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Rechts geschichte Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Herausgeberin Marie Theres Fögen Redaktion Bettina Emmerich Rainer Maria Kiesow Karl-Heinz Lingens Rg 2 2003

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Rechtsgeschichte

Zeitschrift desMax-Planck-Institutsfür europäischeRechtsgeschichte

HerausgeberinMarie Theres Fögen

RedaktionBettina EmmerichRainer Maria KiesowKarl-Heinz Lingens

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Marie Theres Fögen 12 Zu einer Debatte, die keine werden wollte

Marc Amstutz 14 Widerstreitende GötterZu Manfred Aschkes Rekonstruktionder systemsoziologischen Evolutionstheorieund ihrer rechtstheoretischen Bedeutung

Manfred Aschke 25 Evolutionstheorie für das Rechtder MarktgesellschaftZu Marc Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht.Vorstudien zum Recht und seiner Methode in denDiskurskollisionen der Marktgesellschaft

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James Q. Whitman 40 Long Live the Hatred of Roman Law!

Wolfram Brandes 58 Sieben HügelDie imaginäre Topographie Konstantinopels zwischenapokalyptischem Denken und moderner Wissenschaft

Luca Loschiavo 72 La legge che dio trasmise a MosèFortuna medioevale di un’operetta volgare

Francisca Loetz 87 Sprache in der GeschichteLinguistic Turn vs. Pragmatische Wende

Gernot Sydow 104 Recursus ad ComitiaEin Beitrag zur Justizverfassung des Heiligen RömischenReiches im 18. Jahrhundert

Tomasz Giaro 123 Westen im OstenModernisierung osteuropäischer Rechte bis zumZweiten Weltkrieg

Dieter Simon 142 Walter Wilhelm (1928–2002)Eine Erinnerung

Klaus Günther 151 John Rawls (1921–2002)Ein Restatement

Raffaele De Giorgi 161 Heinz von Foerster (1911–2002)Eine Beobachtung

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Konrad Schmid 170 Von Mord und Totschlag zu Recht und GesetzAlan M. Dershowitz, Die Entstehung von Recht undGesetz aus Mord und Totschlag

Marie Theres Fögen 173 Wie es wirklich nicht warWolf Singer, Der Beobachter im GehirnJohannes Fried, Die Aktualität des Mittelalters

Roy Garré 175 Haute CoutureJean-François Poudret, Coutumes et coutumiers

Andreas Thier 177 Nicht nur böse ChristenJohn Witte jr., Law and Protestantism

Alessandro Somma 179 La parabola della cittadinanzaPietro Costa, Civitas. Storia della cittadinanza in Europa

Michael Kempe 181 Zunge mit SchlossFrancisca Loetz, Mit Gott handeln

Christian Windler 183 Herrschaft ohne StaatJean-Frédéric Schaub, Le Portugal au temps ducomte-duc d’Olivares (1621–1640)

Merio Scattola 185 Vor der PolitikVanda Fiorillo, Autolimitazione razionale e desiderio

Wolfgang Schmale 188 GrenzprogrammPaolo Marchetti, De iure finium

Karl*Heinz Lingens 189 SchiedsrichterChristoph Kampmann, Arbiter und Friedensstiftung

Angela De Benedictis 191 Ius resistendi – come in Germania così anchein InghilterraRobert von Friedeburg (Hg.), Widerstandsrecht inder frühen Neuzeit

Lindsay Farmer 193 Killing ThoughtsJohn Barrell, Imagining the King’s Death

Peter Oestmann 194 Fälle ohne FädenEva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers

Michael Stolleis 196 Schichten-BildungSabine Holtz, Bildung und Herrschaft

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Natascha Doll 198 Streichelstrafen für MördernazisKerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitungvon NS-Verbrechen

Michael Stolleis 200 Frauen-VerratIsabel Richter, Hochverratsprozesse alsHerrschaftspraxis im Nationalsozialismus

Heinrich Gehrke 202 Chefsache!Matthias Meusch, Von der Diktatur zur Demokratie

Michael Stolleis 205 Die Wahrheit des HolocaustRaul Hilberg, Die Quellen des Holocaust

Anthony Carty 207 Between Despair and ParodyMartti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations

Miloš Vec 209 Besondere körperliche MerkmaleSimon A. Cole, Suspect IdentitiesJane Caplan, John Torpey (Hg.), DocumentingIndividual Identity

Christine Franzius 212 PassepartoutAndré Depping, Das BGB als Durchgangspunkt

Gerd Bender 214 Vergleiche des UnvergleichbarenDetlef Schmiechen-Ackermann, Diktaturen im VergleichHeiner Timmermann, Wolf D. Gruner (Hg.),Demokratie und Diktatur in Europa

Marie Theres Fögen 217 Mein MommsenStefan Rebenich, Theodor Mommsen

Rainer Maria Kiesow 219 EncyclopaediemaniaWerner Bartens, Martin Halter, Rudolf Walther,Letztes LexikonAndreas Urs Sommer, Die Kunst, selber zu denkenKoen Brams, Erfundene KunstAnette Selg, Rainer Wieland (Hg.), Die Weltder Encyclopédie

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Michael Kempe 224 Nach Hause …Europa transferre: Römische Seelenwanderungen

Marie Theres Fögen 226 His Master’s VoiceDirk Baecker (Hg.), Niklas Luhmann, Einführung in dieSystemtheorie

Susanne Lepsius 227 Bartolus »down under«

230 Reihe Unwissen

230 Nachwuchs auf dem VormarschForschungsgruppe »Eigentums- und Besitzrechtvon Frauen in der Rechtspraxis des Alten Reiches(1648–1806)«

Iring Fetscher 231 Deckname Z.Günther Nickel, Johanna Schrön (Hg.),Carl Zuckmayer, Geheimreport

Miloš Vec 235 Die deutsche Normalschraube

Susanne Lepsius, Michael Stolleis 236 Frontbericht34. Deutscher Rechtshistorikertag in Würzburg,8.–11. September 2002

Gerd Bender 239 Rechtsgeschichte auf der Messe

241 Posteingang

Abstracts 243

Autorenverzeichnis 253

Abbildungsverzeichnis 254

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Widerstreitende GötterZu Manfred Aschkes Rekonstruktion der systemsoziologischenEvolutionstheorie und ihrer rechtstheoretischen Bedeutung*

IIm Grunde hält es Aschke mit Bertolt Brecht:

»Viele Fehler … entstehen dadurch, daß man dieRedenden nicht oder zu wenig unterbricht. Soentsteht leicht ein trügerisches Ganzes, das, da esganz ist, was niemand bezweifeln kann, auch inseinen einzelnen Teilen zu stimmen scheint, ob-wohl doch die einzelnen Teile nur zu dem Gan-zen stimmen.«1 Bei Aschke sind die Redendensoziale Systeme, das Ganze die SystemtheorieLuhmanns. Was aber ist am LuhmannschenTheoriegebäude trügerisch? Weshalb sollte mansoziale Systeme unterbrechen? Weil – so AschkesAntwort in a nutshell – es nicht die Kommuni-kationen (als Grundbausteine sozialer Systeme)sind, die die individuellen Akteure in der Gesell-schaft steuern; vielmehr stehen die Kommunika-tionen den Akteuren als »dynamische symbo-lische Strukturen« zur Verfügung, werden vonihnen entschlüsselt und dienen ihnen zur Hand-lungsorientierung. Entsprechend kommt die ak-tive Rolle den Akteuren, nicht den Kommunika-tionssystemen zu; diese werden in ihrem blindenLauf immer wieder »unterbrochen«, bei Verir-rungen von den Akteuren stets aufs Neue in die»richtige« Richtung umgeleitet. Deshalb meintAschke, »daß Handlungstheorie benötigt wird,wenn es um die Frage geht, wie Kommunikationzur Lösung der [gesellschaftlichen] Koordina-tionsprobleme beiträgt. Wie durch Orientierungder Akteure an Kommunikation eine Koordina-tion realer Handlungen entstehen kann, lässtsich mit den Mitteln einer auf Kommunikationals Sinnoperation basierenden Theorie sozialerSysteme nicht beantworten. Hier endet der sys-

temtheoretische Sektor und es beginnt der Herr-schaftsbereich der traditionellen, handlungsthe-oretisch fundierten Soziologie« (279 f.).

Entgegen dem ersten Eindruck, den diesesZitat vielleicht hervorruft, geht es Aschke kei-neswegs um die Durchsetzung handlungstheo-retischer und die Zertrümmerung systemsozio-logischer Positionen. Aschke meint jedoch, dassdie Systemtheorie (deren Ausgangspunkt er inseinem Werk ausdrücklich akzeptiert) nicht aus-reiche, um soziale Evolution schlüssig zu er-klären, und dass gerade in dieser Hinsicht einehandlungstheoretische »Anreicherung« weiter-zuführen und das Trügerische an der Luhmann-schen Ganzheit zu beseitigen vermöge. Unter-brechung von Systemtheorie durch Hand-lungstheorie also – um »Fehler« zu vermeiden.Oder in den Worten Aschkes: »Konstruktioneines übergreifenden Erklärungsrahmens …,der Handlungstheorie und Systemtheorie, Mi-krosoziologie und Makrosoziologie miteinanderverbindet« (305). Kündigt nun Aschkes Buch dieWiederkehr des Individuums in den Sozialwis-senschaften an oder stellt es bloß die letztenZuckungen eines seit längerem im Sterben lie-genden methodologischen Individualismus dar?

Um diese Frage anzugehen, müssen die Ge-dankengänge Aschkes verhältnismäßig detail-liert nachgezeichnet werden, da dieser in seinemWerk das »handlungstheoretische« Rearrange-ment des systemtheoretischen Gebäudes sozu-sagen als Feinchirurgie betreibt. Als Ausgangs-punkt wählt er die »uralte Frage, was dieGesellschaft zusammenhält« (1), und unterstellt,dass die Vorkommnisse in der Gesellschaft nicht

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* Manfred Aschke, Kommunika-tion, Koordination und sozialesSystem. Theoretische Grundlagenfür die Erklärung der Evolutionvon Kultur und Gesellschaft, Stutt-gart: Lucius & Lucius 2002, XII u.375 S., ISBN 3-8282-0210-1.Für konstruktive Mitarbeit undkritische Anregungen danke ichGaby Müller (Universität Frei-burg i. Ue.).

1 Bertolt Brecht, Geschichtenvom Herrn Keuner,Frankfurt a. M. 1971, 106.

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einfach die Folge der Intentionen und Handlun-gen der beteiligten Individuen sind (40 ff.). Weildiese Intentionen und Handlungen nur grund-legende Ausgangsbedingungen für Kommunika-tionen (und nicht mit dem komplexen Gesche-hen der Kommunikation identisch) seien, müsseLuhmann darin gefolgt werden, dass es »einerErklärung für Stabilität und Veränderung sozia-ler Strukturen [bedarf], die von vornherein aufder Bezugsebene dieses komplexen Kommunika-tionsgeschehens angesiedelt ist« (46). Allerdingsist Aschke der Auffassung, dass die systemtheo-retische Antwort auf die Frage, wie »sozialeSysteme sich … auf ihre Umwelt einstellen, wennsie weder Energie und Materie aufnehmen, nochihre Umwelt sinnlich wahrnehmen können«(78), nicht restlos befriedigt. Denn die AntwortLuhmanns, dass diese Einstellung allein überstrukturelle Kopplung von Systemen geschieht,löse das entscheidende Problem nicht, sondernstelle es erst (79).

In der Analyse des Luhmannschen Kon-strukts der strukturellen Kopplung liegt zweifels-ohne eine der Stärken des hier besprochenenBuches. So wird einmal zu Recht hervorgehoben,dass, sofern man, wie Luhmann, mit dem Begriffder strukturellen Kopplung den Umstand be-zeichnet, dass ein System bestimmte Eigenartenseiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sichstrukturell darauf verlässt,2 klärungsbedürftigwird, wie dieses System die strukturelle Kom-plexität anderer Systeme in seiner Umwelt fürden Aufbau der eigenen strukturellen Komplexi-tät nutzen kann, wenn es nicht schon über dafürgeeignete, passende Strukturen verfügt (91 f.). InAschkes Augen besitzt diese Frage deshalb zen-trale Bedeutung, weil in der Systemtheorie struk-turelle Kopplung der einzige Weg ist, über den»Umwelt Einfluß auf ein System gewinnen[kann]«,3 so dass dahinter – das vermutet Asch-

ke – das Rätsel verborgen ist, wie soziale Systemeuntereinander sowie im Verhältnis zu Bewusst-seinssystemen gegenseitig passende Strukturenentwickeln und auf diese Weise den Zusammen-halt der Gesellschaft gewährleisten. Alles kommedeshalb auf die Frage an: Wie entsteht struktu-relle Kopplung?

Nach Aschke bietet sich für die genetischeErklärung struktureller Kopplung von Kommu-nikationssystem und Umwelt das Evolutions-konzept an (95). Denn auch dieses Konzeptarbeite letztlich – ähnlich wie Luhmanns auto-poietische Systeme – auf der Grundlage operati-ver Geschlossenheit. Und zwar insoweit, als dieGene aus den Erfahrungen des phänotypischenIndividuums nichts lernen können (d. h., im Bil-de, »geschlossen« sind) und der Genpool einerPopulation deshalb auf differentielle Reproduk-tion, die in Umsetzung der Einflüsse aus derUmwelt sicherstellt, dass die »fittesten« Geneausgewählt und an die nächste Generation wei-tergegeben werden, angewiesen ist. Es läge dahernahe – so Aschke –, »diesen Gedanken auf eineTheorie sozialer Systeme zu übertragen, dieebenfalls davon ausgeht, daß das soziale Systemein operativ geschlossenes System ist, das nichtvon seiner Umwelt determiniert wird. Voraus-setzung wäre allerdings, dass sich auch für dieEvolution sozialer Systeme eine ›Einheit derSelektion‹ bestimmen ließe, die Ansatzpunktdes Selektionsdrucks der Umwelt sein könnte«(96). Gerade solches lässt aber die Architekturder Systemsoziologie nicht zu: Selektion einersystemexternen »unit of selection« – darauf liefeeine Übertragung des Modells biologischer Evo-lution auf soziale Systeme letztlich hinaus – wi-derspräche diametral dem EvolutionsverständnisLuhmanns, das die auf Darwin zurückgehendeAuslagerung des Selektionsmechanismus in dieUmwelt strikte ablehnt. Das sieht Aschke glas-

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2 Cf. Niklas Luhmann, Die Ge-sellschaft der Gesellschaft, Frank-furt a. M. 1997, 106.

3 Luhmann (Fn. 2) 101.

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klar, wenn er feststellt, dass Luhmann »die Mög-lichkeit von kultureller und sozialer Evolutionausschließlich auf der Grundlage ›einer mit Au-topoiesis kompatibler Strukturselektion‹, unddas heißt: ausschließlich mit internen Selektions-mechanismen des sozialen Systems erklären[will]« (97). Nun hat Luhmanns Entscheidung,die ganze Mechanik des Evolutionsprozesses indas System hinein zu verlagern, Konsequenzen,die man ohne jegliche Übertreibung als deneigentlichen Angelpunkt des Buches von Aschkebetrachten kann. Das darin vorgeschlagene Al-ternativkonzept für »die Erklärung der Evolu-tion von Kultur und Gesellschaft« (so der Unter-titel des Werkes) hat genau besehen seinenUrsprung in der Kritik dieser Konsequenzen.

Um welche Konsequenzen geht es? In allerKürze: Weil nach autopoietischer Grundregel dieStrukturen des sozialen Systems (und nicht ir-gendwelche Umwelteinflüsse) dessen Evolutionbestimmen und damit »jede Vorstellung voneiner Erklärung der Evolution sozialer Systeme,die eine wie auch immer geartete Tendenz zurAnpassung sozialer Systeme an ihre Umwelt be-inhalten würde« (98), zu verwerfen ist, kannstrukturelle Kopplung nicht als Folge von Evolu-tion erklärt werden. Luhmann hält denn auchselber fest: »Für sie [sc. die Theorie autopoieti-scher Systeme] ist Angepasstsein Voraussetzung,nicht Resultat von Evolution; und Resultat dannallenfalls in dem Sinne, daß Evolution ihr Mate-rial zerstört, wenn sie Angepasstsein nicht längergarantieren kann. Die Erklärungslast trägt jetztder Begriff der ›strukturellen Kopplung‹. Überstrukturelle Kopplung ist eine für die Fortset-zung der Autopoiesis ausreichende Anpassungimmer schon garantiert«.4 Für Aschke ein unan-nehmbarer Vorschlag, weil »unklar bleibt, wieein System imstande ist, Ereignisse in seinerUmwelt, über die es operativ nicht verfügen

kann, für den Aufbau eigener Strukturen zunutzen, und vor allem, warum das strukturelleKopplungen zur Folge haben soll« (113). DassLuhmann die ganze Problematik mit dem Hin-weis abtut, »[d]ie Bestimmung eines Anfangs,eines Ursprungs, einer ›Quelle‹ und eines (oderkeines) ›Davor‹ … [sei] ein im System selbst ge-fertigter Mythos – oder die Erzählung eines an-deren Beobachters«,5 hält Aschke für eine Ver-legenheitslösung (113 f.).

Aber gibt es einen Fluchtweg aus dieserAporie? Aschke versucht es, wie andere zuvor,6

mit einer Aufweichung der »kompromisslosenHärte«7 der Autopoiesis. Allerdings geht er un-gleich radikaler vor, als dies die bisherigen Unter-fangen in diese Richtung getan haben, indem ereine Art informationelle »Durchlässigkeit« derSystemgrenzen zu konstruieren sucht. Die wech-selseitige Einstellung des einen Systems auf dieStrukturen des anderen Systems ist seiner Auf-fassung nach über »so etwas wie einen Informa-tionsfluss von System zu System, insbesonderevon Bewusstsein zu Kommunikation und umge-kehrt« denkbar (124). Zur Begründung dieserThese rekurriert er auf den von Küppers8 ent-wickelten »pragmatischen« Informationsbegriff(132 ff.). Danach kann Information nicht, wiedies Luhmann bei seinen autopoietischen Syste-men unterstellt, ohne jegliches Moment der»Übertragung« auskommen; vielmehr ist fürdiesen Begriff konstitutiv, dass Sender und Emp-fänger über ein (mindestens partiell) überein-stimmendes semantisches Vorwissen verfügen,das der Entschlüsselung der Nachricht dient.Das aber zeige letztlich, dass Information durch-aus »etwas«, nämlich Symbole, denen Bedeu-tung bzw. Sinn zukommen kann, transportiere(142 ff.). Aus diesem Befund schließt Aschke,»daß auch Kommunikation in sozialen Systemenein reales Moment der Übertragung voraussetzt,

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4 Luhmann (Fn. 2) 446 (H. v. Verf.).5 Luhmann (Fn. 2) 441.6 Cf. namentlich Gunther Teub-

ner, Recht als autopoietischesSystem, Frankfurt a. M. 1989,43 ff. m. Nw.

7 Luhmann (Fn. 2) 440.8 Bernd-Olaf Küppers, Der Ur-

sprung biologischer Information.Zur Naturphilosophie der Lebens-entstehung, 2. Auflage, Münchenet al. 1990.

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und daß strukturelle Kopplungen zwischen so-zialen Systemen und individuellen Bewusstseins-systemen nur deshalb zustande kommen kön-nen, weil gedanklicher Sinn in sprachlichenSymbolen ausgedrückt werden kann, die ihrer-seits mit hoher Genauigkeit über akustische oderoptische Übertragungsmedien in Kommunika-tion und damit in soziale Systeme eingebrachtund dort zur Informationsgewinnung genutztwerden können« (144).

Auf diese Weise schafft sich Aschke den Wegfrei für ein neues Theoriedesign. Denn nunmehrsteht ein »Bindeglied« zwischen Kommunika-tions- und Bewusstseinssystemen zur Verfügung.Und damit wird es möglich, die Entstehungstruktureller Kopplungen – von Aschke ver-standen als systeminterne »Beobachtungssche-mata …, die … geeignet sind, Ereignisse in derUmwelt mit Informationswert zu versehen undzum Anlaß für weitere eigene Operationen zumachen« (78) – evolutionstheoretisch zu erklä-ren. Das vorgeschlagene, namentlich auf derBasis einer Analogie zur ÄquilibrationstheoriePiagets9 entworfene Modell – vom Autor »prag-matisches Evolutionskonzept« genannt (305) –beruht auf dem Gedanken, dass Kommunika-tionssysteme und Bewusstseinssysteme je für ei-nander Selektionsumfelder bilden (279 ff.). Imeinzelnen geht die Vorstellung dahin, dass dieauf Ebene der Kommunikationssysteme pro-duzierten Regeln, Regelsysteme und Institu-tionen jene Handlungen der sozialen Akteureselegieren, die sich zur Lösung der zwischendiesen Akteuren auftretenden Koordinations-schwierigkeiten bestmöglich eignen. Umgekehrtresultieren aus dem Handeln der Akteure aufEbene der Bewusstseinssysteme Koordinations-probleme, die ihrerseits einen Selektionsdruckauf die Kommunikationssysteme entfalten. Die-ser Druck führt zur Herausbildung von Regeln,

Regelsystemen und Institutionen, die wiederumals Selektionsumwelt auf das aktuelle Handelnder sozialen Akteure zurückwirken. Fazit:»Strukturen der Makroebene der Gesellschaft… werden … durch Prozesse auf der Mikro-ebene geformt und stellen ihrerseits die selektiveUmwelt für diese Mikroprozesse dar« (13).

Über diesen doppelten, nach dem Mustereines Möbiusbandes verketteten Prozess sozialerEvolution wird für Aschke die Genese struktu-reller Kopplungen nachvollziehbar: »Was Luh-mann als strukturelle Kopplung zwischen Kom-munikationssystem und Bewußtseinssystem be-zeichnet und ohne hinreichende Erklärung fürdie Möglichkeit seiner Entstehung voraussetzt,wird als Ergebnis der Koevolution von Gesell-schaft (Makroevolution) und individuellem Be-wußtsein (Mikroevolution) erklärbar« (312).Strukturelle Kopplung durch Koevolution – sodie Losung Aschkes. Aber Koevolution ganzbesonderer Art: über selektive Schlaufen zwi-schen sozialen und psychischen Systemen, diesich in der pragmatischen Dimension von Infor-mation verquicken und sich gegenseitig beein-flussen. Was gibt es zu dieser Theorie zu sagen?Sicherlich vieles und die nachstehenden Bemer-kungen erheben keineswegs den Anspruch,sämtliche Facetten der klugen und ideenreichenArbeit Aschkes zu beleuchten. Im Folgenden willich mich hauptsächlich mit zwei Fragen aus-einandersetzen, nämlich zunächst mit der theo-retischen Kohärenz des pragmatischen Evolu-tionskonzepts (II) und alsdann mit den rechts-soziologischen und rechtstheoretischen Folgen,die sich aus diesem Konzept ergeben (III).

IIAschkes Werk gehört von Geist und Anlage

her zu einer Reihe jüngerer Studien, die sichvertieft mit der Evolution des Rechts auseinan-

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9 Jean Piaget, L’Equilibration desstructures cognitives. Problèmecentral du développement, Paris1975.

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dersetzen und auf die Entwicklung einer evolu-torischen Rechtstheorie hinzielen.10 Gemeinsa-mer Ausgangspunkt dieser Studien ist die Fest-stellung, dass die »Einmischungen« von Recht inGesellschaft bzw. Gesellschaft in Recht ihr Ge-heimnis bislang nicht preisgegeben haben, auchwenn in dieser Hinsicht die law & society-Dis-kussion der letzten Jahrzehnte erstaunliche undbedeutsame Etappensiege erzielt hat,11 an dieangeschlossen werden kann. Die Arbeitshypo-these besteht darin, dass sich die erwähnten»Einmischungen« über die verschiedenen evo-lutorischen Mechanismen entfalten, deren sichGesellschaft und Recht bedienen. Ziel der evo-lutorischen Rechtstheorie ist es, just diese Me-chanismen für die juristische Argumentation ge-zielt nutzbar zu machen, um dem Recht zuerlauben, sein Proprium im Wandel der sozialenDiskurse durchzuhalten, ohne das Gesellschaft-liche zu vernachlässigen. Oder anders gewendet:Der evolutorischen Rechtstheorie ist es darum zutun, eine Rechtsmethodik (als Mittel, das einenbestimmten Stil des juristischen Argumentierensim Recht auf Dauer stellt) zu entwickeln, die andie ständig evolvierenden Verschleifungen vongesellschaftlichen und juristischen Kommunika-tionen anknüpft, um Selbstreferenz und Fremd-referenz im Rechtssystem kontrolliert zu verbin-den und eben dadurch die soziale Responsivitätdieses Systems zu steigern.12

In diesem Kontext liefert Aschkes evolu-tionstheoretische Analyse der Rolle, die das Phä-nomen der strukturellen Kopplung im Netzwerkder spezialisierten gesellschaftlichen Diskursespielt, wichtige Hinweise. Insbesondere dürftesein Befund, dass die Genese dieses Phänomensdringlich der Problematisierung bedarf, die künf-tigen rechtssoziologischen Forschungsbemühun-gen spürbar beeinflussen. Als ebenso anregendwird man seine These einstufen, dass die Evolu-

tionstheorie eine plausible Kandidatin ist, um dieDiskussion in diesem Punkt voranzutreiben. Ers-te Fragen kommen freilich mit seinem Vorschlagauf, die Lösung darin zu suchen, dass man un-terschiedliche epistemologische Theoriestränge,nämlich Handlungs- und Systemtheorie, zusam-menzieht. Obschon damit individualistische undkommunikative Ansätze nicht radikal und inglobo, sondern lediglich in »homöopathischen«Dosen gegeneinander ausgespielt werden, wirftdieser Vorschlag im Ergebnis einmal mehr diealte Frage auf, ob aus theoretischer Sicht derMensch »als lebendes und bewusst erlebendesWesen«13 dem Gesellschaftssystem (so die indi-vidualistische Variante) oder dessen Umwelt (sodie kommunikative Variante) zuzuordnen ist.Auf diese Frage gibt es bekanntlich keine end-gültige Antwort. Man kann, wie Luhmann sagt,einzig und allein beobachten, »welche Begriffs-festlegungen welche Folgen haben«.14 WelcheVariante die (Rechts-) Soziologie vorziehen soll-te, lässt sich m. a. W. ausschließlich im Modusder (Selbst-) Beobachtung des Wissenschafts-systems entscheiden. Deshalb soll jetzt den (imeben erläuterten Sinne begriffenen) »Folgen« despragmatischen Evolutionskonzepts Aschkes nä-her nachgegangen werden.

Um dies zu tun, wird dieses Konzept an derKontrastfolie der Systemsoziologie gemessen. Einsolches Vorgehen sollte erlauben, die Erkenntnis-lage, die Aschke schafft, verhältnismäßig präzisezu beschreiben, gerade weil in diesem direktenVergleich offenbar wird, ob das pragmatischeEvolutionskonzept überhaupt einen Fortschrittbringt und gegebenenfalls in welcher Hinsicht.Auszugehen ist davon, dass eine der Innovatio-nen der Systemtheorie Luhmanns darin zu er-blicken ist, dass die Aggregationslogik, mit wel-cher die klassische Soziologie arbeitet,15 durcheine Emergenzlogik ersetzt wird: Ein System

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10 Cf. vor allem Ernst-JoachimLampe, Genetische Rechtstheorie.Recht, Evolution und Geschichte,Freiburg i. Br., München 1987;Okko Behrends, Rudolf vonJhering und die Evolutionstheoriedes Rechts, in: Privatrecht heuteund Jherings evolutionäresRechtsdenken, hg. v. dems., Köln1993, 7 ff.; ders., Jherings Evolu-tionstheorie des Rechts zwischenHistorischer Rechtsschule und

Moderne, in: Rudolf von Jhering,Ist die Jurisprudenz eine Wissen-schaft?, hg. v. dems., Göttingen1998, 93 ff.; Rainer Maria Kie-sow, Das Naturgesetz des Rechts,Frankfurt a. M. 1997; MarcAmstutz, Evolutorisches Wirt-schaftsrecht, Baden-Baden 2001;Marie Theres Fögen, RömischeRechtsgeschichten, Göttingen2002, jeweils m. Nw.

11 Repräsentativ aus dem deutschenSprachraum z. B.: Rudolf Wiet-hölter, Rechtswissenschaft,Frankfurt a. M. 1968; GertBrüggemeier, Probleme einerTheorie des Wirtschaftsrechts, in:Wirtschaftsrecht als Kritik desPrivatrechts, hg. v. Heinz-DieterAssmann et al., Königstein/Ts.1980, 9 ff.; Gunther Teubner,Reflexives Recht, ARSP LXVIII(1982) 13 ff.; ders., Recht als

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stellt danach nicht (mehr oder weniger) die Sum-me der Eigenschaften seiner Teile, sondern etwasfundamental anderes als diese Summe dar. Dieses»andere« wird von emergenten Eigenschaftendes Systems gebildet, d. h. von Eigenschaften,die das System im Laufe seiner Evolution hervor-bringt und »die aus den Eigenschaften … [seiner]Elemente gerade nicht mehr erklärbar sind, diemithin neu und charakteristisch nur und erst fürdie Ebene des jeweiligen Systems sind«.16 Ent-sprechend sind individuelle Handlungen nichtdie konstitutiven Faktoren eines sozialen Sys-tems; dieses entsteht als emergente Ordnungund setzt sich aus Elementen zusammen, die esselber herstellt und die mit individuellen Hand-lungen (oder Aggregaten von solchen) nichtidentisch sind. Die wichtigste Implikation derEmergenzthese besteht darin, dass jegliche Wech-selwirkung zwischen Teil und Ganzem undenk-bar wird. Wie dargestellt,17 setzt Aschke mit derFigur des pragmatischen Informationsbegriffsgenau an diesem Punkt an, um diese Implikationnicht hinnehmen zu müssen. Dadurch hält erdie Möglichkeit eines Wechselverhältnisses vonHandlungs- und Systemebene aufrecht, was ihnunweigerlich mit der Frage konfrontiert: In wel-cher Weise sind denn nun Handlung und Systemmiteinander verschränkt?

Gerade in dieser Hinsicht wird Aschke selt-sam vage. Zwar spürt man förmlich, wie er mitallen Mitteln probiert, die Aggregationslogikvon ihren Schwächen zu befreien und in densystemsoziologischen Kontext einzufügen. Be-sonders greifbar wird diese Argumentationsstra-tegie, wenn er nachzuweisen sucht, dass derpragmatische Informationsbegriff Küppers »mitwesentlichen Aspekten« des Luhmannschen In-formationsbegriffs übereinstimmt (140 f.). Letzt-lich lässt aber sein Modell zweier sich wechsel-seitig beeinflussender Evolutionsprozesse18 die

Frage unbeantwortet, aufgrund welcher Mecha-nismen »Handlung« und »Kommunikation«ineinanderzugreifen vermögen. Auch die Figurder Koevolution, derer sich Aschke bedient,ohne sie näher zu spezifizieren,19 vermag hierkeinen Aufschluss zu geben. Vermutlich ist dieserweiße Fleck die Folge davon, dass Aschkes Über-nahme der »Ausgangspunkte« Luhmanns20 un-vermeidlich auch ein systemtheoretisches Axiomin das »pragmatische Evolutionskonzept« ein-schleust, das sich im Ergebnis wohl als »trojani-sches Pferd« entpuppt: Emergenz impliziert perdefinitionem, dass »beide Momente der RelationHandlung – System unabhängig voneinandervariieren können«,21 so dass die Erklärung koe-volutorischer Prozesse, nach der Aschke fahndet,notwendig eine Antwort auf die Frage voraus-setzt, wie diese Unabhängigkeit in der Gesell-schaft aufgehoben oder mindestens beschränktwird. Die Möglichkeit einer solchen Aufhebungbzw. Beschränkung wird von Aschke nicht be-gründet, sondern lediglich vorausgesetzt: »Kul-tur und Gesellschaft auf der einen Seite und dasindividuelle Bewusstsein auf der anderen Seitesind auch nach diesem Konzept (sc. das pragma-tische Evolutionskonzept) zu unterscheiden. Siesind füreinander Umwelt. Aber sie sind fürein-ander die maßgebliche Selektionsumwelt. DieMakroevolution von Kultur und Gesellschaftund die Mikroevolution des individuellen Be-wußtseins greifen ineinander und bedingen undbegrenzen sich wechselseitig« (306). Woher dieseMaßgeblichkeit der Selektionsumwelten? Wes-halb dieses wechselseitige Bedingen und Begren-zen? Die bloß behauptete, nicht nachgewiesenekausale Verschleifung von individualistischerHandlungsebene und kommunikativer System-ebene wird auch vom verwendeten pragmati-schen Informationsbegriff nicht näher beleuch-tet, der, im Bilde ausgedrückt, das Tor zwar

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autopoietisches System (Fn. 7);Christian Joerges, Die Wissen-schaft vom Privatrecht und derNationalstaat, in: Rechtswissen-schaft in der Bonner Republik, hg.v. Dieter Simon, Frankfurt a. M.1994, 311 ff.

12 Cf. im einzelnen Amstutz,Evolutorisches Wirtschaftsrecht(Fn. 10) 53 ff., 101 ff., 303 ff.

13 Luhmann (Fn. 2) 29.14 Luhmann (Fn. 2) 34.

15 Locus classicus der Analyse dieserAggregationslogik ist die Arbeitvon Raymond Boudon, Effetspervers et ordre social, 2. Auflage,Paris 1993.

16 Helmut Willke, Systemtheorie I.Grundlagen: Eine Einführung indie Grundprobleme der Theoriesozialer Systeme, 6. Auflage,Stuttgart 2000, 131.

17 Cf. vorn S. 16 u. 17.18 Cf. vorn S. 17.

19 Vgl. das Konzept des »Red QueenParadox« , das Leigh M. VanValen, A New Evolutionary Law,Evolutionary Theory 1 (1973)1 ff., entwickelt hat.

20 Cf. vorn S. 14.21 Willke, Systemtheorie I (Fn. 17),

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öffnet, darüber aber nichts aussagt, wie die Wel-ten auf beiden Seiten dieses Tors miteinander inKontakt treten können.

Diese Unklarheiten im Verhältnis von Hand-lung und System – oder präziser: von Emergenzund pragmatischem Informationsbegriff – min-dern leider die Überzeugungskraft der durch-aus beachtlichen Hauptthese Aschkes, wonachstrukturelle Kopplung (als »Bindemittel« der Ge-sellschaft) das Produkt koevolutorischer Prozessein den Sphären des Bewusstseins und der Kom-munikation darstellt.22 Solange nämlich nichtdargetan ist, inwiefern (d. h. wie und mit welchenKonsequenzen) der materielle und energetischeUnterbau sozialer Systeme das Auftreten neuerOrdnungsniveaus beeinflusst, kommt diese The-se über die unspezifische und globale Behauptungnicht hinaus, strukturelle Kopplung sei die Folgesozialer Evolution (womit zwar Luhmann wider-sprochen, jedoch nicht angegeben ist, weshalbdieser falsch liegen soll). Dass ein derartigerNachweis ohne vollständige Aufgabe der Grund-regeln sozialer Autopoiese erbracht werden kann(wie Aschke dies anstrebt), muss (auf dem heuti-gen Theoriestand zumindest) bezweifelt werden.Die hier besprochene Studie zeigt jedenfalls, dassein handlungstheoretisches »Austricksen« dessystemischen Emergenzphänomens – so dennsolches überhaupt möglich ist – ein doch äußerstanspruchsvolles Unterfangen darstellt. Dies umso mehr, als dem Weg, den Aschke mit dempragmatischen Informationsbegriff und dem Re-kurs auf Erkenntnisse Piagets geht, theoretischeEleganz nun wirklich nicht abzusprechen ist.

Nach dem Gesagten muss deshalb aussichts-reicher scheinen, eine evolutionstheoretische Er-klärung für strukturelle Kopplung auf einer reinkommunikativen Ebene zu suchen. Gerade die inAschkes Ansatz im Mittelpunkt stehende Analo-gie zur Äquilibrationstheorie Piagets erweist sich

in diesem Zusammenhang als weiterführend. Innuce: Mit dieser Theorie, die die Entstehungkognitiver Strukturen in der geistigen Entwick-lung des Kindes erklärt, stellt Piaget die Hypo-these auf, »daß Erkenntnis weder nur aus demSubjekt noch nur aus den Objekten der Erkennt-nis, sondern aus der Interaktion des handelndenSubjekts und der Objekte des Handelns undErkennens erklärt wird« (223). Augenfällig ist,dass diese Hypothese das Grundschema despragmatischen Evolutionskonzepts Aschkes lie-fert.23 Darauf ist nicht zurückzukommen. Wasindes im Laufe der Analogie, mit der Aschkediese Hypothese in den Bereich kommunikativerSysteme überträgt, verloren geht, ist der Um-stand, dass für Piaget die Erkenntnisbildungbeim Säugling bereits auf etwas Vorhandenemaufbaut, das dieser sich nicht im geschildertenInteraktionsprozess aneignet: auf den zur geneti-schen Ausstattung des Menschen gehörendenInstinkten und Reflexen. Es kann also leichtüberspitzt gesagt werden, dass das Kleinkindschon im Vorfeld der Ausbildung seiner Kogni-tionsfähigkeiten in einem gewissen (zugegebe-nermaßen minimalen) Sinne mit seiner Umweltstrukturell gekoppelt ist. Wie wichtig, ja gerade-zu essentiell diese Instinkte und Reflexe für dieEntstehung kognitiver Muster beim Säuglingunmittelbar nach dessen Geburt sind, zeigendie Beobachtungen, die Piaget über die Betäti-gung der Saugreflexe im ersten Lebensmonat beiseinen eigenen Kindern gemacht hat und dieAschke im Volltext zitiert (224 ff.). Nun habendiese Instinkte und Reflexe in Aschkes Modellder Evolution sozialer Systeme ganz offensicht-lich keine Entsprechung. Darin liegt wohl dieschwerwiegendste Lücke dieses Modells, weilletztlich schleierhaft bleibt, woher die »Initial-zündung« für die Herausbildung strukturellerKopplung kommen soll.

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22 Cf. vorn S. 17.23 Cf. vorn S. 17.

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Aufgrund dieses Befundes ist nicht auszu-schließen, dass Luhmanns These von der struk-turellen Kopplung als Voraussetzung von Evolu-tion vielleicht doch in die korrekte Richtungweist. Aber gibt es eine Erklärung für diese These,die zugleich mit evolutionstheoretischen Prinzi-pien und mit dem Phänomen der Emergenz ver-einbar ist? Eine Möglichkeit, die hier lediglich ingroben Zügen skizziert werden kann, bestehtdarin, die These Luhmanns im Lichte von Er-kenntnissen, die die neuere evolutionstheore-tische Forschung an den Tag gefördert hat, fort-zudenken. Angesprochen sind die ArbeitenKauffmans, der im Rahmen langjährigen Experi-mentierens mit komplexen Gen-Systemen eineTheorie entwickelt hat,24 an die hier angeschlos-sen werden kann. In knappster Zusammenfas-sung besteht diese Theorie aus den drei folgendenSätzen: (1) Entgegen der bisher überwiegend ver-tretenen darwinistischen Lehre hat die Evolutionnicht nur eine Quelle, sondern deren zwei, näm-lich Selektion und spontane Organisation. (2) Se-lektion setzt spontane Organisation voraus, oderanders gewendet: der Selektionsmechanismusfunktioniert nur, sofern das evolvierende Systemdie Fähigkeit besitzt, sich spontan zu organisie-ren. (3) Diese Fähigkeit zur spontanen Organi-sation hängt von einer bestimmten internen Rela-tionierung der Elemente des Systemsab, die diesesin die Lage versetzt, Perturbationen aus der Um-welt so zu absorbieren, dass seine Operationsfä-higkeit (seine Autopoiese) nicht gefährdet wird.25

Diese Theorie hat zahlreiche evolutionstheo-retische Implikationen, denen hier nicht allennachgegangen werden kann. Vorliegend von Be-deutung ist allein, dass sie eine Revision im Ver-ständnis der Selektionsfunktion nahelegt: Diesebesteht nicht darin, in gradualistischer Manierdas evolvierende System so aufzubauen, dass sichdieses an seine Umwelt anpasst (das entspricht

der darwinistischen Vision), sondern vielmehrdarin, im Sinne einer »Suchmaschine« das (be-reits angepasste) System dorthin zu lenken, woseine Evolutionsaussichten verbessert werden.Auch wenn der Unterschied auf den ersten Blickgering erscheinen mag, hat er eine erheblicheKonsequenz: Im Prozess der Evolution findetnicht eine umweltgesteuerte Erzeugung und Aus-formung der Logik des evolvierenden Systemsstatt, sondern Evolution wird überhaupt erstdadurch möglich, dass im System von Anbeginneine Logik vorhanden ist, die dessen Evolutions-fähigkeit gewährleistet. Daraus lässt sich derSchluss ziehen, dass strukturelle Kopplung imevolutorischen Moment der spontanen Ord-nungsbildung stattfindet, also unmittelbar mitder von Kauffman aufgezeigten Fähigkeit desSystems zur spontanen Organisation einhergeht.Im Vergleich zur Konstruktion Aschkes hat diesesModell den Vorteil, dass die Erklärung struktu-reller Kopplung ohne Aufhebung der fundamen-talen Undurchlässigkeit autopoietischer Systemeauskommt und entsprechend mit dem Phänomender Emergenz konform geht. Es erlaubt zumal dieAufrechterhaltung der evolutionstheoretischen»Innenperspektive« Luhmanns, d. h. seiner Vor-stellung einer systeminternen Strukturselek-tion,26 die – folgt man den hier umrissenen Ge-danken – auf struktureller Kopplung aufbaut,also gewissermaßen Folge davon ist.

Wie sich diese Akzentverschiebungen in derTheoriebildung rechtssoziologisch und rechts-theoretisch konkret auswirken, soll nun anhanddes von Aschke zur Veranschaulichung seinerThesen gewählten Beispiels der Funktion desGesetzes dargelegt werden.

IIIGleichsam als Nagelprobe für sein pragma-

tisches Evolutionskonzept vertritt Aschke am

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24 Cf. insb. Stuart A. Kauffman,At Home in the Universe. TheSearch for Laws of Self-Organisa-tion and Complexity, New York,Oxford 1995.

25 Cf. zum Ganzen eingehendAmstutz, Evolutorisches Wirt-schaftsrecht (Fn. 10), 278 ff.

26 Cf. vorne S. 16.

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Ende seiner Studie die Meinung, dass die Gesetz-gebung »nach wie vor einen äußerst wirksamenInnovationsmechanismus … für rechtliche Lö-sungen von [sozialen] Koordinationsproblemenzur Verfügung [stellt]« (328). In erster Linierichtet sich diese Auffassung gegen die wohl-bekannte Skepsis Luhmanns, dass Gesetze dieOperationen des Rechtssystems bestimmen.27

Für Aschke macht sich ein gutes Gesetz ebensowenig von selbst wie ein gutes Urteil: »Ohne dieAntizipation von möglichen Lösungen im be-wußten Denken … von Menschen gäbe es …keine soziale Errungenschaft« (315). Sofern esum die Errungenschaft des Gesetzes geht, be-gründet Aschke seine Haltung mit dem (un-mittelbar aus dem pragmatischen Evolutions-konzept abgeleiteten) Argument, dass dieMöglichkeit von Interventionen auf handlungs-gestützten Veränderungen der externen Selek-tionsbedingungen gesellschaftlicher Kommuni-kationen beruht (319 f.). Solche Veränderungenwürden über die sprachlichen Symbole bewirkt,deren sich das Gesetz bediene: Zwar könne mandiese Symbole im Einzelfall sehr unterschiedlichdeuten und verstehen; aber die »komplexenpragmatischen und institutionellen Kontexte«in der Rechtspraxis würden »die Bandbreite derprofessionell vertretbaren Auslegungen äußerstwirksam einschränken« (327). Weil nun dieseEinschränkung in der »realen Welt als pragma-tische[m] Bezugspunkt … von Sinnsystemen«(319) stattfände – die, wie erinnerlich, im ModellAschkes die Selektionsumwelt eben dieser Syste-me darstellt –, werde dadurch zugleich auch diegesellschaftliche Kommunikation plangemäß be-einflusst. Deshalb lässt sich Aschke zufolge – sosein Fazit – »nicht bestreiten, daß der Gesetzge-ber die Rechtspraxis und die gerichtliche Ent-scheidungspraxis auch mit umfangreichen Refor-men äußerst effizient umdirigieren kann« (327).

Betrachtet man den Aufbau dieser Beweis-führung genau, wird man erneut mit der Unbe-stimmtheit konfrontiert, an welcher (nach derhier vertretenen Sicht der Dinge) das pragmati-sche Evolutionskonzept in der gegenwärtigenAusgestaltung leidet.28 Aschke verknüpft hierim Wesentlichen drei Argumente: (1) Ein Gesetznimmt sich seiner Natur nach als Übertragungsymbolischer Strukturinformation zwischenkognitiven Systemen und Kommunikationssys-temen aus. (2) Diese Strukturinformation kannzwar im Rechtssystem in verschiedener Weisegelesen und interpretiert werden, wird aber vonden »komplexen pragmatischen und institutio-nellen Kontexten« der Praxis in eine bestimmte»Sinn-Richtung« kanalisiert. (3) Über diesenKanalisierungseffekt wird das »handlungstheo-retische« Element »Gesetz« zu einem tauglichenInstrument der gezielten Beeinflussung des»kommunikativen« Elements »Recht«. Dieseargumentative Kette folgt im Prinzip der Logikdes pragmatischen Informationsbegriffs, kommtdamit allein aber nicht aus. Aschke sieht sichgezwungen, die Plausibilität seines Verständnis-ses der Steuerungswirksamkeit des Gesetzesüber die Einführung des in seinem Evolutions-konzept nicht enthaltenen Elements der »kom-plexen pragmatischen und institutionellen Kon-texte« herzuleiten, dessen Status weitgehendunklar bleibt. In welchem Selektionsumfeld sinddiese »Kontexte« angesiedelt? Auf handlungs-theoretischer oder systemtheoretischer Ebene?Sind sie evolutionäre Errungenschaften oder Be-standteil der sprachlichen Symbole, die die indi-vidualistischen und die kommunikativen Sphä-ren verketten? Welcher ist ihr Platz im Modellder wechselseitig aufeinander einwirkendenEvolutionsprozesse, das Aschke vorschlägt?

Die Notwendigkeit, auf ein solches deus exmachina-Argument zurückzugreifen, und die da-

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27 Cf. etwa Niklas Luhmann, Aus-differenzierung des Rechts. Bei-träge zur Rechtssoziologie undRechtstheorie, Frankfurt a. M.1981, 88 ff.

28 Cf. vorn S. 19 u. 20.

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mit einhergehende konzeptionelle Unschärfesind bei Lichte besehen Folgen des unbewältigtenEmergenzproblems in Aschkes Theorie.29 Des-halb ist zu fragen, ob man die Funktion desGesetzes rechtssoziologisch und rechtstheore-tisch nicht schlüssiger erklären kann, wennman mit dem hier bevorzugten Modell, dasEvolution sowohl auf Selektion wie spontaneOrdnung zurückführt,30 konsequent einen kom-munikativen Ansatz verfolgt. Das mag vielleichtauf Anhieb paradox anmuten, weil das Gesetzdann als bloße Irritation des Rechtssystemsdurch die Politik zu verstehen ist und seinenangestammten Platz im Kelsenschen Stufenbauder Rechtsordnung verliert.31 Aber vielleicht ge-winnt man gerade dank dieser konstruktivisti-schen Auslagerung des Gesetzes aus dem Rechts-system heraus ein klareres Bild von seinerFunktion. Die These geht dahin, dass das Gesetzzwar mit der Autopoiesis des Rechtssystemsnicht interferiert (es ist aus dieser PerspektiveUmwelt), aber der Abstimmung dieses Systemsmit dem politischen System und der Gesellschaftinsgesamt dient. Kurzum: Das Gesetz als ein Fallstruktureller Kopplung. Das bedarf der Erläute-rung:

Wenn vorliegend gesagt wird, dass die Evo-lutionsfähigkeit des Rechts spontane Organisa-tionsfähigkeit voraussetzt,32 kann das auch soausgedrückt werden, dass das Recht eines be-stimmten Selbstorganisationswertes bedarf. Die-sen Selbstorganisationswert kann das Recht abernicht global schaffen, weil die Gesellschaft selbstnicht global evolviert. Es muss sich in evolutions-fähige Einheiten ausdifferenzieren, die der funk-tionalen Differenzierung der modernen Gesell-schaft entsprechen. Diese »Einheiten« werdenhier, in Anlehnung an Walz, Teilrechtsordnun-gen33 genannt. Nur sie können jene Selbstorga-nisationswerte herausbilden, die zusammen die

Evolutionsfähigkeit des Rechts insgesamt sicher-stellen. Entsprechend stellen sie auch die »unitsof selection« dar, die evolvieren und dem Selek-tionsprozess der Rechtsevolution unterliegen.Der »Selbstorganisationswert« einer Teilrechts-ordnung wird von dem »rechtspolitischen Bezie-hungszusammenhang« zwischen den einzelnenElementen dieser Teilrechtsordnung (positiveNormen, ungeschriebene Rechtssätze, Richter-recht, Gewohnheitsrecht usw.), der sich in»spontaner Organisation«, als »ein faktischesResultat von Evolution«34 – das von Irritationaus der Umwelt unbeeinflusst ist – herauskristal-lisiert. Diesen rechtspolitischen Beziehungszu-sammenhang sollte man sich als regulatorischesNetzwerk vorstellen, und zwar »regulatorisch«in dem Sinne, dass dadurch die Bestandteile derTeilrechtsordnung zu einem in sich stimmigenGanzen miteinander verknüpft werden, oder imBilde Dworkins, dahingehend, dass die einzelnenBestandteile – als chain novels aufgefasst, dievon einem imaginären Schriftsteller aneinander-gefügt werden – zusammen eine »kohärente undästhetische Geschichte« bilden.35

In diesem katalytischen Prozess, in dem der»rechtspolitische Beziehungszusammenhang« ei-ner Teilrechtsordnung entsteht,36 findet auchderen strukturelle Kopplung mit dem Gesetzstatt. Versteht man mit Luhmann strukturelleKopplung als einen »Bereich«, in dem »Möglich-keiten gespeichert [sind], die das System verwen-den kann, die es in Informationen transformie-ren kann«,37 lässt sich erkennen, dass über dieseKopplung das Recht Anschluss an die Macht-ressourcen der Politik findet. Wenn es nämlichstimmt, »daß die Spaltung der Umwelt durch diestrukturelle Kopplung in Ausgeschlossenes undEingeschlossenes dazu tendiert, die relevantenBeziehungen zwischen Umwelt und System zureduzieren und auf einen schmalen Bereich von

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29 Cf. vorn S. 19 u. 20.30 Cf. vorn S. 21.31 Cf. Hans Kelsen, Reine Rechts-

lehre, Wien 1960, 228 ff.32 Cf. vorn S. 21.33 Rainer W. Walz, Steuergerech-

tigkeit und Rechtsanwendung,Heidelberg, Hamburg 1980,199 ff. Was eine »Teilrechtsord-nung« im einzelnen ist, lässt sichklassenlogisch nicht definieren. Eskommt allein auf die Selbstbe-

schreibung der Teilrechtsordnun-gen an, also auf die »[…] Linie,welche die Diskurspraxis desRechts selbst zwischen sich undder Umwelt zieht« (G. Teubner,Die zwei Gesichter des Janus, in:Liber Amicorum Josef Esser, Hei-delberg 1995, 202). Teilrechts-ordnungen können mit Bezug aufihren jeweiligen Selbstorganisa-tionswert nur durch Fremdbeob-achtung erfasst werden, und auch

das nur – durch das »Selbst« desFremdbeobachters – gebrochen.

34 Niklas Luhmann, Das Recht derGesellschaft, Frankfurt a. M.1993, 219.

35 Ronald Dworkin, Law’s Em-pire, Cambridge 1986, 28.

36 Cf. zu diesem katalytischen Pro-zess Amstutz (Fn. 10) 292 ff.

37 Niklas Luhmann, Einführung indie Systemtheorie, Heidelberg2002, 121.

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Einfluss zuzuschneiden, und daß nur dann einSystem etwas mit Irritationen und Kausalitätenanfangen kann«,38 liegt allem Anschein nach indiesen Verschleifungen der »mystische Grundder Autorität« des Rechts:39 Durch strukturelleKopplung mit der Politik in der Form des Ge-setzes beschafft sich das Rechtssystem die Sym-bolik seiner jederzeitigen Durchsetzbarkeit, diees selbst gar nicht herstellen kann. Gleichzeitighält es über diese List Politik auf Distanz, um sosein Proprium, auf dem seine Leistungen beru-hen, bewahren zu können.

In dieser Lektüre nimmt das Gesetz natürlichtrivialere Konturen als in Aschkes Version an:

Vom stolzen Medium der Gesellschaftssteuerungwird es zum Artefakt herabstilisiert, das erstnoch verräterisch die Hinterlist des Rechts of-fenbart. Ob dieses Bild empirisch stimmiger ist,soll hier nicht mehr diskutiert werden. In denvorangehenden Zeilen ging es denn auch umetwas anderes, einschneidenderes: Es ging da-rum, einsichtig zu machen, wie notwendig es ist,dass Bücher wie dasjenige von Aschke geschrie-ben werden, damit wir im Diskurs ein fundierte-res Verständnis der Rechtsevolution gewinnenkönnen. Davon hängen Kernfragen unsererRechtstheorie ab.

Marc Amstutz

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38 Luhmann, Einführung (Fn. 37)121.

39 Jacques Derrida, Force de loi.Le fondement mystique del’autorité, Paris 1994.

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Widerstreitende Götter*Zu Manfred Aschkes Rekonstruktionder systemsoziologischen Evolutionstheorieund ihrer rechtstheoretischen Bedeutung

Der Rezensionsessay beschäftigt sich mit der neuenPublikation von Manfred Aschke. Aschke geht in diesemBuch davon aus, dass die Frage danach, »was die Gesell-schaft zusammenhält«, zwar grundsätzlich auf einer kom-munikativen (systemtheoretischen) Ebene beantwortetwerden sollte. Allerdings bedürfe diese Antwort der hand-lungstheoretischen Ergänzung, weil die Systemtheorie denzentralen Mechanismus der sozialen Integration, diestrukturelle Kopplung, nicht umfassend begründen kön-ne. Wie strukturelle Kopplung entsteht, versucht Aschkeanhand eines »pragmatischen Evolutionskonzeptes« zuerklären, das sich eng an Küppers’ Informationsbegriffund Piagets Äquilibrationstheorie anlehnt. Er entwirfteine Theorie der »strukturellen Kopplung durch Koevo-lution«, die im Wesentlichen auf der These gründet, dassKommunikationssysteme und Bewusstseinssysteme je für-einander evolutorische Selektionsumfelder darstellen. Ob-wohl Aschke darin zu folgen ist, dass die Evolutions-theorie eine aussichtsreiche Kandidatin für die weitereErforschung der Emergenz von strukturellen Kopplungendarstellt, lässt die von diesem Autor erarbeitete Ver-schmelzung system- und handlungstheoretischer Einsich-ten verschiedene zentrale Fragen offen. Im Rezensions-essay wird dem Konzept Aschkes ein Evolutionsmodellentgegengesetzt, das an moderne Theorien der spontanenOrdnungsbildung anknüpft und strukturelle Kopplungauf einer rein kommunikativen Ebene beleuchtet. Ab-schließend wird am Beispiel der Gesetzgebung gezeigt,worin die unterschiedlichen rechtstheoretischen Implika-tionen des Konzepts Aschkes und des vorgeschlagenenAlternativmodells bestehen.

Conflicting Gods*On Manfred Aschkes Reconstructionof a systemsociological Theory of Evolutionand it’s Relevance in Legal Theory

The reviewing essay focusses on the new publicationof Manfred Aschke. In his book, Aschke promotes thetheory, that a question like »what bounds a society to-gether« should basically be answered on a communicative(systemtheoretical) term. But the answer is, he argues, inneed of a completion by a theory of action, since systemtheory alone will not be able to explain the centralmechanisms of social integration, which is structuralcoupling.

Based on a »pragmatic evolution concept«, thatcomes very close to Küppers information concept andPiaget’s equilibration-theory, Aschke tries to explain howstructural coupling emerges. Therefore he establishes atheory of »structural coupling through co-evolution«,that is based essentially on the opinion that communica-tion systems and consciousness systems represent evolu-tionary surroundings of selection for each other.

Although Aschke is to be followed therein that theevolutionary theory represents a possible candidate forthe further investigation of the emergence of structuralcoupling, the combination of system opinions and opin-ions of a theory of action acquired by this author leavesseveral essential questions unanswered. In this reviewingessay Aschke’s draft is therefore opposed to an evolutionmodel that attaches to modern theories of selforganisationand that can demonstrate structural coupling on a purelycommunicative basis. In a final example, that of legisla-tion, we will show different implications on legal theoryarise either of Aschkes concepts and the proposed alter-native model.

Marc Amstutz

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* Volltext auf S. 14.Article on p. 14.