arne deforce musiktexte 113 / s. 91-92

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MusikTexte 133 Seite 91 sind hier an einem Nerv unseres musika- lischen Rezeptionsmechanismus ange- langt, es handelt sich um die psychologi- schen Grundlagen unseres Hörens, wenn nicht gar um anthropologische Realitäts- wahrnehmung schlechthin. So wären diese wohlproportionierten, wohlklingenden, fließenden, atmenden, ereignisreichen, bisweilen erregend hef- tig gestikulierenden und streckenweise unfassbar gut gespielten Stücke Oliver Schnellers am Ende also nur eine einzige große, schöne, rätselhafte Ausdrucksme- tapher? Dass sie es nicht in vollem Um- fang sind, dass die Rücknahme des Sub- jekts aus den musikalischen Prozessen sie nicht unpersönlich macht, und dass sie folglich nicht willkürlich auslegbar, sich nicht frei und beliebig mit Bildern und Vorstellungen auszustaffieren lassen – diese Differenz auszukundschaften, bil- det indes das unerschöpfliche Abenteuer dieser Musik, das zu erforschen und aus- zuloten diese CD wunderbare Gelegen- heit bietet. Oliver Schneller, „Aqua Vit“ (1999) für acht Instrumente, Ensemble Court-Circuit; Trio (1998) für Akkordeon, Violoncello und Klavier, ensemble mosaik; „Five Imaginary Spaces“ (2001) für Klavier und Live-Elektronik, Hea- ther O’Donnell, Klavier, „Stratigraphie I“ (2006) für sechs Instrumente und Live-Elek- tronik, ensemble unitedberlin, Leitung: Titus Engel; „Resonant Space“ (2005) für zwei Kla- viere, zwei Schlagzeuger und Live-Elektronik, ensemble mosaik; „Stratigraphie II“ (2010) für sechs Instrumente und Live-Elektronik, En- semble Cairn, Leitung: Guillaume Bourgogne, Mainz: Wergo, 2010. larven wie maskieren. Doch wie, so fra- gen wir, sollte Musik ohne Vorstellungen, bar jeder Imagination entstehen? Wie sollte Welthaltigkeit in ein künstlerisches Gebilde hineinfließen ohne die Möglich- keit und Zugänglichkeit von ‚Welt‘? Zu diesem Punkt findet sich in Schönbergs „Harmonielehre“ von 1911 übrigens ein sehr aufschlussreicher Satz: „Das Neue zeigt sich gern in Naturbildern.“ Nicht also in technischen Kategorien, in Zahlen und Zählbarem, Längen und Proportio- nen, sondern ... Naturbildern. Der Gedanke der im Geist waltenden Natur bringt uns im Zusammenhang mit der Musik Oliver Schnellers (zumal er an einer Stelle zu „Stratigraphie I“ selber von der „Organisation von Erinnerung“ spricht) nun freilich sehr nahe an die Ur- sprünge des Klangs. Er gemahnt uns da- ran, dass jeder Klang selbst so etwas wie eine Umwandlung darstellt: von Geist in Natur, Aktion in Akustik, Imagination in Konkretion. Wäre aber nicht ebenso denkbar, dass der gehörte Klang erst über die Imagination, und noch vor aller Phy- sik, in seinem vollen semantischen Um- fang wahrgenommen wird? Dass der Klang sich (etwa als ‚freundlich‘ oder ‚feindlich‘) zu erkennen gibt und damit sozusagen seine Geschichte erzählt, noch bevor sich seine physikalisch-akustische Realität mitteilt – so wie die Mutter, die mich einst weckte und unversehens noch selber Teil meines Traums wurde, bevor ich erwachte und sozusagen in die physi- kalische Realität des Lebens eintrat? Wir Raum nicht weiter den Kopf zerbrechen (auch nicht darüber, dass dieses Trio auf der CD gar nicht vorkommt). Und doch erkennen wir an solchen Sätzen – inso- fern sie nicht mehr sein wollen als die privaten Mitteilungen einer lebhaften Phantasie – das Dilemma aller Verbalisie- rung von Nonverbalem und überhaupt der Begrifflichmachung komplexer Sach- verhalte. Nun ist die Musiksprache Oliver Schnellers in sich ja schon so etwas wie eine Metasprache, bei der es die Musik bisweilen selbst ist, die die Musik macht, bei der das Material sich gleichsam selbst zum Akteur aufschwingt, vergleichbar dem Bildhauer, dem der Stein zur Meißel, oder dem Maler, dem die Farbe zum Pin- sel wird. Für seine Ensemblekomposition „Aqua Vit“ unterzieht Schneller Wasser- geräusche einer Spektralanalyse. Durch digitale Analyseverfahren gewinnt er aus dem Geräuschhaften die motivischen und rhythmischen Keimzellen für sein Stück und überträgt sie, vielfältig elabo- riert, auf eine herkömmliche Partitur aus drei Holzbläsern, drei Streichern, Klavier und Schlagzeug. Ohne Kenntnis dieser Prozedur müsste uns die Komposition unverständlich bleiben. Dass sie es nicht tut, liegt wohl in der Kunst, das Material in einer Weise zu verstricken, dass es seine Ursprünge zwar nicht preisgibt, diese jedoch auch nicht gänzlich verhüllt und durch die Erscheinung hindurch im- mer auch ihre Genese, durchs Abbild hindurch immer auch das Bild hindurch- schimmert. Wir ‚hören‘ Wasser, und zwar in etwa so, wie wir es durch ein Elektronenmikroskop ‚sehen‘. Oder: wie wir im Urbild aller Farben- komposition, dem mit „Farben“ über- schriebenen dritten der Fünf Orchester- stücke opus 16 von Arnold Schönberg, Wasser ‚sehen‘. Einer persönlichen Erin- nerung Egon Wellesz’ zufolge soll dieser Satz „durch das Flimmern des Lichts auf der Wasserfläche des Traunsees“ ange- regt worden sein. Schönberg verschwieg den Ursprung („Titel plaudern aus“) und überschrieb ihn zunächst mit „Farben“. Im Jahr 1950, bei der Erstellung einer re- duzierten Orchesterfassung der Stücke, konnte er jedoch der Versuchung nicht widerstehen, sich des ‚Plauderns‘ schuldig zu machen, und überschrieb den Satz mit den Worten „Sommermorgen am See“ – eine assoziative Ergänzung, die er sich er- laubte, weil er, wie er sagte, nun „alt ge- nug“ sei, sich „die Anklage, romantisch genannt zu werden“, leisten zu können. Metaphern ‚plaudern aus‘. Sie können einen Sachverhalt ebenso erhellen wie verdunkeln, enthüllen wie verbergen, ent- Spiel mit den Komplexitäten des Lebens Zu den CD-Veröffentlichungen des belgischen Cellisten Arne Deforce von Bastian Zimmermann Arne Deforce gehört zu den herausragen- den Interpreten der „New Complexity“, also einer Avantgarde-Musik, die sich ste- tig um die Weiterentwicklung komposito- rischer Parameter sorgt. Als Interpret sol- cher Werke von Richard Barrett oder Brian Ferneyhough bewegen ihn aber ganz andere Problemstellungen. Wenn Arne Deforce die Bühne betritt, dann geht er aufs Äußerste; ein Risiko, das für das Publikum intensiv spürbar ist. Bei den Ostrava Days 2011, einem tschechischen Festival für neue und expe- rimentelle Musik, führte er das Solostück „Kottos“ von Iannis Xenakis mit einer solchen Energie, Leidenschaft und Risi- kofreude auf, dass das Publikum aufs Äu- ßerste gebannt war. Deforces eigenstän- dige Beschäftigung mit Stücken wie „Kot- tos“ oder „Nomos Alpha“ von Xenakis kulminierte dieses Jahr in seiner vierten eigenständigen Veröffentlichung, dem Gesamtwerk des Komponisten für Vio- loncello. Herausgegeben wurde die CD von dem Pariser Label Æon, dass ihm schon länger freie Hand lässt, aufzuneh- men, was er will. Deforces erste Veröffentlichung war 2004 noch bei dem belgischen Label Me- gadisc erschienen und vereinte zwei Kompositionen für Violoncello und Key- board von Jonathan Harvey sowie zwei „komponierte Improvisationen“ von De- force mit dessen Obertongesang. 2007 nahm er dann erstmals für Æon Giacinto Scelsis „Trilogia – tre stadi dell’uomo“ auf, einem selten gespielten Klassiker des eigenwilligen Komponisten. Ein Jahr spä- ter veröffentlichte Deforce zusammen mit dem Pianisten Yutaka Oya die „Patterns

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Spiel mit den Komplexitäten des Lebens Zu den CD-Veröffentlichungen des belgischen Cellisten Arne Deforce von Bastian Zimmermann

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MusikTexte 133 Seite 91

sind hier an einem Nerv unseres musika-lischen Rezeptionsmechanismus ange-langt, es handelt sich um die psychologi-schen Grundlagen unseres Hörens, wennnicht gar um anthropologische Realitäts-wahrnehmung schlechthin.

So wären diese wohlproportionierten,wohlklingenden, fließenden, atmenden,ereignisreichen, bisweilen erregend hef-tig gestikulierenden und streckenweiseunfassbar gut gespielten Stücke OliverSchnellers am Ende also nur eine einzigegroße, schöne, rätselhafte Ausdrucksme-tapher? Dass sie es nicht in vollem Um-fang sind, dass die Rücknahme des Sub-jekts aus den musikalischen Prozessensie nicht unpersönlich macht, und dasssie folglich nicht willkürlich auslegbar,sich nicht frei und beliebig mit Bildernund Vorstellungen auszustaffieren lassen– diese Differenz auszukundschaften, bil-det indes das unerschöpfliche Abenteuerdieser Musik, das zu erforschen und aus-zuloten diese CD wunderbare Gelegen-heit bietet.

Oliver Schneller, „Aqua Vit“ (1999) für achtInstrumente, Ensemble Court-Circuit; Trio(1998) für Akkordeon, Violoncello und Klavier,ensemble mosaik; „Five Imaginary Spaces“(2001) für Klavier und Live-Elektronik, Hea-ther O’Donnell, Klavier, „Stratigraphie I“(2006) für sechs Instrumente und Live-Elek-tronik, ensemble unitedberlin, Leitung: TitusEngel; „Resonant Space“ (2005) für zwei Kla-viere, zwei Schlagzeuger und Live-Elektronik,ensemble mosaik; „Stratigraphie II“ (2010) fürsechs Instrumente und Live-Elektronik, En-semble Cairn, Leitung: Guillaume Bourgogne,Mainz: Wergo, 2010.

larven wie maskieren. Doch wie, so fra-gen wir, sollte Musik ohne Vorstellungen,bar jeder Imagination entstehen? Wiesollte Welthaltigkeit in ein künstlerischesGebilde hineinfließen ohne die Möglich-keit und Zugänglichkeit von ‚Welt‘? Zudiesem Punkt findet sich in Schönbergs„Harmonielehre“ von 1911 übrigens einsehr aufschlussreicher Satz: „Das Neuezeigt sich gern in Naturbildern.“ Nichtalso in technischen Kategorien, in Zahlenund Zählbarem, Längen und Proportio-nen, sondern ... Naturbildern.

Der Gedanke der im Geist waltendenNatur bringt uns im Zusammenhang mitder Musik Oliver Schnellers (zumal er aneiner Stelle zu „Stratigraphie I“ selbervon der „Organisation von Erinnerung“spricht) nun freilich sehr nahe an die Ur-sprünge des Klangs. Er gemahnt uns da-ran, dass jeder Klang selbst so etwas wieeine Umwandlung darstellt: von Geist inNatur, Aktion in Akustik, Imagination inKonkretion. Wäre aber nicht ebensodenkbar, dass der gehörte Klang erst überdie Imagination, und noch vor aller Phy-sik, in seinem vollen semantischen Um-fang wahrgenommen wird? Dass derKlang sich (etwa als ‚freundlich‘ oder‚feindlich‘) zu erkennen gibt und damitsozusagen seine Geschichte erzählt, nochbevor sich seine physikalisch-akustischeRealität mitteilt – so wie die Mutter, diemich einst weckte und unversehens nochselber Teil meines Traums wurde, bevorich erwachte und sozusagen in die physi-kalische Realität des Lebens eintrat? Wir

Raum nicht weiter den Kopf zerbrechen(auch nicht darüber, dass dieses Trio aufder CD gar nicht vorkommt). Und docherkennen wir an solchen Sätzen – inso-fern sie nicht mehr sein wollen als dieprivaten Mitteilungen einer lebhaftenPhantasie – das Dilemma aller Verbalisie-rung von Nonverbalem und überhauptder Begrifflichmachung komplexer Sach-verhalte.

Nun ist die Musiksprache OliverSchnellers in sich ja schon so etwas wieeine Metasprache, bei der es die Musikbisweilen selbst ist, die die Musik macht,bei der das Material sich gleichsam selbstzum Akteur aufschwingt, vergleichbar demBildhauer, dem der Stein zur Meißel,oder dem Maler, dem die Farbe zum Pin-sel wird. Für seine Ensemblekomposition„Aqua Vit“ unterzieht Schneller Wasser-geräusche einer Spektralanalyse. Durchdigitale Analyseverfahren gewinnt er ausdem Geräuschhaften die motivischenund rhythmischen Keimzellen für seinStück und überträgt sie, vielfältig elabo-riert, auf eine herkömmliche Partitur ausdrei Holzbläsern, drei Streichern, Klavierund Schlagzeug. Ohne Kenntnis dieserProzedur müsste uns die Kompositionunverständlich bleiben. Dass sie es nichttut, liegt wohl in der Kunst, das Materialin einer Weise zu verstricken, dass esseine Ursprünge zwar nicht preisgibt,diese jedoch auch nicht gänzlich verhülltund durch die Erscheinung hindurch im-mer auch ihre Genese, durchs Abbildhindurch immer auch das Bild hindurch-schimmert. Wir ‚hören‘ Wasser, undzwar in etwa so, wie wir es durch einElektronenmikroskop ‚sehen‘.

Oder: wie wir im Urbild aller Farben-komposition, dem mit „Farben“ über-schriebenen dritten der Fünf Orchester-stücke opus 16 von Arnold Schönberg,Wasser ‚sehen‘. Einer persönlichen Erin-nerung Egon Wellesz’ zufolge soll dieserSatz „durch das Flimmern des Lichts aufder Wasserfläche des Traunsees“ ange-regt worden sein. Schönberg verschwiegden Ursprung („Titel plaudern aus“) undüberschrieb ihn zunächst mit „Farben“.Im Jahr 1950, bei der Erstellung einer re-duzierten Orchesterfassung der Stücke,konnte er jedoch der Versuchung nichtwiderstehen, sich des ‚Plauderns‘ schuldigzu machen, und überschrieb den Satz mitden Worten „Sommermorgen am See“ –eine assoziative Ergänzung, die er sich er-laubte, weil er, wie er sagte, nun „alt ge-nug“ sei, sich „die Anklage, romantischgenannt zu werden“, leisten zu können.

Metaphern ‚plaudern aus‘. Sie könneneinen Sachverhalt ebenso erhellen wieverdunkeln, enthüllen wie verbergen, ent-

Spiel mit den Komplexitäten des LebensZu den CD-Veröffentlichungen des belgischen Cellisten Arne Deforce

von Bastian Zimmermann

Arne Deforce gehört zu den herausragen-den Interpreten der „New Complexity“,also einer Avantgarde-Musik, die sich ste-tig um die Weiterentwicklung komposito-rischer Parameter sorgt. Als Interpret sol-cher Werke von Richard Barrett oderBrian Ferneyhough bewegen ihn aberganz andere Problemstellungen.

Wenn Arne Deforce die Bühne betritt,dann geht er aufs Äußerste; ein Risiko,das für das Publikum intensiv spürbarist. Bei den Ostrava Days 2011, einemtschechischen Festival für neue und expe-rimentelle Musik, führte er das Solostück„Kottos“ von Iannis Xenakis mit einersolchen Energie, Leidenschaft und Risi-kofreude auf, dass das Publikum aufs Äu-ßerste gebannt war. Deforces eigenstän-dige Beschäftigung mit Stücken wie „Kot-tos“ oder „Nomos Alpha“ von Xenakis

kulminierte dieses Jahr in seiner vierteneigenständigen Veröffentlichung, demGesamtwerk des Komponisten für Vio-loncello. Herausgegeben wurde die CDvon dem Pariser Label Æon, dass ihmschon länger freie Hand lässt, aufzuneh-men, was er will.

Deforces erste Veröffentlichung war2004 noch bei dem belgischen Label Me-gadisc erschienen und vereinte zweiKompositionen für Violoncello und Key-board von Jonathan Harvey sowie zwei„komponierte Improvisationen“ von De-force mit dessen Obertongesang. 2007nahm er dann erstmals für Æon GiacintoScelsis „Trilogia – tre stadi dell’uomo“auf, einem selten gespielten Klassiker deseigenwilligen Komponisten. Ein Jahr spä-ter veröffentlichte Deforce zusammen mitdem Pianisten Yutaka Oya die „Patterns

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gewahrt bleiben soll. Kein Doping, keinfalscher Egoismus. Dennoch hat Deforceden Anspruch, immer wieder neue Risi-ken einzugehen und sich dadurch weiter-zuentwickeln. Realität wird es in seinenKonzerten, Hyperrealität – im Sinne ei-ner Übersteigerung des Wirklichen –wird es auf seinen CDs.

Complete Cello Works of Iannis Xenakis, Paris:Æon, 2011.Touch Strings – Phill Niblock, London: TouchLabel, 2009.Patterns in a Chromatic Field – Morton Feld-man, Æon, 2008.Trilogia – tre stadi dell’uomo – Giacinto Scelsi,Æon, 2007.Touch Three – Phill Niblock, Touch Label,2006.Advaya – Works of Jonathan Harvey and ArneDeforce, Molenbeek, Belgien: Megadisc, 2004.Painted Pyramids and other pieces of Luc Bre-waeys, Amsterdam, Holland: Etcetera, 2004.

KindheitstraumZum Abschied konzentriert sich [Kent] Na-gano ... auf Uraufführungen ... Nach neuenStücken von Wolfgang Rihm, Unsuk Chinund Peter Eötvös gibt es jetzt gleich zweineue Kompositionen von Jörg Widmannund Georg Benjamin. Der vielbeschäftigte,immer begeisterte und stets charismatischeWidmann hat Peter Sloterdijk als Libret-tisten gewonnen, um sich einen Kindheits-traum zu erfüllen: „Babylon“. Metapher fürunsere Zeit nennt das Widmann, redet vomAufeinandertreffen der Kulturen, vom Hete-rogenen, Stilmix, von der mythischen ZahlSieben und dem Problem, dass Babylondurch die Bibel negativ besetzt sei. Solch tro-ckene Vokabeln geben auch Dramaturgenvon sich, bei Widmann lodert dabei aller-dings ein Feuer in der Rede, das neugierigmacht. Zumal er eine halbstündige Flut-episode in Aussicht stellt.

Nagano dagegen staunt über WidmannsPartitur. Er kennt zwar erst fünfzig Prozentdavon, mehr ist noch nicht fertig – Wid-mann lacht an dieser Stelle leicht beschämt ...

Widmanns „Babylon“ ... wird 2012/2013... sechs Mal zu erleben sein. Widmann-Stücke, sagt Nagano, seien immer Überra-schungen. Doch dieses Mal sei die Überra-schung noch größer als sonst. Der Komponisthabe einen ganz großen Schritt nach vorngetan, was Kontrapunkt, die Farben und dieVerbindung von Lyrizismen und Theateranginge. Regie führe der in poetische Büh-nenmaschinerien verliebte Carlus Padrissavon La Fura dels Baus.

Aus: Reinhard Brembeck, Das unvermeidlicheEnde einer kühlen Beziehung. MünchensOpernchef Nikolaus Bachler präsentiert dieletzte Spielzeit seines GeneralmusikdirektorsKent Nagano, in: Süddeutsche Zeitung, Mün-chen 15. März 2012, 11.

nachvollzogen werden. Komplexität exis-tiere nicht in einem abgeriegelten techni-schen Territorium der Partitur, sondernsei immer eine Komplexität des moder-nen Lebens, der heutigen Psychologie desMenschseins, mit der der Spieler auf diePartitur trifft.

Eine andere Form von Komplexität fin-det Deforce im Spielen von Stücken ausdem Bereich des Minimalismus, allemvoran von Phill Niblock, für den er schondie zwei Stücke „Harm“ und „Poure“ fürdie Alben „Touch Three“ und „TouchStrings“ eingespielt hatte. Ein weiteresStück mit dem Titel „Feedcorn Ear“, ei-nem Anagramm seines Namens, soll un-ter der Klangregie von Niblock noch die-ses Jahr bei dem Londoner Label „Touch“veröffentlicht werden. Alle drei Stückehaben gemeinsam, dass nur eine Ton-höhe (inklusive oktavierender Transposi-tionen) gespielt wird und Niblock dieseauf bis zu vierundzwanzig unterschiedli-che Mastering-Spuren verteilt. Die Stückesollen so laut wie möglich gehört werden,um die minimalsten Interferenzen er-fahrbar werden zu lassen. Der statischeKlang allein gibt nicht viel her. Der In-strumentalist tritt bei solchen Stückenzurück, die Lautsprecher nehmen seinenPlatz ein und versetzen den Raum inSchwingungen. Währenddessen arbeitetDeforce durch sein Spiel, das den stati-schen Klang weiter ausdifferenziert, die-ser „Klang-Installation“ zu. Die Erfah-rung von Komplexität ereignet sich hieralso allein im Klang(-raum). Ein ähnli-ches Beispiel findet sich bei einem Stückdes belgischen Komponisten Luc Bre-waeys. Deforce ist Mitglied in dem offe-nen Improvisationskollektiv „Champd’Action“, das 2009 einen Konzertmit-schnitt mit Werken von Brewaeys veröf-fentlicht hat. Deforce spielt dort das äu-ßerst virtuose Stück „Black Rock Unfold-ing“ für Violoncello und Elektronik, beidem der Interpret trotz der hohen Anfor-derungen durch die unglaubliche Verein-nahmung und Ergänzung der Cello-klänge über die Lautsprecher von seinerüblichen zentralen Position zurücktritt.

Einen Ton zu spielen, sei eine ganzkomplexe Sache, hat Deforce in einempersönlichen Skype-Interview geäußert.Wie unendlich weit muss also der Wegsein, mit dieser Einstellung schlussend-lich Werke von Scelsi, Xenakis oder Fer-neyhough zu spielen? Der Fokus auf diespielerische Komplexität ist dabei nurein, vielleicht sogar nebensächliches Mo-ment. Deforce spricht in Bezug auf Xena-kis lieber vom Athletischen im altgriechi-schen Sinn eines Wettkampfes, bei demdie Schönheit und Grazie des Kämpfers

in a Chromatic Field“ nebst kleinerenStücken von Morton Feldman. Seine Ab-sicht ist, nach und nach alle bedeutendenSolostücke der zweiten Hälfte des zwan-zigsten Jahrhunderts bei Æon heraus-bringen.

Eine CD aufzunehmen bedeutet fürDeforce, ein eigenes Kunstwerk zu schaf-fen. Insbesondere die Solostücke für Vio-loncello wurden mit Nah-Mikrophonie-rungen am Korpus und Griffbrett aufge-nommen und hinterher digital bearbeitet,so dass der Hörer zuhause Klangeindrü-cke erhält, die im Konzert nie möglichgewesen wären.

In Scelsis „Thriphon“ wird das Violon-cello beispielweise an der G- und C-Saitemit Metalldämpfern versehen, die beimHören über Monitorboxen so nacktschnarren, kratzen und zurren, dass manvor dieser, um es mit den Worten De-forces zu sagen, „ero-taktilen“ Intimitätzurückschrecken kann. Eine solch ausge-leuchtete Bloßlegung des Klangs kann,wenn man sie nicht konsequent durch-hält – Scelsis „Trilogia …“ dauert fast eineStunde –, auch scheitern. Die Lust an derÜbersteigerung der Lebenswirklichkeitdurch digitale Technik ist offensichtlich;es bleibt jedem selbst überlassen, ob ersich dem hingeben will oder nicht.

Deforce nimmt sich gerne der Extremean. Als eng Verbündeter von Richard Bar-rett, einem Vorreiter der „New Comple-xity“, tritt er immer wieder mit Stückenin Erscheinung, die sich an der Grenzedes Spielbaren bewegen. Scelsi, Xenakisund – bisher nur auf der Bühne interpre-tiert – Ferneyhough gehören auch dazu.Dabei tritt Deforce nicht unbedingt alsVirtuose in Erscheinung, indem er demPublikum vorführt, wie er die Partitur be-zwingt. Vielmehr sieht er Partituren wiezum Beispiel „Time and Motion Study II“von Ferneyhough als eine Möglichkeit an,im Hochschaukeln der spielerischen Ex-treme wieder eine eigene künstlerischeFreiheit im Umgang mit der Partitur, denKlängen und dem eigenen Spiel zu erlan-gen. Nach seinen Worten sind dies Mo-mente von Improvisation in der Kompo-sition, die ein höchstes Maß an Verant-wortlichkeit gegenüber sich selbst, demInstrument und dem Geschriebenen her-vorrufen. Komplexität sei nicht da, umdas Unmögliche zu realisieren, aber umdas Mögliche auf die Spitze zu treiben;die Grenzen des Möglichen zu erschöp-fen. In diesem gegenseitigen Befruchtenvon Partitur und Spieler wird schließlichdas interpretatorische Risiko möglich,das Deforce nicht einfach besänftigt undgesichert sehen will; der „riskante“ Dia-log soll möglichst intensiv vom Publikum