbar 116

Da es sich um einen freien Markt mit Angeboten des Ritualdesigns und der Nach-frage von Brautpaaren nach einer Hochzeitsfeier handelt, werden die Angeboteauch marktförmig in Anspruch genommen. In einem Interview berichtete ein Ritual-designer, wie Brautpaare – sofern sie ihn noch nicht bei einer Hochzeit im Familien-bzw. Bekanntenkreis erlebt haben – in der Regel zur Auswahl des Anbieters für ihre

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116 http://www.zeremonienleiter.de/content/6/Freie_Trauung/Freie_Trauung__ber_500_freie_Theologen_ -Hochzeitsredner_freie_Redner (Hervorhebungen im Original).

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117 Freier Theologe Thomas Domröse, http://www.thomasdomroese.de/index.html. Vgl. Rednerin MichaelaMann, http://michaela-mann.net/?page_id=533; Freie Rednerin Eva Wester, http://www.weltliche-trauung.de/html/zeremonien.html; Freier Theologe Klaus Behner, http://www.freie-theologen.de/wer-und-wo/klaus-behner/.118 http://www.traufeier.com/.119 Anton Aschenbrenner (Freier Theologe und ehemaliger römisch-katholischer Priester) in: Pfarrer zu mie-ten, ARD-Reportage Gott und die Welt, 04.11.2012. http://www.antonaschenbrenner.de/biographie.htm).120 Über Hochzeiten zweier Menschen hinaus werden auch ungewöhnliche Formen der rituellen Begleitungeröffnet: „Kann man sich selbst heiraten? Prinzipiell ist die Anzahl derer, die sich frei trauen lassen, frei wähl-bar. Sie können sich in einer freien Zeremonie jedes Versprechen geben das Sie möchten. Kann man sich mit einem Tier frei trauen lassen? Beziehungen zu Tieren sind oft sehr innig. Sie können dieseVerbundenheit mit einer freien Zeremonie festigen. Ebenso ist es möglich, ein Tier, das einen wichtigen Platzin einer Beziehung einnimmt, mit einer Zeremonie in diese Beziehung mit aufzunehmen.“ http://zeremonien-leiter.de/content/6/Freie_Trauung/Freie_Trauung__ber_500_freie_Theologen_Hochzeitsredner_freie_Redner.

Feier gelangen: Im Internet werden mehrere Ritualdesigner aus der regionalen Um-gebung gesucht, mit denen zunächst ein kürzeres unverbindliches, kostenlosesVorgespräch geführt wird, um sich danach für einen zu entscheiden. Dann werdenein bis zwei Vorbereitungsgespräche geführt, deren zeitlicher Umfang bis zu siebenStunden ausmachen kann und in denen die genaue Gestaltung der Hochzeitszere-monie besprochen wird.

So nehmen die sich in den letzten Jahrzehnten ausweitenden Angebote fürnichtkirchliche Hochzeitsfeiern diese individuellen Vorstellungen auf, um für jedesPaar das passende Ritual zu entwickeln. Ritualdesigner verstehen sich bei derDurchführung von Hochzeitsfeiern als vorübergehende Wegbegleiter für diesen be-sonderen Moment des Lebens: „Gemeinsam finden wir eine Hochzeitszeremonie,die zu Ihnen passt, und eine Traurede, in der Sie sich wiederfinden.“ 117 Im Mittel-punkt soll das Paar stehen, mit der für das Paar zugeschnittenen Hochzeitszeremo-nie: „Eine Freie Trauung […] ist […] eine schöne Möglichkeit, dem Bedürfnis nach einer individuellen Zeremonie gerecht zu werden.“ 118 Dabei sind Ritualdesigner bereit, sich auf fast alle religiösen oder weltanschaulichen Wünsche der Brautpaareeinzulassen und gleichsam stellvertretend für den Familien- und Freundeskreis eineAufgabe professionell zu übernehmen: „Man mietet sich einen Freund, einen Men-schen, der mit Wohlwollen und Sympathie und seiner Persönlichkeit da ist, ohne einen zu überschwemmen.“ 119 Diesem Selbstverständnis entsprechend eröffnenRitualdesigner eine Fülle von Gestaltungsspielräumen hinsichtlich des Ortes, derSymbolhandlungen oder der musikalischen Ausgestaltung einer Hochzeits zere -monie. 120

Entsprechend der individuellen Ausrichtung ihres Dienstleistungsangebots stel-len Ritualdesigner in ihren Internetpräsenzen auch keinen idealtypischen Ablauf ei-ner Hochzeitszeremonie vor. Zwar werden die o. a. Gestaltungsinhalte (musikali-scher Rahmen, Rede, Treuebekenntnis, Symbolhandlungen) bei fast allen Feiernaufgenommen, werden aber in Vorgesprächen ausgehandelt und festgelegt. Dader zeitliche Aufwand je nach Hochzeit sehr stark variiert, vermeiden es die meistenRitualdesigner bis auf wenige Ausnahmen, die Kosten auf ihrer Homepage anzuge-ben, sondern klären die finanziellen Rahmenbedingungen im persönlichen Ge-spräch.

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5.3.2 Humanistische OrganisationenVom „Humanistischen Verband Deutschland e.V.“ wird die Durchführung vonHochzeitsfeiern angeboten, deren Gestaltung in der Absprache mit dem Hochzeits-paar erfolgt. Christliche bzw. religiöse Inhalte sind bei diesen Feiern anders als beifreien Ritualdesignern grundsätzlich ausgeschlossen, vielmehr sind diese Feiern

„weltlich, selbstbestimmt und individuell“ ausgerichtet. 121

5.3.3 Weitere AngeboteFreireligiöse SzeneDie Unitarier bieten eine Eheleite an, die sich von denen der neuheidnischenSzene 122 deutlich unterscheidet. Im Mittelpunkt der unitarischen Form der Ehe-schließung steht die Bekräftigung beider Eheleute „zum gemeinsamen Lebenswegund zur Verantwortung füreinander“. Die Unitarier würden bei einem glaubens -verschiedenen Paar gegebenenfalls auch einen nichtunitarischen Vertreter der an-deren Religion mitwirken lassen. 123

Neuheidnische SzenenIm Neopaganismus werden neuheidnische Hochzeitsriten, so genannte Ehelei-ten 124, angeboten, die den Anspruch erheben, auf vermeintlich alte germanischebzw. nordische Rituale zurück zu greifen, in Inhalt und Ausgestaltung jedoch neu-zeitlichen Ursprungs sind. Dabei werden die Götter um Unterstützung zum Gelin-gen der Ehe gebeten, damit das Ehepaar sagen könne: „Ich bin jetzt nicht mehr al-lein, denn alles was uns trifft, im Guten wie im Schlechten, trifft uns zusammen. Wirhaben unseren Schicksalsfaden miteinander verknüpft. Unser junges Sippenheilliegt in unseren Händen. Es liegt allein an uns, was wir daraus machen. Mit den Göt-tern an unserer Seite.“ 125

Üblicherweise findet die Eheleite in freier Natur statt, wenn möglich an einem als„heilig“ bezeichneten Ort. Aus dem o. a. Zitat wird deutlich, dass eine heidnischeEheleite zwar eine rituelle Feier bei der Hochzeit eines heterosexuellen Paares ist, allerdings der Beistand der Götter allenfalls als unterstützend angesehen wird; einegöttliche Kraft ist nicht der Grund, auf dem eine solche Ehe aufgebaut ist. Zudemspielt in einem Teil der neuheidnischen Szene bei einer Eheleite die archaische Vor-stellung der Sippe in einem weiteren Zusammenhang eine wichtige Rolle, in der derMann darüber hinaus der Frau übergeordnet wird: „Bei der Ehe/Hochzeit handeltes sich nur sekundär um die Verbindung zweier sich liebender Menschen zu einerneuen Familie. Primär ist es die Verbindung zwischen zwei Sippen – mit all den Im-plikationen, die das hat. Es handelt sich dabei um einen Vertrag – Ehe kommt vonêwa, dem Vertrag auf gegenseitige Treue. Die beiden Individuen, die sich das Ja-

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121 http://www.humanismus.de/hochzeitsfeier.122 S. u. 4.3.3.123 https://www.unitarier.de/unitarier/was-wir-tun/feiern/. Hinzuweisen ist darauf, dass ein „evangelischerPfarrer oder eine evangelische Pfarrerin… sich nicht aktiv an einer unitarischen Trauung beteiligen“ können;vgl.: Handbuch Religiöse Gemeinschaften, Weltanschauungen, Freikirchen, Hrsg.: Matthias Pöhlmann/ Chris-tiane Jahn im Auftrag der VELKD, Gütersloh 2015, S.404.124 Andere Benennungen: Handfasting, Heidenhochzeit, Hexen- oder Wiccahochzeit, Spirituelle Hochzeit,Germanische oder Keltische Hochzeit.125 http://www.asentr.eu/eheleite.html#_Toc413004883.

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Wort geben, sind jeder Teil einer Sippe und die Hochzeit verbindet beide. Die Hoch-zeit ist ein ‚Adoptionsritual‘, bei dem eine sippenfremde Person in die Sippe desMannes aufgenommen wird.“ 126 Auch durch die Anrufung bzw. mit der Erwartungdes Beistands der Ahnen für das Ehepaar kann einer neuheidnischen Eheleite einespirituelle Dimension eröffnet werden, durch die die Ehe in einen mythischen, überdie Jetzt-Zeit hinausreichenden Kontext gestellt wird.

Die Eheleite wird bei den diversen neuheidnischen Gruppen entweder mit eherfestgefügtem Ritual 127 oder mit dem Angebot der Gestaltungsfreiheit durchge-führt; 128 allerdings sind die Anrufung der nordischen Götter und der Ahnen, dieEinbindung in die Sippe und gemeinsame Ess- bzw. Trinkrituale konstitutiv. Inzwi-schen gibt es auch kommerzielle Angebote zur Durchführung einer neuheidni-schen Eheleite. 129

Zu unterscheiden von diesen neuheidnischen Hochzeitsritualen sind die Ehelei-ten oder Eheweihen im rechtsextremen Spektrum, die sich zwar ähnlicher inhaltli-cher Elemente bedienen, diese aber völkisch überhöhen. 130

5.4 Trauerfeier

Trauerfeiern sind als die Passagerituale zu charakterisieren, bei denen seit vielenJahrzehnten zahlenmäßig am stärksten nicht-religiöse Begleitung stattfindet. NachSchätzungen seitens des „Kuratoriums deutsche Bestattungskultur GmbH“ werdenjährlich ein Viertel bis ein Drittel (d.h. ca. 200.000 bis 275.000) der Bestattungsfei-ern von einem Trauerredner durchgeführt. 131 Hierzu hat auch die sich in den letztenJahrzehnten erheblich wandelnde Sepulkralkultur 132 beigetragen, die zum einendurch eine Vielfalt an Bestattungsmöglichkeiten, die neben die traditionelle Beiset-zung eines Sarges bzw. einer Urne auf einem kommunalen oder kirchlichen Fried-hof getreten sind, zu charakterisieren ist. So gibt es inzwischen nicht nur die Seebe-stattung der Urne im Meer, sie kann auch in einem der rund 100 Friedwälder oderauf einem Berg beigesetzt werden. In einigen Bundesländern (u. a. Schleswig-Hol-stein, Mecklenburg-Vorpommern) wird über die Aufhebung des in Deutschland be-stehenden Friedhofszwanges diskutiert; in Bremen sind diese Bestimmungen be-reits dahingehend gelockert worden, dass die Asche auf Privatgrundstücken und

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126 http://www.hochzeitsplaza.de/hochzeits-forum/hochzeitsbereich/trauung-und-organisatorisches/15412-germanische-hochzeit/.127 Vgl. z.B.: http://suchen.asentr.eu/asentreu/eheleite.html#_Toc413004882. 128 Vgl. z.B.: http://www.feuersprung.de/index.php?option=com_content&view=article&id=372%3Ahandfasting&catid=37%3Arituale&Itemid=57; http://www.hochzeitsplaza.de/hochzeits-forum/hochzeitsbereich/trauung-und-organisatorisches/15412-germanische-hochzeit/;http://www.mconis.de/FS/index.php?option=com_content&view=article&id=276&Itemid=133.129 http://www.eheleite.com/.130 http://www.endstation-rechts.de/news/kategorie/sonstige/artikel/voelkische-erlebniswelt.html. Vgl.:http://www.thule-seminar.org/artgemeinschaft_warum_2.htm.131 Telefonische Auskunft von Oliver Wirthmann (Geschäftsführer des „Kuratoriums Deutsche Bestattungs-kultur GmbH) vom 29.04.2016.132 Michael Nüchtern: Bestattungskultur in Bewegung, in: Micheal Nüchtern/ Stefan Schütze (Hg.): Bestattungskultur in Bewegung, EZW-Texte 200, Berlin 2008, S. 5–9.

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auf festgelegten öffentlichen Flächen – unter Berücksichtigung von Windstärke und-richtung –verstreut werden kann. Zudem gibt es die Möglichkeit, die Asche mit ei-ner Rakete in den Weltraum transportieren oder zu einem Diamanten pressen zulassen. 133

Auch bei der Bestattungskultur ist ein deutlicher Wandel im musikalischen Be-reich festzustellen. Während bis in die 1980er Jahre überwiegend Musik aus tradi-tionellen Genres (v. a. Choräle, sog. Klassische Musik, Heimat- und Volkslieder) Trau-erfeiern prägten, haben sich seither die musikalischen Wünsche von Angehörigenstark pluralisiert. Mit dem Generationswechsel von der Flüchtlingsgeneration zuden Nachgeborenen hat auch der Wunsch nach dem Pommernlied („Wenn in stillerStund Träume mich umwehn“) oder dem Ostpreußenlied („Land der dunklen Wäl-der“) deutlich abgenommen. Stattdessen wird in immer stärkerem Maße Musik ausdem Schlager-, Pop- und Rockgenre oder aber Gospelmusik für Trauerfeiern ausge-wählt. Von einem Internetportal für Bestattungen werden seit Jahren die „Top 10 derTrauerhits“ erhoben. Oldies und Musik aus den Charts (z. B. „I Will Always Love You”,

„Time to Say Goodbye“, „My Way”, „Candle in the Wind”, „Abschied ist ein scharfesSchwert”) sind in dieser Rangliste vorherrschend. Über Jahre war nur eine Musikaus dem klassischen Bereich unter den Top 10: das „Ave Maria“ von Schubert; erst-malig wurde nach vier Jahren in 2015 mit dem „Air Suite Nr. 3“ von Bach ein weite-res aus diesem Genre unter den „TOP 10 der Trauerhits“ auf geführt. 134

Einhergehend und zeitgleich mit den sich wandelnden musikalischen Wün-schen und Vorstellungen von Angehörigen sind zugleich auch weitere Veränderun-gen bei der Vorbereitung und Gestaltung von Trauerfeiern zu beobachten. Die mo-derneren Musikstücke sind mit den in Friedhofskapellen und Kirchen vorhandenenInstrumenten oder von den zusätzlich engagierten, eher der traditionellen Musikverpflichteten Streichern oder Trompetern oftmals nur schwer zu spielen – zumaldie rein instrumentale Wiedergabe der o. a. modernen Musik nicht befriedigt. Sowird in zunehmendem Maße das Abspielen von CDs praktiziert. Bestattungsunter-nehmen bieten nicht nur Möglichkeiten von Symbolhandlungen (z.B. das Entzün-den von Kerzen, Aufsteigen-Lassen von Luftballons oder Tauben, Tanz um denSarg) im Rahmen der Trauerfeier an, einige ermöglichen auch die Gestaltung desSarges vor der Trauerfeier durch Bemalen oder Beschreiben. Und ohne dies empi-risch erhoben zu haben, wird offenbar auch immer häufiger ein Bild des Verstorbe-nen für die Trauerfeier aufgestellt. Und sofern im Anschluss an eine Trauerfeier dieTrauergemeinde die Beisetzung des Sarges bzw. der Urne begleitet, ersetzt immerhäufiger das Streuen von Blumenblüten in die offene Grabstelle den traditionellenErdwurf. Ein Trauerredner berichtete zudem davon, dass ab und an bereits vor derTrauerfeier ein kleines Buffet aufgebaut und die Trauergesellschaft zu Häppchenund Getränken eingeladen wird.

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133 http://www.anternia-bestattungen.de/diamantbestattung.134 https://www.bestattungen.de/ueber-uns/presse/pressemitteilungen/top-10-der-trauerhits-2015-sarah-connor-singt-jetzt-deutsch-und-trifft-damit-trauernden-ins-herz.html. Vgl.: Ingo Reuter: Totenrede oder Predigt?Zur Plausibilität christlicher Verkündigung angesichts des Todes auf dem Markt der Abschiedsangebote, in:Thomas Klie (Hg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung, Stuttgart2008, S.168–170.

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Nicht nur die Ausgestaltung von Trauerfeiern hat sich in den letzten Jahrzehntenstark verändert. Statistische Zahlen für Trauerfeiern markieren auch eine gesell-schaftliche Veränderung. Nach Schätzungen wird bundesweit nur noch für höchs-tens 70% aller Verstorbenen eine Trauerfeier durchgeführt. Von diesen entfallen jeweils rund 25% auf Trauerfeiern unter Beteiligung eines Geistlichen der Römisch-Katholischen Kirche bzw. der großen protestantischen Kirchen und bei rund 50%wirkt ein Trauerredner mit. 135 Es ist demnach bundesweit von rund 30% Beisetzun-gen ohne jegliche Trauerfeier auszugehen; wie viele Sarg- bzw. Urnenbeisetzungenmit oder ohne Trauerfeier anonym – also ohne eigene Grabstelle – erfolgen, ist imÜbrigen nicht zu erheben. Während im Osten Deutschlands durch die staatlich forcierte Entkirchlichung in der DDR 1976 77,5% aller Bestattungen nichtkirchlichgestaltet wurden, hat im Westen die Zahl der nichtkirchlichen Bestattungen sukzes-sive zugenommen und zu einem immer breiter werdenden Angebot von Trauerred-nern geführt.

Die in den 1920er Jahren zunächst durch die Arbeiterbewegung und von Frei-denkerverbänden gegen den Willen der Kirchen eingeführten Feuerbestattungenmachen bundesweit rund 50% aller Bestattungen aus. Hier sind regionale Unter-schiede zwischen dem Norden und dem Osten Deutschlands (höhere Zahlen beiFeuerbestattungen), dem Westen und dem Süden Deutschlands (höhere Zahlenbei Erdbestattungen) sowie zwischen Stadt und Land festzustellen. Die großen Kir-chen haben Einäscherungen zunächst als dem Glauben an die leibliche Auferste-hung widerstreitend abgelehnt und dann zu unterschiedlichen Zeiten akzeptiert(evangelische Landeskirchen bis 1920, römisch-katholische Kirche 1963). Nach wievor allerdings ist festzustellen, dass die Zahl der Feuerbestattungen in katholischgeprägten Regionen unter der in evangelisch geprägten liegt. 136

Ein weiteres Moment dürfte die steigende Nachfrage nach nichtkirchlichen Trau-erfeiern in den letzten Jahrzehnten befördert haben. In einer empirischen Untersu-chung, die 2011 veröffentlicht wurde, sind in der Altersgruppe der 50- bis 59-Jähri-gen Jenseitserwartungen am geringsten ausgeprägt: Während für die drei Altersko-horten der 20- bis 49-Jährigen zwischen 50% und 59% und von den über 60-Jähri-gen 49% der Befragten eine Jenseitshoffnung bejahten, waren es bei den 50- bis59-Jährigen nur 44%. 137 Dies könnte daran liegen, dass diese Altersgruppe beruf-lich und familiär ihre Lebensziele weitestgehend erreicht hat, Sehnsüchte undTräume verwirklicht sind, sich wenig Neues für die bevorstehenden Lebensphasenabzeichnet und auch auf die Hoffnung über das irdische Leben hinaus eher pessi-mistisch und mit Zweifeln gesehen wird. Gerade diese Generation hat oftmals fürdie Bestattung der eigenen Eltern zu sorgen. Und wenn auf ein Jenseits nicht ge-hofft wird, dann möchte man davon vermutlich eher auch nicht bei der Trauerfeierfür die eigenen Eltern hören – selbst wenn diese der Kirche angehörten – und ist

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135 Telefonische Auskunft von Oliver Wirthmann (Geschäftsführer des „Kuratoriums Deutsche Bestattungs-kultur GmbH“) vom 29.04.2016.136 Vgl. http://wiki.aeternitas.de/index.php?title=Feuerbestattung.137 Die Studie wurde im Auftrag des Kuratoriums Deutsche Bestattungskultur des Bundesverbands Deutsche Bestatter von TNS-Emnid erstellt (Befragungszeitrum: 25.02.-07.03.2011) und am 02.08.2011 veröffentlicht, Tabelle37,https://www.bestatter.de/meta/news-termine-presse/news-details/?tx_news_pi1[news]=114&tx_news_pi1[controller]=News&tx_news_pi1[action]=detail&cHash=0049d5e6b0b44c456e04b74079ca51c3.

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darum auch stärker geneigt, sich für einen Trauerredner zu entscheiden. Dieskönnte die Abnahme der Bestattungsquote bei Trauerfeiern für verstorbene evange-lische Kirchenmitglieder erklären 138 und damit auch der Grund dafür sein, dassTrauerredner bzw. Ritualdesigner nach eigener Aussage bis zu einem Drittel Trauer-feiern für verstorbene Kirchenmitglieder gestalten.

All diese Entwicklungen und Veränderungen in der Sepulkralkultur haben unmit-telbare Konsequenzen für die Gestaltung von Trauerfeiern und für die Vorstellungenund Wünsche von Angehörigen zur Bestattung. Dieser Wandel wirkt sich auch aufdie Entscheidung von Angehörigen aus, ob überhaupt eine Trauerfeier durchge-führt werden soll und von wem die Gestaltung einer Trauerfeier (Pastor bzw. Pasto-rin oder Redner) erbeten wird.

5.4.1 Freie Ritualdesigner – TrauerrednerBei den Passageriten hat die nichtkirchliche Bestattung neben der Jugendweihedie längste Tradition. Bereits in der Weimarer Republik haben die Feuerbestattungs-kassen der Freidenkerverbände „die Kremation als ausdrücklich atheistische undegalitäre Form der Bestattung verstanden“ und nichtreligiöse Bestattungsfeierndurchgeführt. 139

Inzwischen hat sich eine breit aufgestellte Szene an Trauerrednern etabliert. Trau-erredner arbeiten in der Regel selbständig und bewerben ihre Angebote im Internet,zum Teil auch auf Plattformen, auf denen sich mehrere Trauerredner zusammenge-schlossen haben. 140 Bei einigen größeren Bestattungsinstituten sind Trauerrednerzudem fest angestellt. 141 Auch besetzen einige Bestattungsinstitute Themenfelder,die bisher wie selbstverständlich unter dem Dach der Kirche verortet schienen:

„Wenn Sie zum GBI kommen, um uns einzuschalten, dann erhalten Sie einenTrost-Engel oder einen Trauerstein, der Ihnen helfen soll, die schwere Zeit der tie-fen Trauer gut zu überstehen. Der Engel hat besondere Eigenschaften, die sichnicht textlich beschreiben lassen, sondern sie können das nur selbst erfahren im"Gebrauch" und im Fühlen.“ 142

Die beruflichen Hintergründe bei Trauerrednern sind vielfältig; auffallend ist aber,dass nach einer stichprobenartigen Untersuchung der Internetauftritte mindestensein Drittel angibt, als freie Theologen oder nach Abschluss einer theologischen Aus-bildung ihren Beruf auszuüben. In der Vergangenheit gab es für Trauerredner inDeutschland keine Möglichkeit fachlicher Ausbildung; inzwischen wird Trauerred-nern einhergehend mit einer zunehmenden Professionalisierung von mehrerenAus- und Weiterbildungsinstituten eine berufliche Qualifizierung angeboten. 143

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138 S.o. 2.139 Anja Kirsch: a. a.O., S.4.140 Vgl. z.B.: http://www.freie-theologen.de/; http://www.rednergemeinschaft-hamburg.de/; http://www.freie-trauerredner.com/trauersprecher-hamburg-hannover-braunschweig/;http://www.batf.de/index.php; http://www.zeremonienleiter.de/search/2/Trauerredner.141 Z.B. beim „Großhamburger Bestattungsinstitut rV“ (GBI). Vgl.: http://gbi-hamburg.de/beerdigung/trauerreden/.142 http://www.gbi-hamburg.de/home/wir-ueber-uns/gbi-besonderheiten-kopie-1/.143 Vgl. z. B.: http://www.trauerrednerakademie.de/; http://www.fachberatung-trauerfeier.de/vortrag-fortbildung/redner; http://www.trauerredner-mossa.de/ausbildung/.

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Trauerredner bieten eine Dienstleistung zur rituellen Begleitung der Bestattungunabhängig von der Zugehörigkeit des Verstorbenen oder der Angehörigen zu ei-ner Religionsgemeinschaft an:

„Auf eine gute Weise Abschied nehmen – das ist nicht leicht, und doch so wich-tig! Es geht nicht nur um die Würdigung des Verstorbenen, sondern auch um Sie,die Hinterbliebenen, um Ihre eigene seelische Gesundheit. Wir legen größtenWert auf eine individuelle und persönliche Traueransprache. Darin wird der Ver-storbene gewürdigt… Die Rede spendet Mut und Hoffnung auch für Konfessions-lose. Bei uns sind Sie in guten Händen!“ 144

Dieses Zitat verdeutlicht den Anspruch von Trauerrednern, der Biographie des Ver-storbenen gerecht zu werden und mit einer den Angehörigen angemessenen Ge-staltung der Trauerfeier ein Ritual zu schaffen und durchzuführen, das auch den re-ligiösen und weltanschaulichen Vorstellungen der Angehörigen entspricht. 145 Sogehen Trauerredner auf die an sie herangetragenen individuellen Wünsche undVorstellungen ein, indem „eigene Texte der Verblichenen vor ihrem Ableben, Texteder Angehörigen oder gemeinsam ausgearbeitete Grabreden“ verlesen werden 146,und nehmen auf Wunsch auch christliche bzw. religiöse Inhalte und Gestaltungsele-mente (z.B. Vaterunser, freie Gebete) auf. Dabei orientieren sich Trauerredner in derRegel am Handlungsablauf kirchlicher Trauerfeiern und übernehmen rituelle Hand-lungsschemata aus kirchlichen Bestattungen wie z.B. den Erdwurf mit begleiten-den Worten („Erde zur Erde…“).

Etwa fünfzehn nichtkirchliche Trauerfeiern (mehrere davon für verstorbene Kir-chenmitglieder) wurden von mir besucht, die einige Generalisierungen zulassen.Die Trauerfeiern hatten in der Regel ein ansprechendes und nach meinem Ein-druck der jeweiligen Trauersituation und der Trauergesellschaft angemessenessprachliches und inhaltliches Niveau; hier dürfte die o. a. Professionalisierung inzwi-schen in der Praxis angekommen sein. Die Ansprachen bzw. Reden stellen die Bio-graphie des Verstorbenen meist sehr stark in den Vordergrund, so dass – so jeden-falls mein Eindruck – Überlegungen und Anregungen zum Verständnis und zumUmgang mit Sterben und Tod nahezu ausgeblendet bleiben. Häufig wird vor alleman die Angehörigen appelliert, sie mögen den Verstorbenen in ihrem Herzen be-wahren, denn „nur wer aus dem Herzen verschwunden ist, ist wirklich tot“ 147. Einüber den Tod hinausreichender, das irdische Leben transzendierender Bezug wirdgelegentlich allenfalls angedeutet in Aussagen wie: „Nun sind eure Eltern im Todewieder vereint; ihre Gräber liegen nebeneinander.“ Weitergehende, auf ein Jenseitsgerichtete Hoffnungen spielen auch in den Gesprächen mit Angehörigen selteneine Rolle. Auch offene Fragen hinsichtlich Krankheit und Leiden, Brüchen undFragmentarischem im Leben der Verstorbenen bzw. in der Beziehung zu anderenwerden gelegentlich zwar erwähnt, bleiben jedoch – einschließlich der implizitenTheodizee-Frage – oftmals offen, ohne dass mögliche Deutungsrahmen für Nega -

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144 http://www.freie-trauerredner.com/.145 Vgl.: Christiane Schlott: Bestatter in Leipzig. Ritualanbieter in säkularer Zeit, Dresden 2011, S.163 ff.146 http://www.bestattungsredner.info/index.php (Letztmaliger Zugriff am 07.02.2013.).147 Zitat aus einer im Rahmen der Feldforschung besuchten Trauerfeier.

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tiverfahrungen angeboten werden. In ihren Ansprachen nehmen die Trauerrednerdamit die Impulse aus den Gesprächen mit den Angehörigen auf. Trauerredner ha-ben in Interviews bestätigt, dass Angehörige vor allem Wert darauf legen, das Le-ben des Verstorbenen zu würdigen und durch den Trauerredner eine möglichst voll-ständige Biographie hören zu können; denn „mit dem Tod ist alles aus!“ 148

Da in nichtkirchlichen Trauerfeiern selten liturgische oder traditionelle religiöseTexte zugrunde gelegt werden, kamen in fast allen von mir wahrgenommenen Trau-erfeiern andere Texte zum Tragen, die sich mit den Themen Leben bzw. Sterben be-fassen: Gedichte (z. B. Paul Celan: „Todesfuge“) oder kürzere literarische Texte (z.B.Antoine de Saint-Exupéry: „Der kleine Prinz“). Diese werden in den Reden aller-dings oftmals nur am Rande wieder aufgegriffen. Zuweilen werden, auch in abge-wandelter Form, biblische Texte rezitiert (Qohelet 3; 1. Korinther 13) oder irische Se-genssprüche aufgegriffen; ein Gottesbezug wird aber in der Regel vermieden.

Eine wichtige Rolle spielt in den von Trauerrednern gestalteten Feiern die Rah-mung durch die Musik, bei der den Wünschen der Angehörigen fast ausnahmslosentsprochen wird. Bei den von mir besuchten Trauerfeiern wurden Stücke der Pop-und Schlagermusik, Volkslieder oder Stücke aus der Klassik ausgewählt; letzterespielen nach dem Eindruck von Trauerrednern allerdings ebenso eine abneh-mende Rolle wie kirchliche Choräle, die faktisch aus dem Bewusstsein von Ange-hörigen fast vollständig entschwunden scheinen.

So bleiben auch die von Trauerrednern durchgeführten Feiern dem kulturellenCode weitgehend verpflichtet und nehmen die durch kirchliche Trauerfeiern ge-prägten Schemata ohne den religiösen Gehalt oder die darin eingewobenen Jen-seitsvorstellungen und Auferstehungshoffnungen auf.

5.4.2 Humanistische OrganisationenSeitens der Freidenkerverbände werden – anders als bei Namensweihe, Jugend-weihe und Hochzeit – für die Bestattung keine eigenen Feierangebote gemacht.Der „Humanistische Verband Deutschland e.V.“ bietet sich allerdings als Ansprech-partner an, um die Suche nach einem ausgebildeten Trauerredner für die würde-volle und individuelle Gestaltung einer Trauerfeier zu unterstützen. 149 Der „Deut-sche Freidenker-Verband e.V.“, der einem sozialistischen Erbe verpflichtet ist, 150

betont nur seine Unterstützung der „Hinterbliebene[n] in ihrem Bestreben, einewürde volle, weltlich-freigeistige Trauerfeier für ihre gestorbenen Angehörigen zu ge -stal ten.“ 151 Eine eigene von Freidenkerverbänden verantwortete und gestalteteTrauer- und Sepulkralkultur ist nicht vorhanden; allerdings wird im Blick auf dieSterblichkeit des Menschen ein Transzendenzbezug abgelehnt, was auch Aus-druck in der Bestattung finden soll.

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148 Zitat aus einem Interview mit einem Trauerredner am 13.02.2016.149 http://www.humanismus.de/trauerfeier.150 Vgl.: Ohne Gott. Konfessionslosigkeit – Ein Überblick, Hg.: Arbeitsstelle Kirche im Dialog der EvangelischLutherischen Kirche in Norddeutschland, Rostock 2015, S.25 f.151 http://www.freidenker.org/cms/dfv/index.php?option=com_content&view=category&layout=blog&id=43&Itemid=71.

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5.4.3 Weitere AngeboteFreireligiöse SzeneDie Unitarier bieten eine Totenleite an, die nicht mit denen der neuheidnischenSzene identisch ist. Unitarier nehmen bei der Totenfeier von einem Menschen indem Bewusstsein Abschied, „dass der Tod notwendig zum Kreislauf des Lebensgehört, da er die Voraussetzung für neues Leben ist.“ Inhaltliche Vorgaben zur Ge-staltung der Trauerfeier werden von den Unitariern nicht gemacht, vielmehr wirdsich an örtlichen Gebräuchen orientiert. 152

Neuheidnische SzenenIm Neuheidentum wird nach dem Tod eines Menschen eine Totenleite durchge-führt. In dieser Totenleite setzen die Familien unter Leitung des „älteste[n] Mitgliedsder Sippe zusammen mit einem oder mehreren Goden [i. e. ausgebildete neuheid-nische Priester – J.P.]“ die Verstorbenen selbst bei, indem die Angehörigen sich umden aufgebahrten Toten oder den offenen Sarg versammeln. Empfohlen wird ange-sichts des in Deutschland bestehenden Friedhofszwangs, die Bestattung in einemFriedwald durchzuführen. Gestaltungselemente der neuheidnischen Totenleite sinddie Erinnerung an den Verstorbenen, die eigentliche Totenleite zu den Göttern undein abschließendes Totenmahl. 153

Auch im rechtsextremen Bereich gibt es eine Totenleite, die sich von denen derneuheidnischen Szene vor allem in der Überhöhung des Völkischen, dem sich derVerstorbene verschrieben hat, unterscheidet. 154

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152 https://www.unitarier.de/unitarier/was-wir-tun/feiern/. Vgl.: Handbuch Weltanschauungen, Weltanschauungen, Freikirchen, a. a.O., S.402.153 http://www.yggdrasil-kreis.org/html/totenleite.html.154 Vgl.: webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:3bBo9QwwJhBA:www.ekir.de/regionalsemi-nar/material/AB_Kasualien. Vgl. auch die Berichterstattung zur Totenleite für Jürgen Rieger: http://www.ham-burg.de/innenbehoerde/schlagzeilen/1930790/riegers-tod/; http://www.worch.info/rundbriefe/09-11-02.htm.

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Erlebnisse und Ergebnisse mit einem Blick

Im Herbst 2013 und Anfang 2016 luden das „gottesdienstinstitut“ der Nordkirche unddie Arbeitsstelle „Kirche im Dialog“ zu zwei Seminaren mit dem Titel „Der fremde Blick“ein. Während es bei der ersten Veranstaltung um die Trauerfeier ging, stand im Mittel-punkt der zweiten die Taufe. Pastorinnen und Pastoren stellten in einem längeren AnspielSequenzen (Texte aus der Bibel, sakramentale oder liturgische Elemente, Gebete, An-sprachen) aus Trauer- oder Tauffeiern vor, die sie in ihren Gemeinden durchgeführt hatten.Zu diesen Seminaren eingeladene konfessionslose Beobachter reagierten auf das Ge-hörte, Gesehene und Erlebte. Auch wenn bei diesen Beobachtern eine Offenheit, sichmit christlichen und religiösen Fragestellungen zu befassen, vorausgesetzt werden konnte,so verstanden sie sich gleichwohl als areligiös bzw. atheistisch. Beide Seminare fandenin einer „Labor-Situation“ statt, in der die am ursprünglichen Anlass der Kasualie familiärbzw. emotional unbeteiligten Beobachter auf die vorgestellten Sequenzen aus Kasual-gottesdiensten mit ihren Eindrücken und Wahrnehmungen reagierten.

6.1 Der fremde Blick – Bestattungspraxis und Kirchenfremde (Oktober 2013) 155

Am ersten „Fremden Blick“ in Rostock nahmen rund 20 Pastorinnen und Pastoren teil.Zehn Beobachter (Konfessionslose, zwei Bestatter) waren eingeladen und bereit, mit ihrenEindrücken, Fragen und kritischen Anmerkungen eine Rückmeldung zur praktischenGestaltung von kirchlichen Trauerfeiern zu geben. In einer Kirche, in die ein aufgebahrterleerer Sarg, und in einem Tagungshaus, in dem eine Urne auf eine Stele gestellt waren,präsentierten Pastorinnen und Pastoren im Talar jeweils einen etwa viertelstündigen Teilvon ihnen durchgeführter Trauerfeiern. Im Anschluss daran haben die Beobachter ihreWahrnehmungen und Beobachtungen, das von ihnen Gehörte – Verstandenes wie Un-verstandenes – in teils sehr ausführlichen Rückmeldungen beschrieben.

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6. Irritation und Bestätigung

155 Seinen Niederschlag fand das Seminar auch in Chrismon Februar 2014: Christine Holch: Lieber Gott,mach mich fromm!, Frankfurt/M. 2014, S.19 f(http://static.evangelisch.de/get/?daid=wByvd52_3Yd_JCQ4Xfu-AO4T00054426&dfid=download).

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Die Reaktionen sind vier Themenkreisen zuzuordnen.

Bereitschaft hinzuhörenZunächst wurde deutlich, dass Kirchenferne durchaus bereit sind, sich auf eine christlicheTrauerfeier einzulassen und den religiösen Charakter trotz aller inneren Distanz auch zurespektieren und zu akzeptieren: „Ich bin Gast in einer Kirche, und ich nehme es so, wiees kommt.“ 156 Dieser grundsätzlichen Offenheit entspricht der Wunsch, die Liturgie einersolchen Trauerfeier auch verstehen und nachvollziehen zu können und hierfür ein sprach-liches und liturgisches „Geländer“ angeboten zu bekommen, das durch die Feier hin-durch begleitet: „Ein- und Überleitungen helfen mir bei liturgischen Formeln, die ich nichtkenne. Sonst werde ich von so Formeln überrascht.“ Eine hohe Bedeutung kommt dahereinleitenden Voten bei Trauerfeiern zu; denn dieser eher kurze Moment eröffnet oder ver-hindert offenbar gerade bei Kirchenfernen die Möglichkeit, sich auf den weiteren Verlaufdes Gottesdienstes einzulassen. Dem entspricht die Reaktion der Beobachter, dass ihnensehr daran gelegen ist, die biblischen Lesungen, die Texte der Gebete und Lieder nichtnur als „heiliges Geräusch“ an sich vorüberziehen zu lassen, sondern dass ihnen derenRelevanz für die jeweils einmalige Trauerfeier transparent wird.

So ungewohnt für Kirchenferne biblische und kirchliche Sprachformen grundsätzlichauch erscheinen mögen, so aufmerksam nehmen sie zugleich sprachliche bzw. inhaltli-che Nuancen wahr. Deutlich wurde dies im Austausch zu einer vorgetragenen Trauer-predigt, in der ein Nachfragen hervorrufender Satz fiel: „Nun, im Tode, ist der Verstorbenein Gottes Hand.“ Von einem der Beobachter wurde kritisch zurückgefragt: „Das hat michirritiert. War der Verstorbene im Leben denn nicht in Gottes Hand?“ Auch wenn für Kirchenferne der christliche Glauben keine lebensbestimmende Dimension hat, machtdiese Rückfrage ihr Gespür dafür deutlich, dass für Christen nicht erst im Tode, sondernschon im Leben das Vertrauen auf Gottes Nähe und die Geborgenheit bei ihm zentralsein sollten.

Bedeutung der Pastorin bzw. des PastorsFür die Beobachter von großer Bedeutung war die Pastorin bzw. der Pastor. Dabei stelltensie vor allem zwei Aspekte in den Vordergrund.

Zum einen war es den Beobachtern wichtig, dass von ihm bzw. ihr eine Beziehungzur Gemeinde hergestellt werden konnte und damit deutlich wurde: Es geht um dieseTrauerfeier, um die hier anwesenden Trauernden und um diesen einmaligen Verstorbe-nen – und nicht um eine beliebige Kasualie neben vielen anderen.

Des Weiteren sind Glaubensaussagen z. B. zur Hoffnung über den Tod hinaus vonden Beobachtern dann als glaubwürdig und der Trauerfeier angemessen wahrgenom-men worden, wenn sie nicht als dogmatische Setzungen, sondern als persönliche christ-liche Überzeugung einer Pastorin bzw. eines Pastors formuliert wurden. Überzeugenkonnte nur, wer persönlich überzeugt war: „Ich merke, wenn der Pastor nicht authentischist… Also, er soll echt sein, meinetwegen auch bei einer Trauerfeier lächeln, wenn es zuihm passt.“

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156 Dieses und die nachfolgenden Zitate zu den beiden Tagungen beruhen auf Äußerungen der Beobachter.

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EinmaligkeitBei allen vorgestellten Sequenzen aus Trauerfeiern haben die Beobachter positiv daraufreagiert, wenn das Einmalige der jeweiligen Feier deutlich wurde. Dabei spielte insbe-sondere eine empathische biographische Beschreibung des Verstorbenen eine zentraleRolle. Eine solche den Lebensweg nacherzählende Darstellung birgt auch die Chance,dass die in der Trauerfeier angebotene christliche Hoffnung von Kirchenfernen gehörtwerden kann: „Wenn der Pastor die Biographie nicht vollständig, aber empathisch undim Detail erzählt, dann bin ich dabei. Dann hör’ ich ihm auch zu bei seinen Gottessachen.“

Vorbehalte und ÄngsteKirchliche Trauerfeiern treffen bei Kirchenfernen in dreierlei Hinsicht auch auf Vorbehalte.Gerade vereinnahmende Formulierungen führen dazu, dass Kirchenferne sich innerlichdistanzieren, und mindern die Bereitschaft, sich auf christliche Aussagen einzulassen:

„Vereinnahmende Statements finde ich schwierig. Z.B.: ‚Wir wissen, dass Emilie bei Gottaufgehoben ist.‘ Oder: ‚Nur wer glaubt, wird das Licht sehen.‘“

Als problematisch wurden immer wieder die biblischen Textlesungen empfunden, dienicht nur der Sprache, sondern auch des Inhalts wegen als weit entfernt vom eigenenLebensgefühl und der eigenen Welt- und Lebensdeutung betrachtet wurden. So verste-hen Kirchenferne gerade agendarisch vorgeschlagene Lesungen zur Auferstehung (z.B.1. Korinther 15; 1. Thessalonicher 4) weder in ihrer Sprache noch in dem inhaltlich Ge-meinten; diese Lesungen können dann wie „Texte auf Baskisch“ wirken.

Es gibt die große Sorge, in kirchlichen Trauerfeiern würden moralische Urteile überdas Leben (des Verstorbenen, der Angehörigen u.a.) gefällt werden. In dieser Hinsichtsind Kirchenfremde sehr wachsam und auch angespannt – gerade wenn es um ein nichtgeradlinig verlaufenes Leben geht, dessen in der Trauerfeier gedacht wird: Wie kann derPastor oder die Pastorin diesem schwierigen Lebensweg gerecht werden, ohne mora-lisch zu richten?

ResümeeKirchenferne sind unter bestimmten Voraussetzungen bereit, sich auf eine christlich ge-prägte Trauerfeier sowohl in ihrer liturgischen Prägung wie auch im Blick auf christlicheGlaubensvorstellungen einzulassen. Sie sind durchaus offen dafür, den christlichen Inhaltzu akzeptieren, können christliche Hoffnungsbilder, die vom Leben jenseits des irdischensprechen, durchaus auch als tröstlich wahrnehmen – selbst wenn sie nicht einstimmensollten. Vereinnahmende Formulierungen und dogmatische Aussagen führen allerdingszur inneren Distanzierung während einer Trauerfeier und lassen Kirchenferne innerlich

„aussteigen“, während persönliche Glaubensaussagen der Pastorin bzw. des Pastors alsauthentisch respektiert und als einer kirchlichen Trauerfeier angemessen wahrgenom-men wurden.

Sicherlich darf den Beobachtern im Rahmen des Seminars eine höhere Aufmerksam-keit und Reflektionsbereitschaft unterstellt werden; zumal einige ihre Wahrnehmungenschon während der Durchführung notierten. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Kirchen-ferne nicht per se mit Aversionen kirchliche Trauerfeiern erleben. Vielmehr wünschen siesich, auch bei einer Trauerfeier in ihrer Distanz zu allem Christlichen bleiben zu können,ohne implizit oder explizit ausgegrenzt zu werden. Und ihnen würde es helfen, wenn imRahmen von Trauerfeiern Unverständliches (z.B. liturgischer Ablauf, biblische Texte) de-kodiert und damit nachvollziehbar würde. Zu vermuten steht, dass viele der Reaktionen,

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die während des Seminars von kirchenfernen und sich selbst als atheistisch beschrei-benden Beobachtern kamen, in ähnlicher Weise auch von Kirchenmitgliedern hätten er-folgen können.

Als Quintessenz für die Rezeption und für die Praxis kirchlicher Trauerfeiern lassen sichdrei Aspekte benennen:– Das Angebot der christlichen Lebens- und Jenseitsdeutung stößt nicht grundsätz-

lich auf Widerspruch, sollte aber auch als dies charakterisiert werden: Sie ist eineWirklichkeitsdeutung neben anderen, in der darauf vertraut und gehofft wird, dassmit Sterben und Tod nicht alles aus ist, sondern der christliche Glaube offen ist füreine von Gott eröffnete Zukunft in seiner Ewigkeit.

– Diese christliche Lebensdeutung darf fremd sein für die Anwesenden bei einer Trauerfeier und darf ihnen auch mit konfessorischem Mut zugemutet werden:

„Ich glaube das so…“– Im Kern darf es bei christlichen Trauerfeiern darum gehen, das Christliche nicht als

etwas diesem Leben Exotisches, als etwas Fremdes darzustellen, sondern zu erzäh-len von dem Verstorbenen und von dem Gott, der dieses einmalige, geschenkteLeben begleitet hat – wenn auch vielleicht vom Verstorbenen selbst oftmals unbe-merkt, unbedacht, ungeahnt. 157

6.2 Der fremde Blick II – Taufe ( Februar 2016)

Zehn Pastorinnen und Pastoren hatten sich zum zweiten Seminar „Der fremde Blick“ inGüstrow angemeldet und stellten ihre Taufpraxis elf konfessionslosen Beobachtern vor.Bei dieser Veranstaltung ging es darum, durch die „fremde“ Wahrnehmung eine Reflek-tion der mit dem sakramentalen Handeln verbundenen theologischen, kirchlichen undemotionalen Inhalte und Wirkungen zu initiieren. In zwei Tagungsräumen wurden Tauf-handlungen im Talar, mit Altar, Lesepult und Taufschale nachgestellt und längere Sequenzen aus gesonderten Taufgottesdiensten oder der in sonntäglichen Gemeinde -gottesdiensten vollzogenen Taufhandlungen szenisch dargestellt. Wie beim ersten „frem-den Blick“ haben die Beobachter darauf mit ihren Eindrücken und Beobachtungenreagiert, haben ihre Nähe oder Distanz zu dem Gehörten und Erlebten beschrieben,Nachfragen gestellt und auch Kritik geäußert.

Zur Vorbereitung der Vorstellung von Taufgottesdiensten und Taufhandlungen befass-ten sich die Seminarteilnehmer ausführlich mit den breit gefächerten Motiven für ein Taufbegehren. In diesem Austausch wurde deutlich, wie sehr die kirchlichen und ge sell -schaftlichen Realitäten das taufende Handeln beeinflussen. Zu diesen Herausforderun-gen gehören Taufanfragen, bei denen nur ein Elternteil die Taufe befürwortet und derandere der Taufe eines Kindes gleichgültig bis ablehnend gegenübersteht. Zudem sinddie Motive für eine Taufanmeldung oft eher diffus und werden aus der Familientraditionoder mit den Erwartungen des familiären oder sozialen Umfelds begründet. Dem ent-

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157 Vgl. Christine Lungershausen: Für Sinn offen: Fremde Blicke auf kirchliche Bestattungspraxis. Eindrückevon einer Gottesdienst-Werkstatt in Rostock, unveröffentlichtes Manuskript, o.O. 2014, S.4.

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sprechen Beobachtungen, dass die theologischen Topoi der Taufe (Absage an das Böse,Zuspruch der Gotteskindschaft, Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen, Patenamtals Begleitung im christlichen Glauben) für Tauffamilien oftmals hinter andere Überlegun-gen zurücktreten. Zu nennen sind hier neben einem eher als magisch zu charakterisie-renden Verständnis der Taufe als Schutzritus („Unserem Kind soll nichts Schlimmespassieren.“) auch die Vorstellung, Paten seien dazu da, für das Kind zu sorgen, wenn denEltern etwas zustößt. 158

In einer weiteren Gesprächsrunde reflektierten die Seminarteilnehmer, was sie mit der jeeigenen Taufpraxis vermitteln wollen. Dabei spielten fünf Schwerpunkte eine zentraleRolle:– Glaube ist etwas Schönes und Wertvolles, der das Leben bereichern und erfüllen

kann; symbolisch ausgedrückt durch das Überreichen einer (Kinder-)Bibel.– Der Dank für das Leben soll vor der Gemeinde und vor Gott ausgedrückt werden.– Jeder Mensch ist ein Kind Gottes, dies wird erfahrbar und erlebbar durch das

Taufsakrament und im Segenszuspruch: „Ich taufe Gottes Kinder, nicht zu GottesKindern.“ Gott wird den Täufling auf seinem Lebensweg nicht allein lassen.

– Der Täufling wird durch die Taufe in eine größere als die familiäre Gemeinschaft aufgenommen. Dies wird – sofern es möglich ist – durch das Mitwirken der anwe-senden Gemeinde gemeinsam gestaltet oder durch die Taufe ergänzende Handlun-gen (z. B. Eltern- bzw. Familien- und Patensegnung, Mitwirkung im Rahmen derTaufhandlung) verdeutlicht.

– Die Taufe als einmalig vollzogenes Sakrament soll dazu führen, dass die Getauften als mündige, die Kirche mitgestaltende Christen ihr Evangelisch-Sein auch stolz undselbstbewusst leben können und wollen.

In den beiden Kleingruppen wurden Taufhandlungen vorgestellt, in denen Babys bzw.Kleinkinder, Kinder im Schulalter, die selbst den Taufwunsch geäußert hatten und Er-wachsenentaufen im Mittelpunkt standen. Die Reaktionen und Wahrnehmungen der kir-chenfernen Beobachter lassen sich für den zweiten „fremden Blick“ fünf Kategorienzuordnen.

Das Einmalige und die TraditionImmer wieder haben die Beobachter nach den vorgestellten Taufhandlungen darauf hin-gewiesen, dass sie – wohlwissend, dass es sich bei der Taufe um ein tradiertes kirchlichesPassageritual handelt – eine Traditionslastigkeit der Taufhandlungen zuungunsten desIndividuellen wahrgenommen haben: „Es fehlte die individuelle Note. Der Täufling wirkteaustauschbar, sollte aber einzigartig sein.“ Insbesondere die starke Textlastigkeit (Glau-bensbekenntnis, Vaterunser, Taufbefehl, sog. Kinderevangelium) führten dazu, dass dasBesondere und Einmalige der jeweiligen Taufhandlung und des jeweiligen Täuflings inden Hintergrund gedrängt schienen.

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158 Vgl. hierzu auch: Regina Sommer: Kindertaufe – Elternverständnis und theologische Deutung, Stuttgart2009, S.98 ff; 327 f.

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Emotion und RatioAusgesprochen positiv haben die Beobachter auf Momente der persönlichen Hinwen-dung zum Täufling reagiert. Vor allem der Moment der Segnung, die Versiegelung, fürdie der Täufling das Zeichen des Kreuzes auf der Stirn empfängt und dabei berührt wird,und die guten Wünsche wurden positiv als „Zeichen des Schutzes“ wahrgenommen.

Ebenfalls sehr positiv wurde auf Momente individueller Zuwendung zu den Tauffami-lien oder zur Gemeinde reagiert, den im Sakramentsvollzug damit eng verbundenen theo-logischen Aussagen aber standen fast alle eher reserviert bis ablehnend gegenüber.

Dem entsprach auch die von den Beobachtern benannte Schwierigkeit, die Bedeu-tung von christlich aufgeladenen Symbolen und Zeichenhandlungen – z.B. das Wasser,das Überreichen einer Taufkerze – oder sprachlichen Metaphern – z.B. „Du, N.N., bistGottes Eigentum…“ – zu entschlüsseln.

Individuelles und GemeinschaftlichesDie kirchenfernen Beobachter haben wiederholt die Koppelung von Taufe, Segen undKirchenmitgliedschaft problematisiert. Während die persönliche Hinwendung zum Täuf-ling, die empathische und freundliche Zuwendung zu den Tauffamilien und der Ge-meinde dazu führten, dass die Beobachter innerlich Anteil nehmend dem Gesprochenenund den Handlungen folgen mochten, wurde von ihnen die daraus folgende Konsequenz– Kirchenmitgliedschaft – abgelehnt. Andererseits gab es auch die Rückmeldung, dassdie Aufnahme in eine begleitende, tragende Gemeinschaft als stärkend nicht nur für Eltern eines Kleinkindes, sondern auch für einen getauften Erwachsenen wahrgenom-men wurde – allerdings ohne Bezug auf die ecclesia invisibilis.

Schwer verständliche TheologieOftmals wurde bei den vorgestellten Taufhandlungen nach zugrundeliegenden theologi-schen Grundaussagen gefragt: „Was bedeutet überhaupt Taufe?“ Für Kirchenferne bliebder Zusammenhang zwischen dem Wasserritus und der trinitarischen Formel, der Bezugzu Jesus Christus und den liturgisch vorgegebenen Texten eher unklar.

Überraschend die Rückfrage eines kirchenfernen Beobachters im Rahmen einer vor-gestellten Taufe, ob zur Taufe nicht auch „ein konfessorischer Akt, das eigene Ja-Sagen“gehören würde.

In diesem Zusammenhang haben die Beobachter auch über ihre (Selbst-)Beobach-tungen zu liturgisch vorgesehenen Texten bzw. gemeinsam gesprochenen Gebeten (Va-terunser und Apostolicum) gesprochen. Einerseits wurde das Apostolicum als „alte,beschwörende Formel“, „das Gemeinschaftliche des Bekenntnisses und das wie einMantra Wirkende“, als schön empfunden und zum Teil sogar mitgesprochen. Anderer-seits ent zündeten sich hieran gerade auch weitergehende Fragen. Erst auf Nachfrageund im Nachgang zu einer vorgestellten Taufhandlung hat sich den Beobachtern er-schlossen, dass Kinderevangelium (Matthäus 19,15–17) oder entsprechende Textlesun-gen, Taufbefehl (Matthäus 28,16–20), Vaterunser und Apostolicum gemäß Agendeintegrale Bestandteile der Taufhandlung sind. So haben als „verschrobelt“ empfundeneFormulierungen des Glaubensbekenntnisses („gestorben“ und „auferstanden“ – Glaubean die Kirche und an die Gemeinschaft der Heiligen) wie auch Worte des Taufbefehls(„Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“) dazu geführt, dass die Kirchen-fernen sich innerlich von der Taufhandlung distanziert haben und nicht mehr die eine,besondere Taufe im Fokus sahen.

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Nachfragen löste bei den Kirchenfernen die Absage an das Böse (abrenuntiatio diao-boli) bzw. darauf abzielende Gebetsworte („Befreie N.N. vom Bösen.“) aus: „Sind Kindervor der Taufe in der Macht des Bösen?“ – „Sind sie selber böse?“ Die in den Taufagendenfakultativ angebotene Absage an das Böse hat den Beobachtern nicht eingeleuchtet undsetzt offenbar zu vieles an theologischem Wissen voraus, als dass hierfür ein Verstehenoder eine Akzeptanz erfolgen konnte.

In diesen Zusammenhang gehören auch hinführende bzw. deutende Worte, die alsübergriffig und Fremdbestimmung („Du, N.N., bist Gottes Eigentum…“ – „Nimm hin dasZeichen des Kreuzes.“) verstanden wurden und sich in ihrer theologischen Bedeutungnicht erschlossen haben.

Bedeutung der Pastorin bzw. des PastorsBei allen vorgestellten Taufhandlungen haben die Beobachter nicht den Vollzug der Taufean sich, sondern den von der Pastorin bzw. dem Pastor glaubhaft und glaubwürdig ver-mittelte Zuspruch der Nähe Gottes zum Täufling, die Herstellung einer guten Gottes-dienst-Atmosphäre und die Zuwendung nicht nur zum Täufling, der Tauffamilie und denPaten, sondern auch zur gesamten Gemeinde als tragendes Element einer Tauffeier be-nannt, der sie bei aller Distanz zum christlichen Gehalt anteilnehmend folgen konnten:

„Die Zeremonie wirkte schlicht, ohne überflüssigen Schnickschnack, authentisch undnahm alle mit.“

Wenn sich die Pastorin bzw. der Pastor zu sehr auf die unmittelbar am TaufgeschehenBeteiligten konzentrierte, führte dies bei den Beobachtern zu dem Eindruck, ausgeschlos-sen zu sein. Dies verstärkte das Erleben der eigenen Fremdheit im Gottesdienst und ver-mutlich auch die Schwierigkeiten bei der Rezeption theologischer Gehalte: „Ich fühltemich als Gast nicht so sehr angesprochen wie die Tauffamilie.“

ResümeeAuch der zweite „fremde Blick“ hat ein dem ersten Seminar vergleichbares Ergebnis ge-zeitigt. Kirchenferne sind bereit, sich auf eine gottesdienstliche Tauffeier einzulassen, undwissen zwar, dass sie einem religiösen Ritus begegnen, dessen Grundlagen und Inhaltevon ihnen nicht geteilt werden. Allerdings darf unterstellt werden, dass auch bei nichtunter „Laborbedingungen“ durchgeführten realen gemeindlichen Tauffeiern Konfessi-onslose teilnehmen, die mit einer ähnlichen Grundeinstellung wie beim Seminar um desTäuflings bzw. der Tauffamilie willen in die Kirche kommen. Insbesondere eine empathi-sche Zuwendung an Täufling, Familie und Paten sowie die Einbeziehung der Gemeindekönnen dazu führen, dass auch Kirchenferne den im Taufgeschehen vermittelten Zu-spruch als stärkend wahrnehmen. Damit ist keine innere Zustimmung zu den sakraments-theologischen Grundlagen der Taufe verbunden, denn diese wurden von Kirchenfernennicht mitvollzogen. Aufmerksam machen sollten allerdings die Anmerkungen der Beob-achter, dass Sprachformen und Sprachformeln nicht dazu geführt haben, den theologi-schen Gehalt und die mit der Taufe gestiftete neue christliche Identität des Getauftenverstehen zu können. Aus empirischen Untersuchungen, die durch viele Pastorinnen undPastoren aus Taufgesprächen bestätigt werden können, darf davon ausgegangen werden,dass auch bei Tauffamilien oftmals ein geringes oder gar kein Wissen um die Tauftheo-logie besteht. 159

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159 Vgl. Sommer, a. a.O., S.193 ff.

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Als Quintessenz für die Rezeption und für die Praxis des Taufsakraments lassen sich dreiAspekte benennen:– Eine besondere Feier am Anfang des Lebens ist auch für Kirchenfremde als

Passageritual berührend und wird als stärkend empfunden. Dabei kann deutlichwerden, dass Taufe und der zugesprochene Segen mehr sind als ein familieninter-nes Fest zur Geburt oder eine Namensweihefeier und auch etwas anderes ist als dieAufnahme in einen Verein.

– Gerade weil die Taufe als das die christliche Identität stiftende Sakrament auch die Inkorporation in den Leib Christi zur Folge hat, helfen angemessene theologischeAusführungen der anwesenden Gemeinde, die unterschiedlichen Dimensionen desTaufgeschehens sprachlich und symbolisch nachzuvollziehen. Das Besondere aber,was eine Taufe über eine Namensweihefeier oder einem Geburtsfest hinaus auch zueinem identitätsstiftenden und gemeinschaftsbezogenen Sakrament macht, lässtdie kirchliche Taufliturgie für Außenstehende nicht hinreichend deutlich werden.Auch wenn Fremdes fremd bleiben kann und gewiss auch nicht alle theologischenSpitzen abgeschliffen werden dürfen, so ist es eine bleibende Aufgabe, das durchdie Taufe vermittelte Neue in der Taufhandlung verstehbar zu machen.

– Positive Resonanz erfährt das priesterliche Handeln der Pastorin bzw. des Pastors. Der seelsorgerlich konnotierte Zuspruch der Zuwendung Gottes an den Täuflingkann damit im geistlichen Handeln starke Wirkung entfalten und sich nicht nur derTauffamilie, sondern auch der Gemeinde und den anwesenden Kirchenfernen mit-teilen.

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Die Kirchen haben im Bereich der lebensbegleitenden Kasualien ihre weitgehende Monopolstellung verloren. Das kirchliche Angebot von Passageritualen zur Geburt, zur Adoleszenz, zur Eheschließung und anlässlich des Todes ist kein kirchliches Allein -stellungsmerkmal mehr.

Über die seit den Zeiten der Weimarer Republik aus unterschiedlichen Gründen starkangewachsene Zahl von Jugendweihefeiern sowie die nichtkirchliche Begleitung vonTrauerfeiern hinaus ist seit rund dreißig Jahren eine Vielzahl von Angeboten getreten, diein Qualität und Quantität in Konkurrenz zu den kirchlichen Kasualien stehen. Zwar sinddie kirchlich angebotenen Passagerituale nach wie vor für viele Kirchenmitglieder iden-titätsstiftend und ein wichtiges Motiv, der Kirche (weiterhin) anzugehören. 160 Zugleich istaber davon auszugehen, dass viele, vielleicht die meisten Kirchenmitglieder ein nicht-kirchliches Passageritual (v. a. eine Jugendweihefeier, eine Hochzeit mit einem Ritualde-signer, eine Bestattung mit einem Trauerredner) erlebt haben dürften. Insofern könnenKirchenmitglieder vergleichen und abwägen, um sich dann zu entscheiden. Den Kostenfür ein nichtkirchliches Passageritual kommt dabei in den meisten Fällen nicht die ent-scheidende Bedeutung zu.

Auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielt das kirchliche Handeln in und durchKasualien eine wichtige Rolle. An ihnen wird die Relevanz der christlichen Botschaft fürdas Leben der Menschen insbesondere in existentiellen Momenten gemessen. Darüberhinaus begegnen in den Kasualgottesdiensten Menschen „der“ Kirche, denen der Glaube,die christliche Botschaft und die damit verbundenen Sprachformen und Sprachformelnfremd sind.

Kirchliche Kasualgottesdienste sind nicht die „letzte Bastion gegen die fortschreitendeMarginalisierung in der Gesellschaft“ 161, sondern eine Chance, die Relevanz des christ-lichen Glaubens für den einzelnen deutlich werden zu lassen. In einem Markt konkurrie-render Angebote und Anbieter kann daher der „Mehrwert“ des christlichen Glaubens,für den erfülltes Leben nicht von der alleinigen Kraft und den Fähigkeiten des Menschen,vom Erfolg und vom Gelingen aller Vorhaben und Sehnsüchte abhängig ist, in Kasual-gottesdiensten ein heilsamer Gegenentwurf zu einem alle Lebensbereiche umgreifendenLeistungsgedanken werden.

Das Auswandern von Kasualien auf den Markt des Ritualdesigns weist darauf hin,dass christliche und religiöse Sprachformen und Sprachformeln und die damit verbun-dene Ausdrucksform eines Kasualgottesdienstes nicht mehr per se verstanden oder ak-zeptiert werden. Der vielerorts beklagte Verlust religiöser Sprachfähigkeit führt auch zu

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7. Amtshandlungen auf dem Areopagdes Ritualdesigns

160 Vgl.: Anja Schädel/Gerhard Wegner: Verbundenheit, Mitgliedschaft und Erwartungen, in: Engagementund Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2015, S.89.161 S.o. Anm. 3.

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einem Verlust christlicher Glaubensinhalte: Wer nicht (mehr) versteht, was mit dem Glau-ben an „die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ gemeint sein soll und für die-sen Glauben keine eigenen inneren Bilder entwerfen kann, dem vermittelt sich einesolche Glaubenshoffnung auch inhaltlich nicht mehr. Und wem eine solche Glaubens-hoffnung fremd ist, hört die Worte, ohne sie innerlich füllen zu können. Die beiden Semi-nare „Der fremde Blick“ haben einen deutlichen Einblick gegeben, wie schwer esKirchendistanzierten fällt, diese Sprache zu verstehen und sie dann auch noch inhaltlichzu füllen. Zwar kann gelebter, gemeinschaftlicher Glaube in der Kirche nicht auf geprägteFormen und Formeln wie Vaterunser und Glaubensbekenntnis, Taufbefehl und andereBibeltexte verzichten, weil er sonst beliebig und willkürlich erscheinen würde. Zugleichzeigen die Reaktionen der konfessionslosen Beobachter während der Seminare „Derfremde Blick“, dass das Gesagte übersetzt und verständlich gemacht werden muss,damit sich christlicher Glaube nicht zu einer esoterischen, nur Eingeweihten verständli-chen Lehre entwickelt. Und dies gilt sicher nicht nur für die kirchlich Distanzierten, dieeher zufällig einen Kasualgottesdienst erleben. Vielmehr zeigen Erfahrungen aus Kasu-algesprächen, dass auch viele Kirchenmitglieder, die anlässlich einer Kasualie um kirch-liche Begleitung bitten, mit kirchlich geprägten Formen und Formeln fremdeln.

In diesem Zusammenhang sind meines Erachtens auch die bisweilen überraschendenund irritierenden, befremdlichen und in den kirchlichen Agenden nicht vorgesehenenWünsche zur Gestaltung von Kasualgottesdiensten zu sehen. Die Kasualagenden unddie Gestaltung kirchlicher Kasualien sind ein Folge der gesellschaftlichen Entwicklung,des sich an der Kleinfamilie orientierenden Familienbildes, der Hochschätzung von Bil-dungsidealen und der Homogenität konfessionell bestimmter Milieus des 19. Jahrhun-derts. So sind beispielsweise die Bestattungsagenden Ausdruck der kirchlichen Antwortauf den Niedergang kirchlicher Trauerfeiern im 19. Jahrhundert, 162 um der im Zuge derUrbanisierung und Industrialisierung abnehmenden Bedeutung tragfähiger großfamiliärerStrukturen, in die bis dahin die kirchlichen Riten ganz selbstverständlich eingebettet waren,begegnen zu können. Die gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Rahmenbedin-gungen verändern sich jedoch spätestens seit den 1970er Jahren rasant. Damit einher-gehend haben sich auch die Wünsche und Vorstellungen, aber auch die Haltung derMenschen gewandelt, die kirchliche Begleitung in den Schwellenmomenten oder Krisen-situationen in Anspruch nehmen möchten. Wie kann nun von kirchlicher Seite Menschenbegegnet werden, denen die christliche bzw. kirchliche Tradition fremd (geworden) istoder die eigene Vorstellungen für die Ausgestaltung der kirchlichen Kasualien formulie-ren? Wie kann geistlich und kirchlich angemessen auf diese Bitten um Begleitung durcheine Kasualie mit agendarisch nicht Vorgesehenem eingegangen werden? Denn immer-hin äußert sich hierin der Wunsch, gestützt und geschützt zu werden in einem Gottes-dienst, weil sie den damit erbetenen Zuspruch sich nicht selbst sagen und geben können.

Die sich daran anknüpfenden Fragen können hier zwar nicht in der eigentlich gebo-tenen Ausführlichkeit erörtert werden. Gleichwohl möchte ich auf zwei Aspekte hinweisen.In immer stärkerem Maße begegnen uns in den kirchlichen Kasualien Menschen, dieauch die auf dem vielgestaltigen Markt des Ritualdesigns durchgeführten Passagerituale

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162 Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer, Darmstadt 2012, S.51.

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wahrgenommen haben. Von dorther kommend oder aus eigenem Empfinden tragen sieihre Vorstellungen an eine für sie bestimmte Kasualie heran. Sie begegnen uns meistnicht mit umfangreichem Glaubenswissen, nicht mit einer durch die lutherischen Be-kenntnisschriften und durch die kirchlichen Agenden geprägten Vorstellung dessen, waseine evangelisch-lutherische Kasualie ausmachen sollte. Sie sind bewegt von ihren Emp-findungen und Wünschen, wie sie die nächste Schwelle in ihrem Leben meistern können.Dazu kann auch das Gefühl gehören, die Braut möge durch den Vater in die Kirche ge-leitet werden. Oder die Vorstellung, „You’ll never walk alone“ von der CD wäre ein wun-derbares Lied für eine Trauerfeier. 163 Oder auch die Bitte, in der Trauerfeier auf dasgemeinsame Singen zu verzichten. Ich halte dafür, die Frage, ob so etwas sein kann bzw.sein darf, nicht zum status confessiones zu erheben. Vieles von dem, was gewünschtund geplant wird, erachte ich eher als Geschmacks- oder Stilfrage denn als den Kernder christlichen Botschaft berührend. Und wenn denn solche oder ähnliche Wünschean eine Kasualie herangetragen werden, dann ginge es meines Erachtens eher darum,in diese Situation hinein das Evangelium zu verkündigen und den Horizont zu weiten fürden Zuspruch, der über jeden Geschmack erhaben ist. Denn darin liegt die großeChance der kirchlichen Kasualien: In einer Gesellschaft, die oftmals das olympische Ideal

„Schneller! Höher! Weiter!“ zur Maxime in vielen Bereichen erhoben hat, kann deutlichwerden: Nicht wir Menschen müssen alles schaffen. Nicht wir haben das Glück in derHand. Nicht wir müssen in uns selbst nach einem Lebenssinn suchen. Dies ist meinesErachtens das Pfund, mit dem Kirche gegenüber den Angeboten des Ritualdesigns, aberauch in der Begegnung mit Konfessionslosen, die an einem Kasualgottesdienst teilneh-men, wuchern kann. Von diesem Kern aus kann es dann ganz unterschiedliche Formender Gestaltung geben.

Und zum Zweiten möchte ich diese an die Kirche gerichteten Wünsche auch auf an-dere Weise als konstruktive Herausforderung verstehen. Ritualdesigner betonen immerwieder, dass sie ihre Angebote in hohem Maße individuell auf ihre Kunden ausrichten.Abgesehen davon, dass sie sich im Vollzug oftmals an geprägte kirchliche Kasualformenanlehnen, so kann doch gerade eine lutherische Kirche den Vorstellungen von Eltern zurTaufe, von Jugendlichen zur Konfirmation, von Brautpaaren zur Trauung und von Ange-hörigen zur Trauerfeier im Wissen um das Priestertum aller Getauften begegnen. Dennes kommen Menschen zu uns, die ihren eigenen Glauben ernst nehmen und für „ihre“Kasualie Ausdrucksformen ihres Glaubens gesucht und gefunden haben. Ich plädieredafür, Wünsche und Vorstellungen zu Kasualgottesdiensten als ein dem lutherischenGlauben zutiefst entsprechendes Wahrnehmen dieses allgemeinen Priestertums allerGetauften zu verstehen. Es mag banal sein, soll aber gleichwohl gesagt werden: Ich plädiere nicht dafür, einfach alles zuzulassen. Doch im Miteinander aller Beteiligten– jener,die um Begleitung bitten, Pastorinnen und Pastoren, Kirchenmusikerinnen und Kirchen-musiker, Kirchengemeinderat – sollte es darum gehen, aus allen Wünschen, Vorstellun-gen und Überlegungen das Angemessene für die eine, jeweilige Kasualie gemeinsamherauszufinden.

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163 Vgl. hierzu auch: Michael Heymel: „You Gotta Love Someone“. Über Musik bei Kasualien, in: Pastoral-theologie 88, Göttingen 1999, S.34–41. Stefan A. Reinke: Alles Verhandlungssache. Überlegungen zur Musikim Kasualgottesdienst, in: Pastoraltheologie 100, Göttingen 2011, S.413–425.

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Der Markt des Ritualdesigns und der nichtkirchlichen Kasualien ist für die Kircheneine Herausforderung, den allen kirchlichen Kasualien innewohnenden Reichtum undden Mehrwert des Zuspruchs eines den Menschen zugewandten Gottes immer wiederneu zu heben. Die Begegnungen mit Konfessionslosen in den Seminaren „Der fremdeBlick“ haben erkennen lassen, dass die biblische und kirchliche Tradition für die Sprach-und Gestaltungsformen von Kasualien einer Übersetzung bedarf, damit die Verheißungeines erfüllten und gelingenden Lebens wachgehalten werden und das Geheimnis desGöttlichen durchscheinen kann.

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