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Magisterarbeit
im Fach Kulturwissenschaft
an der Universität Bremen
„Orientalismus“ im Spiegel?
eine kritische Diskursanalyse
von Publikationen zum Thema
„Islam in Deutschland“
im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“
(Jahrgänge 2006-2008)
vorgelegt von
Annabel Trautwein
Betreuende Gutachterin: Prof. Dr. Dorle Dracklé
Zweitgutachterin: Dr. Cora Bender
Bremen, den 03.04.2011
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ...................................................................................................1
2. Die Theorie ................................................................................................6
2.1. Was bedeutet Orientalismus? .............................................................7
2.2. Wozu die Frage nach journalistischem Orientalismus? ....................10
2.3. Stand der Forschung ........................................................................12
3. Die Analyse .............................................................................................16
3.1. Die Methode .....................................................................................17
3.2. Ergebnisse der Strukturanalyse ........................................................20
3.3. Dossier und Interpretationsschlüssel ................................................25
3.4. Ergebnisse der Feinanalyse .............................................................28
3.4.1. „Der innerste Ring“ ..................................................................28
3.4.2. „Angst vor dem Befreiten“ .......................................................31
3.4.3. „,Kaum verhüllte Drohung’“ .....................................................35
3.4.4. „Die Integrierten“ .....................................................................38
3.4.5. „Das Wunder von Marxloh“ .....................................................42
3.4.6. „Die Freiheit der anderen“ .......................................................45
3.4.7. „Schlesische Schlachten“ ........................................................48
3.4.8. „Das Phantom der Oper“ .........................................................51
4. Fazit ..........................................................................................................56
5. Schlussbemerkung ...................................................................................61
Literaturverzeichnis .................................................................................64
Verzeichnis der analysierten Artikel ........................................................69
Anhang ....................................................................................................80
1
Kapitel 1 – Einleitung
Das Ergebnis meiner Magisterarbeit bietet Antwort auf eine Frage, die mich
seit meinem Grundstudium beschäftigt: Wie lässt es sich erklären, dass ein
renommiertes Magazin wie der Spiegel in seiner Berichterstattung über Islam
offenbar Konzepte anwendet, die vielen Kulturwissenschaftlern1 längst als
überholt gelten?
Die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs über Islam und
dem Islam-Bild des Spiegel trat in meinem Studienalltag immer wieder
zutage: Im Einführungskurs Kulturwissenschaft beschäftigte ich mich mit
Transkulturalität und postkolonialer Kritik an essentialistischen
Identitätskonzepten, während auf der Titelseite des Spiegel, der zu Hause
auf meinem Küchentisch lag, das Bild einer kopftuchtragenden Muslima mit
der Schlagzeile „Allahs rechtlose Töchter“ prangte (Nr. 47/2004). In
Hausarbeiten und Referaten meines Nebenfachs Religionswissenschaft
setzte ich mich mit den methodologischen Facetten islamischer
Rechtsauslegung und verschiedenen Konzepten von Scharia auseinander,
während der Spiegel „[d]ie stille Islamisierung“ Deutschlands ausrief und
unter dem Titel „Haben wir schon die Scharia?“ deutsche Gerichte als
Handlanger von „Islam-Fundamentalisten“ stilisierte, weil eine Frankfurter
Richterin die Klage einer Muslima mit Verweis auf einen Koranvers
abgewiesen hatte (Nr. 13/2007). Die Kritik an Samuel Huntingtons
essentialistischem Konzept eines „Clash of Civilizations“ erschien mir unter
Kommilitonen und Dozenten unbestritten – und zu Hause ärgerte ich mich
über den Spiegel, der den Karikaturenstreit unter der Überschrift „Der heilige
Hass“ auf die Titelseite brachte und darin einen „Zusammenprall der
Kulturen“ eskalieren sah (Nr. 6/2006).
In Edward W. Saids Theorie des „Orientalismus“ fand ich einen Ansatz, der
meine Frage nach dem Hintergrund dieser Diskrepanz zu beantworten
schien. Dennoch bezweifelte ich, dass ein so anerkanntes Magazin, das mit
dem Slogan „Spiegel-Leser wissen mehr“ seinen aufklärerischen Anspruch
unterstreicht, sich einer so kritikwürdigen ideologischen Tradition
anschließen würde. War mein Eindruck von der Islam-Berichterstattung des 1 Der Einfachheit halber verwende ich die männliche Form. Damit sollen Frauen nicht ausgeschlossen werden.
2
Spiegel nicht längst verzerrt durch meinen Ärger über einzelne Artikel, so
dass ich immer wieder dieselben Muster bestätigt sah, Gegenpositionen aber
ausblendete? Auch wenn ich das Heft abonniert hatte und die
Berichterstattung über Islam und Muslime aufmerksam verfolgte - kritisch
überprüft hatte ich die Position des Spiegel nicht.
In meiner Magisterarbeit hole ich nun diese kritische Analyse des Islam-Bilds
im Spiegel nach. Bei der systematischen Untersuchung von Beiträgen des
Magazins tritt letztendlich ein breites Spektrum an Diskurspositionen zutage,
bei denen sich die Darstellung von Islam und Muslimen teilweise von Beitrag
zu Beitrag, teilweise auch innerhalb einzelner Artikel stark unterscheidet. In
der Gesamtwirkung dominieren jedoch Darstellungsmuster und Stereotype,
die ein orientalistisches Bild von Muslimen und Islam bekräftigen.
Dieser Befund ergibt sich aus meinen Forschungsparametern, die ich an
dieser Stelle knapp skizziere und im Verlauf meiner wissenschaftlichen Arbeit
genauer erläutere und begründe:
Meine Forschungsfrage ist in zwei Aspekte gestaffelt. Zunächst untersuche
ich: Wie stellt der Spiegel das Thema „Islam in Deutschland“ dar? Daran
schließt sich die Frage an: Wie positioniert sich das Magazin mit dieser
Darstellung zum orientalistischen Diskurs?
Das Werkzeug, mit dem ich mein Material anhand dieser Fragen
entschlüssele, ist die Methode der kritischen Diskursanalyse von Siegfried
Jäger (Jäger 2004).
Um den Materialfundus meiner Arbeit dem vorgegebenen Rahmen einer
Magisterarbeit anzupassen, nehme ich zwei Einschränkungen vor: Zum
einen grenze ich den Untersuchungszeitraum ein auf die Jahrgänge 2006,
2007 und 2008. Zum anderen fokussiere ich meine Untersuchung auf
Berichterstattung über Muslime in Deutschland.
Die Begrenzung des Untersuchungszeitraums dient in erster Linie dazu, den
Umfang des Materials auf eine handhabbare Menge zu reduzieren. Den
Fokus auf den gesellschaftlichen Kontext Deutschland wähle ich, da mich
besonders interessiert, wie das Magazin Muslime darstellt, die sich in der
Alltagswelt ihrer Leser befinden. 2 Hinzu kommt, dass dieser Fokus
2 Die Debatte um Integration von Muslimen in Deutschland, die im Herbst 2010 entbrannte, sowie die Diskussion um die Bedeutung des Islam für die deutsche Gesellschaft nach der Rede des Bundespräsidenten am Tag der Deutschen Einheit 2010 bekräftigen mich in meinem Interesse.
3
außenpolitische Themen wie den Irak-Krieg ausklammert, die einerseits den
Materialumfang erheblich vergrößern würden und andererseits wegen der
Vielschichtigkeit der damit verbundenen Diskurse (militärische,
diplomatische, humanitäre usw.) die Analyse wesentlich aufwändiger
gestalten würden.
Bei meiner Analyse konzentriere ich mich demnach auf Artikel, in denen
Personen oder Personengruppen im Vordergrund stehen, deren muslimische
Identität sowie deren Leben und Handeln in Deutschland für die Geschichte
des Beitrags relevant sind. Nach diesem Kriterium schließe ich Artikel über
Menschen aus, die zwar Muslime sind, jedoch gar nicht oder nur beiläufig als
solche dargestellt werden.
Der Fokus auf Muslime dient dazu, Beiträge auszuklammern, in denen
ausschließlich nicht-muslimische Wortführer ihre Vorstellungen von Islam
ausbreiten – zwar können diese Ausführungen durchaus interessant sein,
jedoch handelt es sich hier weniger um direkte Repräsentationen des Spiegel
als um Repräsentationen Dritter, denen das Magazin lediglich Raum gibt.
Dabei ist – abgesehen davon, dass die Spiegel-Redaktion sie offenbar für
lesenswert hält – meist nicht eindeutig bestimmbar, wie sich der Spiegel zu
diesen Repräsentationen positioniert. Aus demselben Grund klammere ich
Interviews bei der Materialauswahl für die Feinanalyse aus.
Abgesehen von meinem persönlichen Interesse am Spiegel bietet sich das
Magazin aus verschiedenen Gründen für eine kritische Untersuchung seiner
Diskursposition an: Zum ersten stellt sich der Spiegel als politisches
Nachrichtenmagazin3 eine besondere gesellschaftliche Aufgabe – zu
aktuellen Geschehnissen liefert es Hintergrundinformationen, stellt
Zusammenhänge zwischen einzelnen Ereignissen her und bietet so
umfassende Analysen und Interpretationen an (Schneider/Raue 2007:291).
Damit zeichnet das Magazin ein mehr oder weniger kohärentes Bild der
gesellschaftlichen Lage, das dem Leser als Verständnis- und
Orientierungshilfe dienen soll. Laut Wolfram Schrage gilt das Blatt seit
Anfang der 60er Jahre „als Blatt der Aufklärung, als ‚Sturmgeschütz der
Demokratie’“ (Schrage 2007:165). Die Textgattung der Magazingeschichte,
die entscheidend vom Spiegel mitgestaltet wurde (Mast 2004:319, 3 http://www.spiegel-qc.de/deutsch/media/dokumente/partner/kurzportraet/spiegel_factsheet_2011.pdf (Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011)
4
Pürer/Raabe 2007:166), spielt dabei eine besondere Rolle (Mast 2004:318).
Da das Vermischen von Fakten und Wertungen im Fall des Spiegel üblich
und weitgehend anerkannt ist, erhalten auch Berichte, deren Stoßrichtung
durch die Meinung des Verfassers vorgegeben ist, den Anschein objektiver
Wahrheit (Pürer/Raabe 2007:166, Schneider/Raue 2007:101).
Allgemein gilt der Spiegel als „Leitmedium“ mit sehr hohem Einfluss (Schrage
2007:163, Pürer/Raabe 2007:162). Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur
Stefan Aust kommentierte das Ansehen seines Magazins 1997 mit dem Satz
„Das muß ja stimmen, es hat doch im Spiegel gestanden.“ (Aust 1997, zit.
nach Wolf 2006:256) und verlieh damit nach Ansicht von Claudia Maria Wolf
dem Magazin die „Aura der Unfehlbarkeit“ (ebd.). Besonders für Journalisten
gilt der Spiegel traditionell als Orientierung (Pürer/Raabe 2007:167,
Schneider/Raue 2007:201). Mit einer aktuellen Auflage von rund 975.000
verkauften Heften ist der Spiegel nach eigenen Angaben das derzeit
meistverkaufte Nachrichtenmagazin Deutschlands. 4 In den Jahrgängen
2006, 2007 und 2008, auf die ich mich in meiner Analyse beziehe, ist der
Spiegel mit einer durchschnittlichen Druckauflage von 1.289.763 Exemplaren
das auflagenstärkste Nachrichtenmagazin vor Focus und Stern. 5 Angesichts
der journalistischen Gepflogenheiten des Spiegel, die den Journalisten eine
verhältnismäßig große Deutungshoheit beimessen, des hohen Stellenwerts,
den das Magazin in der Öffentlichkeit hat, sowie seiner weiten Verbreitung ist
der Spiegel ein besonders lohnenswerter Gegenstand für die Untersuchung
einer orientalistischen Diskursposition.
Bei der Darstellung meiner Arbeit liegt ein grundsätzliches Problem in der
Verwendung von Begriffen wie „der Islam“, „der Orient“, „der Westen“ oder
„die deutsche Gesellschaft“: Als scheinbar eindeutige Bezeichnungen wirken
sie wie Labels, die die Vielschichtigkeit der damit gemeinten Phänomene
einebnen und so das Bild homogener, statischer Einheiten vermitteln. Eine
Kennzeichnung durch Anführungsstriche oder eine Paraphrasierung
erscheint mir jedoch auch zweifelhaft – zum einen möchte ich keine
Verwechslung mit Zitaten riskieren, zum anderen lässt sich schwer
bestimmen, welche Begriffe als Labels hervorgehoben werden müssten und
4 http://www.spiegel-qc.de/deutsch/media/dokumente/partner/kurzportraet/spiegel_factsheet_2011.pdf (Datum des letzten Besuchs: 30.03.2011) 5 eigene Berechnung; Quelle: http://www.ivw.eu/index.php (Datum des letzten Besuchs: 27.03.2009)
5
welche nicht.6 Der Gefahr, die eine Nicht-Kennzeichnung von Labels birgt,
bin ich mir bewusst – dennoch halte ich die Begriffe für eine alltägliche
Verständigung für unvermeidlich. Die Tatsache, dass sie ihren Gegenstand
sehr unscharf und eindimensional wiedergeben, bedeutet meiner Ansicht
nach nicht, dass sie nichtssagend wären. Ich appelliere daher an meine
Leser, sich beim Lesen bewusst zu machen, dass sich hinter diesen
Begriffen verschiedene, zum Teil konkurrierende Inhalte, Entwicklungen und
Interpretationen verbergen.
Da meine Forschung durch die zeitliche Überschneidung mit meiner
journalistischen Ausbildung als Tageszeitungsvolontärin mehr Zeit in
Anspruch genommen hat als für eine Magisterarbeit üblich, sind die
untersuchten Artikel weniger aktuell als ursprünglich geplant. Damit sind
auch die Ergebnisse nicht ohne erneute Prüfung auf die heutige
Berichterstattung des Spiegel übertragbar. Auch habe ich nicht den
Anspruch, in meiner Arbeit alle Ursachen und Hintergründe des Islam-Bilds
im Spiegel offen zu legen; es bleiben zwangsläufig einige Faktoren
unberücksichtigt, die auf dieses Bild einwirken. Demnach sollen die Beiträge
über Muslime und Islam im Spiegel nicht als reine Manifestation von
Orientalismus gelesen werden. Die Orientalismus-Theorie bietet einen
Erklärungsansatz für die Position des Magazins, der jedoch andere
Erklärungsansätze nicht ausschließen soll.
Mit meiner Arbeit möchte ich – neben dem konkreten Erkenntnisziel meiner
Forschung – auf ein Phänomen aufmerksam machen, das in vielen Medien
und immer wieder zutage treten kann. Insofern soll diese Arbeit über die
konkrete Analyse des zugrunde liegenden Quellenmaterials hinaus auch
grundsätzlich für das Phänomen des Orientalismus in journalistischen
Darstellungsformen sensibilisieren und damit die Rezipienten von
Mediendiskursen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit journalistischen
Inhalten anregen.
6 Von den Begriffen „Islamismus“ oder „Islamist“ distanziere ich mich bewusst, indem ich sie durch Anführungszeichen als Kategorie anderer Autoren kennzeichne. Der Grund für meine Ablehnung dieser Begriffe liegt darin, dass sie mangels einer greifbaren Definition m. E. stark diffamierend und politisch klassifizierend wirken.
6
Kapitel 2 – Die Theorie
In den folgenden Kapiteln erläutere ich die theoretische Grundlage meiner
Arbeit und gebe einen Überblick über den bisherigen Forschungsstand zum
Islambild in deutschen Nachrichtenmagazinen.
Ich stütze mich dabei auf die Orientalismus-Theorie Edward W. Saids, die er
in seinem gleichnamigen Werk (Originaltitel „Orientalism“, erstmals
erschienen 1978) ausführlich darlegt. Das Buch wurde in mehr als 30
Sprachen übersetzt und hat zu einer weltweiten Debatte geführt, die bis
heute fortwirkt und ständig aktualisiert wird (Said 2003a:xv). Mehr als 30
Jahre nach seiner Erstveröffentlichung und bei aller Kritik, die daran
geäußert wurde (Varisco 2007, Porter 2005), gilt „Orientalism“ bis heute als
ein Standardwerk postkolonialer Kulturtheorie (Varisco 2007).
Indem ich Saids Orientalismus-Konzept als theoretische Grundlage meiner
Arbeit anwende, erkenne ich seine Befunde und Schlussfolgerungen
weitgehend an. Da ich meinen Schwerpunkt auf die empirische
Diskursanalyse der Spiegel-Beiträge lege, bleibt im vorgegebenen Rahmen
meiner Arbeit kein Raum für eine fachgerechte theoretische Kritik von Saids
Thesen. Zwar halte ich eine kritische Rezeption der Orientalismus-Theorie
grundsätzlich für sinnvoll und wünschenswert, jedoch sehe ich das Konzept
nicht in dem Maße in Frage gestellt, dass es als theoretisches Fundament für
meine Arbeit disqualifiziert würde.
Im folgenden Kapitel 2.1 gebe ich einen knappen Überblick über diejenigen
Aspekte der Orientalismus-Theorie, die für meine Arbeit relevant sind. Dabei
stelle ich Merkmale und Darstellungsmuster in den Vordergrund, an denen
ich mich bei der Analyse der Spiegel-Beiträge und der Auswertung meiner
Analyseergebnisse orientiere.
Im Kapitel 2.2 erläutere ich die Bedeutung journalistischer Publikationen für
die Wirkungsmacht des orientalistischen Diskurses.
Im Kapitel 2.3 gebe ich einen Überblick über den wissenschaftlichen
Forschungsstand zum Islam-Bild in deutschen Nachrichtenmagazinen.
7
Kapitel 2.1 – Was bedeutet Orientalismus?
Edward Said beschreibt Orientalismus als einen ideologischen Diskurs in
erster Linie westlicher Wort- und Schriftführer über den Orient7, der ein
ungleiches Machtverhältnis zwischen Westen und Orient konstituiert und bis
in die heutige Zeit aufrecht erhält (Said 2003a).8 Dabei werden drei zentrale
Prinzipien des Diskurses deutlich: Grundlegend für Orientalismus ist erstens
die Dichotomisierung, also die fundamentale Gegenüberstellung von Orient
einerseits und Westen andererseits – diese Dichotomie bezeichnet Said als
das zentrale Element des Orientalismus (ebd.:45).9 Dabei erfolgt, ausgehend
von einer Generalisierung sämtlicher Beobachtungen über den Orient
(ebd.:86), eine Essentialisierung, in der das „Wesen“ des Orients, aber auch
das der eigenen, westlichen Kultur, festgeschrieben wird (v.a. ebd.:104 ff.).
Die Untersuchung dieser Darstellungsmuster ist in mein
Forschungsinstrumentarium zur Analyse von Beiträgen des Spiegel über
Islam in Deutschland eingegliedert (s. Kapitel 3.1).
Said definiert vier „Dogmen“ des Orientalismus (ebd.:300 f.). Demnach
erscheint erstens der Orient als statisch, unterentwickelt, irrational und damit
dem fortschrittlichen, modernen, rationalen und aufgeklärten Westen
unterlegen (ebd.:300). Bei der Repräsentation und Rezeption des Orients
zieht der Orientalist zweitens Abstraktionen einer realitätsorientierten
Beweisführung vor (ebd.). Aus der Überzeugung, Orientalen seien aufgrund
mangelhafter Selbstreflexivität nicht in der Lage, sich selbst zu
repräsentieren, leiten Orientalisten drittens den Anspruch ab, für den Orient
zu sprechen und untermauern damit einen universellen Herrschaftsanspruch 7 Der Begriff „Orient“ muss in Hinblick auf Saids Theorie differenziert betrachtet werden: Einerseits bezeichnet er ein Territorium, dessen Grenzen jedoch nicht klar definiert sind (Said 2003a:116 f.), andererseits ist er eine „Idee“ (Said 2003a:5), ein „topos“ (ebd.:177), das mit Repräsentationen des vermeintlich Orientalischen aufgeladen und menschengemacht ist (ebd.:5). Beide Bedeutungen des Begriffs sind miteinander verbunden: die Idee umkleidet den Ort, der Ort impliziert die Idee in der westlichen Wahrnehmung. Hinzuzufügen ist, dass auch die Kategorie „westlich“ nicht eindeutig begrenzt und definiert werden kann. 8 Da ich an dieser Stelle nur eine knappe Skizze des orientalistischen Diskurses wiedergeben kann, lassen sich sehr abstrakte, allgemeine und zum Teil typisierende Darstellungen leider nicht vermeiden. Die Gefahr, dass dabei die handelnden Akteure in den Hintergrund treten, ist mir bewusst. Meine Leser bitte ich daher, den orientalistischen Diskurs nicht als Selbstläufer zu verstehen, sondern sich bewusst zu machen, dass dahinter individuelles Handeln steht. 9 Der Lesbarkeit halber gebe ich die Thesen Saids im Indikativ wieder. Die Verwendung des Konjunktivs wäre zwar korrekt, würde aber meiner Einschätzung nach das Verständnis des Textes beeinträchtigen und außerdem den Eindruck erwecken, ich wolle mich explizit von Saids Thesen distanzieren, was nicht der Fall ist.
8
des Westens (Said 2003a:21). Die Darstellung des Orients als Hort der
Gefahr, die möglichst kontrolliert werden muss, hebt Said als viertes
„Dogma“ des Orientalismus hervor (ebd.:301). Bei meiner Untersuchung von
Beiträgen aus dem Spiegel orientiere ich mich an diesen Charakteristika von
Orientalimus.
Der westliche Orientalist als geschulter Experte ist demnach allein befähigt,
den Orient in seinem Wesen zu erfassen; ihm ist es vorbehalten, den Orient
und die dort lebenden Menschen zu definieren, charakterisieren,
lexikalisieren und seinem Urteil zu unterwerfen. Seine Generalisierungen
und Theorien über den Orient gelten als wissenschaftlich objektive
Wahrheiten (ebd:46). Ausgestattet mit dieser Definitionsmacht kann der
westliche Orientalist den mysteriösen (ebd.:44), in seiner Fremdheit
furchteinflößenden Orient „domestizieren“ (ebd.:78) und seiner westlichen
Rezipientenschaft nahe bringen (ebd.:60). Die Logik westlicher Dominanz
und damit der imperialistischen Macht im weitesten Sinne bestimmt auf diese
Weise den orientalistischen Diskurs. Auch dieses Merkmal des
Definitionsanspruchs ist ein Untersuchungskriterium meiner Analyse.
Said beschreibt Orientalismus als eine dreiseitig wirksame Kraft (ebd.:67). In
erster Hinsicht wirkt sie auf den Orient, weil er der Definitionsmacht und
Herrschaft des Westens unterworfen und für sein Anders-Sein moralisch
verurteilt wird. Orientalismus als Diskurs wirkt jedoch auch auf den
Orientalisten: Er ist den diskursiven Spielregeln seiner Disziplin unterworfen;
die Festlegung dessen, was gesagt werden kann und was nicht, kann er
innerhalb dieser Spielregeln nur geringfügig beeinflussen. In letzter Hinsicht
wirkt Orientalismus auf den westlichen „Konsumenten“, der darauf
angewiesen ist, sich auf die Definitionen und Erkenntnisse des Orientalisten
zu verlassen, wenn er etwas über den Orient erfahren möchte. Indem der
Orientalist lediglich das Bild seiner Rezipienten bestätigt (ebd.:65), wirkt der
Orientalismus als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – sein
Gegenstand ist gleichzeitig sein Produkt, seine Untersuchungsergebnisse
bestätigen zwangsläufig seine Hypothesen. Selbst Abweichungen können –
mittels weiterer Essentialisierung – in das bestehende Orient-Bild integriert
werden (ebd.:102 f.). Was dabei herauskommt, ist ein Orient, wie er
sprichwörtlich „im Buche steht“ – jedoch ist in diesem Bild nicht mehr
9
erkennbar, welche Zensur oder Manipulation der Orientalist bei seiner Arbeit
vorgenommen hat (ebd.:129). Im Zuge meiner Analyse richte ich daher mein
Augenmerk auch darauf, ob Autoren Stereotype oder
Wiedererkennungseffekte einsetzen, um ihre Thesen zu untermauern.
Besondere Bedeutung misst Said dem „Islam-Orientalismus“ (ebd.:261) bei.
Diese Disziplin, die die fremde Religion als homogene, transzendentale
Instanz darstellt, betont die traditionelle Abgrenzung des christlichen
Okzidents gegen den „gefährlichen“ Islam (ebd.:260). „Der Islam“ gilt als
resistent gegen Modernisierung (ebd.:260 f.), und da sie das gesamte
orientalische Leben traditionell von den Prinzipien und Beschränkungen des
Islam durchwirkt sehen (ebd.:279), erheben die Islam-Orientalisten die
Kategorien „orientalisch“ und „abendländisch“ zu einem prinzipiellen
Gegensatz (ebd.:262 f.). Diesen Zweig des Orientalismus bezeichnet Said,
selbst in Vergleich mit anderen orientalistischen Disziplinen, als beispiellos
regressiv und ideologisch wie methodologisch rückständig (ebd.:261).
Aus Saids Hervorhebung des Islam-Orientalismus als moderner Ausprägung
orientalistischer Tradition (ebd.:260 f.) leite ich – neben meinem persönlichen
Interesse an der Repräsentation von Muslimen in Deutschland – meinen
Fokus auf Islam und Muslime bei meiner Analyse ab.
Das Fortwirken der zunehmend unsichtbaren und verinnerlichten Prinzipien
und Mechanismen des Orientalismus bis in die heutige Zeit ist für Said
ebenso aktuell wie brisant – elektronische Medien (ebd.:27) und Presse
(ebd.:108) sieht er als Multiplikatoren von modernem Orientalismus. In den
zeitgenössischen Orientalisten des 21. Jahrhunderts sieht Said die
ideologischen Zuarbeiter für die von den USA geführte Invasion in den Irak –
ein Krieg, den Said unmittelbar in die Tradition des westlichen Imperialismus
stellt (ebd.: xviii ). Noch deutlicher als in seinem Standardwerk „Orientalism“
wird Said in einem 2003 erschienenen Artikel in Le Monde diplomatique:
„Ohne das systematisch produzierte Gefühl, diese fernen Völker im Nahen
Osten seien nicht wie ‚wir’ und würden nicht ‚unsere’ Werte hochhalten – und
das genau macht den Kern des Orientalismus-Dogmas aus –, hätte es
keinen Krieg gegeben.“10
10 http://www.monde-diplomatique.de/pm/2003/09/12/a0005.text.name,askgc4jFO.n,10 (Datum des letzten Besuchs: 02.04.11)
10
Kapitel 2.2 – Wozu die Frage nach journalistischem Orientalismus?
Dass Orientalismus sich auch in journalistischen Texten manifestiert,
erwähnt Said bereits in seinem Standardwerk „Orientalism“ (Said 2003a:23).
In „Covering Islam“ (Said 1981) führt er die Rolle des Journalismus bei der
Darstellung von Islam für ein westliches Publikum detaillierter aus. Dabei
zeigt er auf, welche Wirkungsmacht Orientalismus in medialen Diskursen
entfaltet – die zentrale orientalistische These einer Dichotomie zwischen
„Orient und Okzident“ erscheint als ideologische Grundlage der damaligen
US-amerikanischen Berichterstattung über Islam (ebd.:40). Als Vertreter der
einen Seite dieser Dichotomie sieht Said westliche Journalisten in einem
kulturellen Konsens verhaftet, der Nachrichten definiert, ihren Inhalt und ihre
Darstellung bestimmt (ebd.:48 f.). Dabei behalten Journalisten zwar
grundsätzlich die Gestaltungsmacht über die Inhalte, die sie an ihre Leser
weitergeben – sie wählen aus, welche Informationen und Bilder sie publik
machen und mit welchen Mitteln sie sie darstellen (ebd.:46). Gerade in
komplexen Situationen, die das Verständnis westlicher Reporter und ihr von
Orientalismus geprägtes Islambild herausfordern, sieht Said jedoch die
Tendenz, dass Journalisten zugunsten stereotyper Bilder und Konzepte auf
eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fremden verzichten (ebd.:xi f.).
Der kulturelle Konsens wirkt als „unsichtbare Linie“ (ebd.:49 f.), die den
Horizont von Journalisten insofern eingrenzt, als dass kritische,
faktenorientierte Recherche gar nicht notwendig erscheint (Hall
Jamieson/Waldmann 2003:1).
Neben dieser ideologischen Kongruenz lassen sich auch in der Methodik von
Journalisten und Orientalisten Parallelen feststellen: Genauso wie der
Orientalist ein „Porträt“ des Orients zusammenstellt (Said 2003a:151), indem
er bestimmte Ausschnitte aus seinen Beobachtungen als essentiell auswählt
und hervorhebt (ebd.:247), so wählt auch ein Journalist Beobachtungen und
Informationen, Szenen und Protagonisten aus, um seine Geschichte oder
Nachricht zu vermitteln. Er kann nicht einfach Realität wiedergeben, „so wie
sie ist“ (Said 1981:44). Er muss auswählen: Was ist wichtig, was ist
wesentlich – auch: welche Information ist vor dem Hintergrund eines
gesellschaftlichen Konsenses überhaupt annehmbar (Hall
11
Jamieson/Waldmann 2003:xiii). Journalistische Texte sind demnach
mosaikähnliche Bilder der Realität, die zwar einerseits Neuigkeiten bergen,
andererseits aber auch grundsätzlich für wahr Befundenes bestätigen
(Nesbitt-Larking 2001:99). Der Journalist beachtet also herrschende
Ideologien und kulturelle Verstehensmuster bei der Auswahl der
Informationen, aus denen er seine Geschichte macht (Hall 1979).
Eine weitere Parallele zwischen Orientalismus und Journalismus liegt in der
Definitionsmacht beider Professionen begründet: Wie der Orientalist seine
westlichen Leser mit dem Orient „bekannt macht“ (Said 2003a:60), bereiten
auch Journalisten den Islam für ein westliches Medienpublikum auf (Said
1981:x f.). Hier spielt die gesellschaftliche Position der Medien eine wichtige
Rolle: Ihre Aufgabe ist es, Informationen und Debatten aus den
„Spezialdiskursen“ (Jäger 2004:15) der Politik, Wissenschaft, Kultur usw.
öffentlich zu machen und so in den Alltagsdiskurs ihrer Rezipienten zu
transportieren (Hall Jamieson/Waldmann 2003:xii). Auch der orientalistische
Diskurs wirkt sich nach Saids Definition auf mehreren Ebenen aus (Said
2003a:23). Als Kommunikatoren zwischen den verschiedenen
gesellschaftlichen Sphären scheinen die Medien also geradezu prädestiniert
dazu, auch orientalistische Diskurse und „Diskursfragmente“ (Jäger 2004:15)
zu verbreiten.
Die dreifache Wirkungsmacht der orientalistischen Tradition, die Said in
„Orientalism“ beschreibt (s. Kapitel 2.1), entfaltet sich so auch im medialen
Diskurs über Islam: Primär wirkt er sich auf Muslime aus, die durch
orientalistische Repräsentation der Deutungshoheit westlicher Journalisten
unterworfen und abgewertet werden (s. Kapitel 2.1). Zugleich werden auch
Journalisten durch den Diskurs festgelegt und eingeschränkt (Said 1981:49
f.). In dritter Hinsicht wirkt der Diskurs auf die Rezipienten von Medien, deren
Bild von Islam maßgeblich durch die journalistischen Repräsentationen, die
sich linientreu dem hegemonialen Diskurs über Islam anschließen,
beeinflusst wird (ebd.:161). Die Diskrepanz zwischen dem so konstruierten
Islambild und der gesellschaftlichen Verantwortung und Sorgfaltspflicht der
Medien führt Said explizit vor:
The success of this coverage can be attributed to the political influence of those people and
institutions producing it rather than necessarily to truth or accuracy.
12
The result has been the triumph not just of a particular knowledge of Islam but rahter of a
particular interpretation which, however, has neither been unchallenged nor impervious to
the kinds of questions asked by unorthodox, inquiring minds.“ (ebd.)
Ziel meiner Arbeit ist es, genau diese kritischen Fragen an die
Berichterstattung des Spiegel heranzutragen, indem ich die beschriebenen
Auswirkungen von Orientalismus auf den journalistischen Diskurs über Islam
in meiner Analyse der ausgewählten Artikel des Magazins über Muslime in
Deutschland überprüfe.
Kapitel 2.3 – Stand der Forschung
Welche Forschungsergebnisse liegen bislang zur Darstellung des Themas
„Islam in Deutschland“ im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vor? Zunächst ist
festzustellen, dass es keine aktuellen Studien11 gibt, die genau mein
Forschungsvorhaben widerspiegeln. Es existieren jedoch einige
Forschungen, die sich im diskursiven Umfeld meines Forschungsthemas
ansiedeln lassen. Zu nennen sind die Diskursanalyse von Alexander Görlach
zur Berichterstattung über den Karikaturen-Streit in deutschen Printmedien
(Görlach 2009), Cosima Liviana Krögers Untersuchung der Magazine
Spiegel und Fokus in Hinblick auf das Thema „Religion“ (Kröger 2008), Maria
Röders Studie zum Bild der Muslima im Spiegel (Röder 2007), Bernadette
Kneidingers Vergleich der Golfkrieg-Berichterstattung in Spiegel und Focus
(Kneidinger 2005), die Studie von Kai Hafez zum „Nahost- und Islambild in
der deutschen überregionalen Presse“ (Hafez 2002), der Beitrag von
Thomas Kliche, Suzanne Adam und Helge Jannik mit einer Diskursanalyse
zur Konstruktion von „Islam“ im Spiegel im Sammelband „Politische
Psychologie der Fremdenfeindlichkeit – Opfer – Täter – Mittäter“
(Kliche/Adam/Jannik 1999), die Analyse des Islambilds im Spiegel von Detlef
Thofern (Thofern 1998), sowie Michael Vogts Beitrag zum Islambild im
11 Ich habe mich bei der Suche nach passender Literatur nicht strikt an die Richtlinie gehalten, nach der aktuelle Literatur nicht älter als zehn Jahre sein sollte, um nicht einzelne Publikationen zu übersehen, die trotz ihrer Inaktualität interessante Hinweise liefern. Die älteste hier berücksichtigte Publikation stammt aus dem Jahr 1996.
13
Spiegel in der Anthologie „Sichtbares und Unsichtbares – Facetten von
Religion in deutschen Zeitschriften“ (Vogt 1996). 12
Der wichtigste Unterschied dieser Forschungen zu meiner Untersuchung
besteht darin, dass die zur Analyse ausgewählten Spiegel- Beiträge teilweise
oder ganz aus dem Bereich der Auslandsberichterstattung stammen. Sie
klammern also die Berichterstattung über das Thema „Islam in Deutschland“
entweder komplett aus oder behandeln sie nur als Ausschnitt eines viel
umfassenderen Materialfundus. Zudem wurden bisher vorwiegend Spiegel-
Beiträge untersucht, deren Veröffentlichung mehrere Jahrzehnte zurückliegt
und die daher nicht mehr als Zeugnisse des aktuellen Islam-Diskurses im
Spiegel gelten können (Hafez 2002; Röder 2007; Kliche [u.a.] 1999; Thofern
1998; Vogt 1996). Dies ist vor allem deshalb der Fall, da die Terroranschläge
des 11. September 2001 außerhalb des jeweiligen Untersuchungszeitraums
liegen – dieses besonders starke „diskursive Ereignis“ (Jäger 2004:162 f.)
markiert einen Einschnitt sowohl in der Wahrnehmung als auch der
Darstellung des Thema Islam durch westliche Medien (Zelizer/Stuart 2002).
Zudem wurden in einigen der erwähnten Studien mehrere Printmedien
zugleich untersucht, wodurch die Besonderheiten des Spiegel nicht immer
klar in den Forschungsergebnissen erkennbar sind (Hafez 2002; Kneidinger
2005; Kröger 2008). Abgesehen von den Unterschieden zu meiner Studie,
die sich auf die Materialauswahl beziehen, variieren auch die Themen und
damit die Erkenntnisinteressen der aufgeführten Studien. Der Bezug auf die
Orientalismus-Theorie, die in meiner Untersuchung eine wichtige Rolle spielt,
kommt nur bei Hafez, Röder, Thofern und Vogt vor. Die Methode der
kritischen Diskursanalyse wenden nur Kliche, Adam und Jannik sowie
Görlach an.
Dennoch liefern die Ergebnisse dieser unterschiedlichen Studien
interessante Hinweise für meine Forschung, weshalb ich einige Befunde
wiedergeben möchte:
12 Weitere Beiträge zum Thema finden sich in der von Bärbel Röben herausgegebenen Anthologie „Verwaschen und verschwommen – fremde Frauenwelten in den Medien“ (Röben 1996), in dem Reader „’Heiliger Krieg’ gegen den Westen. Das Gewaltbild des Islam in der deutschen Presse“ von Kai Hafez (Hafez 1996) oder in dessen Aufsatz „Antisemitismus, Philosemitismus und Islamfeindlichkeit: ein Vergleich ethnisch-religiöser Medienbilder“ (Hafez 1999). Da in diesen Beiträgen jedoch kein eigenständiger wissenschaftlicher Forschungsanspruch erkennbar ist, klammere ich sie in diesem Kapitel zum aktuellen Stand der Forschung aus.
14
Zum ersten fällt auf, dass alle Studien dem Spiegel eine deutliche Tendenz
zur negativen Generalisierung und Stereotypisierung attestieren, und zwar
nicht nur angesichts von Beiträgen aus vergangenen Jahrzehnten (Görlach
2009; Röder 2007; Hafez 2002; Kliche [u.a.] 1999, Thofern 1998; Vogt 1996),
sondern auch hinsichtlich aktueller Publikationen (Kröger 2008; Kneidinger
2005). Michael Vogt spricht sogar von „einer an Demagogie grenzenden
Indoktrination“ (Vogt 1996:293). Laut Kai Hafez verhält sich der Spiegel
konform zu den Gepflogenheiten der deutschen überregionalen Presse, der
er allgemein eine Negativdarstellung des Islam sowie „essentialistische
Kulturvorstellungen“ (Hafez 2002:304) vorwirft:
In der extremen Negativbelastung eines zentralen Kulturmusters (wie des Islam), nicht in der
überdurchschnittlichen Repräsentanz von Gewalt und Konflikten (wie Kriegen), liegt eine
Besonderheit des Nahost- und Islambildes [...] in der Presse. (ebd.:296)
Thomas Kliche, Suzanne Adam und Helge Jannik attestieren dem Spiegel
eine Stilisierung von Islam als angriffslustiges, fremdes „Außen“ gegenüber
einer „Wir“-Gemeinschaft (Kliche [u.a.] 1999:312), in der das Magazin sich
und seine Leser verortet (ebd.:321). Hafez, Röder, Thofern und Vogt
verzeichnen außerdem eine unverhältnismäßige Konzentration der Presse
bzw. des Spiegel auf den Islam als politischen Faktor (Hafez 2002:294;
Röder 2007:83; Thofern 1998:137; Vogt 1996:285f.); der Islam werde, so
Hafez,
„stellenweise massiv zur Erklärung politischer Vorgänge herangezogen [...] [was]
essentialistische Abgrenzungen gegenüber anderen Kulturen (Islam als ‚unvereinbar’ mit
Menschenrechten) befördern kann“ (Hafez 2002:310, Ergänzung von A.T.).
Diese beobachtete starke Gewichtung der politischen Aspekte des Islam
hängt sicherlich auch damit zusammen, dass „diskursive Ereignisse“ wie die
Ölkrise 1973, die Iranische Revolution 1978/79 und die sogenannte Rushdie-
Affäre im jeweiligen Untersuchungszeitraum der Studien liegen.
Ein weiterer Befund, zu dem mehrere Studien kommen, besagt, dass der
Islam in den untersuchten Spiegel-Beiträgen häufig als bedrohlich oder
gewalttätig dargestellt wird (Görlach 2009:109; Kneidinger 2005:150; Hafez
15
2002:296; Kliche [u.a.] 1999:311; Thofern 1998:138; Vogt 1996:291 ff.).
Thofern, Kliche, Adam und Jannik sowie Vogt verzeichnen außerdem eine
Charakterisierung von Muslimen als irrational oder fanatisch (Kliche [u.a.]
1999:317; Thofern 1998:136; Vogt 1996:286,288 f.) Hierbei ist jedoch
anzumerken, dass fast alle dieser Befunde sich auf Spiegel-
Veröffentlichungen vergangener Jahrzehnte beziehen.
In den Forschungsergebnissen der oben aufgeführten Studien finden sich
demnach verschiedene Merkmale orientalistischer Darstellungsmuster
wieder (s. Kapitel 2.1). Auch wenn die unterschiedlichen
Forschungsvariablen keine direkte Antwort auf meine Forschungsfrage zu
orientalistischen Darstellungen bei der Berichterstattung über Islam in
Deutschland zulassen, zeichnet sich dennoch eine grundsätzliche
ideologische Verwurzelung des Spiegel im orientalistischen Diskurs ab.
16
Kapitel 3 – Die Analyse
In den folgenden Kapiteln stelle ich die Ergebnisse meiner Strukturanalyse,
das Dossier und meinen Interpretationsschlüssel sowie die Ergebnisse der
Feinanalyse vor. Das Kapitel 3.1 beginnt mit einer Erläuterung der Kriterien,
an denen ich das Thema „Islam in Deutschland“ festmache – nach diesen
Kriterien richtet sich die Auswahl der Spiegel-Beiträge für die
Strukturanalyse. Die Ergebnisse der Strukturanalyse untergliedere ich in die
Auflistung quantitativer Befunde wie die Zahl der untersuchten Artikel sowie
die Zahl und Häufigkeit der darin vorkommenden Themen und Unterthemen
und in einige qualitative, vorläufige Befunde, die sich aus der Anschauung
des Materials ergeben. In Kapitel 3.2 stelle ich das aus der Strukturanalyse
gewonnene Dossier von Artikeln vor, die ich für die Feinanalyse auswähle.
Zudem führe ich in dem Kapitel meinen Schlüssel mit elf
interpretationsleitenden Fragen auf und erläutere die Zielrichtung der
einzelnen Fragen in Hinblick auf mein Forschungsinteresse. In Kapitel 3.3
fasse ich die Ergebnisse der Feinanalyse zu jedem einzelnen Artikel des
Dossiers in Unterkapiteln zusammen.
Die Vielschichtigkeit und Breite des Diskurses zum Thema „Islam in
Deutschland“, der schon in der Strukturanalyse deutlich wird, zwingt mich zu
einer umfangreichen und kleinteiligen Analyse und einer Auswertung des so
entstandenen Materialkorpus’ in mehreren Schritten. Um den vorgegebenen
Umfang meiner Magisterarbeit einzuhalten, muss ich also meine Ergebnisse
stark raffen – für die „Entstehungsgeschichte“ meiner Erkenntnisse lässt die
Arbeit keinen Raum. Das Problem, das dadurch für die Leser meiner Analyse
entsteht, fassen Thomas Kliche, Suzanne Adam und Helge Jannik treffend
zusammen:
„DA [Diskursanalyse, Zusatz von A.T.] steht (...) im Dilemma zwischen Plausibilisierung und
Darstellungsökonomie. Die Ergebnisse können vorgestellt, nicht aber alle Beweise (...)
ausgebreitet werden. Die angeführten Beispiele sind nicht die vollständige Interpretation; sie
illustrieren, sie beweisen nicht.“ (Kliche/Adam/Jannik 1999:309)
Um dennoch annähernd transparent zu machen, wie ich zu meinen
Ergebnissen komme, füge ich die Text-Steckbriefe aus der Strukturanalyse,
17
meine Notizen aus der Feinanalyse und die Interpretation dieser Notizen
anhand des Schlüssels dem Anhang in digitaler Form auf einer CD bei.
Diese Daten sind jedoch nicht als erweiterte Version meiner
wissenschaftlichen Aufbereitung der Analyse zu verstehen – sie sind rohe
Notizen, die den Prozess meiner Auseinandersetzung mit dem
Forschungsgegenstand dokumentieren. Die Inhalte sind dementsprechend
nicht immer deckungsgleich mit meinen letztendlichen Ergebnissen: Im Zuge
der Analyse habe ich einzelne Befunde verworfen, in anderen Fällen kamen
neue Erkenntnisse dazu. Auch enthalten die Notizen gelegentlich Verweise
auf meine persönlichen Empfindungen bei der Arbeit, die für die
Beantwortung meiner Forschungsfrage nicht relevant und somit nicht in die
Ausarbeitung der Analyseergebnisse einflossen sind.
Kapitel 3.1 – Die Methode
Für die Analyse der ausgewählten Spiegel-Beiträge verwende ich die
kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger (Jäger 2004), die der Sprach-
und Sozialwissenschaftler erstmals 1993 vorstellte. Jäger stellt damit ein
methodologisches Verfahren bereit, das von denselben diskurstheoretischen
Grundlagen ausgeht wie Said in seiner Orientalismus-Theorie; für beide
spielt der Diskursbegriff Michel Foucaults eine zentrale Rolle:
Diskurse sollen hier – vorläufig formuliert - als eine artikulatorische Praxis begriffen werden,
die soziale Verhältnisse nicht passiv repräsentiert, sondern diese als Fluß [sic] von sozialen
Wissensvorräten durch die Zeit aktiv konstituiert und organisiert. [Fußnote:] Mit dieser
Bestimmung orientiere ich mich strikt an Foucaults Verständnis von Diskurs. (Jäger 2004:23,
Zusatz von A.T.)
I have found it useful here to employ Michel Foucault’s notion of a discourse, as described
by him in The Archeology of Knowledge and in Discipline and Punish, to identify Orientalism.
(Said 2003a:3, kursiv im Original)
Entsprechend beschreiben beide dasselbe Verhältnis von Text und Diskurs.
Texte gelten als „gesellschaftliche Produkte“ (Jäger 2004:24; Said
2003a:xxix). Jäger begreift Texte als „Fragmente von Diskursen“ (Jäger
18
2004:13), die auch als individuelle Sprachhandlungen einzelner Sprecher
oder Schreiber immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu
betrachten sind (ebd.:15). Der einzelne Text steht also nicht für sich, sondern
im Zusammenhang mit weiteren Texten, die sich um einen Gegenstand
gruppieren und so die Wahrnehmung dieses Gegenstandes maßgeblich
mitgestalten. Diesen Zusammenhang beschreibt auch Said in seinem Buch
„Orientalism“, in dem er einzelne Texte als repräsentative „Fragmente“ des
gesamten orientalistischen Diskurses klassifiziert (Said 2003a). Die
Annahme, dass der Diskurs „Handeln bestimmt und verfestigt und also auch
schon Macht ausübt“ (Link 1983a, zit. nach Jäger 2004:128), spielt ebenfalls
für die kritische Diskursanalyse wie für die Orientalismuskritik eine
elementare Rolle. Angesichts dieser diskurstheoretischen Parallelen
zwischen Jäger und Said bietet sich die kritische Diskursanalyse zur
Untersuchung orientalistischer Repräsentationen an. Entscheidend ist für
mich zunächst nicht die ideologische Bewertung des Diskurses, sondern
dass die theoretischen Grundannahmen und damit auch die Bedeutung, die
den Analyseergebnissen beigemessen wird, bei Jäger und Said insofern
gleich sind, als dass sie auch einzelnen Texten eine gesamtgesellschaftliche
Wirksamkeit beimessen. Dennoch gehe ich davon aus, dass letztendlich
auch der Anspruch der kritischen Diskursanalyse, auf gesellschaftliche und
politische Verhältnisse einzuwirken, indem „das je anders Mögliche benannt
und das vermeintlich Selbstverständliche infragegestellt [sic]“ wird (Jäger
2008:9), einen fruchtbaren Ansatz für mein Forschungsvorhaben darstellt.
Die kritische Diskursanalyse eignet sich für die Untersuchung von Medien, da
sie über die Analyse der formal-sprachlichen Merkmale des Textes hinaus
auch die „transportierten Inhalte und Vorstellungen“ (Jäger 2004:14)
berücksichtigt. Ich frage also nicht nur danach, wie etwas sprachlich
dargestellt wird, sondern auch, welche Informationen und Assoziationen das
Magazin an seine Leser weitergibt. Diese doppelte Ausrichtung kommt
beiden Aspekten meiner Forschungsfrage – Wie stellt der Spiegel das
Thema „Islam in Deutschland“ dar und wie positioniert er sich damit zum
orientalistischen Diskurs – entgegen.
In den folgenden Kapiteln sollen nun die ausgewählten Spiegel-Beiträge als
Zeugnisse eines gesellschaftlichen Diskurses und als Festschreibungen
19
sozial anerkannten „Wissens“ untersucht werden. In der Terminologie Jägers
bedeutet das: Ich möchte den „Diskursstrang“ zum Thema „Islam in
Deutschland“ anhand einzelner „Diskursfragmente“, also einzelner
Textbeiträge, deren Veröffentlichungszeitpunkte zwischen den „synchronen
Schnitten“ Beginn 2006 und Ende 2008 liegen, auf der „Diskursebene“ der
Medien, genauer gesagt auf der Diskurslinie13 des Nachrichtenmagazins Der
Spiegel, untersuchen mit dem Ziel, die „Diskursposition“ des Magazins in
Hinblick auf den „hegemonialen“ Diskurs des Orientalismus zu ermitteln.
Mit diesem Vorhaben klammere ich einige Instrumente der kritischen
Diskursanalyse aus, die für umfassendere Forschungsprojekte vorgesehen
sind. Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Medien oder
Diskursebenen (etwa zwischen medialer Ebene und Alltagsdiskurs) kann ich
im Rahmen meiner Forschung nicht untersuchen. 14 Von Analyseschritten, in
denen die „Genealogie“ des Diskursstranges ermittelt werden könnte (Jäger
2004:201), um daraufhin Prognosen über weitere Entwicklungen aufstellen
zu können (ebd.:169), sehe ich ebenfalls ab.
Diese Auslassungen wirken sich auf mein Forschungsinstrumentarium aus:
Untersuchungen zur früheren Spiegel-Berichterstattung zum Thema „Islam in
Deutschland“ oder zu Wechselbeziehungen zwischen thematisch
verschiedenen Beiträgen (ebd.:176), Untersuchungen zum allgemeinen
„diskursiven Kontext“ (ebd.:190) sowie eine „synoptische Analyse“ mehrerer
Medien (ebd.:194) erübrigen sich. Da die meisten Spiegel-Beiträge von
mehreren Autoren verfasst werden und der individuelle Einfluss kaum
nachvollziehbar ist, verzichte ich auch auf Recherchen zu einzelnen Autoren
(ebd.:177).
Durch diese Modifizierungen werde ich also nicht alle Mittel der kritischen
Diskursanalyse ausschöpfen, sondern mich gezielt der Werkzeuge bedienen,
die mir in Hinblick auf mein Erkenntnisinteresse sinnvoll erscheinen.
13 Der Begriff „Diskurslinie“ stammt nicht von Jäger, sondern ist von mir zusätzlich eingeführt worden. Da der Terminus „Diskursebene“ nach Jägers Definition nur auf das gesamte Medienspektrum anwendbar ist (Jäger 2004:117, 164), identifiziert der Begriff „Diskurslinie“ ein einzelnes Medium, das, um bei dem geometrischen Bild Jägers zu bleiben, mit anderen Diskurslinien die Diskursebene formt. 14 Publikationen anderer Medien, die ich ggf. hinzuziehen werde, um das Bild des Spiegels zu relativieren oder einen alternativen stilistischen und inhaltlichen Umgang mit dem Thema aufzuzeigen, sollen nur am Rande eine Rolle spielen.
20
Im Gegenzug erweitere ich das Instrumentarium, indem ich konkrete
Befunde aus Saids Untersuchungen (Said 2003a; Said 1981) als zusätzliche
Analysekriterien aufnehme. So möchte ich etwa bei der Untersuchung der
Text-Oberfläche auch den Umgang mit Quellentexten oder
Expertenmeinungen berücksichtigen und die einzelnen Beiträge gezielt auf
Generalisierungen, Essentialisierungen und Dichotomien hin überprüfen.
Damit berücksichtige ich den Hinweis Jägers, dass
(...) die gewählte Methodologie von den vorausgesetzten theoretischen Grundannahmen
jeweils abhängig ist und in Auseinandersetzung mit den zu untersuchenden Gegenständen
weiter modifiziert werden muss. (Jäger 2004:56)
Kapitel 3.2 – Ergebnisse der Strukturanalyse
In der strukturierenden Voranalyse untersuche ich sämtliche Beiträge des
Spiegel der Jahrgänge 2006 bis 2008, in denen erstens Muslime im
Vordergrund stehen und zweitens deren muslimische Identität und ihr Leben
und Wirken in Deutschland eine signifikante Rolle spielen. Anhand dieser
Kriterien definiere ich das Thema „Islam in Deutschland“. In einigen Fällen ist
die Bestimmung eine Gratwanderung: In den zahlreichen Beiträgen über den
Fall Murat Kurnaz etwa verschiebt sich die Debatte von der Hauptfigur
Kurnaz hin zu Frank-Walter Steinmeier, dessen Verantwortung als
Kanzleramtschef und Außenminister zunehmend in den Fokus rückt
(Nr.4/2007, S. 34 ff.; Nr.5/2007, S. 32 ff.). Eine ähnliche Verschiebung ist in
der Berichterstattung über die Berliner Rütli-Schule zu beobachten, in der
Anfangs muslimische Schüler im Vordergrund stehen (Nr.14/2006, S. 22 ff.),
wobei sich der Diskurs später auf Krisenmanagement an Schulen allgemein
ausweitet (Nr.15/2006, S.38). Besonders schwierig ist die Einordnung von
Texten, in denen eine muslimische Identität der Protagonisten eher
suggeriert als belegt wird (Nr.38/2007, S. 58 ff.; Nr.41/2007, S. 74;
Nr.6/2008, S. 12; Nr.8/2008, S. 70) – in den meisten dieser Fälle, in denen es
häufig um Gewalt oder soziale Probleme geht, sehe ich von der Aufnahme in
den Materialkorpus ab, um nicht der Suggestion aufzusitzen, hinter den
21
beschriebenen Problemfällen würden sich vorwiegend Muslime verbergen.15
Nach dieser Auswahl umfasst der Materialkorpus 122 Beiträge und
insgesamt ca. 250 Seiten Text.
Bei der Strukturanalyse erfasse ich Titel, Länge, Inhalt, Genre16, die
wichtigsten Themen und Unterthemen, Verschränkungen mit anderen
Diskurssträngen und die Kernaussage eines Textes in einem Steckbrief und
versehe ihn mit einer Quellenangabe; zudem finden sich in den Text-
Steckbriefen gelegentliche Anmerkungen zu den einzelnen
Untersuchungskriterien.17 In die Kategorie „wichtigste Themen“ fallen dabei
diejenigen Themen, die bei einer Zusammenfassung der wesentlichen
Textaussagen zutage treten. Als „wichtigste Unterthemen“ gelten mir die
Themen, die bei einer verfeinerten Ausführung der Textaussagen auftreten
oder „nebenbei“ gesagt, angedeutet oder hinzugefügt werden. Unterthemen,
die nur knapp angerissen werden, die jedoch Assoziationen hervorrufen und
so die Wahrnehmung des Berichteten lenken oder beeinflussen, stehen in
Klammern. Die Gewichtung eines Themas richtet sich nach meinem
Forschungsinteresse. Eine gesonderte Auflistung von Kollektivsymbolen
schien mir wegen des Umfangs und der thematischen Diversität der Texte
nicht sinnvoll.
Insgesamt lassen sich 63 Themen und Unterthemen herausarbeiten (die
Zahlen geben die Häufigkeit in Prozent an):
Justiz/Behörden 81 international. Kampf gegen Terror 17 Familie 66 Parallelgesellschaft 16 Glaube 65 Frauen im Islam 15 Gewalt/Gewaltverbrechen 63 Konversion 15 zwei Welten 57 interkultureller Dialog 14 Integration 54 Kopftuch 14 Islamismus 54 Überwachung 12 Terrorismus 52 Kunst/Kultur 11 Politik 46 islamisches Recht/Scharia 11 Werte 44 Ehrenkodex 10 Sprache 40 Kampf der Kulturen 10
15 Auch die Steckbriefe der ausgesonderten Texte sind dem Anhang beigefügt. 16 Eine eindeutige Bestimmung des Genres ist nicht immer möglich (vgl. Kapitel 1); die Angaben in den Text-Steckbriefen sind daher als ungefähre Einordnung zu verstehen. 17 Diese Anmerkungen habe ich bewusst stehen lassen, um meine Reflexionen und Entscheidungsprozesse transparent zu machen.
22
Emotionen 36 Kriminalität 10 Bildung 36 Terror-Ausbildung im Ausland 10 Identität 33 Moscheen in Deutschland 10 soziale Ungleichheit 32 Zwangsheirat 9 innere Sicherheit 32 Guantanamo 9 Jugendliche 29 Jugendliche/Kinder 9 Bürokratie 28 Patriarchat 8 Dschihad 27 Abschottung 8 Verfassungsschutz 27 Ghettoisierung 8 Diplomatie 26 Nationalismus 7 Schule 25 Sport 6 Geheimdienste 25 Rechtsextremismus 6 Unterdrückung 24 Rechtsstaat 6 Diskriminierung 23 Ehrenmord 6 Al Qaida 22 Karikaturenstreit 4 muslimische/türkische Organisationen 19 Militär 4 Bedrohung 19 Meinungsfreiheit 3 Eskalation 18 Gesundheit 3 Türken in Deutschland 18 Wissenschaft 1 Internet/virtuelle Räume 18 Verhältnis von Staat und Religion 1 Arbeit/Wirtschaft 17
Die verhältnismäßig hohe Anzahl der Themen und Unterthemen liegt meiner
Einschätzung nach darin begründet, dass ich mit dem Fokus auf Muslime in
Deutschland nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasse;
hier zeichnet sich ab, wie weit der Mediendiskurs über Islam verzweigt ist
und welches Wirkungspotenzial er durch seine Vielschichtigkeit entfaltet.
Zugunsten dieser Vielschichtigkeit verzichte ich weitgehend auf Raffungen
und Vereinfachungen. In bestimmten Fällen (etwa dem Thema „Arbeit /
Wirtschaft“ oder „Justiz / Behörden“) ist eine Raffung deshalb sinnvoll, weil
eine Auflistung etwa von einzelnen Berufsgruppen oder einzelnen Behörden
keine bedeutende inhaltliche Differenzierung bewirkt hätte. Die
Hervorhebung einzelner, auf den ersten Blick sehr partikular wirkenden
Themen wie „Kopftuch“ oder „Guantanamo“ entspricht der prominenten
Position dieser Schlüsselbegriffe innerhalb des Diskurses. So ergeben sich
Themen von unterschiedlichem Abstraktionsgrad, die jedoch die inhaltlichen
Schwerpunkte der untersuchten Texte widerspiegeln.
Bei der Voranalyse zeichnen sich grob zwei Themenfelder ab: Einerseits das
Themenfeld „Integration“, andererseits „Islamismus“. Beiden Themenfeldern
23
sind wiederum Beiträge mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten
zuzuordnen – so fallen etwa Beiträge über Schule, Jugendliche,
Zwangsheirat, interkulturellen Dialog oder Sprache eher in das Themenfeld
„Integration“, wohingegen Beiträge über Terroristen, innere Sicherheit,
Dschihad oder internationale Terrorismusbekämpfung dem Themenfeld
„Islamismus“ zuzurechnen sind. Obwohl das Feld „Integration“ inhaltlich
heterogener ist als das Feld „Islamismus“, ist die quantitative Verteilung
ungefähr gleich. Die beiden Themenfelder sind jedoch nicht als getrennte
Einheiten zu sehen – einige Themen wie Familie, Glaube, Justiz / Behörden,
zwei Welten oder Gewalt / Gewaltverbrechen kommen sowohl in
„Integrations-Texten“ als auch in „Islamismus-Texten“ vor, was auch die
Häufigkeit dieser Themen bzw. Unterthemen erklärt.
Obschon eine sprachliche Untersuchung der Beiträge in der Strukturanalyse
noch sehr oberflächlich erfolgt, lassen sich bereits einige vorläufige Befunde
festhalten:
Zunächst stelle ich fest, dass sich Stil und Sprachgestus von Beitrag zu
Beitrag teilweise erheblich unterscheiden – in einigen Artikeln wird offen
polemisiert und Stimmung geschürt (Nr.40/2006, S. 40 ff.; Nr.13/2007, S. 22
ff.), andere Artikel sind wiederum einfühlsam, aber distanziert geschrieben,
ohne dass offenkundig gewertet oder Partei ergriffen würde (Nr.45/2006, S.
68 ff.).
Die Dichotomisierung von deutscher Gesellschaft und muslimischer bzw.
muslimisch geprägter Tradition ist auffallend präsent. Oft geht es dabei um
Konfliktfälle, in denen Einzelpersonen zwischen die vermeintlichen Fronten
geraten (Nr.4/2006, S. 62 ff.; Nr.22/2008, S.62 ff.), oder in denen sich zwei
Parteien gegenüberstehen – meist Muslime auf der einen und Deutsche auf
der anderen Seite (Nr.20/2006, S.44 ff.; Nr.12/2007, S. 86; Nr.33/2008, S.
59), manchmal aber auch integrationswillige Muslime auf der einen und
traditionalistische Muslime auf der anderen Seite (Nr.11/2008, S. 135;
Nr.15/2008, S. 102 ff.; Nr.35/2008, S.56 ff.). Als charakteristisch für die „zwei
Welten“ erscheint eine profunde Diskrepanz von Werten und Kultur. Diese
Kluft zu überwinden scheint dem Tenor der Spiegel-Beiträge zufolge das Ziel
von Integration. Bei der Beschreibung muslimischer Traditionen fällt auf,
dass die Familie oft als Hort traditioneller Werte und damit als Bremsklotz für
24
Integration dargestellt wird (Nr.15/2006, S. 40; Nr.17/2006, S. 80 ff.;
Nr.34/2007, S. 52 ff.). Muslimische Mädchen und Frauen treten in Texten, in
denen „Frauen im Islam“ Thema sind, vorwiegend als Benachteiligte oder
Unterdrückte auf (Nr.37/2006, S. 83; . Nr.38/2006, S. 85 ff.; Nr.13/2007, S.
22 ff.). Muslimische Verbände erscheinen meist offensiv (Nr.28/2006, S. 44
f.) (Nr.9/2007, S. 122 f.) (Nr.19/2007, S. 34 ff.), Konkurrenz oder Streit unter
Türken wird mit militant anmutenden Worten („Türkenkrieg“) beschrieben
(Nr.7/2006, S. 50; Nr.24/2006, S. 148 f.).
Auch als Opfer von Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung spielen
Muslime eine Rolle (Nr.17/2008, S.62; Nr.21/2008, S. 52 f.). Gegenüber
deutschen Behörden und politischen Instanzen nimmt der Spiegel vor allem
beim Thema „internationaler Kampf gegen den Terror“ und bezüglich der
Sicherheitspolitik des Innenministers Schäuble eine kritische Haltung ein;
muslimische Terrorverdächtige wie Murat Kurnaz oder Mohammed Zammar
treten als Opfer irrationaler und rechtswidriger Sicherheitsmaßnahmen in den
Mittelpunkt (Nr.2/2006, S. 42 f.; Nr.10/2006, S. 38; Nr.25/2006, S. 58 ff.).
Auffallend bei der Voranalyse des Materials ist auch der Umgang mit
bestimmten ideologischen Begriffen – so taucht etwa der umstrittene Begriff
„Kampf der Kulturen“ (Huntington 2002) häufig auf, bisweilen auch an
prominenter Stelle in der Überschrift oder Unterzeile, ohne dass die Autoren
auf die politische und ideologische Prägung dieses Begriffs hinweisen
(Nr.4/2006, S. 62 ff.; Nr.38/2006, S. 85 ff.; Nr.45/2006, S. 68 ff.; Nr.13/2007,
S. 22 ff.; Nr.13/2007, S. 26 f.). Der „Kampf der Kulturen“ erscheint so als
objektiv feststellbarer Sachverhalt. Ferner werden maßgebende Begriffe wie
„Islamismus“ bzw. „Islamisten“ oder„Islam-Fundamentalisten“ (Nr.13/2007, S.
22 ff), „Hasspredigten“ (Nr.12/2006, S. 58 ff.), „Hass-Seiten“ (Nr.42/2006, S.
32 f.) oder „Hass-Demonstranten“ (Nr.30/2006, S. 94 f.) nicht definiert oder
erklärt, wirken aber aufgrund ihrer eindeutig negativen Färbung
stigmatisierend oder diffamierend (Nr.23/2006, S. 44). Auch von Experten,
die sich solcher Schlagworte in Interviews bedienen, wird keine erläuternde
Definition eingefordert (Nr.40/02.10.06, S. 47 ff.).
Zudem fällt mir auf, dass Implikationen und Suggestionen auf die Darstellung
des Themas „Islam in Deutschland“ einwirken. So wird der muslimischen
Identität von Protagonisten oder Gruppen bisweilen eine erhebliche
25
Bedeutung beigemessen, ohne dass erläutert wird, welche Bedeutung diese
Identität für den beschriebenen Sachverhalt hat; dies ist besonders in
Beiträgen zu beobachten, in denen Jugendkriminalität oder –Gewalt eine
zentrale Rolle spielen (Nr.14/2006, S. 22 ff.; Nr.29/2006, S. 38 ff.;
Nr.32/2006, S. 66 ff.; Nr.50/2007, S. 138).
Zusammenfassend lässt sich also nach einer ersten, oberflächlichen
Untersuchung eine Tendenz zur Dichotomisierung von deutscher
Gesellschaft und Islam beobachten. Außerdem ist bei der Darstellung von
Muslimen die Verwendung von negativen Schlagworten, Implikationen und
Suggestionen feststellbar.
Diese Beobachtungen stellen für sich genommen keine Grundlage für die
Formulierung wissenschaftlich valider Ergebnisse dar; sie sind als
Nebenprodukte der strukturierenden Voranalyse zu betrachten und fließen
als solche in die Gesamtinterpretation der Analyse ein.
Kapitel 3.3 – Dossier und Interpretationsschlüssel
Das aus der Strukturanalyse gewonnene Dossier umfasst acht Beiträge und
insgesamt rund 22 Seiten Text. Die zur Feinanalyse ausgewählten Beiträge
sind folgende:
„Der innerste Ring“ (Nr.46/2007, S. 56 ff.). Ein Bericht mit über den
Terrorverdächtigen Attila Selek, dem eine Mittäterschaft bei den
vereitelten Anschlagsplänen der sogenannten islamistischen Sauerland-
Gruppe vorgeworfen wird. Der Autor stellt die Vorwürfe der Fahnder den
Aussagen des Verdächtigen gegenüber.
„Angst vor dem Befreiten“ (Nr.2/2006, S. 42 f.). Hauptfigur ist der
Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz aus Bremen. Im Fokus des Berichts
steht das zwiespältige Verhältnis des deutschen Staates zu Kurnaz –
einerseits bemüht sich die Bundesregierung um seine Freilassung,
andererseits gilt er den Sicherheitsbehörden als Gefahr für die innere
Sicherheit.
26
„,Kaum verhüllte Drohung’“ (Nr.39/2008, S. 36 ff.). Ein Magazinbericht über
den Konflikt zwischen freier Wissenschaft und religiösem Dogmatismus.
Im Mittelpunkt steht der deutsche muslimische Wissenschaftler
Muhammed Sven Kalisch, der wegen seiner Thesen angeblich mit dem
Tod bedroht wird.
„Die Integrierten (Nr.27/2007, S. 58 ff.). Die Magazinstory schildert die
Integrationsgeschichte türkischer Migranten in Deutschland zu
verschiedenen Epochen. Eine besondere Rolle misst die Autorin dem
Islam bei.
„Das Wunder von Marxloh“ (Nr.1/2007, S. 40 ff.). Der Autor der Magazinstory
schildert das friedliche und konstruktive Zusammenleben von Katholiken
und Muslimen in Duisburg-Marxloh als sozialen Ausnahmefall.
„Die Freiheit der anderen“ (Nr. 7/2007, S. 80). Die Milieureportage befasst
sich mit dem Gerichtsfall eines kurdischen Vaters, der angeblich seine
Tochter ermorden lassen wollte. Der Autor richtet den Fokus auf den
Wertekonflikt zwischen der muslimischen Familie und dem deutschen
Rechtsstaat.
„Schlesische Schlachten“ (Nr.50/2007, S. 138) – eine Milieureportage über
Jugendliche aus Berlin-Kreuzberg, die brutale Straßenkämpfe als
Sportereignisse austragen. Der Autor präsentiert eine von muslimischen
Werten geprägte, abgeschottete „Ghettokultur“, die sich dem Einfluss der
Polizei entzieht.
„Das Phantom der Oper“ (Nr.40/2006, S. 40 ff.). Ein stark meinungsgefärbter
Artikel anlässlich der Absetzung der Oper „Idomeneo“ in Berlin aus Angst
vor einem Terroranschlag. Die Autoren kritisieren eine kollektive
Geisteshaltung der Deutschen im Angesicht einer angeblichen
Bedrohung der deutschen Kultur durch „Islamismus“ und Muslime.
27
Diese Artikel unterziehe jeweils einer umfassenden Feinanalyse. Um das aus
der Feinanalyse gewonnene Datenmaterial auszuwerten, setze ich einen
Interpretationsschlüssel, bestehend aus elf Fragen, an:
• Erscheinen Muslime als Individuen oder als Kollektive?
• Welche Rolle spielen Muslime im Text?
• Welche Bedeutung hat der Islam / ihre Zugehörigkeit zum Islam für
• diese Rolle?
• Wie werden Muslime / der Islam charakterisiert?
• Erscheinen Deutsche als Individuen (in welcher Rolle?) oder als
Kollektive
• Wie wird die deutsche Gesellschaft dargestellt?
• In welchem Verhältnis stehen Muslime / der Islam und Deutsche / die
deutsche Gesellschaft?
• Welches Konzept von Integration liegt vor?
• Manifestieren sich Machtansprüche? Wie werden sie bewertet?
• Welche funktionale Rolle nehmen Magazin bzw. Autoren im Diskurs
ein
• Worüber beanspruchen die Autoren Deutungshoheit? Für wen
sprechen sie?
Diese elf interpretationsleitenden Fragen dienen dazu, das Datenmaterial in
Hinblick auf die von Said beschriebenen orientalistischen Darstellungsmuster
hin zu überprüfen (s. Kapitel 2.1). Die ersten vier Fragen richten den Fokus
auf eventuelle Generalisierungen oder Essentialisierungen von Muslimen
und sind darauf ausgelegt, eventuelle Stereotype zu identifizieren. Die
folgenden vier Fragen lenken das Augenmerk auf eventuelle Dichotomien
zwischen deutscher Gesellschaft und Islam und möglicherweise daraus
abgeleitete Essentialisierung der deutschen Gesellschaft; auch hier treten
ggf. Stereotype in den Vordergrund. Die letzten drei Fragen beleuchten den
Machtanspruch des Magazins bzw. der Autoren des Spiegel und ihre Rolle
im Diskurs über Islam in Deutschland.
Der Interpretationsschlüssel ist als Werkzeug gedacht, der mir schrittweise
Zugang zu dem komplexen Datenmaterial der Feinanalyse ermöglicht. Die
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Antworten auf diese Fragen sind als Annäherung an das Endergebnis meiner
Untersuchung zu verstehen. Im folgenden Kapitel behalte ich mir daher vor,
diejenigen Interpretationsergebnisse herauszugreifen, die zur Beantwortung
meiner übergeordneten Forschungsfrage relevant sind.
Kapitel 3.4 - Ergebnisse der Feinanalyse
Im Folgenden liste ich die Befunde auf, die aus meiner Feinanalyse der
einzelnen im Dossier aufgeführten Spiegel-Artikel resultieren; die Einteilung
der Ergebnisse in gesonderte Kapitel dient dazu, die Schlussfolgerungen, die
ich in Kapitel 4 ziehe, anhand von gezielten Verweisen leichter
nachvollziehbar zu machen.
Kapitel 3.4.1 – „Der innerste Ring“
Der Autor des Artikels „Der innerste Ring“ (Nr. 46/2007, S. 56 ff.)
nimmt eine Gegenposition zum orientalistischen Diskurs über Muslime in
Deutschland ein, indem er fast vollständig auf Generalisierungen oder
Essentialisierungen bei der Beschreibung von Muslimen verzichtet, keine
Dichotomie zwischen Islam und deutscher Gesellschaft herstellt und seine
Leser zur kritischen Einzelfallanalyse animiert.
Hauptfigur des Textes ist Attila Selek. Er und die bekannten
Terrorverdächtigen Fritz Gelowicz, Adem Y. und Daniel S., implizit auch
Dana (Z. 196-198), stehen als potenzielle Aggressoren, denen die Planung
von Anschlägen in Deutschland angelastet wird (Z. 17-21), im Fokus des
Artikels. In der Fahndungssituation erscheinen sie als Gegenspieler zum
deutschen Staat (Z. 227-229). Die Mitwirkung Seleks an den Terrorplänen
stellt der Autor als strittig dar (Z. 4-5). Diese Sonderrolle Seleks unterstreicht
der Autor, indem er ihn von den Terrorverdächtigen Fritz Gelowicz, Adem Y.
und Daniel S. abgrenzt (Z. 399-405, Bilder und Bildunterzeilen S. 56). Eine
prominente Rolle spielt zudem der Imam Yehia Yousif (Z. 243). Er erscheint
als „Ideologe“ und „Vordenker“ (Z. 244-245) und zentrale Figur der
„Islamisten“-Szene in Süddeutschland (Z. 239-247). Die „Islamisten“ im
29
Umfeld des Ulmer Multikulturhauses erscheinen als politische Agitatoren (Z.
241-251, Z. 260-263), die als potenziell kriminelle Staatsgegner behandelt
werden (Z. 263-267).
Grundsätzlich geht der Autor sehr distanziert mit den Befunden von
Geheimdiensten, Verfassungsschutz und Polizei um. Dies zeigt sich vor
allem in dem expliziten Hinweis auf die nebulöse „Welt der Geheimdienste“
(Z. 90-101), die den Agenten Definitionsmacht abspricht, und in der
distanzierten Art, mit der der Autor die Darstellungen und Einschätzungen
der Ermittler wiedergibt (Z. 41-42). Somit stellt der Autor die muslimischen
Verdächtigen nicht als faktische Aggressoren oder Gefahr dar, sondern
betont ihren Status als Verdächtige (Z. 388-399).
Der Autor attestiert den Protagonisten Selek und Gelowicz ein „zerrüttete[s]
Verhältnis [...] zum deutschen Staat“ (Z. 227-229). Den Befund untermauert
er implizit mit dem Verweis auf ihre Aktivitäten im Ulmer Mulikulturhaus, das
offenbar einen Konflikt mit dem Staat austrägt (Z. 229 ff.).
Des Weiteren vermeidet der Autor explizite Charakterisierungen, indem er
vorwiegend Handlungen und Einschätzungen anderer (der Fahnder und
Selek selbst) wiedergibt (Z. 41-42, Z. 102-110) und kritische Distanz zu
diesen Einschätzungen hält (Z. 90-101). Auch mit dem Einsatz des Hilfsverbs
„sollen“ (Z. 84) sowie des Konjunktivs bei wiedergegebenen Aussagen (Z.
178-181) und indem er fortwährend die Quellen einzelner Informationen oder
Einschätzungen angibt (Z. 41-42, Z. 111-115, Z. 161-163), verhindert der
Autor den Eindruck einer eigenen Bewertung oder Charakterisierung. Er
bezieht Aussagen charakterisierende Schilderungen meist auf eine konkrete
Situation (Z.32-35, Z. 222-223) und lässt damit keine Verallgemeinerung
seiner Beobachtungen zu.
Attila Selek und Fritz Gelowicz zeigt der Autor in unterschiedlichen sozialen
Rollen: Selek erscheint außer als Terrorverdächtiger auch als Fremder in
Konya (Z. 28-35), als Sohn (Z. 307-315) und in seinem Berufsumfeld (Z. 252-
255). An einigen Stellen erscheint Attila Selek implizit als Opfer staatlicher
Gewalt (Z. 375-385, Z. 448-449). Gelowicz bildet der Autor indirekt als sozial
kompetenten Freund (Z. 234-238) und als Studenten (Z. 255-256) ab. So
erscheinen die Protagonisten mehrdimensional, der Autor vermeidet
Stereotype.
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Der Autor stellt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Glauben der
Terrorverdächtigen und ihren mutmaßlichen terroristischen Plänen her; die
„politischen Biografien“ (Z. 399-400) erscheinen für die Identität als
„Islamisten“ bedeutender als der Glaube. Dies bestärkt der Autor, indem er
die Bedeutung der Sozialisation von Gelowicz und Selek im Ulmer
Multikulturhaus (Z. 230-233, Z. 256-257) und den Einfluss des Imam als
ideologischem „Vordenker“ betont (Z. 244-247) . Die „Islamisten“ in dem
Milieu beschreibt er als politische Gruppe (Z. 239-251, Z. 260-263). Implizit
findet sich dieses politische Motiv auch bei der Beschreibung der
verdächtigen Protagonisten in der Metapher „Vollversammlung“ (Z. 326)
wieder.
Als einzige Verbindung zwischen Glauben und Terrorismus erscheint der
Begriff „Dschihad“, den der Autor jedoch nicht übersetzt, sondern lediglich als
„mystisch[...]“ (Z. 341-342) beschreibt. Offenbar setzt der Autor voraus, dass
seine Leser den Begriff „Dschihad“ als umstrittenes religiöses Konzept des
heiligen Krieges kennen. Ein Rückschluss, dass der „Islamismus“ unmittelbar
aus essentiellen Glaubenssätzen des Islam entspringt, ermöglicht die
Darstellung des Autors nicht. Damit verhindert er eine Generalisierung oder
Essentialisierung von Islam.
Als Terrorverdächtige, die Anschläge in Deutschland geplant haben sollen,
stehen die muslimischen Protagonisten der deutschen Gesellschaft implizit
als Aggressoren gegenüber. Indem er die Muslime jedoch nicht
generalisierend darstellt, baut der Autor keine Dichotomie zwischen den
Muslimen und der deutschen Gesellschaft auf. Dies zeigt sich am
deutlichsten darin, dass der Autor den Protagonisten Selek durch dessen
Selbstbezeichnung als „eher deutsch“ (Z. 32-33) der deutschen Gesellschaft
zurechnet. Auch die Formulierung „der Mann aus Deutschland“, mit dem der
Autor die Perspektive des türkischen Fernsehens wiedergibt (Z. 36-38),
verstärkt diese Zuordnung. Die muslimischen Terrorverdächtigen Fritz
Gelowicz und Daniel S. erscheinen als „deutsche(n) Konvertiten“ ebenfalls
als Teil der deutschen Gesellschaft.
Die Geschichte erzählt der Autor entlang überprüfbarer Fakten und
Handlungen einzelner Personen – dies zeigt sich vor allem daran, dass als
Subjekte überwiegend Personen auftreten und dynamische Verben
31
dominieren. Bei der Wiedergabe von Interpretation dieser Fakten und
Handlungen durch verschiedene Instanzen benennt der Autor fast immer die
Sprechposition, was neben dem Gebrauch von Konjunktiv (Z. 205-209) und
dem Hilfsverb „sollen“ als in Frage stellendem Element (Z. 4) eine kritische
Distanz zu den Vorwürfen und Verdächtigungen gegen die muslimischen
Protagonisten fördert. Der Autor komponiert seinen Text so, dass der
Protagonist sich selbst gegen jeden neuen Verdacht verteidigen kann (Z.
108-110, Z. 176-177, Z. 223-226, Z. 286-293), meist in direkter Rede – der
Autor beansprucht also nicht, für den Protagonisten sprechen zu können. In
der Schuldfrage lässt der Autor dem Angeklagten das letzte Wort (Z. 449).
Mit diesen Mitteln emanzipiert der Autor sich und seine Geschichte von
stereotypen Darstellungsmustern über Muslime oder den Islam.
Eine Ausnahme bildet die Anwendung der Bezeichnung „Islamisten“ (Z. 200)
auf drei Personen, die zu sehr unterschiedlichem Grad als Terrorverdächtige
gelten können (Z.328-390, Z.322-327). Dass der Autor den Begriff
verwendet, aber nicht erläutert, ist insofern problematisch, als dass der
Begriff im Gesamtdiskurs meist mit Gewalt gegen Nicht-Muslime assoziiert
wird (s. Kapitel 3.2). Hier begünstigt der Autor eine dichotomisierende
Rezeption durch seine Leser – die sogenannten Islamisten erscheinen als
Gefahr für Deutsche, bevor ihr Status im Einzelnen juristisch geklärt ist.
Grundsätzlich animiert der Autor seine Leser jedoch dazu, den Einzelheiten
des Falls kritisch auf den Grund zu gehen und sich nicht von Stereotypen
oder Vorverurteilungen beirren zu lassen. Hier stellt die collagenhafte
Erzähltechnik mit raschen Schauplatz- und Perspektivwechseln, die durch
den dramaturgischen Einsatz der Tempi verstärkt wird, einen besonderen
Anreiz für die Leser dar, selbst ins „Spiel“ (Z. 123) der Ermittlungen
einzusteigen.
Kapitel 3.4.2 – „Angst vor dem Befreiten“
In dem Artikel „Angst vor dem Befreiten“ (Nr.2/2007, S. 42 f.) distanzieren
sich die Autoren von orientalistischen Darstellungsmustern, indem sie auf
Generalisierung und Essentialisierung von Muslimen und eine
Dichotomisierung von Islam und deutscher Kultur vermeiden und ihre
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Darstellungen an überprüfbaren Fakten festmachen. Dennoch geben sie
dem Bild eines gefährlichen „Islamismus“ Raum und ermöglichen so eine
Assoziation von Islam mit Gefahr bei ihren Lesern.
Obwohl in dem Text ein Muslim die Hauptfigur ist und Muslime eine tragende
Rolle spielen, steht der Islam als Glaube nicht im Vordergrund. Die
Personen, die eindeutig als Muslime erkennbar oder bekannt sind,
erscheinen als Individuen. Die wichtigste muslimische Person im Text ist
Murat Kurnaz (Z. 4), in Nebenrollen erscheinen der Bahreiner Guantanamo-
Häftling Issa al-Murbati (Z. 15) und der Terrorverdächtige Mohammed
Haydar Zammar (Z. 181-182). Sie alle stellen die Autoren vielschichtig und in
ambivalenten Rollen dar.
Murat Kurnaz ist als Terrorverdächtiger und Guantanamo-Häftling
vordergründig Hauptfigur des Artikels – die Geschichte, die die Autoren
erzählen, macht sich an seinem „Fall“ fest (Titel, Unterzeile). Im Laufe der
Geschichte erfüllt Kurnaz jedoch eher die Rolle eines Auslösers
diplomatischer Verstrickungen – er tritt kaum als Handelnder auf, sondern
erscheint vorwiegend in einer passiven Rolle (Z. 8-12, Z. 71-74) oder gar
Opferrolle (Z. 103-115, Bildkombination Seite 42-43). Durch ein wörtliches
Zitat geben die Autoren dem Protagonisten die Chance, sich selbst zu
charakterisieren (Z. 19-25). Das Bild, das sich Kurnaz selbst gibt, stützt die
Charakterisierung durch die Autoren, in denen Kurnaz als harmloses
jugendliches Opfer erscheint (Z. 70-77, Z. 116-119), das sich vorwiegend
passiv verhält und nur wenige unbeholfene Versuche unternimmt, sich zur
Wehr zu setzen (Z. 26-27). Im Vergleich zu übrigen Guantanamo-Häftlingen
teilen die Autoren Kurnaz eine Sonderrolle als „pflegeleichter Häftling“ (Z. 7-
8) zu.
Dem gegenüber steht die Rolle des Protagonisten als potenzielle Gefahr für
Deutschland im letzten Abschnitt, die nach Darstellung der Autoren das
Innenministerium Kurnaz zuspricht (Z. 213-221). Hier erscheint Kurnaz aktiv
und sogar aggressiv. Als potenzieller Mujahid (Z. 216-221) erscheint er als
strategisch handelnder Aufrührer, der ein politisches Ziel verfolgt (Z. 220)
und so eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands darstellen könnte.
Den Widerspruch zwischen diesen beiden Rollen lösen die Autoren nicht auf,
sie beziehen keine explizite Stellung in der Bewertung der Hauptfigur. Der
33
einzige Hinweis auf eine implizite Bewertung zugunsten einer
Unschuldsvermutung gegenüber Kurnaz liegt in der Verwendung des
Adjektivs „drakonisch(en)“ (Z. 213).
Der prominente Terrorverdächtige Mohammed Haydar Zammar erscheint
ebenfalls in einer ambivalenten Rolle: Zum einen wird er mit gefährlichen
Terroristen (Z. 184-185, Z. 189) und – durch das Wort „Dschihad“ (Z. 188) –
mit religiös motivierter Gewalt in Verbindung gebracht; durch die Verben
„rekrutierte“ (Z. 185), „aufgeklärt“ (Z. 188) und die Formulierung „an das Büro
der Taliban verwiesen“ (Z. 189) erscheint er als routinierter Terror-Profi. Zum
anderen stellen ihn die Autoren als Opfer einer archaischen Strafverfolgung
dar (Z. 183-184).
Murat Kurnaz und Mohammad Haydar Zammar erscheinen als eigenständige
Individuen, die Autoren schreiben ihnen keine Repräsentanten- oder
Symbolfunktion zu. Issa al-Murbati erscheint dagegen als repräsentatives
Beispiel für die aufständischen Guantanamo-Häftlinge (Z. 12-16), was vor
allem das Wort „etwa“ (Z. 14) nahe legt. Al-Murbati erscheint in einer
ambivalenten Rolle als rebellierendes Opfer der US-Terrorpolitik (Z. 15-16).
Im Kontext der Erzählung erscheint er als kompromissloser politischer
Agitator (ebd.).
Als Kollektiv beschreiben die Autoren die Beamten des türkischen (Z. 37-38)
– hier spielt jedoch religiöse Zugehörigkeit weder keine Rolle. Die Abstraktion
von einzelnen Personen (Z. 61-62) liegt in dem Fokus der Autoren auf
diplomatische Prozesse und Handlungen von politischen Instanzen
begründet. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Wahl von Substantiven
(Z. 17, Z. 45, Z. 89) und Verben (Z. 33, Z.42), die Politik, Diplomatie und
Behörden als Handlungsfelder der Geschichte markieren.
Zentraler Streitpunkt des Artikels ist, ob der Guantanamo-Häftling tatsächlich
ein „Islamist“ (Bildunterzeile S. 42) ist, wie die Klassifizierung der US-
amerikanische Geheimdienste (Z. 97) nahe legt. Für die Darstellung der
Hauptfigur Kurnaz als mutmaßlichem „Islamisten“ spielen jedoch dessen
religiöse Gesinnung oder Glaube keine Rolle – sämtliche Indizien, die die
Autoren für oder gegen diese Darstellung anführen, liefern nur Anhaltspunkte
für seine politische Gesinnung (Z. 19-25, 216-221). In dem Zukunftsszenario,
das Kurnaz als radikalisierten Aufrührer zeigt, erscheint er als Demagoge,
34
der religiösen Märtyrerkult (Z. 219) und Moscheen (Z. 220-221) für seine
politischen Ziele instrumentalisiert („PR- und Werbetour“, Z. 220).
Die Autoren stellen „Islamismus“ als terroristisches politisches Lager dar,
dass vor allem als gewaltsamer Aggressor gegen die USA (Z. 97, Z. 100-
102) und Gefahr für Deutschland (Z. 214-221) erscheint. Der Begriff
„Dschihad“ (Z. 188), der verschiedene religiöse Konzepte birgt, wird nicht
erläutert. Im Kontext erscheint er in der Übersetzung als „heiliger Krieg“.
Moral- oder Glaubensvorstellungen thematisieren die Autoren nicht. Dem
entgegen steht, dass die Autoren Murat Kurnaz jeweils einmal als „Taliban“
(Z. 155) und „Islamisten“ (Bildunterzeile S. 42) bezeichnen, ohne sich von
den Begriffen zu distanzieren. In der Gesamtwirkung des Textes relativiert
sich jedoch das darin implizierte Bild eines religiösen Fanatismus. Mit der
weitgehend differenzierten Darstellung der muslimischen Protagonisten und
der impliziten Klassifizierung von „Islamismus“ als politische Ideologie
distanzieren sich die Autoren von dem orientalistischen Stereotyp eines
aggressiven, gefährlichen Islam. Dennoch geben sie dem Bild einer
potenziell gefährlichen Erscheinungsform des Islam – bezeichnet als
„Islamismus“ – ihrem Artikel an prominenter Stelle Raum (Z. 214-221).
Hier erscheint der Muslim Kurnaz in der Rolle als „[R]adikalisiert[er]“ (Z. 218-
219) als künftige Bedrohung für die deutsche Gesellschaft, den die
Behörden, die mit dem Schutz dieser Sicherheit betraut sind, abwehren
müssen (Z. 213-215). Das Bild einer generellen Gefahr für die Gesellschaft
befördert vor allem die Erwähnung „deutsche[r] Moscheen“ (Z. 220-221).
Durch die Platzierung am Schluss des Artikels hinterlässt dieses Szenario
einen schwerwiegenden Eindruck beim Leser.
Andererseits ordnen die Autoren Murat Kurnaz und den Terrorverdächtigen
Mohammed Haydar Zammar der deutschen Gesellschaft zu (Z. 39-41, Z.
181). Indem die Autoren keine Trennung zwischen Zugehörigkeit zu Islam
oder „Islamismus“ und Zugehörigkeit zum deutschen Staat vornehmen,
verhindern sie Essentialisierungen und Dichotomie zwischen Islam und
deutscher Gesellschaft.
Mit ihrer faktenorientierten Darstellung animieren die Autoren ihre Leser zu
einer differenzierten Betrachtung und einer eigenen Bewertung des „Falls
Kurnaz“, wenngleich sie durch subtile Wertungen und Kommentare (Z. 212)
35
die Einschätzung des Lesers lenken. Dabei legen sie eine kritische Haltung
gegenüber staatlichen Machtinstanzen nahe, die sich vor allem in der
Bewertung der Gefangenschaft von Kurnaz durch die USA (Z. 141-142) und
die Implikation einer möglichen Instrumentalisierung des Falls durch die
Bundesregierung (Z. 150) spiegelt.
Kapitel 3.4.3 – „,Kaum verhüllte Drohung’“
Die Autoren des Artikels „,Kaum verhüllte Drohung’“ (Nr.39/2008, S. 36 ff.)
teilen Muslime in verschiedene Gruppen ein. Die Beschreibung der „guten,
rechtgläubigen Muslime(n)“ (Z. 28-29) wirkt orientalistischen
Generalisierungen und Essentialisierungen sowie einer Dichotomie zwischen
Islam und deutscher Gesellschaft entgegen. Dem gegenüber skizzieren die
Autoren ein Bild von Muslimen, die islamische Dogmen offensiv oder mit
Gewalt verwirklichen wollen. Hier legen sie eine Rezeption im Sinne
orientalistischer Deutungsmuster nahe.
Die Hauptfigur des Textes ist der deutsche muslimische Wissenschaftler
Muhammad Sven Kalisch (Z. 26-35). Ihm teilen die Autoren eine ambivalente
Rolle zu: Er erscheint als zweifaches Opfer (Z. 6-18) anonymer Aggressoren
einerseits (Z. 11-12) und des dogmatisch auftretenden Koordinationsrats der
Muslime andererseits (Z. 44-45). Zugleich wirkt der Wissenschaftler Kalisch
im aktuellen Zwist um seine Forschungsergebnisse als selbstbewusster und
mutiger Verfechter von Aufklärung freier Forschung (Z. 250-257). Die
Autoren ordnen den Protagonisten einem Kollektiv von „guten,
rechtgläubigen Muslim(en)“ (Z. 26-29) zu. Dieses Kollektiv schildern sie als
Träger von Werten wie Freiheit und Aufklärung, die sie implizit der deutschen
Gesellschaft zuschreiben – dies zeigt sich etwa in der Assoziation des
Begriffs „Freiheit“ mit Deutschland (Z. 46-47) oder in dem unkommentierten
Zitat des nordrhein-westfälischen Kultusministers Andreas Pinkwart (FDP)
(Z. 210-213). Durch die Formulierung „einer ihrer bekanntesten Köpfe
hierzulande“ (Z. 29-30) verknüpfen die Autoren das Kollektiv der „guten,
rechtgläubigen Muslime(n)“ implizit mit den muslimischen Experten, die
Kalisch unterstützen und für freie Wissenschaft und Aufklärung plädieren (Z.
214-249).
36
Indem sie einen Protagonisten wählen, der Deutscher und Muslim ist und
sowohl freie Wissenschaft und Aufklärung als auch den Islam vertritt, setzen
die Autoren der verbreiteten Dichotomie zwischen Islam und deutscher
Gesellschaft oder Islam und Aufklärung ein Alternativbeispiel entgegen, das
den hegemonialen Diskurs in Frage stellt. Mit dem Bild der „guten,
rechtgläubigen Muslime“ verhindern die Autoren zudem ein
generalisierendes oder essentialisierendes Islam-Bild.
Die Position kritischer Wissenschaft, die in der Person Kalischs als
Bindeglied zwischen Werten der deutschen Gesellschaft und muslimischem
Glauben erscheint (Z. 221-225), wird nach Darstellung der Autoren einem
Zugeständnis gegenüber muslimischen Dogmatikern geopfert (Z. 41-44).
Hier bilden die Autoren zwei Gruppen ab: Den Koordinationsrat der Muslime
in Deutschland (Z. 36-37) und ein anonymes Kollektiv, das die Autoren als
„manche konservative Muslime“ (Z. 259) bezeichnen.
Der Koordinationsrat der Muslime erscheint als Organisation, die nach
politischem und gesellschaftlichem Einfluss strebt (Z. 185-197), der ihr nicht
zusteht (Z. 65-68, Z. 166-168). Die Autoren schildern den Anspruch des
Dachverbandes – vor allem durch die Charakterisierung des Sprechers Ali
Kizilkaya, der selbstherrlich (Z. 178) und vorlaut (Z. 184-185) wirkt, – als
anmaßend und dreist. Auch die Schilderung von kirchlichem Einfluss als
Gefahr für den deutschen Staat (Z. 86-87) wirkt sich auf die Bewertung des
Habitus’ des Koordinationsrates aus (Z. 166-171). Der Koordinationsrat
erscheint als Gegner freier Wissenschaft (Z. 191-197) und offener
Herausforderer des deutschen Staates, der die durch historische
Zugeständnisse an die Kirchen ohnehin belastete Integrität der säkularen
Gesellschaft (Z. 72 ff.) angreift.
Implizit skizzieren die Autoren einen potenziellen Konflikt zwischen
religiösen Werten von Muslimen und deutschen Grundrechten allgemein –
hier wirkt das Zitat des Wissenschaftsministers Pinkwart (Z. 203-212), das
mit der Interpretation der „Solidaritätserklärung“ (Z. 226) als „Vorwurf
staatlicher Selbstaufgabe“ (Z. 214-215) bekräftigt wird. Indem sie das Zitat
Pinkwarts nicht kommentieren, übernehmen die Autoren die Implikation, dass
ein nennenswerter Teil von Muslimen auf kritisches Hinterfragen von
Glaubensinhalten im Schulunterricht mit Boykott reagieren würde. Auch die
37
Bezeichnung „Dachorganisation deutscher Islam-Verbände“ (Z. 36-37)
suggeriert, dass der Dogmatismus des Koordinationsrats die Haltung der
meisten Muslime in Deutschland wiederspielt. Dies wird verstärkt durch das
generalisierend wirkende Synonym „die Muslime“ (Z. 43), auch in der
Selbstdarstellung des Rates durch Kizilkaya (Z. 175). Hier fördern die
Autoren das generalisierende Bild eines dogmatischen muslimischen
Kollektivs und implizieren eine Dichotomie zwischen islamischem
Geltungsanspruch und deutschen Grundrechten.
Als nicht identifiziertes, anonymes Kollektiv erscheinen „manche
konservative Muslime“ (Z. 259). Sie charakterisieren die Autoren nur indirekt
über die Interpretation des Experten Kalisch, der sie implizit als aggressiv
und dogmatisch charakterisiert (Z. 259-265), indem er ihnen – auch implizit –
religiös motivierte Mordabsichten unterstellt (Z. 267-269). Obwohl die Leser
von ihnen nur indirekt erfahren, räumen die Autoren ihnen eine prominente
Position ein: Indem sie die implizierte „,(...) Drohung’“ schon in der
Überschrift platzieren, machen die Autoren die Gefahr, die angeblich von
dieser nicht-definierten Gruppe ausgeht, zum vordergründigen Thema des
Textes. Die Autoren setzen das Kollektiv als dramatisierendes Element ein,
indem sie es am Anfang des Textes schemenhaft andeuten (Z. 6, Z. 17) und
erst am Ende des Textes als „manche konservative Muslime“ (Z. 259)
benennen. So wirkt das Bild der latenten Lebensgefahr, ausgehend von nicht
identifizierbaren muslimischen Aggressoren, auf den Leser fort. In der
Bezeichnung dieses Kollektivs als „konservativ“ folgen die Autoren der
Deutung des Protagonisten Kalisch, der zugleich als Experte auftritt (Z. 259-
269). Indem die Autoren ihn den Code, der die „,(...) Drohung’“ birgt,
entschlüsseln lassen (ebd.), steigern sie das Bild unberechenbarer
muslimischer Aggressoren, deren Motive und Kodizes für Außenstehende
nicht nachvollziehbar sind.
Die latente Aggression der „konservative[n] Muslime“ erscheint als
Konsequenz ihres dogmatischen Glaubens – so interpretiert es der
betroffene Experte Kalisch (ebd.). Indem die Autoren ihm in diesem Punkt
uneingeschränkte Deutungshoheit zubilligen (Z. 266-267), machen sie sich
die Interpretation Kalischs zu eigen und stellen sie als faktisch dar. Die
„konservative[n] Muslime“ erscheinen als Bedrohung für den Protagonisten
38
Kalisch als Einzelperson, aber in ihrer Nicht-Greifbarkeit implizit auch als
Bedrohung für die ganze Gesellschaft (Z. 21-22, Z. 45). Hier fördern die
Autoren das Stereotyp gefährlicher, unberechenbarer und irrationaler
Muslime. Da die Autoren die schwammige Kategorie „konservativ“, die als
einziges Merkmal der Aggressoren erscheint, nicht definieren, steigern sie
das gefühlte Bedrohungspotential: Das Stereotyp der gefährlichen,
unberechenbaren „Konservatien“ ist auf alle Muslime anwendbar, die sich
nicht eindeutig als „nicht-konservativ“ präsentieren.
Durch Implikation, dass sich Kalisch mit dem Zweifel an der Existenz des
Propheten quasi zwangsläufig in Gefahr bringe (Z. 33-35), entsteht
verstärkend der Eindruck, dass gewaltsame Sanktionen eine unter Muslimen
konsensfähige Reaktion auf Kritik an Glaubensinhalten des Islam darstellen.
Auch das Bild des muslimischen Dachverbandes als Herausforderer des
säkularen Staates und Gegner von Aufklärung kann im Sinne des
orientalistischen Stereotyps eines irrationalen, aggressiven und gefährlichen
Islam gelesen werden.
Kapitel 3.4.4 – „Die Integrierten“
In ihrer Darstellung türkischer Einwanderer wirkt die Autorin des Artikels „Die
Integrierten“ (Nr.27/2006, S. 58 ff.) Orientalismus entgegen. Bei ihrer
Schilderung von Islam als Triebkraft für Abgrenzung von der deutschen
Gesellschaft bleibt sie jedoch orientalistischen Darstellungsmustern und
Stereotypen verhaftet.
Die Autorin setzt individuelle Protagonisten ein, die sie als Repräsentanten
eines jeweiligen Kollektivs von Einwanderern zu bestimmten Epochen
beschreibt: Die Familie Kandemir steht als repräsentatives Beispiel (Z. 124-
145) für das Kollektiv der sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei (Z. 115-
119). Saliha Scheinhardt verköpert eine Epoche, in der die Autorin Trennung
des Kollektivs der türkischen Arbeitsmigranten in politisch engagierte Türken
und traditionalistische Muslime verortet (Z. 232-236) – Saliha Scheinhardt
erscheint einerseits als Repräsentantin der politisch und wirtschaftlich
emanzipierten Einwanderergruppe (Z. 164 ff.), andererseits als Insider-
Expertin, die von Alltagsleben und Machtverhältnissen der Traditionalisten
39
berichtet (Z. 292-297). Der Protagonist Aytac Eryilmaz erscheint als Beispiel
für ausländische Flüchtlinge (Z. 372-376), die potenziell oder tatsächlich
Opfer von Rechtsextremismus werden (Z. 454-459). Im letzten historischen
Abschnitt beschreibt die Autorin eine kollektive „Abschottung“ von
muslimischen Migrantengemeinden (Z. 471-489). Für diesen historischen
Abschnitt, den die Autorin als Ghettoisierung schildert (Z. 570-571, Z. 601),
wählt sie zwei Stellvertreter: Oktay Özdemir erscheint als Repräsentant
derjenigen, die es außerhalb des Milieus „schaffen“ (Z. 604-606). Hülya
Kandemir erscheint als Repräsentantin derer, die den „Rückzug in eigene
Welten“ (Z. 472) wählen und die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft
ablehnen (Z. 611-616).
Einzelne Protagonisten portraitiert die Autorin sehr detailliert und mit
Augenmerk auf ihre individuelle Geschichte (Z. 124-145, Z. 164-224, Z. 394-
408, Z. 546-563) – die Figuren erscheinen in ihrer gegenwärtigen Situation,
zugleich schildert die Autorin ihre persönliche Biografie und Entwicklung (Z.
617 ff.). Die türkischen oder muslimischen Individuen erscheinen
„mehrdimensional“, Religiosität erscheint als eine mögliche Eigenschaft unter
vielen. So wirkt die Autorin Essentialisierungen und Generalisierungen
entgegen. Indem sie einen menschlich-emotionalen Zugang zu den
Alltagswelten der türkischen und muslimischen Einwanderer schafft (Z. 34-
35, Z. 144-145, Z. 208-209), setzt die Autorin einen Kontrapunkt zum
orientalistischen Diskurs. Orientalistische Stereotypen entkräftet die Autorin,
indem sie Rollenklischees an authentischen Bildern bricht. (Z. 11-22).
In der Darstellung von Islam bleibt die Autorin jedoch dem orientalistischen
Diskurs verhaftet, indem sie implizit eine Dichotomie zwischen Islam und
Westen aufstellt und muslimische Migrantenmilieus generalisierend und
essentialisierend mit orientalistischen Stereotypen assoziiert.
Während die Kollektive „Gastarbeiter“ oder „Flüchtlinge“ noch als Nachbarn
(Z. 135-136), Streikende (Z. 242-243), Bewohner von Sammellagern (Z. 431)
oder Opfer lokalisierter rassistischer Gewalt (Z. 441-453) sichtbar in
Erscheinung treten, ist dies beim Kollektiv der traditionalistischen Muslime
oder „Fundamentalisten“ (Z. 474) nicht der Fall. Lediglich im „Ghetto“ (Z. 601)
Kreuzberg treten Angehörige des Milieus noch sichtbar auf; hier stellt die
Autorin einen schwachen Zusammenhang zu Traditionalismus her (Z. 560-
40
563, Z. 597). Die „Fundamentalisten“ stellt die Autorin als anonyme, weltweit
agierende Gruppe dar (Z. 473-475), die sie nur mit der vagen Ortsangabe
„aus den fundamentalistischen Moscheen“ (Z. 486-487) kennzeichnet.
Prominent ist die Darstellung von islamischem Glauben und Tradition als
Gegenmodell zu Integration. Dieses Bild zieht sich durch den gesamten Text;
es manifestiert sich zum einen in der Gegenüberstellung von politisch
engagierten Türken und traditionalistischen Muslimen (Z. 232-243), in der
Schilderung einer Agitation fundamentalistischer Autoritäten (Z. 471-489) und
in der Geschichte des „Rückzugs“ von Hülya Kandemir (Z. 613 ff.).
Besonders plakativ grenzt die Autorin islamischen Glauben von Integration
ab, indem sie Hülya Kandemirs Bruch mit dem Alkoholverbot als
Höchstmarke ihrer Integration hervorhebt (Z. 624-625). Das Kollektivsymbol
des Kopftuchs als Zeichen für muslimischen Traditionalismus stellt die
Autorin implizit in Zusammenhang mit Nicht-Integration (Z. 673-679).
Gleichzeitig stellt die Autorin Islam als Bremsklotz für Bildung dar. Dies zeigt
sich etwa in der Figur der bildungsfeindlichen religiösen Mutter Saliha
Scheinhardts (Z. 174-175). Auch stellt die Autorin Bildungsfeindlichkeit, vor
allem in Bezug auf Mädchen, als Massenphänomen der „abgeschotteten“
muslimischen Gemeinschaften dar (Z. 475-484). Diese These illustriert die
Autorin durch Statistiken, die die Verbreitung von Bildungsdefiziten bei
türkischen Schülern belegen sollen (Z. 490-500). Hier impliziert sie eine
bewusste Behinderung von Bildungsfortschritt (Z. 500-502) – es erscheint
der fundamentalistische Islam als ominöse Machtinstanz (Z. 511-514).
Zudem assoziiert die Autorin Islam mit „Gewalttradition“ (Z. 292-296); dabei
setzt sie auf die Insider-Perspektive der Protagonistin Saliha Scheinhardt (Z.
267-300). Indem sie Gewalt auch als Massenphänomen in türkischen
Familien darstellt (Z. 531-533) und durch implizierte Binnensicht suggeriert,
Gewalt diene den Kreuzberger Jugendlichen als Identifikationsmerkmal (Z.
573-575), bekräftigt die Autorin ihr Bild eines von Gewalt geprägten
muslimischen Migrantenmilieus. Im Zusammenhang mit islamischem
Traditionalismus hebt die Autorin auch das Stereotyp der Unterdrückung von
Frauen hervor (Z. 296). Besonders deutlich wird dies in der Darstellung von
Hülya Kandemirs „neuer“ Identität (Z. 658-674). Auch die Verteilung der
Verbformen zeugt von der stereotypen Darstellung: Der sonst seltene
41
Einsatz des Passivs häuft sich bei der Beschreibung muslimischer Mädchen
(Z. 477-486). Das Wort „Importbraut“ (Z. 305) impliziert zudem, dass eine
frauenverachtende Heiratspraxis bei vielen Türken (Z. 315) Konsens sei.
Indem sie ausschließlich türkischstämmige Protagonisten wählt, erweckt die
Autorin den Eindruck, dass sich die Notwendigkeit von Integration vor allem
an Türken oder Muslime richte. Das Bild von Islam als Hindernis und
Gegenmodell von Integration verstärkt den Eindruck, dass Integration für
Muslime besonders schwierig sei.
Der Ausdruck „Weg in die andere Richtung“ (Z. 612-613) suggeriert, dass es
für Muslime in Deutschland nur zwei Alternativen gibt: die Zugehörigkeit zur
deutschen Gesellschaft oder zum traditionellen Islam. Diese Dichotomie
spiegelt sich in der Schilderung von eindeutiger kultureller Identität als
psychosoziale Notwendigkeit; eine multiple kulturelle Identität erscheint als
zwangsläufig zerstörerisch (Z. 405-408).
Die Autorin stellt türkische oder muslimische Einwanderer nicht per se der
deutschen Gesellschaft gegenüber – eine Dichotomie kultureller Identitäten
liegt insofern nicht vor. Anders geht sie mit religiöser Identität um:
Muslimischer Glaube und islamische Tradition erscheinen als Trennmittel
zwischen nicht-muslimischen Deutschen und Muslimen. Besonders deutlich
wird dies in der generalisierenden und essentialisierenden Beschreibung des
„Rückzugs“ von muslimischen Einwanderern „in eigene Welten“ (Z. 471-489).
Dabei schildert die Autorin die angeblich wachsende „Bedeutung des Islam“
(Z. 473) analog zu sozialer „Abschottung“ (Z. 471); Glaube und
Traditionalismus erscheinen als Triebkräfte der „Abkehr von der westlichen
Welt“ (Z.488-489). Bei der Beschreibung des „Rückzugs“ (Z. 673) von Hülya
Kandemir stellt die Autorin religiöse Konformität in direkten Gegensatz zu
einem „westliche[n](s) Leben“ (Z. 656-658). Damit bekräftigt sie die
verbreitete Dichotomie von Islam und Westen. Die Nicht-Integrierten, die die
Autorin implizit mit beschreibt, erscheinen als „bedeutendes Anderes“ (Hall
1994) zur deutschen Gesellschaft.
Besonders durch das Bild von fundamentalistischem Islam als Gegenspieler
zur deutschen Gesellschaft begünstigt die Autorin die Rezeption ihres Textes
im Sinne eines orientalistischen Islam-Bildes. Die Tatsache, dass die Autorin
weder konkrete Akteure nennt, noch Fundamentalismus erkennbar und von
42
Islam unterscheidbar macht, verstärkt den Eindruck, dass sich bekennende
Muslime allgemein konträr zur deutschen Gesellschaft positionieren. Diesen
Generalverdacht befördert auch das Seite 60: Während das Motiv eine
gewöhnliche muslimische Gemeinde zeigt, suggeriert die Bildunterzeile eine
Nähe zu „Fundamentalisten“ (Z. 472-474).
Einen besonderen Anspruch auf Deutungshoheit erhebt die Autorin in der
Darstellung eines „Rückzugs in eigene Welten“ (Z. 472), den sie kausal mit
Phänomenen wie vermehrtem Kopftuchtragen oder kollektiver Verweigerung
gegenüber bestimmten Schulfächern verknüpft (Z. 471-489) – hier behauptet
die Autorin, den Grund zu kennen, nämlich ein wachsender Einfluss von
Fundamentalisten. 18 Dabei liefert die Autorin keine Belege, sondern setzt
allein darauf, dass ihre Leser ihre Deutung insofern plausibel finden, als dass
sie sich linientreu in den hegemonialen Diskurs einordnet.
Kapitel 3.4.5 – „Das Wunder von Marxloh“
In dem Artikel „Das Wunder von Marxloh“ schildert der Autor das Bild eines
harmonischen und konstruktiven Zusammenlebens von deutschen Christen
und türkischen Muslimen. Damit widerlegt er scheinbar orientalistische
Dichotomien und Stereotype. In seiner Bewertung des Geschilderten als
„Wunder“ (Titel) fällt die Darstellung jedoch in orientalistische Muster zurück.
Der Autor beschreibt alle im Text vorkommenden Muslime als tolerant und
offen gegenüber den christlichen Marxlohern (Z. 176-187, Z. 214-237, 272-
299). Eine zentrale Rolle spielt dabei der Imam Sadik Caglar, der als
Repräsentant der muslimischen Gemeinde und Dialogpartner des
katholischen Pfarrers auftritt (Z. 138-149); gemeinsam mit dem Pfarrer
definiert er nach Darstellung des Autors das religiöse Credo des „neue[n]
Ruhrgebiet[s]“ (Z. 148-161). Die muslimische Ditib-Gemeinde stellt der Autor
als besonders kompromissbereit und rücksichtsvoll dar, indem er sie implizit
von anderen muslimischen Gemeinden abgrenzt (Z. 177-187). Dass er die
Teilnahme an der Islamkonferenz des Innenministeriums (Z. 183-184) oder
18 Hinweise darauf, dass die Deutung der Autorin auf ungeprüften Vermutungen beruht, liefert etwa die Zeit mit einem Bericht über eine Studie zu Wertvorstellungen von kopftuchtragenden Musliminnen (http://www.zeit.de/2006/38/Kopftuch-Studie, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011) und einem Artikel zu vermeintlich flächendeckender Unterrichtsverweigerung von muslimischen Schülern (http://www.zeit.de/2006/50/B-Schulverweigerung, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011)
43
die Tatsache, dass der Ditib nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird
(Z.186-187), als Zeichen für die Bereitschaft zu Austausch und
harmonischem Zusammenleben wertet (Z. 176-177), zeigt, dass der Autor
implizit der Klassifizierung muslimischer Gemeinden durch staatliche
Instanzen als problematisch oder unproblematisch folgt. Als Planer der
neuen Moschee schildert er die Muslime als besonders entgegenkommend
(Z. 314-322). So umgeht der Autor demonstrativ das Stereotyp aggressiver,
imperialistisch auftretender Muslime.
Weitere Muslime setzt der Autor als illustrierende Beispiele ein, um seine
Darstellung zu stützen. Er konzentriert sich dabei auf Frauen: Neben
individuellen Musliminnen, die die Harmonie zwischen Christen und
Muslimen veranschaulichen sollen (Z. 214-226), erscheint ein Kollektiv
türkischer Frauen exemplarisch als eine von vielen Triebkräften (Z. 272-274),
die sich für das interkulturelle und interreligiöse Zusammenleben und die
Etablierung eines Wertekonsenses stark machen (Z. 285-299). Indem der
Autor etwa Musliminnen mit Kopftuch implizit als religiöse Grenzgängerinnen
(Z. 234-237, Z.281-284) darstellt oder die Bildungs- und Berufserfolge
türkischer Frauen (Z. 278-279) und ihr Engagement (Z. 285-299) hervorhebt,
grenzt er sie von dem Stereotyp der traditionalistischen Kopftuchträgerin
oder der auf Heim und Familie beschränkten, ungebildeten Türkin ab. Der
muslimische Glaube erscheint flexibel und undogmatisch (Z. 219-226) –
dieses Bild setzt der Autor dem Stereotyp eines traditionalistischen,
monolithischen Islam gegenüber und verhindert damit zunächst eine
essentialisierende Rezeption seiner Islam-Darstellung.
Intention des Autors war es offenbar, dem hegemonialen Diskurs und der
problemorientierten Integrationsdebatte ein positives Bild von Muslimen in
Deutschland entgegen zu setzen (Z. 309-311). Die Metapher „Wunder“
(Titel, Z. 173) impliziert jedoch, dass friedliche und konstruktive Koexistenz
von Christen und Muslimen eigentlich unmöglich sei. Damit impliziert der
Autor eine wesenhafte Dichotomie zwischen Christentum und Islam. Indem
er die Metapher als Titel an die prominenteste Stelle des Artikels setzt, färbt
die Dichotomie auf den gesamten Text ab. Die Toleranz der Katholiken hebt
der Autor entsprechend als [a]ußergewöhnlich(e)“ hervor (Z. 68-69).
44
Die „interreligiöse Begegnungstätte“ (Z. 63) erscheint als Besonderheit und
Alleinstellungsmerkmal der neuen Moschee – damit impliziert der Autor, dass
andere muslimische Gemeinden keinen so großen Wert interreligiöse
Begegnung legen. In der Klassifizierung Marxlohs als Problemviertel (Z. 162-
163), taucht die Implikation, dass das Zusammenleben von Christen und
Muslimen meist problematisch sei, wieder auf. Zwar stellt der Autor die
Anwesenheit von Muslimen nicht grundsätzlich als Problemfaktor dar; bei der
Schilderung Marxlohs als „Problemviertel“ bezieht er sich vor allem auf das
äußere Stadtbild (Z. 165-171). Mit der Einleitung „Natürlich“ (Z. 162)
verknüpft der Autor jedoch die religiöse Struktur, die bis dahin dominantes
Thema war, mit dem Begriff „Problemviertel“ (Z. 163). Hier scheint der Autor
davon auszugehen, dass seine Leser angesichts der Präsenz von Muslimen
in einem traditionell katholischen Stadtteil (Z. 94-100) Probleme erwarten.
Diesen Eindruck vermittelt auch die als Negation wiedergegebene
Einschätzung der Polizei, die Marxloh als „nicht auffälliger als andere
Stadtteile“ beschreibt (Z. 188-189), sowie die Implikation im Zitat des
nordrhein-westfälischen Integrationsministers Armin Laschet (CDU), der
suggeriert, es sei ein „Klima [...] der Abgrenzung“ zu erwarten (Z. 191-196).
In der unvermittelten Erwähnung des Themas „Angst“ durch den Imam (Z.
148) wirkt unterschwellig das Stereotyp eines gefährlichen Islam als
naheliegendes Thema.
Indem der Autor muslimische Frauen teils unvermittelt und ohne sonstigen
erkennbaren Grund in den Fokus rückt (Z. 231-239), erscheinen sie als
exotische Ausnahmefälle – so entsteht der Eindruck, das Klischee, das diese
Musliminnen zu widerlegen scheinen, sei der eigentliche Normalfall.
Der Autor schreibt Deutschen implizit eine Distanz zum Islam zu. Dies zeigt
vor allem die Implikation, die der Ausdruck „irritierend harmonisch(e)“ (Z.
155-159) beinhaltet. Hier suggeriert der Autor eine kollektive Binnensicht der
Deutschen. Indem er offenbar von vorgefertigten Meinungen seiner Leser zur
Präsenz von Muslimen in der deutschen Gesellschaft ausgeht, beansprucht
der Autor Deutungshoheit über die innere Haltung seiner Leser.
Integration erscheint in der Darstellung des Autors als ein Vernetzen und
Verweben (Z. 157), bei dem die Essenzen der sich Vernetzenden („das
Katholische“, „[das] Muslimische(n)“, „das Deutsche“, „[das] Türkische(n)“, Z.
45
158-159) erhalten bleiben. Indem er diese Begriffe nicht differenzierend
erläutert, fördert der Autor ein essentialistisches Bild von Katholiken und
Deutschen einerseits und Muslimen und Türken andererseits.
Das Kollektivsymbol des Kopftuchs als implizites Zeichen für
Traditionalismus und Nicht-Zugehörigkeit zur deutschen Kultur macht den
suggerierten Kontrast besonders anschaulich (Z. 231-239).
Der Autor entwirft ein homogenisierendes Bild von Marxloh: Der Stadtteil
erscheint als homogene christlich-muslimische Konsensgemeinschaft. Das
zeigt sich vor allem in der Metapher des „neue[n] Ruhrgebiet[s]“ (Z. 160-161),
aber auch darin, dass der Autor alle Kritiker – abgesehen von der Postbotin,
die das harmonisierende Bild des Stadtteils geringfügig in Frage stellt (Z.
163-165) – außerhalb von Marxloh verortet (Z. 134-138, Z. 237-247),
wohingegen alle Muslime als tolerant und offen charakterisiert werden. Dass
es offenbar auch unter Marxlohern Ablehnung gegenüber der Moschee
gegeben hat (Z. 311-313), übergeht der Autor bei seiner Gesamtdarstellung.
So wirkt das Bild, das der Autor von dem Stadtteil zeichnet, geschönt.
Kapitel 3.4.6 – „Die Freiheit der anderen“
Der Autor des Artikels „Die Freiheit der anderen“ (Nr.7/2007, S. 80) inszeniert
seine Geschichte wie ein klassisches Drama, in dem er das Wertesystem
einer muslimischen Familie dem Wertesystem des deutschen Rechtsstaats
gegenüberstellt. Indem er die Muslime wie idealtypische Figuren in Szene
setzt und sie einer archaischen, von Gewalt und Unterdrückung geprägten
„Welt(en)“ (Z. 150) zuordnet, legt der Autor eine Rezeption der Geschichte im
Sinne einer orientalistischen Generalisierung und Dichotomie nahe.
Der Autor stellt alle handelnden Akteure seiner Geschichte als Figuren eines
Gerichts-Dramas dar: Hauptfigur ist die Tochter der kurdischen Familie (Z.
48). Sie erscheint als Opfer ihres Vaters (Unterzeile). Den Sohn der
kurdischen Familie (Z. 51) stellt der Autor ebenfalls als Opfer (Z. 94-97),
gleichzeitig jedoch als wehrhaft dar (Z. 101-102).
Mit Ausnahme des Vaters, der als Familienoberhaupt einerseits und als
Angeklagter (Z. 25) andererseits eine ambivalente Position einnimmt,
reduziert der Autor alle Hauptfiguren auf ihre Rolle innerhalb der
46
Wertegemeinschaft der Familie. Dies wird vor allem in der Bezeichnung der
Subjekte als „die Tochter“ (Z. 69, Z. 111-112, Z.146), „der Sohn“ (Z. 101)
oder „der Bruder“ (Z. 89, Z. 133) deutlich. Seine Erzählung inszeniert der
Autor wie ein Theaterstück: Die Textkomposition entspricht dem Aufbau der
klassischen griechischen Tragödie, der Einsatz der Tempi folgt
dramaturgischen Zielen, die Dominanz dynamischer Verben macht die
Szenen lebendig.
Der Autor stellt die muslimischen Hauptfiguren vorwiegend als irrational dar.
Dies zeigt sich etwa darin, dass den Muslimen vor allem Substantive
zugeordnet werden, die Emotionalität, Gewalt und Irrationalität vermitteln (Z.
4-5, Z. 31, Z. 139-140).
Die Tochter charakterisiert der Autor als das Opfer schlechthin (Z. 3, Z. 10-
11, Z. 155) – sie taucht im Familien-Kontext vorwiegend als Objekt auf (Z.
69, Z. 71-72). Durch die Betonung des eigenmächtigen Handelns der Tochter
(Z. 77-78) als „etwas Unvorhergesehenes, etwas für den Vater
Unvorstellbares“ (Z. 74-76) bestärkt der Autor die untertänige Rolle der
Tochter in der Familie. Durch die Metapher eines Verstrickens in
Widersprüche (Z. 139-141) scheint es, als nehme die Tochter ihren
Opferstatus nicht nur an (Z. 155), sondern verstärke ihn sogar. Indem der
Autor das widersprüchliche Verhalten der Tochter (Z. 120-136) hervorhebt,
charakterisiert er die Tochter als irrational und verängstigt (Z. 153-154).
Auch den Sohn schildert der Autor als Opfer der Gewalt und Tyrannei des
Vaters (Z. 49-54). Zugleich erscheint der Sohn als symbolischer Rebell, der
dem Vater Grenzen aufzeigen will (Z. 101-105), jedoch mit seinem
Aufbegehren keinen sichtbaren Effekt erzielt (Z. 106-109).
Der Vater erscheint in der Darstellung des Autors als Täter, was vor allem
der Gebrauch des Indikativs in der Schilderung einzelner Tathergänge (Z.
93-97) und Ereignisse (Z.69-78) verdeutlicht. Indem er die Gegenposition der
Tochter durch die Betonung von augenscheinlichen Widersprüchen als
irrational und unglaubwürdig verwirft, stützt der Autor das Bild des Vaters als
Täter. Durch die Hervorhebung des Widerspruchs zwischen innerer
Gefühlswelt (Z. 27-32) und äußerer Selbstdarstellung des Vaters (Z. 106-
109) erscheint auch er als irrational und innerlich zwiegespalten.
47
Das Wertsystem der muslimischen Familie stellt der Autor als patriarchalisch
(Z. 46-47, Z. 72-73) und von Gewalt und Unterdrückung geprägt (Z. 47-50)
dar. Die Religion erscheint dabei als „Wertekatalog“ der Familie, mit dem der
Vater seine patriarchalische Macht legitimiert. Dies veranschaulicht
besonders die Rolle des Imam, der als religiöse Autorität die Machtposition
des Vaters in dessen Abwesenheit sichert (Z. 77-78). Indem der Autor die
Verweigerung einer arrangierten Hochzeit durch die Tochter als Mordmotiv
des Vaters als Fakt darstellt (Z. 54-56), erweckt er unterschwellig
Assoziationen mit dem Handlungsmuster des sogenannten Ehrenmordes,
das innerhalb des Islam-Diskurses ein Stereotyp darstellt.
Die Familie erscheint als abgeschottete Wertegemeinschaft (Z. 59-60), die
mit der deutschen Gesellschaft eigentlich nicht in Kontakt tritt. Kommen die
„zwei Welten“ (Z. 149-150) dennoch – wie in dem Gerichtsfall – miteinander
in Berührung, kommt es nach Darstellung des Autors zum kulturellen Clash
(Z. 61-62) – die beiden Wertesysteme erscheinen unvereinbar. Neben der
Metapher der „zwei Welten“ (Z. 149-150) versinnbildlicht auch das
Kollektivsymbol „Schwelle“ (Z. 15) diese Trennung.
Den Werte-Dissenz zwischen kurdischer Familie und deutschem Rechtsstaat
stellt der Autor in den Fokus seiner Beobachtungen (Z. 60-63). Die Werte
dieses Rechtsstaats beschreibt der Autor als freiheitlich (Titel, Z. 1) und
geprägt von Gerechtigkeitssinn (Z. 151-152) und Rationalität, was die
Hervorhebung von Nummern (Z. 42, Z. 64) und Aktenzeichen (Z. 67-68)
illustriert. Die Geschlossenheit der muslimischen Wertegemeinschaft
erscheint als Herausforderung und Dilemma für den deutschen Rechtsstaat
(Z. 138-143, Z. 146-149).
Bei der Abgrenzung von kurdischer Familie zu deutschem Rechtsstaat
konzentriert sich der Autor auf das Patriarchat des Familienvaters, das aus
deutscher Sicht historisch und lokal deplatziert erscheint (Z. 40-41, Z. 80-83).
Dies zeigt sich vor allem in dem Kontrast zwischen der Tochter und der
Richterin als Repräsentantin des deutschen Rechtsstaats: Die Tochter
erscheint passiv (Z. 7-9), unterdrückt (Z. 153-154), irrational (Z. 137) und
fatalistisch (Z. 146), die Richterin dagegen aktiv (Z. 138 ff.), emanzipiert (Z.
110-111), rational (Z. 150-153) und energisch (Z. 141-143). Die
gegensätzlichen Frauenbilder verstärken den Kontrast, der patriarchalische
48
Machtbeziehungen in Deutschland als anachronistisch und fehl am Platz
darstellt. Durch die Betonung der historischen Entwicklung in Deutschland,
versinnbildlicht in „vergilbte[n] Bilder[n]“ (Z. 38-39) und dem implizierenden
Begriff „noch“ (Z. 41), erscheint die deutsche Gesellschaft zivilisatorisch
weiter entwickelt als die Wertegemeinschaft der kurdischen Familie.
Mit der Schilderung des Wertsystems der kurdischen Familie als archaisch,
zivilisatorisch unterentwickelt und basierend auf Gewalt und Unterdrückung
von Frauen befördert der Autor orientalistische Stereotype. Mit der
Gegenüberstellung von muslimischer Familie und deutschem Rechtsstaat,
die der Autor als „zwei Welten“ (Z. 149-150) darstellt, kreiert er eine
Dichotomie. Der Autor trifft keine allgemeinen Aussagen über den Islam.
Durch die Inszenierung der Muslime als Idealtypen wirkt der Einzelfall jedoch
exemplarisch; der Autor befördert durch seine Art der Darstellung eine
generalisierende Rezeption durch seine Leser (Z. 64-66), die wiederum eine
Dichotomisierung von Islam und deutschem Rechtsstaat begünstigt.
Kapitel 3.4.7 – „Schlesische Schlachten“
In dem Artikel „Schlesische Schlachten“ (Nr.50/2007, S. 138)
beschreibt der Autor ein abgeschottetes Minderheiten-Milieu, in dem eigene
sozialmoralische Werte vorherrschen und das von Gewalt und archaisch-
patriarchalischen Machtstrukturen geprägt ist. Der Islam erscheint implizit als
Hintergrund der Sozialmoral in dem Milieu. Indem der Autor bestimmte
Szenen und statistisch anmutende Daten auswählt und zu einem Gesamtbild
zusammenfügt, bietet er seinen Lesern ein klischeehaftes Bild eines
muslimisch geprägten Milieus an, das mit orientalistischen
Darstellungsmustern korrespondiert.
Hauptakteure der Geschichte sind die Jugendlichen, die im Berliner Kiez
rund um das Schlesische Tor leben (Unterzeile Z. 4-5, Z. 58-60). Der Autor
stellt sie als Kollektiv generalisierend dar – dies befördert vor allem die
Anwendung des Pronomens „sie“ (Z. 31, Z. 51, Z. 111) und den Gebrauch
des Passivs, mit dem der Autor Gewohnheiten und Gepflogenheiten
impliziert (Z. 46-47, Z. 91-93). Auch der Einsatz statistischer Angaben (Z. 63-
66) trägt zu einem homogenen Milieu-Bild bei.
49
Der Autor wählt einen Hauptprotagonisten, Mahmud (Z. 8), der als Insider
und Repräsentant des Milieus auftritt, indem der Autor ihn für das Kollektiv
sprechen lässt (Z. 28-30, Z. 94-98).
Nach Behauptung des Autors bilden Muslime die überwiegende Mehrheit im
Kiez (Z. 63). Durch diese Verknüpfung von Milieuzugehörigkeit und
Zugehörigkeit zum Islam erscheinen die Muslime als homogene Gruppe –
die einzigen Unterschiede, die der Autor benennt, liegen in nationaler
Herkunft (Z. 60-63) und in biographischen Details, die mit dem Glauben in
keinem konkreten Zusammenhang stehen (Z. 66-78). Indem die
Zugehörigkeit zum Islam statistisch gesehen als „größter gemeinsamer
Nenner“ der Bewohner des Kiezes dargestellt wird, erweckt der Autor den
Eindruck, als seien Alltag und soziale Beziehungen im Milieu durch die
Religion geprägt.
Der Autor richtet sein Augenmerk besonders auf die sozialmoralischen Werte
der muslimischen Jugendlichen (Z. 26-28, Z. 39-40, Z. 86-87). Da die
Bemerkung „Fast alle sind Muslime“ (Z. 63) den einzigen Hinweis auf ein
sozialmoralisches Wertesystem darstellt, impliziert der Autor, dass die Werte
der Protagonisten mit ihrer Religionszugehörigkeit in Verbindung stehen oder
aus dem Islam abgeleitet sind. Den Eindruck einer besonderen Wirkung des
Islam auf die Sozialmoral im Milieu bekräftigt der Autor durch den Verweis
auf Begriffe wie „,Ehre als Mann’“ (Z. 95) oder „,(...) Ehre der Familie (...)’“ (Z.
123), die oft mit Islam assoziiert werden (s. Kapitel 3.2) und die im Kontext
als zentrale Werte erscheinen.
Indem der Autor die Zugehörigkeit zum Islam in eine Reihe stellt mit hohem
Ausländeranteil und verbreiteter Arbeitslosigkeit, erscheint die Religion als
einer von mehreren Indikatoren für eine problematische Sozialstruktur.
Vordergründiges Motiv bei der Schilderung des Milieus ist die Gewalt, die im
Spektakel des Straßenkampfs (Z. 8-16), aber auch in Alltagskonflikten (Z.
121-124) zutage tritt. Diese Gewalt schildert der Autor als essentielles
Charakteristikum der „Schlesier“ – zum einen durch den Titel, zum anderen
durch die generalisierenden sprachlichen Mittel, mit denen der Autor die
Jugendlichen als kollektive, Gewalt bejahende Wertegemeinschaft beschreibt
(Z. 88-98). Auch die Zitate des Protagonisten, der als Repräsentant die
Werte und Kodizes des Milieus erläutert, implizieren, dass Gewalt den
50
muslimischen Jugendlichen als normal gilt (Z. 28-30). Die Feststellung, dass
die Straßenkämpfe nicht der Polizei gemeldet werden (Z. 101-104)
impliziert, dass die Gewalt der Jugendlichen in dem muslimisch geprägten
Milieu akzeptiert wird oder gar konsensfähig ist; dies scheint der
Repräsentant des Milieus zu bestätigen (Z. 94-95). Verstärkend wirkt dabei,
dass der Autor das Milieu als quasi-rechtsfreien Raum darstellt, auf den
Kontroll- und Sicherheitsorgane kaum Zugriff haben (Z. 109-110). Hier wirkt
sich vor allem das Kollektivsymbol der „’Mauer (...)’“ im Zitat des
Polizeibeamten (Z. 101) als Implikation einer hermetisch abgeschotteten
Gemeinschaft aus. Auch der kontrastierende Vergleich mit der Sportart
„Ultimate Fighting“ (Bilder, Z. 72-76) unterstützt den Eindruck von Anarchie.
In den Gewaltszenen schildert der Autor die Protagonisten als animalisch (Z.
20-22), irrational und zügellos (Z. 34-35, Z. 42-46). Das Kollektivsymbol
„Testosteron“ (Z. 17) impliziert – verstärkt durch die diffuse Beschreibung
„liegt in der Luft“ (ebd.) – Kontrollverlust und unzivilisierte Körperlichkeit;
diesen Eindruck verstärkt der Autor, indem er im ersten Abschnitt Körperteile
zu Subjekten erhebt (Z. 8, Z. 14-16).
Der Autor schildert zudem Gewalt als anerkanntes Mittel zur sozialen
Distinktion im Milieu (Z. 114-124) und verknüpft so implizit Gewalt mit einem
muslimisch geprägten sozialmoralischen Wertekonsens. Diese Verknüpfung
stellt der Autor einerseits selbst her (Z. 27-28), andererseits bekräftigt er sie
durch die Worte des Protagonisten Mahmud (Z. 86-87, Z. 122-124) – so
erscheint der Zusammenhang plausibel.
Bei der tiefergehenden Charakterisierung seiner Protagonisten geht der
Autor auf sozialmoralische Konzepte wie Ehrenkodex (Z. 95, 123),
Patriarchat (Z. 39-40, Z. 121-124) und Abgrenzung von „anderen“ (Z. 96-98)
ein. Das Weltbild der Muslime erscheint archaisch ( Z. 35) und geprägt von
einer hierarchischen Rangordnung, die durch die Macht des Stärkeren – hier
wirkt vor allem der Begriff „Opfer“ in seiner milieuspezifischen Bedeutung (Z.
13) – und der Dominanz von Männern über Frauen (Z. 121-124) bestimmt
wird. Auch hier verleihen die Zitate des Repräsentanten Mahmud den
Schilderungen des Autors den Eindruck von Authentizität.
Indem der Autor das muslimisch geprägte Milieu als Keimzelle sozialer
Gewalt und Aggression auch gegen Außenstehende (Z. 97-98) schildert,
51
impliziert er eine latente Gefahr für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die
von der Kombination eines muslimisch geprägten, arachaisch-
patriarchalischen Wertesystems mit wirtschaftlich-sozialer Perspektivlosigkeit
ausgeht (Z. 136-138). So legt der Autor seinen Lesern die Assoziation von
Islam mit Gefahr nahe.
Der Autor wertet nicht explizit, sondern gibt die geschilderten sozialen
Verhältnisse im Milieu zur Bewertung durch seine Leser frei. Durch die Art
seiner Darstellung (Z. 17-18, Z. 22-27) fördert er jedoch eine ablehnende
Haltung seiner Leser und eine Gegenpositionierung zu dem Wertsystem des
Milieus. Zum anderen schafft der Autor eine Gegenüberstellung von
deutscher Gesellschaft und dem muslimisch geprägten Milieu, indem er die
Abgrenzung hervorhebt, die der Repräsentant des Milieus Mahmud selbst
äußert (Z. 55-57, Z. 96-98). Damit regt der Autor seine Leser zu einer
dichotomisierenden Rezeption seiner Schilderungen an.
Indem er dieses Wertsysten implizit als archaisch und unzivilisiert darstellt,
befördert er eine Deutung der Dichotomie als ungleiches Verhältnis einer
moralisch und zivilisatorisch überlegenen und einer moralisch und
zivilisatorisch unterlegenen Gruppe im Sinne orientalistischer Stereotypen.
Auch die Assoziation von Islam mit Patriarchat und Gewalttradition befördert
verbreitete orientalistische Klischees.
Kapitel 3.4.8 – „Das Phantom der Oper“
Die Autoren des Artikels „Das Phantom der Oper“ (Nr.40/2006, S. 40 ff.)
schildern Muslime und „Islamisten“ als Aggressoren in einem Kulturkampf
gegen die deutsche Gesellschaft. Orientalistische Darstellungsmuster und
Stereotype bilden die Grundlage dieser Schilderung.
Die Autoren befassen sich vor allem mit „islamistischen Terroristen“ (Z. 29)
als Kollektiv, das sie nicht näher definieren oder identifizieren; „Islamismus“
wirkt als diffuse Kategorie. Die „Islamisten“ erscheinen als Einzeltäter, deren
Zahl und Präsenz jedoch nicht einschätzbar ist und die theoretisch jederzeit
angreifen könnten. Diese Implikation zieht sich durch den gesamten Text
(v.a. Z. 43-45, Z. 59-61, Z. 71-75). Die Aggression der „Islamisten“ richtet
sich nach Darstellung der Autoren gegen Leib und Leben jedes einzelnen
52
Deutschen (Z. 120 ff.). Hier setzen die Autoren vor allem Substantive und
dynamische Verben aus dem Themenfeld „Krieg“ und „Kampf“ ein, um
Gewaltszenen vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen (Z.
15, Z. 42, Z.60, Z.84). Auch indem sie die „Zeiten des Terrors“ (Z. 121) mit
Krieg vergleichen (Z. 117-137, Z. 173-178), befördern die Autoren
Gewaltassoziationen. Besonders gefährlich erscheinen die „Islamisten“
dadurch, das die Autoren sie als irrational und unberechenbar
charakterisieren (Z. 138-139). Dass die Autoren die Motivation zur Gewalt
von „Islamisten“ in ihrem Glauben sehen, geht aus der Implikation hervor,
dass Kritik am Islam oder eine nicht-respektvolle Darstellung des Propheten
Aggression („islamistischen Furor“, Z. 138-139) auslöse (Z. 24-29, Z. 85-87,
Z. 140-144).
Muslime allgemein ordnen die Autoren einer „Parallelgesellschaft(en)“ (Z.
264-265) zu, die sich nach ihrer Darstellung in Deutschland ausbreitet (Z.
278-281) und die kulturelle Dominanz der Deutschen bedroht (Z. 285-286).
Indem die Autoren „vielen Muslimen“ defizitäre Deutschkenntnisse
attestieren (Z. 261-263), „Einwandererkinder“ kollektiv als schlechte Schüler
darstellen (Z. 323-325) sowie eine hohe und implizit stetig steigende
Arbeitslosigkeit von Ausländern hervorheben (Z. 326-329), erscheinen
Muslime (deren Bild hier mit dem der Einwanderer und Ausländer verknüpft
wird) generell als integrationsunwillig, ungebildet, unproduktiv und implizit als
wirtschaftliche und soziale Belastung.19 Die Präsenz und den nach ihrer
Darstellung dramatisch wachsenden Anteil von „Zugewanderten“ (Z. 282)
schildern die Autoren als aggressive und für die innere Stabilität
Deutschlands gefährliche Übernahme der Gesellschaftsmehrheit. (Z. 268 ff.)
Die Implikation, dass deutsche Schüler in „Einwanderervierteln“ (Z. 308) von
muslimischen Mitschülern wegen ihrer Religion und Kultur pauschal
beschimpft (Z. 310-312) und unterdrückt werden (Z. 318-322), stützt das Bild
einer aggressiven und immer dominanter auftretenden muslimischen
Minderheit.
Diese muslimische Minderheit wird essentialisierend als „abgeschlossene
Welt“ skizziert, die sich vor allem durch ihre eigenen Traditionen und
19 Hier fällt die Parallele zu den Thesen Thilo Sarrazins (Sarrazin 2010) auf – die Vermutung liegt nahe, dass die Autoren mit dem Diskursfragment dazu beitragen, den späteren Behauptungen Sarrazins den Weg zu ebnen.
53
sozialmoralische Wertvorstellungen definiert (Z. 265-267); das Verb
„kreisen“ (Z. 268) impliziert dabei eine ergebnislose Selbstbezogenheit, die
den Eindruck von Statik und kollektivem geistigen Verharren in archaischen
Moralkonzepten stützen. Muslimen schreiben die Autoren generell eine
Unterdrückung von Mädchen (Z. 252-256) und Frauen zu (Z. 257-259). So
suggerieren sie, dass muslimische Mädchen und Frauen in Deutschland
kollektiv in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, weil es die patriarchalischen
Traditionen des Islam so fordern. Den Eindruck, dass die angebliche
kulturelle Blockbildung von Muslimen in Deutschland religiös motiviert ist,
erwecken die Autoren vor allem dadurch, dass sie ihre prominenteste
Expertin, Necla Kelek, für diese These plädieren lassen (Z. 343-348).
In der Gesamtwirkung des Textes verschwimmt die Trennlinie zwischen
„Islamisten“ und Muslimen – beide Gruppen erscheinen als das „Andere“,
das die Autoren der deutschen Gesellschaft gegenüberstellen (Z. 57-61).
Den Begriff „appeasement“, der in seiner Fährenfunktion Assoziationen mit
fataler Akzeptanz gegenüber dem totalitären Terrorregime der Nazis weckt,
wenden die Autoren sowohl auf die Haltung zu „Islamisten“ als auch auf die
Haltung zu „Ausländern“, implizit Muslimen, an (Z.30, Z. 382-383). So
verknüpfen die Autoren beide Kollektive. Da die Autoren mit Ausnahme des
Mörders Theo van Goghs (Z. 65-67) keine Individuen beschreiben und die
Gruppen, über die sie sprechen, nicht identifizieren, wirken ihre
Charakterisierungen essentialisierend: Die Attribute und Eigenschaften, die
sie Muslimen zuschreiben, erscheinen als wesenhaft für das Kollektiv aller
Muslime in Deutschland.
Indem sie „Islamisten“ (Z. 105) und implizit auch Muslime (Z. 252-256, Z.
257-259) als „Gegner der Freiheit“ stilisieren, die deutsche Gesellschaft
jedoch als Hort der Freiheit darstellen (Z. 51-53, Z. 431-437) schaffen die
Autoren eine Dichotomie. Auch die deutsche Gesellschaft essentialisieren
die Autoren – einerseits, indem sie ein „Selbst“ beschwören, das sie mit
Nation gleichsetzen (Z. 244-245) und andererseits, indem sie ihr mit dem
Begriff „Angstvolk“ (Z. 106) eine kollektive psychische Disposition
zuschreiben. Essentialisierung und Dichotomie verstärken die Autoren,
indem sie Distanzierung von diesem „Selbst“ als psychische Störung
54
(„Selbsthass“, Z. 209) darstellen und – im Sinne einer Feindbegünstigung –
mit der Bedrohung durch Terroristen oder „Taliban“ assoziieren (Z. 237-240).
Die Autoren richten ihr Augenmerk auf „die Deutschen“ (Z. 54) als Volk.
Deutlich wird dies in zahlreichen Generalisierungen „der Deutschen“ oder
„der Gesellschaft“ (Z. 54 ff., Z. 77). Auch die häufige Verwendung des
unpersönlichen Pronomens „man“ und des Pronomens „wir“, mit dem sich
die Autoren selbst der impliziten Wertegemeinschaft der Deutschen
zurechnen, transportieren ein generalisierendes Volks-Bild. Wie die
Kollektive „Islamisten“ und „Muslime“ ist auch das Kollektiv der Deutschen
unscharf begrenzt – die Autoren verknüpfen es mit dem nicht näher
definierten „Westen“ (Z. 205), der meist mit Christentum assoziiert wird (Z.
384 ff). Die deutsche Mehrheitsgesellschaft und „die westliche Gesellschaft“
erscheinen synonym (Z. 220-222, Z. 434 ff.).
Die Autoren beanspruchen Gestaltungsmacht für die „wir“-Gemeinschaft der
Deutschen über die Gesellschaft. „Die Deutschen“ erscheinen als die Herren
im Haus, die nicht nur das Recht, sondern (aus Selbsterhaltungsgründen)
auch die Pflicht haben, „muslimische Zuwanderer“ zurecht zu weisen und
Anpassung zu erzwingen (Z. 275-276). Das zeigt vor allem die Implikation,
die im Wort „ungestraft“ enthalten ist (Z. 274-277) und das Kollektivsymbol
der „Schranke“ (Z. 17). Selbstbewusstsein bei der Vertretung eigener Werte
(Z. 384-391) gilt den Autoren als Richtmaß kultureller Hegemonie. Hier
werfen die Autoren den Deutschen kollektiv „appeasement“ (Z. 78) und
„Rückzug“ (Z. 269) vor.
Mit dem Artikel „Das Phantom der Oper“ bekräftigt der Spiegel einen
orientalistischen Diskurs über Muslime in Deutschland.
Indem die Autoren ein essentialistisches Bild von Islam als statisches,
archaisches und von Gewalt geprägtes Wertesystem zeichnen und Muslime
generalisierend und dichotomisierend als unberechenbare, irrationale
Aggressoren in einem Kulturkampf der deutschen bzw. westlichen
Gesellschaft gegenüberstellen, bedienen die Autoren alle von Said
definierten Dogmen des Orientalismus (s. Kapitel 2.1).
Dabei verkleiden die Autoren ihre orientalistischen Darstellungen als
Gesellschaftsanalyse: Sie verzichten weitgehend auf eine tatsächliche
Beweisführung ihrer Thesen – in vielen Sätzen ersetzen das Pronomen
55
„man“ (Z. 128-129) oder Formulierungen wie „Es gibt“ (Z. 220), „Es ist“ (Z.
285) oder „Da macht sich (...) breit“ (Z. 235-237) das handelnde Subjekt,
Passiv (Z. 384) oder vage Ortsangaben („in weiten Teilen der Linken“, Z.
357-358) machen Akteure unkenntlich. Die so dargestellten Thesen sind also
nicht überprüfbar; der Leser muss den Autoren glauben.
Plausibiliät in ihrer Argumentation konstruieren die Autoren stattdessen
durch wiedererkennbare Bilder (Z. 127-130, Z. 257-259), die das „Kopfkino“
ihrer Leser in Gang setzen. Auch die Marginalisierung von Gegenpositionen,
die sich vor allem im Umgang mit Expertenmeinungen zeigt, der selektive
Einsatz von statistischen Angaben und ihre Vermischung mit Implikaten (Z.
280-281), die Verwendung emotional gefärbter Substantive und Verben
(„Opfer“, Z. 41, „bedrohen“, Z. 60) und das Beschwören einer „wir“-
Gemeinschaft (Z. 59-61) dienen eher dazu, Ressentiments zu wecken, als
Thesen objektiv zu verifizieren. So wird die Analyse zu einer im wahrsten
Sinne des Wortes populistischen Warnung vor einem diffusen Feindbild.
Die Autoren bieten ihren Lesern einen Standpunkt an und schlagen in dem
Dickicht des Diskurses Argumentationswege frei. Dabei gehen sie offensiv
vor, indem sie einzelne Meinungen abwerten oder gar diffamieren
(„verbale[s] Heldentum“, Z.40) und andere Meinungen aufwerten und positiv
hervorheben. Damit hemmen sie eine kritische Auseinandersetzung der
Leser mit ihren Thesen.
56
Kapitel 4 – Fazit
Die Ergebnisse der Feinanalyse zeigen, wie unterschiedlich die Positionen
der Spiegel-Autoren im orientalistischen Diskurs ausfallen – das Spektrum
reicht von offenkundigem Orientalismus (s. Kapitel 3.4.8) bis zur
Gegenposition zum orientalistischen Diskurs (s. Kapitel 3.4.1). Auch
innerhalb der einzelnen Artikel treten bisweilen konkurrierende
Diskurspositionen zutage (s. Kapitel 3.4.3, Kapitel 3.4.4). Anhand der
Überprüfung der zentralen Charakteristika von Orientalismus lässt sich die
Position des Spiegel im Diskurs über „Islam in Deutschland“ dennoch
einordnen.
Nicht flächendeckend, aber prominent ist das für den orientalistischen
Diskurs zentrale Merkmal der Dichotomisierung (s. Kapitel 2.1): In der
Mehrzahl der Artikel erscheint Islam implizit oder explizit als Gegensatz zur
deutschen Gesellschaft. Hier bestätigt sich die Beobachtung aus der
Strukturanalyse (s. Kapitel 3.2). Besonders auffallend ist diese
Dichotomisierung in Artikeln oder Textpassagen, in denen Islam als
Wertesystem erscheint (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8). Oft
liegt die Implikation oder Behauptung eines Gegensatzes zwischen Islam
und deutscher Gesellschaft bereits im Thema des Artikels begründet (s.
Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6 und 3.4.8). In Artikeln oder Passagen, in
denen individuelle Muslime im Fokus stehen, vermeiden die Autoren die
Dichotomie zwischen Muslimen und deutscher Gesellschaft oder entkräften
sie sogar – damit erklärt sich der auf den ersten Blick verblüffende Befund,
dass ausgerechnet in Artikeln, in denen muslimische Terrorverdächtige die
Hauptrolle spielen, keine Dichotomie zwischen Islam und deutscher
Gesellschaft auftritt (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2).
Weniger prominent, aber mit einer ähnlichen Verteilung tritt das Merkmal der
Generalisierung von Muslimen in Erscheinung: In den meisten Artikeln
stellen die Autoren Muslime allgemein oder bestimmte Gruppen von
Muslimen generalisierend dar oder befördern durch ihre Darstellungen eine
generalisierende Rezeption durch ihre Leser (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4., 3.4.5,
3.4.6, 3.5.7 und 3.4.8) – die häufige Darstellung von Muslimen als Kollektive
begünstigt dieses Muster. Im Gegensatz zeigt sich, dass der Fokus auf
57
Individuen einem generalisierenden Bild von Muslimen entgegenwirkt –
besonders, wenn diese Individuen vielschichtig und mehrdimensional
beschrieben werden (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2 und 3.4.4).
Essentialisierungen von Islam kommen in wenigen Texten vor. Nur in einem
Artikel (s. Kapitel 3.4.8) stellen die Autoren Islam offenkundig und mit
Nachdruck essentialisierend dar. In einigen Texten bewirkt die Darstellung
muslimischer Gemeinschaften oder muslimisch geprägter Milieus als
abgeschlossene Welt eine implizite Essentialisierung oder legt eine
entsprechende Rezeption des Geschilderten nahe (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.6).
Schwerwiegender ist dagegen der Einsatz von Stereotypen in den
untersuchten Spiegel-Artikeln:
Besonders prominent ist das Stereotyp eines gefährlichen und
gewaltgeprägten Islam – dieses Bild findet in fast allen Artikeln Raum (s.
Kapitel 3.4.2, 3.4.3, 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8) und bestimmt oft das
Thema der Spiegel-Beiträge (s. Kapitel 3.4.2, 3.4.3, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8).
Die Verbreitung dieses Stereotyps deckt sich zum Teil mit der Prominenz von
Dichotomien zwischen Islam und deutscher Gesellschaft. In der
Gesamtwirkung erscheint der Islam als potenzielle Bedrohung für die
deutsche Gesellschaft, die eine ständige Kontrolle und Wachsamkeit seitens
deutscher Sicherheitsorgane erfordert.
Auch die stereotype Darstellung von Muslimen als irrational findet sich in
vielen der untersuchten Artikel wieder (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.6, 3.4.7 und
3.4.8), tendenziell unterstützt durch das Bild eines bildungsfeindlichen Islam
(s. Kapitel 3.4.4). In einigen Fällen verstärkt dieses Stereotyp den Eindruck
einer Bedrohung durch den Islam – Muslime werden durch die
Charakterisierung als irrational als besonders gefährlich dargestellt (s.
Kapitel 3.4.3 und 3.4.8).
Ein stereotypes Bild, das den Islam als unterentwickelt oder zivilisatorisch
unterlegen erscheinen lässt, findet sich in drei der acht untersuchten Artikel
wieder (s. Kapitel 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8); das Stereotyp eines statischen
Islam tritt nur in einem Fall auf (s. Kapitel 3.4.8).
Zusätzlich zu den in Kapitel 2.1 aufgeführten orientalistischen
Charakterisierungen tritt das Stereotyp eines Frauen unterdrückenden Islam
in vielen Artikeln zutage (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8). Auch
58
hier decken sich die Ergebnisse von Struktur- und Feinanalyse (s. Kapitel
3.2). Dieses Stereotyp korrespondiert in der Darstellung der Autoren mit dem
Bild von Islam als zivilisatorisch rückständig.
Aufschlussreich ist auch die Überprüfung von Saids Beobachtung, dass
orientalistische Darstellungen sich eher auf Abstraktionen statt auf faktische
Belege stützen (s. Kapitel 2.1): In der Gesamtschau der Artikel zeigt sich,
dass in den Artikeln oder Textpassagen, in denen orientalistische Muster
nach den oben beschriebenen Merkmalen am deutlichsten in Erscheinung
treten, die Autoren ihre Schilderungen vorwiegend auf Behauptungen, diffuse
Konzepte, Feindbilder oder emotionsgeladene Szenarien stützen oder durch
Wiedererkennungseffekte den Eindruck von Authentizität zu vermitteln
versuchen (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.8). Dagegen treten in Artikeln, in denen
sich die Autoren stark an Fakten orientieren, kaum orientalistische
Darstellungsmuster in Erscheinung (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2).
Die Frage nach dem Definitionsanspruch der Autoren, die über Islam und
Muslime schreiben, erfordert eine differenzierte Untersuchung. Schon der
bloßen Tätigkeit des publizistischen Schreibens über Muslime liegt ein
Definitionsanspruch zugrunde – die Autoren zeichnen ein Bild von Muslimen
oder Islam, das durch Autorität und Verbreitung der Medien eine besondere
Wirkungsmacht entfaltet. Die Berichterstattung über Islam und Muslime
deshalb per se als Zeichen für Orientalismus zu werten, halte ich jedoch für
überzogen; dies wird auch den Thesen Saids nicht gerecht (Said 2003a:xxiii).
Wesentlich erscheint mir dagegen, wie das Bild zustande kommt, das die
jeweiligen Journalisten zeichnen und in welchem Maß die beschriebenen
Muslime daran mitwirken. Dies mache ich daran fest, ob die Autoren ihren
Protagonisten Raum geben, sich selbst zu repräsentieren, oder ob sie
beanspruchen, für ihre Protagonisten zu sprechen.
Der Raum, den die Autoren einzelnen Muslimen geben, um sich selbst zu
repräsentieren, fällt insgesamt gering aus. In zwei von acht Artikeln lassen
die Autoren individuelle Muslime in eigener Sache sprechen (s. Kapitel 3.4.1
und 3.4.2). Bei der Charakterisierung von Kollektiven, die die
Gesamtdarstellung des Themas „Islam in Deutschland“ im Spiegel dominiert,
setzen die Autoren oft Repräsentanten ein, die für das Kollektiv sprechen (s.
Kapitel 3.4.4, 3.4.5, 3.4.7). Dabei bleibt offen, ob die Repräsentanten
59
tatsächlich einen kollektiven Konsens wiedergeben oder nicht. In einem der
acht Artikel kommt überhaupt kein Muslim zu Wort (s. Kapitel 3.4.8) – hier
beanspruchen die Autoren uneingeschränkte Definitionsmacht.
Häufig zeigt sich dagegen, dass die Autoren für ihre muslimischen
Protagonisten sprechen (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.5 und 3.4.8) oder
beanspruchen, die inneren Vorgänge, Gedanken und Gefühle von individuell
oder kollektiv auftretenden Muslimen zu kennen und ihren Lesern erläutern
zu können (s. Kapitel 3.4.6 und 3.4.7).
Zudem fällt auf, dass die Autoren der meisten Artikel Definitionen und
Deutungen von anderen Autoritäten übernehmen, etwa staatlichen Macht-
und Kontrollinstanzen (s. Kapitel 3.4.5, 3.4.7 und 3.4.8) oder muslimischen
Insidern, die zugleich als Experten auftreten (s. Kapitel 3.4.3. und 3.4.4).
Dabei stehen diese Autoritäten fast immer in Opposition zu der Gruppe, die
sie definieren und beschreiben (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.7 und 3.4.8).
Indem sie ausgewählte Personen oder Instanzen mit Deutungshoheit
ausstatten und über ein ihnen gegenübergestelltes Kollektiv sprechen
lassen, machen sich die Autoren diese Definitionen zunutze, um ihrem Bild
von Muslimen Authentizität und Gewicht zu verleihen.
In zwei Artikeln pflegen die Autoren einen kritischen und distanzierten
Umgang mit den Definitionen außenstehender Machtinstanzen (s. Kapitel
3.4.1 und 3.4.2). Diese kritische Haltung tritt meinen Beobachtungen aus der
Strukturanalyse zufolge in Beiträgen über mutmaßlichen Terrorismus
verstärkt zutage (s. Kapitel 3.2).
Die Untersuchung von Merkmalen des orientalistischen Diskurses in den
Spiegel-Artikeln über Muslime in Deutschland deckt auf, wie prominent und
vielschichtig sich orientalistische Darstellungsmuster in dem Bild
niederschlagen, das das Magazin seinen Lesern von Muslimen oder Islam in
Deutschland vermittelt. Dieser Dominanz des hegemonialen Diskurses
setzen nur wenige Artikel Gegenpositionen entgegen; in der Gesamtwirkung
der Diskurslinie des Spiegel gibt die orientalistische Tradition die
Stoßrichtung des Magazins vor.
Auch wenn keines der von Said beschriebenen Merkmale von Orientalismus
flächendeckend in allen Artikeln auftritt, zeigt sich in der Gesamtanalyse,
60
dass der Spiegel mit seinen 2006-2008 erschienenen Beiträgen über das
Thema „Islam in Deutschland“ insgesamt Orientalismus bekräftigt.
61
Kapitel 5 – Schlussbemerkung
Die kritische Diskursanalyse der verschiedenen Beiträge des Spiegel über
Muslime in Deutschland hat gezeigt, auf welch unterschiedlichen Wegen
orientalistische Darstellungsmuster in journalistische Texte einfließen und
darin Wirkung entfalten. Der Effekt, den Orientalismus in dieser Form erzielt,
ist besorgniserregend: Bekräftigt durch die Autorität und diskursive Macht der
Medien manifestiert sich ein Bild von Islam als fremde, latent gefährliche
Machtinstanz, die einer deutschen Mehrheitsgesellschaft antagonistisch
gegenübersteht. Muslime erscheinen als Außenstehende, deren Werte und
Normen nicht in „unsere“ Gesellschaft passen.20 Frauen und Mädchen mit
Kopftuch haftet das Bild der unterdrückten Muslima, des Opfers
patriarchalischer Gewalt, an.21 Moscheen in deutschen Städten erscheinen
als Fremdkörper und Keimzellen einer latent gefährlichen Ideologie, die sich
der Kontrolle deutscher Sicherheitsorgane zu entziehen droht.22 Wie
destruktiv sich der orientalistische Diskurs auswirkt auf das große Projekt
„Integration“ und das Ziel, dass Muslime eines Tages selbstverständlich als
Zugehörige der deutschen Gesellschaft gelten, ist offensichtlich.
Journalisten, die „[v]erantwortungsethisch(en)“ (Pürer 1996, zit. nach Mast
2004:98) über Islam und Muslime schreiben wollen, müssen sich vom
orientalistischen Diskurs distanzieren. Doch nicht nur sie – auch ihre Leser
müssen sich der diskursiven Techniken des Orientalismus bewusster werden
und Diskurse hinterfragen, indem sie Texte nicht als Abbild von Wahrheit
betrachten, sondern als Produkte menschlicher Arbeit, der bisweilen auch
fragwürdige Methoden zugrunde liegen.
20 Ein Indiz für die Verbreitung dieses Islam-Bildes stellt etwa die Debatte dar, die sich nach der Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff am Tag der Deutschen Einheit entzündete, nachdem Wulff gesagt hatte, „(...) der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“. (http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews-,11057.667040/Rede-von-Bundespraesident-Chri.htm?global.back=/-%2c11057%2c6/Reden-und-Interviews.htm%3flink%3dbpr_liste, Datum des letzten Besuchs: 28.03.2011) 21 Dieses Bild beförderte etwa Alice Schwarzer mit ihrer Behauptung, das Kopftuch sei „(...) eine Art ‚Branding’, vergleichbar mit dem Judenstern (...)“, das Musliminnen zu „(...) Menschen zweiter Klasse (...)“ mache. (http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~EF6816D734A5C42A8A352CBB10367B7FA~ATpl~Ecommon~Scontent.html, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011) 22 Belege für die Verbreitung dieses Feindbildes liefern zahlreiche Bürgerinitiativen, die gegen den Neubau von Moscheen protestieren – ein prominentes Beispiel ist etwa die Initiative „Pro Köln“, deren Konzept bereits überregional Nachahmer gefunden hat (http://www.aktuell.pro-koeln.org/, Datum des letzten Besuchs: 28.03.2011)
62
Hier soll meine Arbeit einen Beitrag dazu leisten, die Wirkungsmechanismen
des orientalistischen Diskurses sichtbar zu machen und Produzenten wie
Rezipienten des Mediendiskurses über Islam in Deutschland dazu
anzuregen, wachsam und kritisch mit Repräsentationen von Islam und
Muslimen umzugehen.
Wie können sich Journalisten von Orientalismus distanzieren? Die Lösung ist
sicherlich nicht, gar nicht oder nur positiv über Islam und Muslime zu
berichten (s. Kapitel 4). Auch selektive Berichterstattung, die sich auf
scheinbare Ausnahmefälle oder Gegenbeispiele konzentriert und alle
Faktoren ausblendet, die orientalistisch anmutende Bilder befördern könnten,
wirkt letztendlich verfälschend und zeugt weder von Qualität noch von
journalistischem Berufsethos.
Die wichtigste Voraussetzung für eine verantwortungsethische
Berichterstattung über Islam und Muslime ist m. E. ein geschärftes
Bewusstsein für die Wirkungsmacht orientalistischer Darstellungen. Edward
Said liefert selbst einige Ratschläge, die sich sowohl für Wissenschaftler als
auch für Journalisten anbieten (Said 2003a:326 f.):
Zum einen empfiehlt er, eine wachsame und kritische Haltung gegenüber
dem eigenen Geschriebenen einnehmen; die Gefahr, in Orientalismus zu
verfallen, sollten Autoren immer im Kopf behalten. Hilfreich sei es auch, auf
Entwicklungen in anderen Disziplinen achten, um gegebenenfalls „instruktive
Korrektive“ zu finden, die sich auf die eigenen Projekte anwenden lassen.
Zudem sollten Autoren, die über Islam schreiben, eine eigenständige und
konkrete Herangehensweise an das Thema Islam entwickeln, sich von
spezifischen Problemen und Gesellschaften animieren lassen und die
Rituale, Vorurteile und Doktrinen des Orientalismus außen vor lassen.
Diesen Punkt halte ich für die wichtigste und wirkungsvollste Methode, um
bei der Berichterstattung über Muslime und Islam in Deutschland
orientalistische Konzepte zu vermeiden. Auch in meiner Diskursanalyse zeigt
sich, dass die Autoren, die individuelle Muslime als vielschichtige Personen
in den Vordergrund stellen und sich beim Schreiben an Fakten und
Handlungen orientieren, deutlich seltener in orientalistische
Darstellungsmuster verfallen als diejenigen Autoren, die zu pauschalen
Beschreibungen von Kollektiven und „Strömungen“ ansetzen, die sich an
63
Fakten und Personen allenfalls notdürftig belegen lassen (s. Kapitel 3.4 und
Kapitel 4).
Einen konstruktiven Vorschlag für eine Technik konkreten und differenzierten
Schreibens liefert die Anthropologin Lila Abu-Lughod, deren Konzept der
„Ethnografie des Partikularen“ auch lohnenswerte Ansätze für journalistische
Praxis bietet (Abu-Lughod 1996). Abu-Lughod plädiert dafür, Menschen als
„Individuen in Zeit und Raum“ (ebd.:33) zu schildern und ihrer persönliches
Handeln im Kontext ihrer sozialen Umgebung in den Fokus zu rücken, mit
dem Ziel, Generalisierungen und Dichotomien zwischen „Selbst“ und
„Anderen“ zu vermeiden. Die Geschichten, die ein solcher Fokus auf
partikulare Lebenswelten hervorbringt, erscheinen gerade für Journalisten
und ihre Leser attraktiv, die sich von Orientalismus verabschieden wollen:
„Der besondere Wert dieser Strategie liegt darin, daß [sic] sie Ähnlichkeiten in allen unseren
Lebensumständen zum Vorschein bringt. Festzustellen, daß [sic] wir alle im Partikularen
leben, bedeutet nicht, daß [sic] alles Partikulare dasselbe ist. Es kann durchaus sein, daß
[sic] wir sogar beim Blick auf den Alltag grundlegende Unterschiede entdecken (...). Aber die
Alltäglichkeit bricht die Kohärenz und führt die Kategorie der Zeit ein; sie orientiert uns so auf
Ablauf und Widerspruch. Und das Partikulare weist darauf hin, daß [sic] andere so leben,
wie auch wir unser Leben sehen, nicht als Roboter, die mit kulturellen „Regeln“ programmiert
sind, sondern als Menschen, die durchs Leben gehen und sich dabei mit Entscheidungen
herumschlagen, Fehler machen, versuchen, gut auszusehen, Tragödien und persönliche
Verluste ertragen, Freude an anderen haben und Augenblicke des Glücks finden. Die
Sprache der Verallgemeinerung kann diese Art von Erfahrungen und Tätigkeiten nicht
vermitteln.“ (ebd.:38)
64
Literaturverzeichnis
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<http://www.aktuell.pro-koeln.org/> (Datum des letzten Besuchs:
02.04.2011).
Drieschner, Frank (2006). Was denkt der Kopf unter dem Tuch? Zugänglich
unter: <http://www.zeit.de/2006/38/Kopftuch-Studie> (Datum des letzten
Besuchs: 02.04.2011).
Frankfurter Allgemeine Zeitung (ed.) (2006): „Die Islamisten meinen es so
ernst wie Hitler“. Zugänglich unter:
<http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Do
c~EF6816D734A5C42A8A352CBB10367B7FA~ATpl~Ecommon~Scont
ent.html> (Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011).
Görlach, Alexander (2009). Der Karikaturen-Streit in deutschen Printmedien.
Eine Diskursanalyse. Stuttgart: Ibidem-Verlag.
Hafez, Kai (2002). Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung.
Band 2: Das Nahost- und Islambild der deutschen überregionalen
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ein Vergleich ethnisch-religiöser Medienbilder. In: Butterwegge,
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65
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Bartsch, Matthias/Schmidt, Caroline/Wassermann, Andreas (2006). Volle
Deckung. Der Spiegel, Nr. 2/2006: S. 44.
Bartsch, Matthias/Brandt, Andrea/Kaiser, Simone/Latsch, Gunther/Meyer,
Cordula/Schmidt, Caroline (2007). Haben wir schon die Scharia? Der
Spiegel, Nr. 13/2007: S. 22-35.
Bartsch, Matthias/Kaiser, Simone/Rosenbach, Marcel (2007). Die
verschwundenen Söhne. Der Spiegel, Nr. 38/2007: S. 142-143.
Bartsch, Matthias (2008). Zurück zu den Mullahs. Der Spiegel, Nr. 17/2008:
S. 62.
Beier, Lars-Olav/Matussek, Matthias (2007). „Ich mag offene Enden“. Der
Spiegel, Nr. 39/2007: S. 159.
Berg, Stefan/Brinkbäumer, Klaus/Cziesche, Dominik/Hardinghaus,
Barbara/Ludwig, Udo/Röbel, Sven/Verbeet, Markus/Wensierski, Peter
(2006). Die verlorene Welt. Der Spiegel, Nr. 14/2006: S. 22-36.
Berg, Stefan (2006). Schwer ist der Anfang. Der Spiegel, Nr. 15/2006: S. 40.
Beste, Ralf/Bornhöft, Petra/Knaup, Horand/Stark, Holger (2007). Gefangener der Vergangenheit. Der Spiegel, Nr. 4/2007: S. 34-36.
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Brandt, Andrea/Kaiser, Simone/Meyer, Cordula/Ulrich, Andreas (2006).
Drohung aus dem Libanon? Der Spiegel, Nr. 34/2006: S. 36-37.
Brandt, Andrea/Meyer, Cordula (2006). Und nachts der Koran. Der Spiegel,
Nr. 46/2006): S. 56-60.
Brandt, Andrea/Ulrich, Andreas (2008). „Dann stirbst auch du“. Der Spiegel,
Nr.22/2008: S. 66.
Brandt, Andrea/Neumann, Conny/Sontheimer, Michael/Verbeet,
Markus/Wensierski, Peter (2008). „Kaum verhüllte Drohung“. Der
Spiegel, Nr. 39/2008: S.36-38.
Brandt, Andrea/Kaiser, Simone/Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2008). Der
Weg ins Paradies. Der Spiegel, Nr. 40/2008: S. 50-51.
Brauck, Markus (2007). Neues Sendungs-Bewusstsein. Der Spiegel, Nr.
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Buse, Uwe (2008). Der Deutschland-Test. Der Spiegel, Nr. 33/2008: S. 59.
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Hinterzimmer. Der Spiegel, Nr. 12/2006: S. 58-61.
Cziesche, Dominik (2006). Rasante Wende. Der Spiegel, Nr. 23/2006: S. 44.
Cziesche, Dominik/Dahlkamp, Jürgen (2006): Gerangel um die erste Reihe.
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Dahlkamp, Jürgen/Mascolo, Georg/Stark, Holger (2006). Ein Job für Lady.
Der Spiegel, Nr. 25/2006: S. 58-62.
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Dahlkamp, Jürgen/Kleinhubbert, Guido/Latsch, Gunther/Ulrich,
Andreas/Verbeet, Markus (2006): Virtueller Dschihad. Der Spiegel, Nr.
42/2006: S. 32-33.
Dahlkamp, Jürgen/Elger, Katrin/Kaiser, Simone/Röbel, Sven/Stark,
Holger/Steinvorth, Daniel/Ulrich, Andreas (2008). Szenen einer
Feindschaft. Der Spiegel, Nr. 7/2008: S. 36-38.
Darnstädt, Thomas (2007). Im Vorfeld des Bösen. Der Spiegel, Nr. 28/2007:
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Darnstädt, Thomas (2008). Identität als Gefängnis. Der Spiegel, Nr. 8/2008:
S. 46-48.
Der Spiegel (ohne Autor) (2006). Osthoffs Vorfahren. Der Spiegel, Nr.
2/2006: S. 58.
Der Spiegel (ohne Autor) (2006). Bremer Taliban sollte als Spitzel arbeiten.
Der Spiegel, Nr. 11/2006: S. 19.
Der Spiegel (ohne Autor) (2006). Zammar gegen Deutschland. Der Spiegel,
Nr. 16/2006: S. 22.
Der Spiegel (ohne Autor) (2006). Verbrechen im Namen der Ehre. Der
Spiegel, Nr. 17/2006: S. 80-83.
Der Spiegel (ohne Autor) (2006). Ingenieur des Islamismus. Der Spiegel, Nr.
29/2006: S. 40-41.
Der Spiegel (ohne Autor) (2006). Vernehmung in Beirut. Der Spiegel, Nr.
37/2006: S. 19.
Der Spiegel (ohne Autor) (2006). „Vielleicht wurde Druck ausgeübt“. Der
Spiegel, Nr. 38/2006: S. 21.
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Der Spiegel (ohne Autor) (2006). Diskretes Willkommen. Der Spiegel, Nr.
38/2006: S. 22.
Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Geld von Mili Görüs. Der Spiegel, Nr.
1/2007: S. 14.
Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Angst vor Türken-Protest. Der Spiegel, Nr.
12/2007: S. 18.
Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Ermittlungen gegen Islamismus-Plattform.
Der Spiegel, Nr. 15/2007: S. 16.
Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Fahrkarte in den Irak. Der Spiegel, Nr.
15/2007: S. 32-35.
Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Muslime wollen Gleichstellung. Der Spiegel,
Nr. 16/2007: S. 21.
Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Legale Werbung für Dschihad. Der Spiegel,
Nr. 18/2007: S. 17.
Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Warnung aus Washington. Der Spiegel, Nr.
26/2007: S. 15.
Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Klüger werden mit: Ibrahim Kepenek. Der
Spiegel, Nr. 39/2007: S. 107.
Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Al-Qaida-Kämpfer aus Braunschweig. Der
Spiegel, Nr. 5/2008: S. 15.
Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Mehrere Deutsche in Terrorcamps. Der
Spiegel, Nr. 7/2008: S. 17.
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Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Törichte Toleranz. Der Spiegel, Nr. 9/2008:
S. 65.
Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Fremd zu Hause. Der Spiegel, Nr. 11/2008:
S. 73.
Der Spiegel (ohne Autor) (2008). „Unter aller Kanone“. Der Spiegel, Nr.
12/2008: S. 20.
Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Märtyrertod in Afghanistan. Der Spiegel, Nr.
12/2008: S. 21.
Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Zum Märtyrertod bereit. Der Spiegel, Nr.
39/2008: S.16.
Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Fahndung nach Islamisten floppt. Der
Spiegel, Nr. 43/2008: S. 19.
Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Cousin und Cousine. Der Spiegel, Nr.
45/2008: S. 48-50.
Ehlers, Fiona (2006). Und ewig grüßt der Muezzin. Der Spiegel, Nr. 4/2006:
S. 62-67.
Elger, Katrin (2008). „Meine Zeit wird kommen.“ Der Spiegel, Nr. 13/2008: S.
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Elger, Katrin und Hülsen, Isabell (2008). „Kein Tag ohne Flammen“. Der
Spiegel, Nr. 15/2008: S. 102-104.
Feldenkirchen, Markus (2007). Der Supertürke. Der Spiegel, Nr. 29/2007: S.
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Festenberg, Nikolaus von (2006). Türkischer Teufel. Der Spiegel, Nr.
38/2006: S. 122.
Festenberg, Nikolaus von (2008). Von Eseln und Männern. Der Spiegel, Nr.
29/2008: S. 100.
Festenberg, Nikolaus von (2008). Die Dämonen des Kommissars. Der
Spiegel, Nr. 43/2008: S. 186.
Fleischhauer, Jan/Kurbjuweit, Dirk (2006). Das Phantom der Oper. Der
Spiegel, Nr. 40/2006: S. 40-46.
Friedrichsen, Gisela (2007). Hat niemand etwas bemerkt? Der Spiegel, Nr.
47/2007: S. 62-64.
Gebauer, Matthias/Röbel, Sven/Stark, Holger (2006). Mutter Abdullahs. Der
Spiegel, Nr. 23/2006: S. 46-47
Gebauer, Matthias/Kleinhubbert, Guido/Stark, Holger (2007). Zugriff im
Grenzgebiet. Der Spiegel, Nr. 11/2007: S. 40.
Gebauer, Matthias/Kaiser, Simone/Musharbash, Yassin/Stark, Holger (2007).
Edelsteine und Dschihad. Der Spiegel, Nr. 27/2007: S. 26.
Gebauer, Matthias/Stark, Holger (2008). Ende unter Trümmern. Der Spiegel,
Nr. 1/2008: S. 31-32.
Gilbert, Cathrin/Wulzinger, Michael (2008). Diagnose Karies. Der Spiegel,
Nr.39/2008: S. 135.
Goetz, John/Rosenbach, Marcel/Sandberg, Britta/Stark, Holger (2008). Der
Gefangene Nr. 760. Der Spiegel, Nr. 41/2008: S. 100-119.
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Großbongardt, Annette/Steinvorth, Daniel (2006). „Ein Schub an
Lebensenergie“. Der Spiegel, Nr. 37/2006: S. 156-158.
Gutsch, Jochen-Martin (2006). Allahs Info-Stand. Der Spiegel, Nr. 37/2006:
S. 110.
Gutsch, Jochen-Martin (2006). Die Bärtigen kommen. Der Spiegel, Nr.
45/2006: S. 68-74.
Gutsch, Jochen-Martin/Hinrichs, Per/Koelbl, Susanne/Latsch, Gunther/Röbel,
Sven/Ulrich, Andreas (2008). Eigentum des Mannes. Der Spiegel, Nr.
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Hardinghaus, Barbara (2007). Der Fremde. Der Spiegel, Nr. 34/2007: S. 53-
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Henk, Malte (2006). „Ich will nicht gehn“. Der Spiegel, Nr. 23/2006: S. 152.
Hipp, Dietmar (2006). Verkannte Dimension. Der Spiegel, Nr. 41/2006: S. 50.
Hipp, Dietmar/Verbeet, Markus (2007): „Pulverdampf des Kulturkampfs“. Der
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Höbel, Wolfgang (2006). Unliebsame Verwandschaft. Der Spiegel, Nr.
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Hoppe, Ralf (2006). Deutsch gut bei Pause. Der Spiegel, Nr. 5/2006: S. 63.
Hoppe, Ralf (2007). Das Joghurt? Der Joghurt? Der Spiegel, Nr. 12/2007: S.
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Hoppe, Ralf (2007). Wallfahrtsort des Misstrauens. Der Spiegel, Nr. 8/2008:
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Jacobsen, Lenz/Wensierski, Peter (2008). Flucht vor dem Frust. Der Spiegel,
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Kaiser, Mario (2006). Die Angelegenheit. Der Spiegel, Nr. 7/2006: S. 60.
Kaiser, Mario (2007). Die Freiheit der anderen. Der Spiegel, Nr. 7/2007: S.
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Kaiser, Mario (2008). Unbequeme Wahrheiten. Der Spiegel, Nr.51/2008: S.
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Kaiser, Simone/Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2007). „Operation
Alberich“. Der Spiegel, Nr. 37/2007: S. 20-26.
Kaiser, Simone/Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2007). „Wirst du Taliban,
oder was?“. Der Spiegel, Nr. 6/2008: S. 34-36.
Kleinhubbert, Guido (2006). Brühwurst vom Spieß. Der Spiegel, Nr. 7/2006:
S. 50.
Kleinhubbert, Guido und Neumann, Conny (2006). Die Spur der Ceska. Der
Spiegel, Nr. 16/2006: S. 46-50.
Kneip, Ansbert (2006). „Es muss bluten, ist doch klar“. Der Spiegel, Nr.
32/2006: S. 66-70.
Knöfel, Ulrike (2008). Steine des Anstoßes. Der Spiegel, Nr. 41/2008: S. 174-
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Krahe, Dialika (2007). Die Rolle ihres Lebens. Der Spiegel, Nr. 31/2007: S.
52-56.
Lakotta, Beate (2008). „Ist Nagellack verboten?“. Der Spiegel, Nr. 11/2008:
S. 60-61.
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Latsch, Gunther/Meyer, Cordula (2006). „Steigende Emotionalisierung“. Der
Spiegel, Nr. 30/2006: S. 94-95.
Mascolo, Georg/Stark, Holger (2006). Angst vor dem Befreiten. Der Spiegel,
Nr.2/2006: S. 42-42.
Mascolo, Georg/Stark, Holger (2006). Know-how aus Krefeld. Der Spiegel,
Nr. 5/2006: S. 42.
Mascolo, Georg/Stark, Holger/Röbel, Sven (2006). Falsche Zeit, falscher Ort.
Der Spiegel, Nr. 13/2006: S. 38-42.
Mascolo, Georg/Stark, Holger (2006). Ticket in die Freiheit. Der Spiegel, Nr.
34/2006: S. 34-36
Meyer, Cordula (2006). „Holen Sie die mit Gewalt“. Der Spiegel, Nr. 20/2006:
S. 44-49.
Meyer, Cordula/Ulrich, Andreas/Widmann, Marc (2006). Der dritte Mann. Der
Spiegel, Nr. 36/2006: S. 42
Meyer, Cordula (2006). Lesen unter Polizeischutz. Der Spiegel, Nr. 37/2006:
S. 83.
Meyer, Cordula/Schmidt, Caroline (2006). „Friede, Freude, Eierkuchen.“ Der
Spiegel, Nr. 40/2006: S. 47-49.
Meyer, Cordula (2006). Schwester im Glauben. Der Spiegel, Nr. 51/2006: S.
40-41.
Meyer, Cordula/Rosenbach, Marcel (2007). Schlagabtausch im Fahrstuhl.
Der Spiegel, Nr. 19/2007: S. 34-36.
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Neumann, Conny/Stark, Holger (2007). Außer Kontrolle. Der Spiegel, Nr.
21/2007: S. 50.
Pfister, René (2008). Der Unisex-Politiker. Der Spiegel, Nr.46/2008: S. 36-38.
Röbel, Sven (2007). Im Kartenhaus. Der Spiegel, Nr. 47/2007: S. 58.
Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2007). Aladins Erzählungen. Der Spiegel,
Nr. 41/2007: S. 68.
Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2008). Der Hass des Abdullah. Der
Spiegel, Nr. 36/2008: S. 44-50.
Sandberg, Britta (2008). Der Diener Gottes. Der Spiegel, Nr. 38/2008: S. 48-
50.
Schrep, Bruno (2006). Eine Frage der Ehre. Der Spiegel, Nr. 29/2006: S. 38-
40.
Schrep, Bruno (2008). Verrat der Heimat. Der Spiegel, Nr. 11/2008: S. 135.
Sontheimer, Michael (2008). Jung, gut und unerwünscht. Der Spiegel, Nr.
21/2008: S. 52-53.
Stark, Holger (2006). Schläge und Pistazien. Der Spiegel, Nr. 10/2006: S. 38.
Stark, Holger/Fleischhauer, Jan (2006). „Hier gibt es ein Problem“. Der
Spiegel, Nr. 38/2006: S. 85-88.
Stark, Holger (2006). Als Spion bei al-Qaida. Der Spiegel, Nr. 47/2006: S. 60-
64.
Stark, Holger (2006). Im schwarzen Tor. Der Spiegel, Nr. 48/2006: S. 48-49.
79
Stark, Holger (2007). Der innerste Ring. Der Spiegel, Nr. 46/2007: S. 56-60.
Supp, Barbara (2006). Die innere Emigration. Der Spiegel, Nr. 16/2006: S.
73.
Supp, Barbara (2006). Die Integrierten. Der Spiegel, Nr. 27/2006: S. 58-63.
Supp, Barbara (2008). Der digitale Osama. Der Spiegel, Nr. 11/2008: S. 86.
Ulrich, Andreas (2006). Schwimmende Bombe. Der Spiegel, Nr. 37/2006: S.
82.
Voigt, Claudia (2006). Wörter wie Silberringe. Der Spiegel, Nr. 13/2006: S.
165-166.
Wensierski, Peter (2006). Von Köhler nach Kurdistan. Der Spiegel, Nr.
12/2006: S. 42.
Wensierski, Peter (2007). Das Wunder von Marxloh. Der Spiegel, Nr. 1/2007:
S. 40-42.
Wöhrle, Christoph (2007). Schlesische Schlachten. Der Spiegel, Nr. 50/2007:
S. 138.
80
Anhang
1 T E R ROR I SM U S 2 Der innerste Ring 3 Attila Selek gilt den Ermittlern als Mitverschwörer der Islamistenzelle um Fritz Gelowicz,
4 er soll Zünder für Autobomben beschafft haben. Vergangene Woche wurde er
5 in der türkischen Stadt Konya festgenommen. Doch er beteuert seine Unschuld.
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Attila Selek hat sie gleich erkannt,
schon in der Eingangshalle, sie fol-
gen ihm seit Wochen, überallhin.
Zwei Männer in dunkler Lederjacke, die
jetzt aufmerksam registrieren, wer das Ho-
tel Dedeman in Konya betritt.
Es ist Dienstagmorgen, kurz vor zehn
Uhr, der Himmel hängt tief im anatolischen
Hochland. Die Polizisten beobachten, wie
Selek die Lobby betritt, er hat sich hier
verabredet, weil er sich erklären will. Es
gibt viel zu erklären, es geht um Terroris-
musvorwürfe, seine Freundschaft zu Fritz
Gelowicz und offenbar geplante Anschlä-
ge, die die Behörden Anfang September in
Deutschland verhindert haben.
Die Männer in Lederjacke folgen Selek
durch die mit bernsteinfarbenem Marmor
ausgelegte Halle, über die Straße hinweg in
das Einkaufszentrum, wo es ein Kaffee-
haus gibt, das sich „Willy Wonder’s“ nennt.
Selek bestellt einen Kaffee und ein Känn-
chen Milch. Manchmal sprechen ihn die
Leute in Konya an, die Türken aus Anato-
lien hören an seiner Aussprache, dass
er hier nicht aufgewachsen ist, sondern
in Deutschland, in Ulm. „Ich bin eher
deutsch, meine türkische Kultur stimmt
nicht mit der Realität in der Türkei über-
ein“, sagt er und lächelt.
Neulich kam sein Name sogar im türki-
schen Fernsehen: Attila Selek, der Mann
aus Deutschland, den sie
überwachen. Der Terrorver-
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dächtige.
Glaubt man der Bundes-
anwaltschaft in Karlsruhe,
dann ist Selek der vierte
Mann jener Islamistenzelle
um Fritz Gelowicz, die ge-
plant haben soll, mehrere
Autobomben mit Hunderten
Kilo Sprengstoff zu präpa-
rieren. In einem Ferienhaus
im Sauerland fanden die
Fahnder Chemikalien und
26 Zünder militärischer Bau-
art, vermutlich aus Syrien.
Selek, behaupten die Er-
mittler, „fiel im Gefüge der Vereinigung
die Aufgabe zu, die Zünder für die Spreng-
vorrichtungen zu beschaffen“.
Der Fall, der Anfang September die Re-
publik bewegte und den die Ermittler
„Operation Alberich“ nennen, ist verbun-
den mit den Gesichtern der beiden deut-
schen Konvertiten Fritz Gelowicz und Da-
niel S., aber wenn ein Ermittlungsverfah-
ren Jahresringe hätte wie ein Baum, dann
trüge der innerste Ring den Namen Selek.
Denn die Fahndung beginnt im Novem-
ber 2006 bei einem Mann, den die CIA nur
als „Muaz“ aus Deutschland kennt und bei
dessen Identifizierung der US-Geheim-
dienst die deutschen Kollegen um Mithilfe
bittet.
Die Geheimen von CIA und Verfas-
sungsschutz versuchen, Puzzlestücke zu-
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sammenzufügen. Das Puzzle besteht aus
mitgeschnittenen Telefongesprächen und
abgefangenen E-Mails, aus Augenzeugen-
berichten aus dem wilden Waziristan, aus
beobachteten Reisebewegungen. Und es be-
steht aus Erkenntnissen aus Verhören von
Verdächtigen, die in den pakistanischen La-
gern waren. Die Informationsbrocken be-
sagen, dass „Muaz“ und ein weiterer Mann
aus Deutschland im Juni 2006 in einem sol-
chen Camp gewesen sein sollen, bei einer
ominösen Gruppe namens Islamische
Dschihad Union (IJU). Die IJU ist, glaubt
man den Sicherheitsbehörden, eine aus
Usbekistan nach Pakistan mäanderte Ter-
rortruppe im Dunstkreis von al-Qaida.
Es gehört seit dem 11. September 2001
zu den Merkmalen des Kampfes gegen
den Terror, dass viele Spuren in jener Ne-
belwand beginnen, die die
Welt der Geheimdienste um-
gibt. Dieser Nebel lichtet
sich auch in deutschen Ge-
richtssälen nicht, der Rechts-
staat muss damit leben, dass
mitunter zentrale Vorwür-
fe nicht bewiesen werden
können.
„Man weiß mittlerweile,
dass die Amerikaner fol-
tern“, sagt Selek, „wer kann
nachprüfen, was an solchen
Informationen stimmt und
was nicht?“ Und er beteu-
ert: „Ich war nie in einem
Ausbildungslager. Ich bin
nicht ,Muaz‘.“
In Langley, bei der CIA, und in Köln
und Stuttgart, beim deutschen Verfas-
sungsschutz, fügen sich die Puzzlestücke
kurz vor Weihnachten 2006 zu einem an-
deren Bild. Die Auswerter haben die Zei-
ten verglichen, in denen ein Unbekannter
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mit dem Pseudonym „Muaz“ E-Mails nach
Pakistan abschickte, mit den Momenten, in
denen Selek in Internet-Cafés surfte. Weil
die Zeiten passen, sind die Nachrichten-
dienstler überzeugt, den Richtigen gefun-
den zu haben. Mit der Identifizierung be-
ginnt ein Spiel, das um die halbe Welt
reicht, nach Pakistan, nach Usbekistan, in
die Türkei, nach Washington und schließ-
lich nach Frankfurt am Main, wo
am Silvesterabend ein Observa-
tionsteam des Verfassungsschutzes
Überstunden schieben muss.
Die Beamten haben den Auf-
trag, Selek und Gelowicz zu ver-
folgen. Sie beobachten, wie ein
junger Kurde namens Dana erst
Selek und dann, am Hauptbahn-
hof, Gelowicz aufsammelt. Gegen
21.30 Uhr folgen die Geheimen
dem Honda Accord, den Dana
steuert, bis nach Hanau, in den
Stadtteil Lamboy. Im Observa-
tionsprotokoll heißt es: Die Ver-
dächtigen „umfahren mehrfach,
dabei unter anderem auch im
Schritttempo, das dortige Gelände
der US-Armee. Dabei schauen sie
aufmerksam in das Innere der Lie-
genschaften. Sie interessieren sich
insbesondere für die Zu- und Ab-
fahrtsmöglichkeiten“.
In Washington, wo der Bericht
ebenfalls vorliegt, gilt höchster
Alarm. Bald hängt Gelowicz’ Kon-
terfei in den amerikanischen Ka-
sernen in Deutschland. In Ulm
sind die Observanten angewiesen,
Selek keine Sekunde aus den Au-
gen zu lassen. So kommt es am
2. Januar, zwei Tage nach der Sil-
vestertour, auf einer Ulmer Hauptver-
kehrsstraße zur offenen Konfrontation.
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Selek springt vor die Motorhaube eines
Autos der Verfassungsschützer, im Bericht
der Geheimen wird später als Uhrzeit 9.28
Uhr vermerkt, dazu folgender Dialog:
„Was wollt ihr von mir?“, ruft der junge
Mann.
„Warum springen Sie mir vor das Fahr-
zeug?“, erwidert der Beamte. „Sind Sie le-
bensmüde? Was soll ich von Ihnen wol-
len? Nichts!“
Das ist gelogen.
„Wenn ihr was von mir wollt, dann fragt
mich!“, sagt Selek erregt, ehe sich die Lage
entspannt.
Die Frage ist, was er in Hanau vor der
Kaserne wollte, in jener Silversternacht.
„So war es nicht“, sagt Selek nach ei-
ner Pause. „Es war keine Ausspähfahrt.“
Dana, ein Freund, den er Ende 2004 in
Mekka bei der Pilgerfahrt kennenlernte,
habe ihn und Gelowicz eingeladen, zum
muslimischen Opferfest. Am Nachmittag
des 31. Dezember hätten sich die drei in
Frankfurt getroffen und beim Afghani-
schen Kulturverein vorbeigeschaut, und
auf dem Weg seien sie spontan auf die Idee
gekommen zu schauen, „wie die Ameri-
kaner Silvester feiern, wir wollten das ein-
fach sehen, das Knallen und so“.
Es fällt schwer, Selek das Gegenteil zu
beweisen. Von einer „mutmaßlichen Er-
wägung“, dass die Kasernen „als An-
schlagsziele in Betracht kommen könn-
ten“, spricht die Bundesanwaltschaft; die
sprachlichen Verrenkungen lassen Rück-
schlüsse auf die Probleme bei der Beweis-
führung zu. Auch Dana, der Fahrer des
Autos, hat die Geschichte bei seiner Ver-
nehmung so wie Selek erzählt. Anderer-
seits muss schon viel passieren, damit drei
Islamisten in der Silvesternacht aufreizend
langsam an einer amerikanischen Kaserne
vorbeifahren, um ohne Hintergedanken
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den GIs beim Feiern zuzuschauen.
Nach der Silvesternacht spitzt sich die
Lage zu. „Sehr aggressiv im Ton“ und „ei-
ner Gewaltanwendung gegenüber den Ob-
servanten nicht abgeneigt“ sei Selek, wird
es später in den Verfassungsschutzproto-
kollen heißen. Er habe nur „mit Unterbre-
chungen unter Kontrolle gehalten“ wer-
den können, und manchmal, wie in einer
Winternacht im Januar, auch gar nicht.
Selek ist zu Fuß in Ulm unterwegs, es ist
schon dunkel draußen, der Verfassungs-
schutz ist da wie jeden Tag, wie ein Schat-
ten, der sich nicht abschütteln lässt – oder
doch? Der Deutschtürke macht abrupt
kehrt, er geht auf die Beamten zu und
zückt ein Taschenmesser, er bückt sich,
dann pfeift es vernehmlich: Selek hat in
den linken Vorderreifen gestochen.
Wer Selek auf den Zwischenfall anspricht,
erlebt einen unruhigen jungen Mann. Er
sei nicht gewalttätig, sagt er. „Ich habe ge-
dacht, wer folgt mir da, dann habe ich Angst
bekommen und wollte mich schützen.“
Um das zerrüttete Verhältnis von Attila
Selek und Fritz Gelowicz zum deutschen
Staat zu verstehen, hilft ein Blick zurück,
ins Jahr 2004. Selek sagt, damals habe er
begonnen, das Multikulturhaus zu besu-
chen, und dort habe er auch Gelo-
wicz kennengelernt, nach dem
Freitagsgebet. „Wir haben zusam-
mengesessen und Tee getrunken,
der Fritz war immer sehr hilfsbe-
reit und hat geschlichtet, wenn an-
dere gestritten haben.“
Wären die Islamisten in Süd-
deutschland eine Partei, dann wäre
das Multikulturhaus ihre Partei-
zentrale und ein Ägypter namens
Yehia Yousif zu dieser Zeit ihr Vor-
sitzender. Yousif ist Imam, Ideolo-
ge, Vordenker und für junge Leu-
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te wie Gelowicz und Selek eine
absolute Autoritätsperson. Er pre-
digt den Dschihad, und seine
Freunde aus dem Multikulturhaus
geben eine Zeitung heraus, die
„Denk mal islamisch“ heißt.
Attila ist damals 19, er hat eine
Lehre als Autolackierer gemacht
und verkauft nun Gebrauchtwa-
gen. Gelowicz ist 25 und studiert
an der Fachhochschule. Sie sind
Yousifs Fußsoldaten, sie verteilen
die Zeitung, „wir haben sie in den
Moscheen ausgelegt“, sagt Selek.
In einer der Ausgaben wird der da-
malige bayerische Innenminister
Günther Beckstein mit Joseph
Goebbels verglichen. Es ist ein
zähes Ringen zwischen Yousifs Leuten und
dem Staat, der eine eigene Ermittlungs-
gruppe gegen das Multikulturhaus einge-
setzt hat, die „EG Donau“.
Zu diesem Zeitpunkt sind Selek und Ge-
lowicz für die Polizisten nur Mitläufer, aber
am 11. Dezember 2004 geraten sie ins Vi-
sier des Staatsschutzes. Es ist ein un-
gemütlicher Samstag um ein Uhr morgens,
es schneit in Ulm, als ein Wachmann vor
dem Werkstor einer Firma zwei Männer
beobachtet, die ein Buch verbrennen.
Der Wachmann ruft die Polizei, die Be-
amten kontrollieren das Duo. In Seleks
Auto finden sie eine CD mit Texten über
den Dschihad, eine Lobpreisung Osama
Bin Ladens, Lehrmaterial von Yehia You-
sif und einen Karton voller „Denk mal is-
lamisch“- Ausgaben.
Die Beamten glauben, dass die beiden
Beweise vernichten wollen. Tage zuvor hat
die EG Donau mit Razzien begonnen.
„Unsinn“, sagt Selek. Weil Gelowicz eine
Fatwa gelesen habe, ein islamisches
Rechtsgutachten, nach dem Bücher mit
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dem Wort „Allah“ nicht einfach wegge-
worfen werden dürften, sondern nur ver-
brannt oder vergraben, hätten sie sich fürs
Verbrennen entschieden, „ganz offen, wir
hatten nichts zu verbergen“.
Ganz offen, nachts um eins? Und die
Zeitungen, die CDs?
Waren von Gelowicz, sagt Selek, und
Yousifs „Lehrmaterial“ hätten sie vertei-
len wollen, „ist das verboten?“
Nein, ist es nicht, und vielleicht war
es so, vielleicht ist diese Version aber
auch nur eine Geschichte aus Tausend-
undeiner Dezembernacht in Ulm, wo
manches merkwürdig ist, so merkwürdig,
dass die EG Donau Anfang 2005 eine
Großrazzia gegen das Multikulturhaus
startet.
Sie kommen auch zu Selek, der noch
bei seinen Eltern wohnt, aber Attila ist an
diesem Morgen nicht da, er ist noch vor
dem Morgengrauen nach Saudi-Arabien
aufgebrochen, zur Hadsch. Selek stammt
aus einer konservativen Familie, die Eltern
sind streng religiös, daheim gibt es eine
Gebetsecke mit Teppich. Attilas Mutter be-
gleitet ihren Sohn auf der Reise.
Anfang 2005 muss halb Ulm nach Mek-
ka gepilgert sein, auch Gelowicz ist los-
gezogen, mit einer Gruppe deutscher Kon-
vertiten. Zweimal treffen sich Attila und
Fritz in Mekka, sie tragen traditionel-
le weiße Tücher und reden viel über
den richtigen Glauben. Auch Dana ist da,
der später das Auto vor der Kaserne steu-
ert, und Adem Y., der nun als Mitver-
schwörer im Gefängnis sitzt. Es ist fast
eine Vollversammlung der jetzt Verdäch-
tigen.
Als Selek von den heiligen Stätten
zurückkehrt, wird er noch am Flughafen
verhaftet, die Polizisten fahren ihn in
Fußfesseln ins Gefängnis in Stadelheim.
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13 Tage behalten sie ihn, obwohl es nur
um Volksverhetzung geht. Später wird das
Verfahren eingestellt.
Vielleicht ist damals schon absehbar,
dass die Geschichte keinen guten Lauf neh-
men würde. Vieles spricht dafür, dass die
Weichen zu diesem Zeitpunkt bereits ge-
stellt sind, dass die jungen Radikalen aus
Deutschland nach ihrer Rückkehr aus
Mekka nur danach suchen, in die mysti-
sche Welt des Dschihad einzutauchen. Im
Sommer 2005 geht Gelowicz nach Damas-
kus, angeblich wegen eines Sprachkurses;
das Zeugnis einer Stiftung Scheich Ahmed
Kuftaru bescheinigt ihm, einen Kurs von
August 2005 bis Juni 2006 belegt zu ha-
ben. Kurz darauf fliegt auch Attila Selek
nach Damaskus, zu einem Vorbereitungs-
jahr für die Universität.
Heute meinen die Ermittler nachweisen
zu können, dass Gelowicz im März 2006
heimlich von Syrien nach Pakistan weiter-
reiste, zur Islamischen Dschihad Union,
angeblich mit einem Zweitpass, damit die
Visaeinträge nicht nachprüfbar sind. Das
Gleiche glauben sie von Selek, aber sie
können es nicht beweisen. Offenbar treffen
sich die beiden jungen Männer in Damas-
kus, ein- oder zweimal laut Selek.
Die Ermittler sind sich sicher, dass die
Auslandsaufenthalte ein Schlüssel zum
Verständnis dieses Falls sind. In Syrien und
in Pakistan habe die zweite Phase der Ra-
dikalisierung stattgefunden, jene Phase, in
der die Ablehnung westlicher Dekadenz
garniert wurde mit konkreten Ideen und
dem praktischen Rüstzeug. In Pakistan soll
die Gruppe auch Grundzüge des Plans dis-
kutiert haben, den Gelowicz und Co. spä-
ter umsetzen wollten und der Selek nun in
der Türkei zum Verdächtigen gemacht hat,
der überwacht wird, „obwohl ich nie in
Pakistan war“, wie er beteuert.
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Es ist kurz nach zwölf Uhr, als sich zwei
Männer in Lederjacke aus dem Schatten
des Einkaufszentrums in Konya lösen. „At-
tila Selek?“ Sie warten die Antwort nicht
ab, sie haken ihn von beiden Seiten aus
mit eisernem Griff unter. Aus dem Hinter-
grund fährt ein silbergrauer Renault Clio
vor, plötzlich stoßen von allen Seiten Poli-
zisten auf den Vorplatz, sie drücken Se-
leks Kopf hinunter und zwängen ihn auf
die Rückbank.
Seitdem ist Selek der vierte Häftling in
diesem Verfahren.
Mit den anderen drei Festgenommenen,
Fritz Gelowicz und seinen beiden Freun-
den Daniel S. und Adem Y., scheinen die
Dinge relativ klar. Die Bundesanwaltschaft
wirft ihnen Verbindungen zur IJU vor, aber
selbst wenn die Kontakte nach Pakistan
fraglich bleiben sollten, sind da immer
noch das Wasserstoffperoxid, die Militär-
zünder, die aufgezeichneten Gespräche im
Mietwagen, in denen sie von möglichst vie-
len toten Amerikanern sprechen.
Seleks Fall ist diffiziler. Die politischen
Biografien von ihm und Fritz gleichen sich
in weiten Teilen, im Januar dieses Jahres
haben die beiden sogar ein paar Tage zu-
sammengewohnt. Aber ihr Weg geht an ei-
nem wichtigen Punkt auseinander: als die
Vorbereitungen konkret wurden.
Selek sagt, er habe Gelowicz das letzte
Mal Ende Januar, Anfang Februar gese-
hen, bei dessen Hochzeit in einer türki-
schen Moschee an der Donau. Danach sei-
en sich die beiden nie wieder begegnet.
Attila Selek ist Anfang Februar nach
Konya gezogen, im Juni hat er dort eine
junge Türkin geheiratet und sich amtlich
angemeldet, er wollte ein neues Leben be-
ginnen. Selek behauptet, er habe nichts
von dem Anschlagsplan gewusst, „man
kann nicht abstreiten, dass es diese Che-
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mikalien und die Verhaftungen gibt, aber
man kann das nicht wissen“.
Vielleicht sagt er die Wahrheit. Vielleicht
wusste er aber auch von der Idee und hat
für sich nur eine andere Entscheidung ge-
troffen als Gelowicz, weil der Druck nach
jener Silvesternacht zu groß wurde für ei-
nen jungen Mann wie ihn. Möglicherweise
hat er seinem Freund Fritz noch einen Ge-
fallen getan oder auch zwei.
Die Bundesanwaltschaft glaubt inzwi-
schen nachweisen zu können, dass die Is-
lamisten in E-Mails zwischen Deutschland
und der Türkei codiert kommuniziert hät-
ten. So haben sie angeblich die Übergabe
der Zünder in Istanbul Ende August abge-
sprochen, einer der E-Mail-Schreiber soll
Selek gewesen sein. Selek bestreitet das:
„Ich hatte gar keinen Kontakt mehr zu Ge-
lowicz, die beiden anderen kenne ich über-
haupt nicht.“ Schon die angebliche Aus-
spähfahrt in Hanau lasse sich nicht bewei-
sen, kritisiert sein Anwalt Manfred Gnjidic:
„Jetzt werden wir erst mal sehen, ob die
neuen Belege ähnlich dünn sind.“
Es sind solche Detailfragen, die über die
Glaubwürdigkeit des Attila Selek ent-
scheiden werden; und darüber, ob er ein
Leben in Freiheit verbringen wird oder im
Gefängnis.
Bevor die Tür des Polizeiwagens zufällt,
ruft Selek noch: „Ich bin unschuldig!“
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2 Angst vor dem Befreiten 3 Die Bundesregierung bereitet eine Initiative zur Freilassung des
4 Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz vor – doch die
5 Sicherheitsbehörden fürchten seine Rückkehr nach Bremen.
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Murat Kurnaz gilt in Camp Delta,
Guantanamo, als pflegeleichter
Häftling. Er sammelt nicht Urin
in staubigen Plastikflaschen, um ihn an-
schließend, wie andere Gefangene, über
seine Wärter zu gießen. Er beteiligt sich
offenbar nicht an dem tödlichen Hunger-
streik, den 84 der Inhaftierten zurzeit
führen und mit dem etwa der Bahreiner
Muslim Issa al-Murbati einen fairen Pro-
zess ertrotzen oder ansonsten sterben will.
Und einem Militärtribunal der US-Ar-
mee versicherte der Türke aus Bremen:
„Ich hasse Terroristen, ich habe hier mehrere
Jahre meines Lebens wegen Osama
Bin Laden verloren.“ Er wolle in Deutsch-
land freiwillig die Behörden über alles in-
formieren, „um zu zeigen, dass ich den
Terrorismus nicht unterstütze, und damit
ich ruhig schlafen kann“.
Das eilfertige Wohlverhalten hat Kurnaz
bislang wenig geholfen. Fast auf den Tag
genau vier Jahre sitzt der „Bremer Taliban“
nun schon in Guantanamo. Während
inzwischen fast alle anderen europäischen
Terrorverdächtigen in ihre Heimatländer
nach Großbritannien, Frankreich oder
Schweden expediert wurden, passierte bei
Kurnaz nichts.
Das könnte sich nun ändern. In einer
diskreten Initiative will sich die Bundes-
regierung derzeit gemeinsam mit der
Regierung am Bosporus für den Sohn türki-
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scher Einwanderer einsetzen, der zwar
einen türkischen Pass besitzt, aber in Nord-
deutschland geboren und aufgewachsen ist.
Vertraulich sondierte der deutsche Ge-
sandte kurz vor Weihnachten in Ankara,
wie offen die Türken für eine gemeinsame
Freilassungsinitiative seien. Der außenpoli-
tische Berater von Angela Merkel, Chris-
toph Heusgen, erklärte, die neue Regie-
rung werde sich „aus humanitären Grün-
den“ weiter für Kurnaz verwenden. Das
Auswärtige Amt bestätigt „Kontakte auf
diplomatischer Ebene“, will sich zu De-
tails aber nicht äußern. Türkische Beamte
ließen bereits durchblicken, womöglich
komme Kurnaz schon im März frei.
So viel Bewegung war nie. Die Türken
interessierten sich für Kurnaz bislang we-
nig bis gar nicht. Selbst als dessen Mutter
Rabiye im Frühjahr 2005, nach drei Jahren
ergebnislosem Tauziehen mit Botschaft
und Generalkonsulat, entnervt nach An-
kara fuhr und direkt bei einem Referenten
von Außenminister Abdullah Gül vor-
sprach, beschied sie der Beamte lediglich
unverbindlich, man kenne den Fall. „Wenn
die Deutschen sich nicht richtig einsetzen“,
klagt Rabiye Kurnaz, „bewegt sich bei den
Türken gar nichts.“
Ein ernsthaftes türkisches Engagement
ist der Schlüssel für eine mögliche Ent-
lassung des gelernten Schiffbauers, der ge-
rade 19 Jahre alt war, als ihn pakistanische
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Polizisten Ende November 2001 in Paki-
stan aus einem Reisebus zogen und den
Amerikanern übergaben. Wochen später
informierten die Amerikaner die deut-
schen Behörden und flogen Kurnaz
schließlich nach Guantanamo aus.
Seitdem steht die Administration in
Washington auf dem Standpunkt, Kurnaz
gehe die Deutschen nichts an – nur
die Türken seien „anfrageberechtigt“. Ob
nun Schröders außenpolitischer Chefbera-
ter Bernd Mützelburg seinen US-Kollegen
Stephen Hadley im Februar 2005 am Ran-
de des Bush-Besuchs in Mainz beiseite
nahm und sich für Kurnaz verwandte, ob
zwei Monate später der deutsche Bot-
schafter Wolfgang Ischinger es gar mit ei-
ner förmlichen Demarche versuchte oder
sich im Oktober 2005 der Völkerrechts-
beauftragte der Bundesregierung in Wa-
shington mit seinem amerikanischen Kol-
legen traf – es gab keine verbindliche
Antwort.
Listig hatten die Amerikaner den deut-
schen Sicherheitsbehörden stattdessen
Zugang zu dem „feindlichen Kämpfer“ of-
feriert, wie Kurnaz von der US-Armee
bezeichnet wird – allerdings nicht aus hu-
manitären Motiven, sondern nur um die
Front zur Terrorismusbekämpfung fester
zu schließen. Die deutschen Geheim-
dienstler, die Kurnaz zwei Tage vernah-
men, notierten auch dessen Klagen über
die Behandlung durch die Amerika-
ner, die den Häftling in schweren
Ketten vorführten. Später erzählte
der Einwanderersohn aus dem Bre-
mer Arbeiterviertel Hemelingen
auch, er sei gefoltert worden. Ein-
mal habe ein Militär ein Gewehr an
seinen Kopf gehalten und gedroht
abzudrücken, wenn er nicht zugebe,
ein Komplize des Todespiloten Mo-
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hammed Atta zu sein.
Seit der Vernehmung sind die
deutschen Geheimdienstler über-
zeugt davon, dass Kurnaz nur ein
relativ kleines Licht ist. Ganz förm-
lich teilten sie den amerikanischen
Behörden mit, „dass der Inhaftierte
keine Verbindungen zu einer al-
Qaida-Zelle in Deutschland hat“.
Gegenüber dem CIA-Chef in Berlin
wurde der BND noch deutlicher:
„Das ist doch ein harmloser Spin-
ner, lasst ihn raus.“
Grund für die andauernde Inhaf-
tierung ist offenbar ein bis heute als
geheim eingestuftes Memo in Kur-
az’ Akte mit dem Kürzel R-19. Ein
Militär schreibt darin, dass der Bre-
mer ein Qaida-Mitglied sei, Verbindungen
zu Terroristen in Deutschland besitze und
in Afghanistan gegen die US-Truppen habe
kämpfen wollen. Irritierend ist nur, dass
sich an anderer Stelle eine Einschätzung
der Guantanamo-Vernehmer findet, nach
der „kein Beweis vorliegt, dass der Häftling
mit al-Qaida in Verbindung steht“.
Neben solch offensichtlichen Wider-
sprüchen sind es wohl auch ganz pragma-
tische Gründe, die die Bundesregierung
nun zu dem erneuten Vorstoß motiviert
haben. Die Affären um die CIA-Flüge und
die Entführung des Deutschen Khaled el-
Masri durch die Amerikaner haben das In-
teresse an der Haltung der Merkel-Regie-
rung zu den US-Verstößen geweckt, eine
baldige Lösung des Falls Kurnaz würde ihr
wohl als politischer Erfolg angerechnet.
Gleichzeitig bedeutet ein aktuelles Urteil
des Verwaltungsgerichts Bremen, dass die
Deutschen es auch künftig mit dem Bre-
mer Taliban zu tun haben werden.
Die Richter kassierten Ende November
einen Entscheid der Bremer Ausländer-
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behörde, die dem jungen Türken das Auf-
enthaltsrecht aberkannt hatte – mit der
feinsinnigen Begründung, er habe sich län-
ger als sechs Monate außer Landes aufge-
halten und es damit versäumt, seine Auf-
enthaltsgenehmigung zu verlängern. Guan-
tanamo, rügten hingegen die Richter, sei
nicht selbstverschuldet, Kurnaz habe keine
Möglichkeit gehabt, sich zu melden.
Anders als die Diplomaten betrachten
die Ministerialen im Bundesinnenministe-
rium Kurnaz weniger als humanitäres denn
als Sicherheitsproblem. Als im Oktober
vergangenen Jahres wieder einmal Ge-
rüchte aufkamen, seine Freilassung stehe
unmittelbar bevor, wurden alle deutschen
Sicherheitsbehörden aufgefordert, Grün-
de zusammenzutragen, „die gegen eine
Einreise sprechen“.
Auf der Liste finden sich Details wie
Kurnaz’ Spleen, als Hintergrundbild für
sein Handy zeitweise das Wort „Taliban“
einzublenden, ebenso wie die Aussage
des Deutsch-Syrers Mohammed Haydar
Zammar.
Der in einem Verlies in Damaskus weg-
gesperrte Zammar, der auch die Todes-
piloten vom 11. September rekrutierte,
hatte bei seinen Vernehmungen erzählt,
er habe auch „zwei Türken aus Bremen“
über den Dschihad aufgeklärt und an
das Büro der Taliban verwiesen. Eine sei-
ner Personenbeschreibungen passt exakt
auf Kurnaz. Vermutlich basieren auf die-
sen bis heute geheimgehaltenen Aussagen
auch die Vorwürfe der
Amerikaner.
Jedenfalls erließ das Bun-
desinnenministerium bereits
im Mai 2004 eine Ein-
reisesperre nach dem
Schengener Abkommen,
die noch bis zum 11. Mai
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2007 gilt. Würde Kurnaz
tatsächlich freikommen und
über Ankara nach Deutsch-
land einreisen, müssten ihn
die Grenzschützer nach
derzeitigem Stand als „Ge-
fahr für die öffentliche Si-
cherheit und Ordnung“ an
der Passkontrolle zurück-
weisen und in das nächste
Flugzeug Richtung Bos-
porus setzen.
Mit der drakonischen Maßnahme wollen
die Sicherheitsbehörden auch ein Szenario
verhindern, vor dem ihnen am meisten
graut: ein heimgekehrter Murat Kurnaz,
der Bremen vielleicht als Mitläufer verließ,
auf Guantanamo dann aber richtig radika-
lisiert wurde – und nun als Märtyrer zu
einer PR- und Werbetour durch deutsche
Moscheen aufbricht.
1 W I S S E N S C H A F T
2 „Kaum verhüllte Drohung“ 3 Die Hochschulen kooperieren, offen oder versteckt, mit den Kirchen
4 und neuerdings auch mit den Muslimen. Wo aber der
5 Glaube anfangt, kann mit freier Wissenschaft schnell Schluss sein.
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Der Mann, den sie Verräter nennen,
wohnt in einer Doppelhaushälfte.
Roter Klinker, gepflegter Vorgar-
ten, ein gutbürgerlicher Stadtteil im west-
fälischen Münster. Die Adresse müsse er
geheim halten, rat ihm die Polizei, sein Le-
ben sei in Gefahr.
Langsam öffnet sich die Haustür, ein
blasser Mann mit Dreitagebart entschul-
digt sich. Er könne, leider, den Besuch
nicht hineinbitten. „Die Familie soll nicht
in die Sache hineingezogen werden“, sagt
er. Die Sache nämlich, von der Muham-
mad Sven Kalisch später in seinem Büro an
der Universität erzahlt, ist schon jetzt ein
Drama. Für ihn selbst, aber auch für den
deutschen Staat.
Auf dem Konferenztisch in seinem Büro
stehen weder Kaffee noch Gebäck. Er fas-
te, sagt der 42-Jährige, wie es die Rama-
dan- Regeln gebieten. Als Jugendlicher
konvertierte er zum Islam. Seitdem zählt er
sich zu den guten, rechtgläubigen Musli-
men. Kalisch ist einer ihrer bekanntesten
Köpfe hierzulande, als erster Universitäts-
professor durfte er Lehrer für den Islam-kunde-
Unterricht an deutschen Schulen
ausbilden. Als Wissenschaftler hat er es
aber auch gewagt zu zweifeln, dass Mo-
hammed tatsächlich gelebt hat.
Der Koordinationsrat, die Dachorgani-
sation deutscher Islam-Verbände, versagte
ihm deshalb die Unterstützung. In der ver-
gangenen Woche kündigte die Universität
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daraufhin an, einen anderen Professor ein-
zustellen. Kalisch darf an der Uni bleiben,
aber keine Islamkunde-Lehrer mehr aus-
bilden. Die Muslime sind seitdem besänf-
tigt, Kalisch aber ist vermutlich in Gefahr.
Der Staatsschutz sorgt sich um ihn.
Andere sorgen sich um die Freiheit in
diesem Land, denn der Fall Kalisch wirft
fundamentale Fragen auf. Was zählt die
Vernunft und was der Glaube? Wo endet
Wissenschaft, wo beginnt Religion? Nicht
weniger als die großen Fragen der
Menschheit also, aber damit nicht genug.
Weil die Wissenschaft in Deutschland vor
allem an staatlichen Hochschulen betrie-
ben wird, stellt ein solcher Konflikt auch
die Gretchenfrage an den Staat: Wie hältst
du’s mit der Religion?
Frankreich optiert für den Laizismus.
Der Staat will von den Kirchen nichts
wissen, Religionsunterricht an staatlichen
Schulen gibt es nicht. Deutschland hat ei-
nen Mittelweg gewählt und kooperiert mit
Katholiken, Protestanten, Juden und neu-
erdings auch Muslimen. Die Zusammen-
arbeit mit den islamischen Verbänden ist
noch ein vorsichtiger Versuch; verpflichtet
ist der Staat dazu nicht. Mit den christ-
lichen Kirchen aber, anerkannte Körper-
schaften des öffentlichen Rechts, gibt es
alte Verträge.
Staat und Kirchen haben beschlossen,
gemeinsame Sachen zu machen. Die Kir-
chensteuer etwa ist so eine res mixta, eine
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gemeinsame Angelegenheit, der Religi-
onsunterricht eine andere. „Ordentliches
Lehrfach“ soll er sein, so will es das Grund-
gesetz, der Staat möge aber bitte schön
weltanschauliche Neutralität wahren. Die
Bundesrepublik darf also den Kirchen
nicht reinreden, muss aber Religionsun-
terricht gewährleisten.
Aus diesem Dilemma helfen die theo-
logischen Fakultäten. Der Staat sorgt für
den Rahmen, die Kirchen für den Inhalt.
Diese Mischung aus Geld und Glaube ist
allerdings explosiv. Uni-Präsidenten und
Landesregierungen müssen hinnehmen,
dass die Bischofe an den Universitäten
mitregieren.
Wenn ein Professor an eine katholische
Fakultät berufen werden soll, braucht es
das „Nihil obstat“ des Bischofs: Es steht
nichts dagegen. Anschließend muss der
Professor aufpassen, nicht in Ungnade zu
fallen. Stößt sich der Bischof an Ansichten
oder auch nur dem Lebenswandel des Wis-
senschaftlers, kann er ihm die kirchliche
Lehrbefugnis entziehen. Unter den Ka-
tholiken traf es unter anderem Hans Küng,
Uta Ranke-Heinemann und Eugen Dre-
wermann, bei den Protestanten ist Gerd
Lüdemann der bekannteste Fall.
Der Göttinger Professor bezweifelte un-
ter anderem, dass Jesus leiblich auferstan-
den sei. Seinen Lehrstuhl für Neues Testa-
ment musste er daraufhin räumen. Nun
hat er einen Lehrstuhl für „Geschichte und
Literatur des frühen Christentums“ inne,
doch damit ist er keineswegs zufrieden.
„Die Freiheit der Forschung wird zuguns-
ten der Dogmatik mit Füßen getreten“,
sagt Lüdemann, „Glaubenswächter schrei-
ben vor, welche Ergebnisse tabu sind.“
Er scheiterte vor Verwaltungsgericht,
Oberverwaltungsgericht und Bundesver-
waltungsgericht. Seine Hoffnung setzt Lü-
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demann nun auf die letzte irdische Insti-
tution in Deutschland. Das Bundes-
verfassungsgericht hat angekündigt,
noch in diesem Jahr entscheiden zu
wollen.
In Bayern sind unterdessen schon
die nächsten kritischen Geister vor
Gericht gezogen. Sie greifen nicht
die theologischen Fakultäten an,
sondern eine weithin unbekannte
Kooperation im großen kirchlich-
staatlichen Komplex. Dem unbe-
darften Leser jedenfalls konnte
kaum auffallen, dass die Ausschrei-
bung der Professoren-Stelle für
Praktische Philosophie der Univer-
sität Erlangen-Nürnberg eine wichti-
ge Einschränkung enthielt. „Für die
Besetzung dieser Stelle gilt Art. 3 §
5 des Bayerischen Konkordats“, hieß
es nur.
Für die Besetzung dieser Stelle am
Institut für Philosophie gilt damit:
Zum Zuge kommen nur Bewerber
von Gnaden seiner Exzellenz. Der
Erzbischof von Bamberg, Ludwig
Schick, dessen Bistum sich nach Er-
langen und Nürnberg erstreckt, hat ein Ve-
torecht. Er darf widersprechen, wenn ihm
Bewerber „hinsichtlich ihres katholisch-
kirchlichen Standpunktes“ nicht passen.
Solche „Konkordatslehrstühle“ gibt es vor
allem in Bayern. Die katholische Kirche
hat sich die Mitsprache an rund 20 Lehr-
stühlen für Philosophie, Gesellschaftswis-
senschaften und Pädagogik gesichert.
„Selbst die Studierenden dieser Profes-
soren aber wissen oft gar nichts davon“,
kritisiert der Münchner Philosoph Alex-
ander von Pechmann. Er will den „Ana-
chronismus einer solchen Verquickung von
Wissenschaft und Religion“ nicht länger
hinnehmen. Gemeinsam mit sechs Kolle-
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gen – alle nicht katholisch – hat er beim
Verwaltungsgericht beantragt, das Beset-
zungsverfahren zu stoppen. Vermutlich im
Oktober will das Gericht über eine einst-
weilige Anordnung entscheiden.
Solcherlei Streitigkeiten den deutschen
Gerichten zu bescheren war bisher den
Christen und ihren Gegnern vorbehalten.
Der Fall Kalisch lasst nun ahnen, welche
Auseinandersetzungen um Islam-Unter-
richt dem Land bevorstehen könnten.
Der Sprecher des Koordinationsrats
der Muslime, Ali Kizilkaya, freut sich un-
gemein, dass ein Wissenschaftsminister
„erstmals den Willen der Muslime bei
der Besetzung des Lehrstuhls für Islam
berücksichtigt“ habe. Denn damit hätten
die Muslime, frohlockt Kizilkaya, „de
facto die gleichen Rechte bekommen wie
die Kirchen“. Die Verbände seien „einen
großen Schritt weitergekommen bei dem
Ziel, endlich als Religionsgemeinschaft an-
erkannt zu werden“.
Begeistert vom eigenen Erfolg fordert
Kizilkaya gleich noch mehr. Er will ein
„Mitspracherecht“, wenn an der Univer-
sität Münster ein neuer Professor berufen
wird. Wichtigste Qualifikation seiner Mei-
nung nach: Der Bewerber müsse sich „voll
und ganz zu den Grundprinzipien des Is-
lam bekennen“. Kizilkaya macht auch klar,
was er damit keinesfalls meint. Wissen-
schaftliches Arbeiten nach der historisch-
kritischen Methode könne er „nicht be-
fürworten“, Quellenkritik im Sinne der
Hermeneutik sei gleichfalls „ungeeignet
für den Islam“.
Die Politik stürzt er mit solchen Äußer-
ungen ins nächste Dilemma. Nordrhein-
Westfalens Wissenschaftsminister Andreas
Pinkwart (FDP), überzeugter Liberaler und
langjähriger Hochschullehrer, wirkt eini-
germaßen ratlos. „Es wäre höchst
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unklug, Lehrer auszubilden, die
wegen religiöser Vorbehalte später
an den Schulen von muslimischen
Eltern und Schülern boykottiert
werden“, sagt er. Deshalb müsse
der Staat auf die Muslime zugehen,
„aber nicht um den Preis der Auf-
gabe von Werten wie dem Grund-
recht der Freiheit von Wissenschaft,
Forschung und Lehre“.
Genau diesen Vorwurf der staat-
lichen Selbstaufgabe aber erheben
jetzt zahlreiche prominente Musli-
me, Wissenschaftler und Publizisten.
Der Koordinationsrat der Muslime
distanziere sich von der „ergebnis-
offenen Wissenschaft“ und lasse
damit „eine historische Chance
verstreichen, mit einem Hoffnungs-
träger die Zukunft des Islam und der
Gesellschaft in Deutschland insge-
samt mitzugestalten“. So steht es in
einer Solidaritätserklärung, die dem
SPIEGEL vorliegt.
Die Marburger Islamwissenschaft-
lerin Ursula Spuler-Stegemann hatte
bis Freitag mehr als 30 Unterzeich-
ner gewonnen, darunter bekannte
Persönlichkeiten: die Rechtsanwäl-
tin Seyran Ates, den Aleviten-Führer
Ali Ertan Toprak, den Hamburger
Imam Mehdi Razvi und den Göt-
tinger Arabisten und Islamwissen-
schaftler Tilman Nagel.
Sie alle loben, dass der „hervor-
ragende Wissenschaftler“ Kalisch die
fachlichen, didaktischen und metho-
dischen Voraussetzungen für islami-
schen Religionskundeunterricht in
Deutschland geschaffen habe. „Untrenn-
bar verbunden“ damit sei es, „provokante
Thesen“ zur Diskussion zu stellen. „Ka-
lisch hat den Auftrag der Universität, seine
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Studierenden zum Mitdenken statt zu
blindem Gehorsam auszubilden“, heißt es
in der Stellungnahme.
Muhammad Sven Kalisch selbst war es
durchaus bewusst, dass er provozieren
wurde. Er gibt offen zu, dass er eine Min-
derheitenmeinung vertritt. Er sagt sogar,
dass er sich in der Streitfrage „natürlich
auch irren“ könne. Irren mag menschlich
sein und in der Wissenschaft manchmal
unumgänglich. Für den Professor aber
könnte es tödlich enden.
Dass manche konservative Muslime jetzt
seinen ersten Vornamen Muhammad
wegließen und ihn nur noch Sven Kalisch
nannten, empfindet er als „kaum verhüll-
te Drohung“. Die Botschaft sei klar. „Ei-
nige betrachten mich nicht mehr als Mus-
lim“, sagt Kalisch.
Was das heißt, weis der Islamwissen-
schaftler besser als andere: „Für Konser-
vative verdient der, der vom Islam abfällt,
den Tod.“
1 DIE WELT DER WANDERNDEN (II): 191 Millionen Migran- 4 „Gastarbeiter“, um sie später wieder nach Hause zu schicken,
2 ten leben auf der Erde, auch Deutschland ist ein Einwande- 5 doch die Hälfte blieb. Heute ist jeder fünfte Einwohner in
3 rungsland – wider Willen. In der Nachkriegszeit holte man 6 Deutschland ein Migrant oder stammt von Migranten ab.
7 Die Integrierten 8 Berliner Türken in Schwarz-Rot-Gold, an Autos von Migranten Deutschland-Fähnchen – nach
9 fünf Jahrzehnten Einwanderung richtet sich der Blick auf diejenigen Neubürger, die in
10 diesem Land eine Heimat gefunden haben und nicht Fremde geblieben sind.
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Hülyas Mutter war sehr schön und ihr
Vater sehr argwöhnisch, wenn die
Mutter nur Brot holen ging – da-
heim in der Türkei –, blieb er hinter der Gar-
dine stehen, um zu sehen, ob sie mit frem-
den Männern sprach. Er wusste, Deutsch-
land würde voll fremder Männer sein, aber
er würde aufpassen, würde Geld verdienen
und mit ihr in die Heimat zurückkehren,
nach ein paar Jahren Almanya. So dachte
er. Aber dann wollten die Deutschen Hülyas
Vater nicht, sie wollten nur seine Frau.
Hülya Kandemir, eine schmale Gestalt
unter weißem Kopftuch in einer stillen Ecke
des Münchner Westparks, schaukelt ihr
Baby und denkt an ihre Eltern, 1973 ka-
men sie nach Deutschland, einfach war es
nicht. Deutschland war streng. Man musste
Tests bestehen, um den Anwerbern zu
genügen, sie wollten starke, gesunde Ar-
beiter, Hülyas Vater war nicht stark. Er hat-
te es mit der Lunge, also musste er ertra-
gen, dass Hülyas Mutter unglücklich ohne
ihn aufbrach. Ein Transport nahm sie mit zu
einer Porzellanfabrik im Oberpfälzer Wald.
Hülyas Mutter ließ ihren Mann und fünf
Kinder zurück und zog in ein Land, dessen
Sprache sie nicht sprach, aber was „Fami-
liennachzug“ bedeutet, lernte sie schnell.
Sie holte ihren Mann zu sich und die Kin-
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der, aber niemand dachte damals: Das ist
für immer. Wir bleiben.
Sie sind geblieben, so wie Millionen von
Migranten geblieben sind, in einem Ein-
wanderungsland, das nichts davon wissen
wollte, dass es eines war. Und das sich heu-
te erst dieser Erkenntnis stellt.
Jetzt wehen deutsche Fahnen gemein-
sam mit türkischen in Berlin-Kreuzberg,
jubeln Deutschtürken über die deutsche
Fußball-Nationalmannschaft, schmücken
sich Kölner Fans mit Togo-Perücken, jetzt
könnte man meinen: Es gibt sie, die Inte-
gration, sie funktioniert.
Aber eben erst hat die Pisa-Untersu-
chung ergeben, wie dramatisch schlecht
Migrantenkinder in der Schule abschnei-
den, eben erst hat der Skandal um die Rüt-
li-Schule mit ihren 83,2 Prozent Migran-
tenkindern, mit prügelnden Schülern, mit
terrorisierten Lehrern eine Wirklichkeit
grell beleuchtet, die in der Feierlaune nicht
sichtbar bleibt.
Während manche niemals heimisch wer-
den – warum lassen sich andere auf diese
Gesellschaft ein? Was muss geschehen sein
in ihrem Leben? Es lohnt sich, die Biogra-
fien derer zu betrachten, die angekommen
sind in der Mitte der Gesellschaft, wie Hü-
lya Kandemir, Saliha Scheinhardt,
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Aytaç Eryilmaz, Oktay Özdemir, Einwanderer
der ersten, der zwei-
ten, der dritten Generation.
Menschen „mit Migrationshin-
tergrund“, so heißt das Wort, das
man jetzt erfunden hat, das sind 15
von 82 Millionen Einwohnern, je-
der Fünfte ist nach Deutschland
eingewandert oder stammt von Ein-
wanderern ab. Rund acht Prozent
derer, die hier leben, haben keinen
deutschen Pass. Deutschland ist ein
Einwanderungsland, das sagen die
Zahlen schon lange.
Aber sie wollten das nicht, die
deutschen Regierungsvertreter, die
im Dezember 1955 mit den Italie-
nern den ersten Anwerbevertrag
unterschrieben. Sie wollten nicht
Einwanderer, sondern Arbeitskraft,
bedarfsgerecht akquiriert und be-
fristet, für die boomende Nach-kriegsökonomie.
Die Fremden wa-
ren willkommen, aber nicht sehr.
Niemand sprach von Integration,
als die „Gastarbeiter“ aus dem Sü-
den kamen, aus Griechenland, Spa-
nien, Portugal, Tunesien, Jugosla-
wien, aus der Türkei.
Das Versprechen war nicht wie
in Amerika: Komm, und versuch
dein Glück zu machen. Das Ver-
sprechen war: Komm, und schufte
eine Weile, und verschwinde.
Fremdheit ist relativ und verän-
derbar, das war immer schon so,
kommt eine neue Gruppe von Migranten,
dann steigen die Vorgänger in der sozialen
Achtung auf. Ohnehin hatten es Italiener
leichter als die Türken, die ihnen folgten.
Italien, so brachten es die Deutschen ihren
Schulkindern bei, war immerhin das Land
von Michelangelo und Leonardo da Vinci,
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von Cicero, Dante und dem Papst.
Die Türken aber – das Willkommen war
noch kühler als bei den Italienern, meis-
tens jedenfalls. Man holte sie, ab 1961,
weil nach dem Bau der Berliner Mauer
der Zuzug aus dem Osten fehlte. Man
wusste wenig über die Menschen mit den
vielen Ö und Ü im Namen, und außerdem
hatten sie noch ihre fremde Religion, den
Islam.
Familie Kandemir, in der Oberpfalz, war
gemäßigt religiös, Hülyas Mutter kochte
streng muslimisch, aber das Kopftuch trug
sie nicht. Hülya, 1975 als erstes Kind in
Deutschland geboren, war das sechste von
zehn. Die Großen hatten auf die Kleinen
zu achten und bald von der Schule zu ge-
hen, um Geld zu verdienen, so war es, sagt
Hülya, das „System Kandemir“. Sie hat es
geliebt und verlassen und dann wieder ver-
misst, dieses System.
Anfangs wohnten noch Deutsche mit in
ihrer grauen Straße in Fabriknähe, später
nicht mehr. Deutsch sprechen war nicht
nötig, auch in der Firma nicht, dass die Ar-
beiter es könnten, erwartete keiner, und
Hülyas Eltern kümmerten sich nicht dar-
um. Deutschland war ein Land, das Kaf-
feemaschinen und Autos und Geld für ein
Häuschen in der Heimat versprach, und
gute Ärzte, die Hülyas Vater vielleicht ret-
ten würden.
Fremder Ort, fremde Sprache, fremde
Arbeit – ein Migrant muss erfühlen, wie
das soziale Miteinander im neuen Land
funktioniert. Muss sich selbst permanent in
Frage stellen: Wie weit kann ich, wie weit
soll ich mich anpassen?
Der scheinbar leichtere Weg heißt:
Ich muss es nicht. Ich werde mein Leben,
das wahre Leben, auf später verschieben.
Wir werden Fabriken gründen in Anato-
lien, das war so ein Sechziger-Jahre-
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Migrantentraum. Man schuftet und ist
abends zu kaputt für den Deutschkurs,
man sucht nicht den Aufstieg, sondern
Überstunden und Sonderschicht. Der Auf-
stieg wird dann später in der Heimat, so
hofft man, die Sache der Kinder und
Kindeskinder sein.
„Du holst uns aus dem Schlamm“,
das bekam das Mädchen Saliha von sei-
nem Vater zu hören, ein Versprechen, aber
auch eine Bürde besonderer Art. Saliha
Scheinhardt, 1950 im anatolischen Konya
geboren, ist eine dunkle, sehr lebendige
Frau auf einem Podium im Hamburger Li-
teraturhaus, Schriftstellerin, Kind
einer streng religiösen Mutter, die
der Tochter die Schulsachen ver-
steckte, weil sie keine andere Lek-
türe dulden wollte als den Koran.
Und eines Vaters, der auch die
Töchter zur Schule schickte, was
nicht üblich war, und der Saliha so-
gar erlaubte, aufs Gymnasium zu
gehen.
Nachmittags führte Saliha Tou-
risten durch die Altertümer von
Konya, und so traf sie auf diesen
Jungen aus Deutschland, Hartwig
Scheinhardt aus Bremen, Theolo-giestudent.
Es gab keine Küsse,
aber Reden und Spazierengehen,
und als er zurückfuhr, schickte er
Briefe in immer besser werdendem
Türkisch, und manchmal, wenn er
es sich leisten konnte, schickte er 20
Mark. Für einen Sack Holzkohle.
Ein großer Tag.
Du wirst uns aus dem Schlamm
holen, sagte der Vater, mach es, ler-
ne. Du kannst auch in Deutschland
zur Schule gehen, wir werden hei-
raten, sagte Hartwig. Er muss Mus-
lim werden, sagte Salihas Mutter,
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und Saliha, lange nicht so religiös
wie ihre Mutter und später gar
nicht mehr, bat ihn, sich darauf ein-
zulassen, und das tat er, formell zu-
mindest, damit die Mutter zufrieden
war. So kam Saliha mit 17 nach
Bremen, Mitte Oktober 1967, im
Regen, im selbstgenähten Sommer-
kleid, was für ein Himmel, dachte sie, was
für ein Land.
Es war ein Land, das Bildung und Frei-
heit versprach, so sah es Saliha, und der
Weg in die Freiheit führte über die Fabrik.
Sie nähte Unterhosen, verdiente 220 Mark
im Monat, ein Drittel davon zum Leben,
ein Drittel zum Heimschicken, ein Drittel
zum Sparen, für die Hochzeit und für spä-
ter, sie war sicher, eines Tages würde sie
studieren.
Sie sah Deutschland von unten und be-
obachtete genau, auch Unterwürfigkeit
manchmal, „wenn der Vorarbeiter schimpft
mit Hans und Heinz, die ihm widerspre-
chen, aber er zu Ahmet sagt: Du bist ein
guter Junge. Ahmet macht alles recht“.
Nicht ohne Grund waren es ja die Ge-
werkschaften, die sich am meisten um die
Eingliederung der Neuen bemühten. Sie
setzten durch, dass diese arbeits-, tarif- und
rentenrechtlich gleichgestellt wurden –
schon aus Angst um den eigenen Lohn.
Es kam die Zeit, da auch unter den Mi-
granten in den Fabriken die Unruhe wuchs,
zwei Arten von Unruhe eigentlich: Die ei-
nen forderten Gebetsräume und Gebets-
pausen. Die anderen forderten besseren
Lohn. Gebetsräume – ein Wunsch, der gern
erfüllt wurde in den siebziger Jahren. Gab
die Fabrikleitung nach, dann war Ruhe.
Die anderen, die mit den gewerkschaft-
lichen Forderungen, sorgten für Aufsehen
in der Republik, mit den „Türkenstreiks“
in den frühen Siebzigern – Arbeitskämpfe
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mit Migranten in vorderster Front.
Vielleicht spielten die „Türkenstreiks“
tatsächlich eine Rolle, vielleicht war es
auch eher die düstere Gesamtwirtschafts-
lage – 1973 jedenfalls erging der Anwerbe-
stopp, der nur noch Arbeitsmigranten aus
EU-Ländern ins Land ließ, also Italiener,
Griechen, Spanier, Portugiesen, aber keine
Türken mehr. Der Stopp sollte die Zahl
der Türken im Land verringern, doch er
sorgte für das Gegenteil. Es könnte die
letzte Chance sein, dachten viele, und hol-
ten ihre Kinder aus der Heimat nach.
Längst waren Wohnviertel entstanden,
in denen die Zugereisten unter sich blie-
ben, Berlin-Kreuzberg, Duisburg-Marxloh,
Hamburg-Wilhelmsburg, weil dort die bil-
ligen Wohnungen waren und die Wärme,
aber auch der Druck der engen Nachbar-
schaft. Der deutsche Städtetag warnte
schon 1974, die katholische Kirche sah eine
„Generation ohne Hoffnung“ heranwach-
sen. Das Bundesarbeitsministerium sah ein
„Subproletariat“ entstehen.
Es gab jene, die die Fremden nicht
schnell genug loswerden konnten, im kon-
servativen und rechten Spektrum vor al-
lem. Und jene anderen, eher bei Linken
und Grünen zu finden, die Zuwanderer als
Bündnispartner verstanden gegen deut-
schen Nationalismus und deutschen Mief.
Integration war nicht so wichtig. Irgend-
wann würde sie sich ergeben. Forderun-
gen stellen? Wieso?
Saliha, auf ihre Hochzeit sparend, hatte
eine Schwiegermutter, bei der sie leben
konnte, eine Pastorenwitwe, die ihr Weih-
nachten und die „Brandenburgischen Kon-
zerte“ nahebrachte und Deutsch mit ihr
sprach.
Deutsch für das Studium, Deutsch für
die Schule in der norddeutschen Provinz,
an der Saliha Scheinhardt später unter-
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richtet hat, auf Deutsch formulierte sie ihre
Texte, als sie den Beruf wieder aufgegeben
hatte. Sie hatte den Eindruck, dass man
sie nicht ernst nahm in ihrer Arbeit, also
schrieb sie nun.
Schrieb über Dinge, die Wirklichkeit wa-
ren, sie wusste um die Gewalttradition, die
archaisch-patriarchalischen Machtstruktu-
ren in Teilen der Einwanderergesellschaft,
wusste um Zwangsehen, Familiengewalt,
um die Unterdrückung türkischer Frauen.
Als eine der Ersten hat sie davon erzählt.
„Frauen, die sterben, ohne dass sie ge-
lebt hätten“ heißt ihr erstes Buch, erschie-
nen im Jahr 1983. Es basiert auf der wah-
ren Geschichte eines jener Mädchen, die
zum Heiraten nach Deutschland geholt
werden, weil sie kein Deutsch sprechen
und sich nicht wehren können. Es ist die
Geschichte einer Importbraut, die der Ge-
walt ihres Mannes unterworfen ist, keine
Lösung mehr sieht, als ihn umzubringen,
und ausgerechnet im Gefängnis zum ersten
Mal so etwas wie Freiheit erfährt. Als „Ab-
schied vom falschen Paradies“ kam es in
die Kinos, von den Feuilletons wahrge-
nommen, nicht aber von der Politik. Der
gesellschaftliche Mainstream interessierte
sich nicht sehr für diese Dinge, hielt sie
für innertürkische Probleme, die ver-
schwinden würden, wenn die Türken ge-
hen. Doch das taten sie nicht.
Rund 50 Prozent derer, die als „Gast-
arbeiter“ kamen, sind über die Jahre in
ihre Länder zurückgekehrt, die andere
Hälfte blieb. Die Träume von Fabriken in
Anatolien waren gescheitert an Unwissen,
Bürokratie oder Korruption. Dafür stieg
die Zahl der Bausparverträge in Deutsch-
land, der deutsch-türkischen Unterneh-
men, der deutsch-türkischen Gymnasias-
ten, eine deutsch-türkische Mittelschicht
entstand. Und andererseits eine Unter-
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schicht, deren Lage sich in den achtziger
Jahren verschärfte, weil bei Krupp, bei
Thyssen, in den Kohlezechen die Arbeits-plätze
verschwanden – dort, wo früher ein
Einwanderer meist seine Arbeit fand.
Die Töne wurden schärfer, es schlug die
Stunde der Demagogie. Ein „Heidelber-
ger Manifest“ rechtsgesinnter Wissen-
schaftler stellte sich „gegen die Unterwan-
derung des deutschen Volkes durch Aus-
länder, gegen die Überfremdung unserer
Sprache, unserer Kultur und unseres Volks-
tums“. Mit dem Slogan „Deutschland den
Deutschen“ zog die NPD durch die Repu-
blik. Und der Hass hatte ein neues Ziel:
Asylbewerber, deren Anzahl von etwa
100 000 im Jahr 1980 auf fast doppelt so
viele im Jahr 1990 stieg.
Asylbewerber waren jetzt nicht mehr,
wie zur Zeit des Kalten Krieges, die
Schutzbedürftigen auf der Flucht vor ei-
nem unmenschlichen sozialistischen Sys-
tem. Sie waren Flüchtlinge aus aller Welt,
und die Anerkennungsquote sank, 80
Prozent waren es in den siebziger Jahren,
Anfang der Neunziger nur noch 2 bis 3
Prozent. Den anderen gelang es nicht, dem
deutschen Staat zu beweisen, dass sie nicht
vor ortsüblichem Elend geflüchtet waren,
sondern eindeutig vor persönlicher, gegen
sie gerichteter staatlicher Gewalt. Wer
Glück hatte, durfte trotzdem bleiben, ge-
duldet, auf Zeit.
Aytaç Eryilmaz, 1952 im türkischen
Zonguldak geboren, war Drucker und Ver-
leger. Er saß nach dem Militärputsch von
1971 mehrere Monate im Gefängnis und
nach dem von 1980 wieder, weil er die
falschen Bücher herausbrachte. Es wurde
ihm verboten, künftig Bücher zu verlegen,
man drohte ihm mit Haft. 1985 ging er nach
Deutschland, seine Tochter, die er mit-
brachte, war damals drei.
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Aytaç Eryilmaz kam als politischer
Flüchtling und durfte bleiben und tat es
ungern, zweieinhalb Jahre lang, war hier
nicht zu Hause und in der Heimat nicht
mehr. Man trifft ihn im „Domit“, dem
Kölner „Dokumentationszentrum für
Migration“, aus dem ein Museum werden
soll, das hofft er jedenfalls. Er sammelt,
Koffer, Schallplatten, Fotos, Emigrations-
geschichten, es gibt gute Nachrichten zu
registrieren und schlechte, zu den gu-
ten Nachrichten gehören 137000 türkisch-,
griechisch-, italienisch-deutsche Unter-
nehmen mit 600 000 Arbeitsplätzen, ge-
hören erhebliche Beiträge in die Steuer-,
die Sozialversicherungs-, die Renten-
kassen. Zu den schlechten gehört, dass
Ausländer doppelt so häufig arbeitslos
sind wie Deutsche, dass gerade bei jun-
gen Ausländern der Anteil derer ohne
Berufsausbildung so stark wächst wie
nie zuvor.
Aytaç Eryilmaz ist keiner dieser jungen
Männer mehr, er ließ ein halbes Leben und
einen Beruf hinter sich, in der Türkei,
wenn er an seine erste Exilzeit denkt,
denkt er an ein Gedicht von Brecht:
Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl.
Warum vorsorgen für vier Tage?
Du kehrst morgen zurück.
Er beschloss, nach diesen zweieinhalb
Jahren, dass er bleiben würde, weil er es
anders nicht ertrug. Andere Exilanten, die
er kannte, konnten sich nicht entscheiden.
Also gingen sie an dieser doppelten Exis-
tenz kaputt.
Um sich entscheiden zu können für das
Bleiben, braucht es eine Aufenthaltser-
laubnis oder -berechtigung oder bewilligung
oder -befugnis oder was auch immer,
und je größer die Sicherheit ist, die dieses
Papier verspricht, desto leichter fällt dem
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Exilanten sein Entschluss.
Die Zeiten aber waren nicht danach,
an den Flüchtlingen, den Asylbewerbern
entzündete sich der Streit: Wer darf hier
leben? Wie darf er hier leben? Wer wird
geduldet im Land? „Offene Grenzen für
alle“, verlangten die einen, im naiven
Glauben an das Unmögliche. „Ausländer
raus“, kam von der anderen Seite das
Gebrüll.
Das Asylrecht wurde 1993 überarbeitet,
wer über einen „sicheren Drittstaat“ ein-
reist, und das sind alle Nachbarstaaten
Deutschlands, muss dorthin wieder zu-
rück. Sammellager wurden eingerichtet,
auch zur Abschreckung, und natürlich ver-
schärfte die Zusammenballung die Kon-
flikte, aber die Anzahl der Fremden, das
zeigt das Beispiel Ostdeutschlands, muss
nicht unbedingt ausschlaggebend für den
Fremdenhass sein. Es gab ja nur wenige
Ausländer in der DDR, nur knapp 200 000,
einen Ausländeranteil von etwa einem
Prozent. Und der wuchs auch kaum nach
der Wende. Aber es wuchs, im Osten wie
im Westen, eine blinde Wut.
Im September 1991 vertrieb ein rasender
Mob eine Gruppe von Vietnamesen und
Mosambikanern aus einer Vorstadtsiedlung
im sächsischen Hoyerswerda. Nur mit sehr
viel Glück überlebten im August 1992 rund
hundert Vertragsarbeiter, der Ausländer-
beauftragte der Stadt Rostock und ein Ka-
merateam des ZDF ein Pogrom in einem
Wohnblock von Rostock-Lichtenhagen. Im
November 1992 starben drei türkische
Frauen bei einem Brandanschlag in Mölln.
In Solingen, im Mai 1993, waren es drei
türkische Kinder und zwei Frauen.
Aytaç Eryilmaz, ein eher gelassener
Mensch, atmet mühsam, spricht er von je-nen
Monaten, als Brandgeruch über der
Republik lag, als nachts und auch tagsüber
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Angst hatte, wer im Erdgeschoss wohnte
und ausländisch aussah, als er seine Toch-
ter jeden Tag zum Gymnasium brachte und
wieder abholte, sie sieht nicht türkisch aus,
man sieht es ihr nicht an mit ihren hellen
Haaren, aber ihren Namen hat sie natür-
lich, und wer den kennt – er schweigt.
Wer damals Kind war, sagt er dann –
den müsse das geprägt haben. Es gehört
nicht viel Phantasie dazu, in solchen Mo-
menten zu denken, als dunkelhaariges,
vielleicht dunkelhäutiges Kind: Sie wollen
uns nicht. Wir sollen raus.
Das war die Zeit, als sich die Abschottung
verstärkte, der Rückzug in eigene Welten.
Es wuchs die Bedeutung des Islam,
der Einfluss der Fundamentalisten,
in Deutschland und weltweit. Der
Druck nahm zu in den Ausländer-
vierteln, jener Druck, der dazu
führt, dass sich Mädchen plötzlich
vom Schwimmunterricht befreien
lassen und mit Kopftuch erscheinen
und sagen, dass sie das alles freiwil-
lig tun. Oder dass sie aus der Schu-
le verschwinden, bevor sie zu viel
lernen, dass sie nach Hause ge-
schickt und verheiratet werden, in
der Türkei. Aus den fundamentalis-
tischen Moscheen kommt dieser
Druck, als Aufforderung zur Ab-
kehr von der westlichen Welt.
Gut eine Million ausländische
Schüler besuchen heute deutsche
Schulen, knapp die Hälfte davon
junge Türken, und die Hälfte be-
kommt nur einen niedrigen Ab-
schluss oder gar keinen, unter den
Deutschen sind es nur 15 Prozent.
Und, das ist die bitterste Erkennt-
nis: Die hier geborenen sind nicht
besser, sondern schlechter als die
Generation davor. Der Marsch in
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die höheren Schulen – er wurde
gestoppt. Es wird weniger und
schlechter Deutsch gesprochen als
früher, jeder vierte Schüler spricht
es zu Hause nicht.
Viele Eltern kümmern sich nicht
um die Schulkarriere ihrer Kinder,
sie können sich nicht kümmern, wegen
Sprachproblemen, oder interessieren sich
nicht dafür oder hintertreiben sie sogar.
Fundamentalistische Muslime wollen ja
nicht, dass ihre Söhne und Töchter als Teil
dieser Gesellschaft leben. Für sie zählen
deren Werte nicht.
In der Kriminalität, noch immer, sind
Ausländer führend unter den Tatverdäch-
tigen, was auch daran liegt, dass junge
Männer die kriminellste Gruppe sind und
es unter Ausländern überproportional
viele junge Männer gibt. Vor allem bei
Gewaltdelikten liegen junge Migranten
vorn, bei einer Studie, 2005, gaben doppelt
so viele junge Türken wie Deutsche an,
im Vorjahr gewalttätig geworden zu sein.
Wenn geprügelt wird in der Schule, das
sagt eine Kriminologenstudie, dann sind
in jedem vierten Fall junge Türken die
Täter, ihr Anteil an den Schulkindern aber
liegt nur bei neun Prozent. Oft geben sie
dabei die Gewalt weiter, die sie zu Hau-
se erfahren. Viermal so häufig wie Deut-
sche haben sie zu Hause prügelnde Väter
erlebt.
Die Rütli-Schule ist keine Ausnahme.
Sie ist Normalität.
„Es gibt zu wenig Integration“, sagt ei-
ner, der neuerdings öfter zu solchen Din-
gen seine Meinung sagen soll, Oktay Öz-
demir, 19 Jahre alt, Schauspieler in Detlev
Bucks Berlin-Film „Knallhart“. Und Oktay,
der darin sehr glaubhaft einen Neuköllner
Kleingangster spielt, wird plötzlich von den
einen als Fachkraft für Integrationsfragen
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gehandelt und von anderen als Ausländer-
verräter beschimpft.
Oktay Özdemir, dunkler Pferde-
schwanz, selbstgewisses Lächeln, rührt in
seiner Tasse in einem Kreuzberger Stra-
ßencafé, Jungs aus dem Viertel schlendern
lässig vorbei, man grüßt lässig, das ist
sein Territorium, hier ist er groß gewor-
den, dritte Einwanderer-Generation, der
Opa kam 1965 aus der Türkei. Oktays Mut-
ter folgte in den Siebzigern, mit 12, hat
fünf Kinder erzogen, „gut erzogen“, sagt
Oktay, auch ihn, obwohl er ein schwieriger
Bursche war.
Oktay, Schauspieler, 19 Jahre alt, blickt
auf sich selbst zurück, wie er mit 13, 14
war, „delikanli“ heißt das auf Türkisch und
meint diese Halbwüchsigen, die nicht zu
kontrollieren sind, „verrücktes Blut“, so
sagt man. So war er auch.
Viele sind so, und bei vielen geht es
schief. Die Halbwüchsigen, die Gewalt als
Normalität erfahren, zu Hause, in der
Gang. Die 13-Jährigen mit Drogen in der
Tasche, die ihre Vorbilder in der ganz har-
ten Szene suchen, natürlich gibt es diese
Vorbilder im Kiez. Ghetto-Deutsch, das
ist ihre Sprache. Ghetto-Stolz, das ist die
Haltung, auf der Straße, in der Schule,
was wollt ihr, wir sind anders, und härter
als ihr allemal, und wir halten zusammen,
gegen euch.
Hätte schiefgehen können, auch
bei ihm. Dass das nicht passierte,
liegt wohl daran, dass er etwas zu
tun fand, an einen Kinderzirkus
geriet, einen ernsthaften, er war da-
mals acht. Ihm gefiel es, nach der
Schule den Körper zu quälen mit
Akrobatik, und dass er dort für den
Film entdeckt wurde, für „König
der Diebe“, gefiel ihm noch mehr.
Jetzt redet er flüssig über Erzie-
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hung und dass die Kinder wieder
Respekt lernen müssten, sagt er
vor Lehrern und Eltern, und wenn
die Eltern das nicht schaffen, viel-
leicht fiele deutsch-türkischen Leh-
rern etwas dazu ein? So wie in
Kreuzberg, sagt er, sollen seine
Kinder eigentlich nicht leben. „Ich
bin in Kreuzberg zu Hause, aber ir-
gendwann will ich anders leben,
nicht mehr so modern.“
Oktay Özdemir, 19 Jahre alt,
träumt sich eine schöne Welt für
Familien zusammen, mit Natur
und so, nicht wie im Ghetto, er ist
ja selbst Vater, seit zwei Jahren, er
sagt, er sei es gern.
Kann sein, dass er für die Kleinen
in Kreuzberg ein Beweis ist, dass
man es schaffen kann, draußen.
Wäre das so, er wäre stolz.
Es gibt diejenigen, die den Weg
in die deutsche Gesellschaft suchen
und finden, als Vorbilder, als Jura-
studentin, Schauspieler, HipHop-Star. Und
es gibt diejenigen, die den Weg in die an-
dere Richtung wählen, Menschen wie Hü-
lya Kandemir, die mittendrin war und dort
nicht bleiben wollte, Hülya, mit ihrem selt-
samen Weg zwischen Popmusik und Islam.
Hülya Kandemir, sechstes von zehn Kin-
dern, ertrotzte sich den Besuch des Gym-
nasiums, obwohl ein Kandemir-Kind sonst
höchstens auf die Realschule ging. Sie hat-te
evangelische Freunde, wurde Müsli-
Mädchen und machte sich Sorgen um die
Dritte Welt. Wurde Schulsprecherin und
richtig gut am Schwebebalken, und manch-
mal trank sie sogar ein Glas Sekt.
Sie war genau so integriert, wie es sich
deutsche Politiker jetzt wünschen, aber das
ist vorbei.
„Himmelstochter“ nennt sie sich in ihrer
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Autobiografie, die vergangenen Herbst er-
schien, „Mein Weg vom Popstar zu Allah“
heißt der Untertitel, und Hülya sitzt an ei-
nem heißen Tag im Westpark, den Engli-
schen Garten mag sie nicht, zu viel Halb-
nackte dort, zu viel Bier. Sie trägt ihr lan-
ges, grünes Gewand, grün wie die Farbe
des Islam, und das weiße Kopftuch dazu,
sie schaukelt Hamza, ihren Sohn.
Mit 18 ist sie zu Hause ausgezogen, was
ein türkisches Mädchen normalerweise
nicht tut, sie machte Musik und hatte Erfolg,
im Raum München jedenfalls. Aber sie hat-
te auch einen ältesten Bruder, Mesut, der re-
ligiös war, viel strenger religiös als Hülyas
Eltern. Der sich mit Mutter und Vater über
den Glauben stritt. Der in der Türkei, beim
Urlaub, mit Handtüchern herumlief, um die
bikinitragenden Schwestern zu bedecken,
Hülyas großer Bruder, der noch wichtiger
wurde, als der Vater früh verstarb. Ohne
Mesut wäre sie sicher nie auf dieses Som-
merlager für islamische Mädchen gegangen,
mit 15, wo man fünfmal am Tag betete und
selbstverständlich das Kopftuch trug. Ein
Sommer, der Spuren hinterließ.
Sie war Musikerin mit Rasta-Locken und
Gitarre und führte ein westliches Leben,
aber Mesut mahnte, und sie hörte zu. Sie
begann zu beten, nach den Regeln des Is-
lam, zum Beten setzte sie das Kopftuch
auf. Und schließlich den ganzen Tag.
Einen Imam fragte sie um Rat, wie denn
ihre Auftritte auf der Bühne aus der Sicht
des Islam zu sehen seien? Musik, so er-
fuhr sie, dürfe nicht dazu geeignet sein,
Lust zu erwecken. Und eigentlich sei es
nicht gut für Männer, fremde Frauen sin-
gen zu hören. Vor Männern singt sie seit-
her nicht mehr.
Hülya Kandemir hat einen tiefgläubigen
Muslim geheiratet, was Mesut, dem from-
men großen Bruder, gut gefiel.
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Es ist kein drastischer Rückzug, keiner
ins Ghetto, aber ein Rückzug allemal. Und
es sind deutlich mehr junge deutsche Tür-
ken als früher, die diesen Weg gehen, und
Saliha Scheinhardt sagt, sie habe sich im-
mer gewundert, wie lax Deutschland in
dieser Kopftuchfrage war.
Jetzt diskutieren deutsche Politiker über
Kindergartenpflicht und wollen deutsch-
türkische Lehrer und Polizisten und führen
Deutsch- und Integrationskurse ein, spät
tun sie das, zu spät?
Sie werden nicht alle erreichen können,
die Verbohrten nicht, wenn überhaupt,
dann erreicht man die nur aus den Mi-
grantengemeinden selbst heraus.
Man muss ihn wollen, den Weg in
diese Gesellschaft, bei Saliha Scheinhardt
war es der Ehrgeiz, der sie auf diesen
Weg gebracht hat, bei Oktay Özdemir
das Glück, etwas zu tun zu finden, in die-
sem Zirkus, bei Aytaç Eryilmaz der bitte-
re, ernsthafte Entschluss: Ich bin hier, ich
bleibe, also gehöre ich dazu. Und man
muss die Hoffnung haben, dass man sei-
nen Platz in dieser Gesellschaft finden
kann.
Hülyas Brüder, die beiden jüngeren je-
denfalls, sind anderer Meinung. Mit der
deutschen Wirtschaft, meinen sie, werde
das wohl so schnell nichts mehr. Anderswo
sei es besser.
Sie reden jetzt vom Auswandern in die
Türkei.
1 K I RCH E
2 Das Wunder von Marxloh 3 Kohle und Kirchen gehörten einst zusammen in Duisburg.
4 Das Bild hat sich dramatisch gewandelt: Wo die Zahl der Katholiken
5 merklich schrumpft, entsteht Deutschlands größte
6 Moschee. Doch die Christen stellen sich auf die Nachbarn ein.
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Blaue Stunde im Duisburger Stadtteil
Marxloh. Ein paar Tage vor Weih-
nachten hat der katholische Pfarrer
Michael Kemper, 45, zum abendlichen Ker-
zengottesdienst in die altehrwürdige Kirche
St. Peter eingeladen. Das Gotteshaus bietet
300 Besuchern Platz, gekommen sind zwölf
Gläubige, zumeist Rentner. Die kleinen
Kerzen in den Händen der Anwesenden
wirken wie Irrlichter im riesigen, dunklen
Kirchenschiff.
Ein paar hundert Meter weiter drängen
sich die Besucher in die Merkez-Moschee.
Früher war hier ein Tapetengeschäft. Jetzt
sind selbst Nebenräume, Flur und Eingang
bis auf den letzten Zentimeter belegt, als
Imam Sadik Çaglar, 41, mit dem Vorbeten
beginnt. Im nächsten Sommer will er mit
seiner Gemeinde umziehen in ein würdi-
geres Domizil, in dem sich dann gut 1200
Menschen versammeln können – in
Deutschlands größter Moschee.
Die muslimische Gebetsstätte wird in
Sichtachse von Pfarrer Kemper liegen –
aber auch in seinem Visier? Wie eine
Machtdemonstration wirkt der Bau: 34
Meter hoch ist das Minarett der im osma-
nischen Stil gehaltenen Moschee mit ihren
2500 Quadratmetern Nutzfläche. Der Sie-
ben-Millionen-Euro-Bau entsteht auf dem
einstigen Kantinengelände der Zeche Wal-
sum.
Die schrumpfende Christenschar auf der
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einen, die wachsende muslimische Ge-
meinde auf der anderen Seite, das ist die
raue Wirklichkeit im Heimatland des be-
jubelten deutschen Papstes. In Marxloh be-
stätigt sich das, was Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble (CDU) anlässlich der
Islamkonferenz im Herbst beschrieb: „Der
Islam ist Teil Deutschlands und Europas“,
erklärte er und forderte unmissverständ-
lich, sich dieser Realität zu stellen. Der Is-
lam „ist Teil unserer Gegenwart und unse-
rer Zukunft“.
Doch was Schäuble als Mahnung für die
kommende Epoche verstanden wissen
wollte, erweist sich in Duisburg-Marxloh
nur als verspäteter Versuch, einen Prozess
zu beschreiben, der längst unumkehrbar
ist. Mehr noch: In diesem Stadtteil zeigt
sich, dass es auch gelingen kann, ihn zum
Nutzen von Alteingesessenen und Zuge-
wanderten gleichermaßen zu gestalten.
Denn das Besondere an der neuen Mo-
schee ist nicht die Größe, sondern die ge-
plante interreligiöse Begegnungsstätte mit
Bistro, Bibliothek, Bildungswerk und Be-
sucherräumen für Marxloher Katholiken
– einer der Gründe dafür, dass der Bau
der Moschee hier nicht wie anderswo auf
Ablehnung stößt. Und das Außergewöhn-
liche an den Katholiken vor Ort ist, dass sie
sich der Veränderung stellen und sie nicht
einfach nur über sich ergehen lassen.
Ein Gleisbett führt von der alten christ-
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lichen zur neuen muslimischen Glaubens-
stätte. Einst wurden die Schienen von
Zeche und Stahlwerk genutzt, von der
Industrie, die den Menschen mehr als nur
Arbeit gab. Nun könnte die Moschee zum
Symbol einer neuen Zeit werden.
Früher hatte das Ruhrbistum einmal ei-
nen Kirchenführer, der sich ein Stück Koh-
le in den Bischofsring einfassen ließ. Er
sollte die Einheit von Arbeiterschaft und
Kirche demonstrieren. 60000 Katholiken
zählten in den siebziger Jahren allein zu
den drei Marxloher Gemeinden, jetzt sind
es gerade mal 3300. Im Jahr 2004 gab es
nur noch 30 Taufen und eine einzige kirch-
liche Trauung, die Braut war katholisch,
der Bräutigam konfessionslos. „Eine be-
stimmte Sozialgestalt der Kirche geht zu
Ende“, sagt der katholische Bischof von
Essen, Felix Genn.
Der Bischofsring mit dem Stück Kohle ist
inzwischen im Museum gelandet. Doch das
Pfarrhaus neben St. Peter steht noch heute
für die Zugehörigkeit der Kirchengemein-
de zur Ortsgemeinde. Es wurde aus dem
gleichen roten Backstein errichtet wie die
Bergmannshäuser von Marxloh, in denen
einst Steiger und Hauer lebten.
Pfarrer Kempers Schreibtisch quillt über
von Papieren, sein Tag ist voller Termine:
Hausbesuche, Seelsorgegespräche, hinzu
kommt der Kampf um die Stellen des Kir-
chenchorleiters und seiner Pfarrsekretärin.
Er muss eine, vielleicht sogar zwei seiner
drei Kirchen aufgeben. St. Paul, ein paar
Straßen weiter, wurde bereits geschlossen.
Sie gehört zu den rund hundert Gottes-
häusern, die auf der Streichliste der
Bistumszentrale in Essen stehen. „Die Kir-
che verabschiedet sich mit ihren Gebäuden
strukturell aus der Fläche“, sagt Kemper.
897 Briefe hat er vor Weltjugendtag und
Papstbesuch an die verbliebenen jungen
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Katholiken zwischen 16 und 30 Jahren ver-
teilt – und ihnen das Angebot gemacht,
nach Köln mitzufahren. „Die Resonanz“,
sagt er, „war gleich null.“
Stellvertretend für seine 2000 Jahre alte
Institution will er sich in Marxloh auf Rea-
litäten einstellen, die in Berlin-Neukölln
oder in der Kölner Südstadt kaum anders
aussehen. „Wenn hier das Zusammenleben
von Christen und Muslimen nicht klappt“,
fragt Pfarrer Kemper, „wo denn dann?“
Rund 60000 Muslime leben in Duisburg,
in Marxloh rund 9000. „Die bauen jetzt
die großen Moscheen wie wir vor 40 Jah-
ren die Kirchen im Ruhrgebiet“, stellt Ka-
tholik Kemper fest und zieht daraus den
Schluss: „Marxloh muss ein Stadtteil wer-
den, in dem sich Menschen begegnen.“
Vor Jahren machte ein evangelischer
Kollege aus einem anderen Duisburger
Stadtteil bundesweit Schlagzeilen, weil er
vehement den Bau einer Moschee ver-
hindern wollte. Kemper dagegen wurde
Mitglied im Beirat der Moschee-Begeg-
nungsstätte und war beim Richtfest im Sep-
tember dabei. Vorbeter Çaglar und dessen
liberaler muslimischer Gemeinde über-
brachte er Segenswünsche: „Wir freuen
uns, dass eine Gebetsstätte entsteht.“
Çaglar stammt aus Bolu am Schwarzen
Meer, für vier Jahre ist er nach Duisburg
entsandt, bezahlt wird er über das türki-
sche Außenministerium. „Angst“, sagt der
Imam beim Tee, „Angst sollte man vor
Menschen haben, die nicht glauben. Denn
wenn man an Gott glaubt, wird man nie
die Rechte anderer verletzen.“ Sein ka-
tholischer Kollege formuliert es ähnlich:
„Glauben macht mitmenschlich“, und
dann erzählt Kemper davon, wie sich in
Marxloh alles auf eine geradezu irritierend
harmonische Weise vernetzt und verwebt:
das Katholische mit dem Muslimischen,
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das Deutsche mit dem Türkischen – und
wie aus dem alten allmählich das neue
Ruhrgebiet Gestalt annimmt.
Natürlich gilt auch der Stadtteil Marxloh
als Problemviertel. „Wer kann, ist schon
weggezogen“, sagt die Postbotin auf der
Hauptstraße. Von vielen Unternehmen
blieb nur ein Schatten auf der Hauswand
zurück, wo einst das Firmenschild prangte.
In einer der heruntergekommenen Wohn-
anlagen wurden einige Nachkriegsszenen
von Sönke Wortmanns Fußball-Melodram
„Das Wunder von Bern“ gedreht.
Doch inzwischen glauben viele an ein
Wunder von Marxloh, und zwar nicht nur
die Politiker, die es bei der Grundstein-
legung und beim Richtfest der Moschee
beschworen. Das liegt entscheidend an
den Führern der Merkez-Gemeinde. Sie
gehören zum Ditib, dem größten muslimi-
schen Dachverband in Deutschland. Er ist
den laizistischen Prinzipien des türkischen
Staates verpflichtet, eng mit dem Präsidi-
um für religiöse Angelegenheiten der Tür-
kei verbunden. Ditib-Vertreter nahmen an
der Islamkonferenz teil, Ditib-Gemeinden
legen Wert auf „interreligiösen Dialog“,
sie sind nicht im Visier der Verfassungs-
schützer.
Die Gegend sei nicht auffälliger als an-
dere Stadtteile, so die Polizei, die auch hier
nur eine Tagwache betreibt, die um 23 Uhr
schließt. „Marxloh“, lobt der Integrations-
minister von Nordrhein-Westfalen, Armin
Laschet (CDU), „ist ein Beispiel, wie der
Bau eines Gebetshauses Integration und
Dialog fördern kann. Das Klima ist keines
der Abgrenzung, sondern der Offenheit.“
Schon die Idee zum Neubau der Mo-
schee war ein Gemeinschaftswerk. Sie ent-
stand tausend Meter unter Tage im Berg-
werk beim Gespräch zwischen deutschen
und türkischen Arbeitskollegen. Der
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Marxloher Katholik Wolfgang Köhler, 62,
war dabei, als seine Kollegen darüber dis-
kutierten, eine Moschee zu bauen. Inzwi-
schen ist Köhler Rentner, in seiner Frei-
zeit hat er Türkisch gelernt. Überall wird er
mit Handschlag begrüßt – auch auf einem
Dachboden in der Kaiser-Wilhelm-Straße,
wo sich acht zwölfjährige Mädchen ver-
schiedenster Herkunft einen „internatio-
nalen Club“ eingerichtet haben.
Die 75 Kinder des kirchlichen Kinder-
gartens kommen inzwischen aus mehr
als 20 Nationen. Besonders gern bringen
muslimische Eltern ihre Kinder in den ka-
tholischen Kindergarten, „weil
dort wenigstens religiöse Werte
vermittelt werden“, wie eine Mut-
ter erklärt. Neulich habe ihm,
erzählt Kemper, eine muslimi-
sche Mutter amüsiert berichtet,
dass ihr Ibrahim am Mittagstisch
ein Kreuzzeichen geschlagen und
ein christliches Gebet gesprochen
habe, wie es im Kindergarten
üblich sei.
Eine andere Mutter erzählt von
ihrem Sohn Mohammed, der nach
einem Gottesdienst aufgeregt nach
Hause kam. „Wisst ihr was?“, sag-
te er, „der Nikolaus ist ein Türke.“ Zur
Weihnachtszeit sind die Gottesdienste für
die Kindergartenkinder zum Thema Niko-
laus ein Renner. Leyla, eine junge musli-
mische Mutter mit Kopftuch, hält die
schwere Eingangstür zur katholischen Kir-
che auf. Eine Erzieherin kommt herein und
erregt sich über die Nachrichten, die sie
aus Köln vernommen hat. „Was wir hier
machen, soll also nach dem Willen von
Kardinal Joachim Meisner nicht mehr
stattfinden. Gut, dass wir zum Bistum
Essen gehören!“ Mitte Dezember hatte
Meisner gegen solche multireligiösen Fei-
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ern gewettert. Kinder hätten, meint er, ei-
nen Anspruch darauf, ihren Glauben un-
vermischt kennenzulernen.
Die Kinder des katholischen Kindergar-
tens St. Peter und ihre Erzieherinnen feiern
das muslimische Zuckerfest wie das christ-
liche Weihnachten, Ostern oder Fasten-
brechen gemeinsam. Es ist die nächste Ge-
neration Marxloher, die einträchtig in der
katholischen Kirche dicht beim Altar sitzt.
Auf dem Boden vor ihnen ausgebreitet
liegt die Berufskleidung des katholischen
Bischofs Nikolaus von Myra, wie der Pfar-
rer erklärt. Das Nikolauslied wird gesun-
gen. Mittendrin sitzen Mütter mit Kopf-
tuch auf den Kirchenbänken. Der ge-
mischte Kreis um Kemper sieht aus wie
eine Kinderversammlung der Uno.
„Yapilim – mal sehen, was abgeht“,
rufen sich die Halbwüchsigen mit ihren
Basecaps in der Hauptstraße zu, bevor sie
spätabends in den Internet-Cafés ver-
schwinden. Die Macher der neuen Begeg-
nungsstätte wollen genau an diese Jugend-
lichen heran, mit Freizeit- und Bildungs-
angeboten locken. Dabei werden sie mit
den Katholiken zusammenarbeiten.
Zum harten Kern der Optimisten vor
Ort zählt auch eine Gruppe türkischer
Frauen, derzeit untergebracht in einem
mit Rosen bemalten, vergitterten Con-
tainer gleich neben dem Moschee-Bau.
Sie sind in Deutschland geboren, zumeist
im Ruhrgebiet aufgewachsen. Eine ist
Finanzmanagerin, eine Sozialwissen-
schaftlerin bei der Duisburger Stadtent-
wicklungsgesellschaft, eine der muslimi-
schen Frauen hat evangelische Theologie
studiert – die einzige, die zum Treff mit
Kopftuch erscheint.
Ihre Blechbaracke dient als Begeg-
nungsstätte, in der auch Deutschkurse an-
geboten werden. Die in Duisburg gebore-
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ne Zülfisiyah Kaykin wird den künftigen
Treff leiten. Natürlich weiß sie, dass eine
Moschee auf Bedenken und Widerstände
trifft, besonders weil sie die größte
Deutschlands werden soll: „Wir wollen
einen offenen Ort mit Nachbarschaftstref-
fen. Wir wollen unsere eigene Heimat mit-
gestalten.“ Leyla Özmal, die Sozialwissen-
schaftlerin, ist sicher, dass die Moschee zur
Revitalisierung des gesamten Ortes beitra-
gen wird: „Jetzt ist die Zeit, gemeinsam
Regeln und Werte zu entwickeln.“
Sie hoffen auch, dass der neue Bau Be-
sucher anlockt. Ein Dorado für türkische
Hochzeitspaare ist Marxloh schon jetzt. Im
Zentrum des Stadtteils reiht sich ein orien-
talisches Brautmodengeschäft an das an-
dere. Familien reisen aus Belgien, den Nie-
derlanden oder dem Saarland an, um hier
Goldschmuck und Abendkleidung in gro-
ßem Stil zu erwerben.
Entsteht so mitten im Ruhrgebiet ein
Kontrastprogramm zu gescheiterten Dia-
logversuchen? Eine weise Entscheidung
der Moschee-Erbauer nahm den Deut-
schen ein Gutteil ihrer Ängste. Sie ver-
zichteten auf ein Recht, das ihnen eigent-
lich niemand hätte streitig machen kön-
nen: Der Muezzin-Ruf wird hier nicht
erschallen. Und noch zu einer zweiten
symbolischen Geste waren die Bauherren
bereit. Das Minarett wurde auf exakt
34 Meter beschränkt – damit es nicht höher
ist als der Turm der katholischen Kirche
St. Peter.
1 Die Freiheit der anderen 2 Ortstermin: In Limburg steht ein türkischer Vater wegen
3 des geplanten Mordes an seiner Tochter vor Gericht.
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An dem Tag, an dem es um Leben
und Tod geht, hebt sie die Arme,
als wolle sie sich ergeben. Sie tritt
durch den Metalldetektor und lässt sich
nach Waffen durchsuchen, an ihrem Kör-
per, unter ihrem Kopftuch. Sie steht da wie
eine angezogene Nackte, wie eine Gefan-
gene.
Sie fährt mit den Händen über ihr Kopf-
tuch, prüft, ob es richtig sitzt, und macht
ein paar kleine Schritte. Sie stoppt an der
Schwelle zum Gerichtssaal, und als sie hin-
ter der Wand aus Glas den Mann sieht,
der sie angeblich ermor-
den lassen wollte, als ihre
Blicke sich treffen, als er
die Hand hebt und winkt,
weint sie – weil er ihr leid-
tut, weil sie will, dass er in
Freiheit lebt.
Er ist ihr Vater.
Der Angeklagte nimmt
seine Brille ab, er senkt
langsam den Kopf, er ver-
sucht, nicht zu weinen.
Dann greift er nach dem
Revers seines Jacketts und
wischt die Tränen aus sei-
nem Gesicht.
Das Landgericht in Lim-
burg an der Lahn ist ein
sehr deutscher Ort, ein al-
tes Gebäude in einer alten
Stadt voller Geschichte
und Tradition. Auf den Fluren hängen ver-
gilbte Bilder von Burgen und Schlössern,
Erinnerungen an eine Zeit, in der Familien-
oberhäupter noch Herrscher waren.
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Saal 129 ist an diesem Morgen ein Ort,
der von einer anderen Zeit erzählt, von ei-
nem anderen Deutschland. Die Zweite
Große Strafkammer verhandelt über einen
schmächtigen Mann, einen Mann mit zwei
Ehefrauen und elf Kindern, der die Ermor-
dung seiner Tochter angeordnet haben soll.
Er soll versucht haben, seinen 16-jährigen
Sohn zu diesem Mord zu zwingen. Der
Vater hatte die Waffe dazu, und er soll sie
auf den Sohn gerichtet und gedroht haben,
ihn zu erschießen, wenn er seine Schwes-
ter nicht umbringen würde. Er hatte ein
Motiv: Seine Tochter wollte den Cousin
nicht heiraten.
Hinter dem schusssicheren Glas, das den
Angeklagten von den Zuschauern trennt,
wird eine verborgene deutsche Wirklich-
keit sichtbar. Zwei Gesellschaften begeg-
nen sich hinter der Scheibe, sie prallen auf-
einander, die Werte des deutschen Rechts-
staats und einer kurdischen Familie. Das
Glas in Saal 129 ist ein Schaufenster in
die Geschichte einer gescheiterten Inte-
gration.
Die Geschichte hinter Aktenzeichen
3JS14048/06 beginnt im August 2006. Da
schickt der Vater die Tochter nach Batman,
in seine kurdische Heimat im Osten der
Türkei. Wenige Tage später wird sie dort
mit einem Cousin verlobt, den der Vater
auswählte. Ein Imam wacht über die Ze-
remonie. Doch es geschieht etwas Unvor-
hergesehenes, etwas für den Vater Unvor-
stellbares: Seine Tochter verliebt sich in ei-
nen anderen Cousin und gibt ihrem Ver-
lobten den Ring zurück.
Es ist der Beginn des Dramas von Ha-
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damar, einer Stadt, deren Name klingt, als
liege sie irgendwo in der türkischen Pro-
vinz. Doch sie liegt mitten in Deutschland,
in der Nähe von Limburg.
Zwei Polizisten nehmen hinter der
Scheibe in Saal 129 Platz und berichten,
was sie nach der Rückkehr der Tochter
nach Hadamar erlebten. Eines Nachts wer-
den sie in die Wohnung der Familie geru-
fen. Der Bruder, der seine Schwester in
die Türkei begleitet hatte, erzählt den Poli-
zisten, was geschehen war. Sie bemerken
rote Druckstellen an dessen Hals.
Der Vater machte seinen Sohn verant-
wortlich für das, was die Schwester tat. Er
ohrfeigte ihn, würgte ihn, dann schlug er
ihn zu Boden und richtete eine Pistole auf
ihn. Die Polizisten durchsuchen das Wohn-
zimmer und finden hinter dem Sofa einen
roten Stoffbeutel mit einer Pistole. Im Ma-
gazin stecken acht Patronen.
Der Sohn erzählt den Polizisten alles in
jener Nacht, doch er will keine Anzeige
erstatten. „Ich möchte nicht, dass mein Va-
ter wegen der Sache bestraft wird“, sagt er.
„Er soll aber auch mal Angst bekommen.“
Der Mann auf der Anklagebank sieht
nicht aus, als habe er Angst. Er blickt zu
den türkischen Männern im Zuschauer-
raum und lächelt.
Die mächtigste Person im Saal ist eine
Frau, und an diesem Morgen soll die Toch-
ter des Angeklagten ihr er-
zählen, was sie erlebte.
Doch wieder geschieht
Unvorhergesehenes, etwas
für die Richterin Unvor-
stellbares. Die Tochter sagt
nichts, was den Vater be-
lastet.
Sie will nichts gewusst
haben von einem Plan, sie
mit ihrem Cousin zu ver-
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heiraten – obwohl sie we-
nige Tage nach ihrer An-
kunft in der Türkei verlobt
wurde und die Einladun-
gen schon gedruckt waren.
Sie will nichts gesehen ha-
ben von dem, was in der
Wohnung mit ihrem Bru-
der geschah, obwohl sie
dort war und nickte, als
der Bruder den Polizisten davon erzählte.
Sie will nicht versucht haben zu flüchten,
obwohl sie ohne Koffer in die Türkei flog
und ihrem Vater nichts erzählte.
Sie weiß nur, dass ihr Vater sie liebt.
Die Richterin, eine strenge Frau mit kur-
zen blonden Haaren, wird mit jedem Wi-
derspruch, in den sich die Tochter ver-
strickt, ungehaltener. Sie zeigt mit dem
Finger auf sie und sagt mit sehr lauter
Stimme: „Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie
über Ihren Vater nicht aussagen müssen.
Aber was Sie sagen, muss wahr sein.“
Die Tochter weint.
Es ist der Moment, in dem etwas zer-
bricht zwischen der Frau hinter dem Rich-
tertisch und der davor. Sie leben in zwei
Welten, die nichts verbindet. Die Richte-
rin will die Wahrheit wissen, sie will am
Ende dieses Prozesses ein gerechtes Urteil
fällen, doch sie sieht nur eine Frau in
Angst. Eine Frau, die will, dass ihr Vater
in Freiheit lebt, die sie nicht hat.
1 KAM P F S PORT
2 Schlesische 3 Schlachten 4 In Kreuzberger Hinterhöfen üben
5 sich Jugendliche im Straßenkampf –
6 die Polizei rätselt noch, ob es
7 Sport ist oder Körperverletzung
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Treffen Mahmuds Fäuste das Kinn
seines Gegners, hallt es dumpf durch
den Hinterhof im Wrangelkiez von
Kreuzberg. Knochen auf Fleisch, das
klingt, als ob jemand Schnitzel flach klopft.
„Mach weiter, du Opfer!“, brüllt einer der
Zuschauer auf dem kleinen Bolzplatz. Die
Stirn von Jamal, dem Gegner, schwillt an,
rötet sich, aus der Nase quillt Blut.
Testosteron liegt in der Luft und Kin-
derlachen. Knapp 50 Jugendliche schauen
zu, ein paar filmen mit ihrem Handy. Ein-
gehegt von einem Drahtgestell, wirkt der
Bolzplatz wie eine Voliere in einem Tier-
park. Auf der Latte eines der beiden Fuß-
balltore sitzen Kinder, Mädchen und
Jungs, vier, fünf Jahre alt. Was sie hier se-
hen, ist eigentlich Körperverletzung, rohe
Gewalt. Für die Jugendlichen aber ist es
Sport. Der Sport, der am besten passt zu
ihrem Leben, ihrem Viertel. „Wenn du hier
aufgewachsen bist, musst du dich durch-
setzen können“, sagt Mahmud.
Sie treffen sich zwei-, dreimal im Monat,
auf Zuruf improvisieren sie Turniere in den
Höfen, Parks und Hinterzimmern von
Kreuzberg. Die Regeln für den Kampf sind
so vage wie ehern: keine Waffen, nicht
beißen, nicht an den Haaren ziehen, nicht
auf einen am Boden liegenden Gegner
eintreten, keine Tiefschläge. Mahmud fin-
det, „die Eier sind das Wichtigste, was ein
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Mann hat“.
Verloren hat, wer niedergeschlagen wird
und liegen bleibt. Oder die Menge be-
stimmt nach drei gefühlten Minuten einen
Sieger. Es gibt keinen Schiedsrichter, über
Sieg oder Niederlage entscheidet die Grup-
pe. Manchmal wird mit Boxhandschuhen
gekämpft oder Bandagen; während zwei
kämpfen, warten die anderen auf den Ein-
satz. Sie bilden den Ring für den Kampf,
weichen zurück, wenn einer der Kämpfer
getrieben wird. Sie tragen Gangsterlook
und Sportkleidung, ihre Körper sind seh-
nig, gestählt in Fitness-Clubs und Kampf-
sportvereinen oder mit 500 Sit-ups mor-
gens nach dem Aufstehen. „Ich will doch
keine Bierwampe wie die ganzen Deut-
schen“, sagt Mahmud.
Die Jugendlichen nennen sich Schlesier,
weil sie alle im Kiez rund um das Schlesi-
sche Tor aufgewachsen sind. Die meisten
von ihnen sind libanesische Kurden. Aber
auch Türken oder Albaner können Schle-
sier sein. Fast alle sind Muslime. Der Aus-
länderanteil hier beträgt 40 Prozent, jeder
fünfte Bewohner ist arbeitslos, unter den
Jugendlichen sogar jeder vierte. Mahmuds
Eltern sind libanesische Kurden, er ist in
Berlin geboren, hat einen deutschen Pass
und ist 18 Jahre alt. Jamal, sein Gegner, ist
15, seine Eltern sind marokkanische Fran-
zosen, er hat sieben Jahre lang in einem
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Kickbox-Verein das Kämpfen gelernt. Seit
er bei einem Turnier seinem Gegner mit ei-nem
unerlaubten Kopfstoß das Trommel-
fell zerfetzte, ist er für offizielle Fights ge-sperrt.
Im Nahkampf hat Mahmud gegen
Jamal keine Chance, denn er hat das
Kämpfen nur auf der Straße gelernt.
Mahmud nennt seinen Sport „Straßen-kampf“.
Es gibt keinen Verband, es gibt
kein Preisgeld, Mahmud hat keinerlei
Ambitionen, mal ein Profi im Ultimate
Fighting zu werden, das in den USA
populär geworden ist. Sein Sport ist für
Mahmud eine Art Training für den Alltag:
„Wenn jemand meine Familie beleidigt.
Oder meine Ehre.“
Sie kämpfen unter Freunden, vor dem
Kampf küssen sie sich dreimal auf die
Wange: „Egal was gleich passiert, ich bin
dein Freund.“ Wenn sich einer verletzt,
was schon mal vorkommen kann, wird im
Krankenhaus erzählt, er sei die Treppe hin-
untergefallen. Wer zur Polizei geht, ver-
liere seine „Ehre als Mann“, sagt Mahmud.
„Unter uns gibt es Grenzen. Wir schlagen
uns nicht tot. Einem anderen könnte das
schon passieren.“
Gary Menzel ist als Leiter der Polizei im
Abschnitt 53 zuständig für den Wrangel-
kiez. Es gebe, sagt er, eine „Mauer des
Schweigens“, Anwohner meldeten verab-
redete Schlägereien zwischen Jugendlichen
nicht. „Die Grenzziehung ist auch schwer
für uns: Was ist Sport, und wo fängt die
gefährliche Körperverletzung an?“ Und
selbst wenn Menzel und seine Kollegen
derartige Prügeleien auflösen, werden die
Verfahren gegen die Hobbyschläger oft von
der Staatsanwaltschaft eingestellt.
Nach dem Kampf treffen sie sich in ei-
nem Café. Mahmud zieht an einer Was-
serpfeife, dicke Schwaden durchziehen den
Raum. „Es ist sehr wichtig, dass ich beim
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Kämpfen oft gewinne“, sagt er. Die Kämpfe
gegen die Freunde verschafften ihm Re-
spekt. Mahmud ist schon mehrmals wegen
Körperverletzung angezeigt worden. Da-
mals war er noch nicht 18. Die höchste
Strafe waren vier Wochen Jugendarrest.
Er habe einen Russen niedergestochen, der
seine Schwester küssen wollte: „Ich musste
die Ehre der Familie verteidigen. Ich bin
stolz, dass ich es getan habe.“
Vor zwei Jahren hat er seinen Haupt-
schulabschluss gemacht, seitdem sucht er
eine Lehrstelle, im Moment arbeitet er in
einem Dönerladen. Er sagt, dass er sein
Leben in den Griff bekommen wolle, trotz
seiner Fünfen im Abschlusszeugnis, seines
schlechten Deutschs und seiner Knastver-
gangenheit. Was er noch gut kann, außer
schlagen? „Mit Mädchen reden und Kom-
plimente machen.“
Die Zukunft? Alles sei möglich, sagt
Mahmud: Familie oder Knast. „Vielleicht
muss ich irgendwas arbeiten, das mit Schla-
gen zu tun hat.“
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I S L A M I SM U S 2 Das Phantom der Oper 3 Deutschland zeigt sich heldenhaft: Eine Intendantin wird dafür kritisiert, dass sie das Stück „Idomeneo“
4 aus Angst vor Anschlägen vom Spielplan genommen hat. Es sieht so aus, als würde dem
5 Islamismus endlich die Stirn geboten. Aber die Kritik ist wohlfeil, die wahren Prüfungen kommen noch.
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Sie ist ganz allein. Sie ist von allen kri-
tisiert worden, sogar von der Bun-
deskanzlerin. Ihre Entscheidung hat
weltweit Wellen geschlagen. Sie habe die
Kunstfreiheit verraten, sie habe sich win-
delweich gezeigt gegenüber einer angeb-
lichen Bedrohung durch Terroristen. Man
hat sie feige genannt.
Ihr geht es schlecht. Anderen geht es
gut. Sie konnten draufhauen, sie konnten
sich mutig zeigen, dem Islamismus die
Stirn bieten, den Terror in die Schranken
weisen. Sie konnten sich ganz sicher sein,
richtig zu liegen.
Alles ist so eindeutig.
Kirsten Harms, die Intendantin der
Deutschen Oper in Berlin, hat die Oper
„Idomeneo“ aus dem Programm genom-
men, weil am Schluss Poseidon, Moham-
med, Christus und Buddha mit abgeschla-
genen Köpfen gezeigt wurden. Nach einer
vagen Warnung der Berliner Sicherheits-
behörden hatte sie Angst vor einem An-
schlag islamistischer Terroristen.
Es war „appeasement“, Beschwichti-
gung. Und es war ein Fehler, keine Frage.
Doch in der Masse und Einhelligkeit wirk-
ten die kritischen Kommentare auch wohl-
feil. Nie war Widerstand gegen den Terror
billiger zu haben. Kein Selbstmordatten-
täter in Sicht, niemand riskierte mehr als
ein Verhaspeln vor den Mikrofonen. Es war
nur ein Phantomaufbegehren.
Die eigentliche Frage bleibt auch nach
dem verbalen Heldentum der vergange-
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nen Woche offen: Sind wir zu Opfern be-
reit, um unsere Kultur zu verteidigen?
Man muss den Fall „Idomeneo“ nur va-
riieren, um erkennen zu können, welche
Prüfungen auf Deutschland warten. Was
wäre gewesen, Kirsten Harms hätte die
Einschätzung des Landeskriminalamts ig-
noriert und es hätte tatsächlich einen
Anschlag gegeben, mit Verwundeten und
Toten? Wie wären die Kommentare dann
ausgefallen? Sind wir wirklich bereit, für
Freiheit auf Sicherheit zu verzichten, wenn
die Freiheit einen Blutzoll verlangt?
Das heißt, die Deutschen müssten mal
wieder gründlich über sich nachdenken.
Anders als bei den alten Debatten, als es
vor allem um Erinnerungskultur ging, müs-
sen sich die Deutschen diesmal im Ver-
hältnis zu anderen finden. Wer sind wir,
wenn der Islamismus uns bedroht, heißt
die neue Frage der Nation.
„Wir sind verurteilt zur Verwundbar-
keit“, hat der holländische Publizist Geert
Mak nach dem Mord an Theo van Gogh
geschrieben. Der Filmemacher van Gogh
war im November 2004 von einem Islamis-
ten erschossen worden, weil van Gogh an
einem islamkritischen Film beteiligt gewe-
sen war.
Der Satz gilt auch für Deutschland, auch
wenn hier noch kein Terroropfer zu bekla-
gen ist. Aber die versuchten Attentate auf
zwei Züge haben gezeigt, dass Deutschland
Ziel ist und dass Deutschland verwundbar
ist. Nur Fehler beim Bauen der Bomben
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haben Blutbäder verhindert.
Bislang hat die Gesellschaft auf diese
Bedrohung eher mit „appeasement“ rea-
giert. Der Publizist und SPIEGEL-Autor
Henryk M. Broder hat ein ganzes Buch
darüber geschrieben: „Hurra, wir kapitu-
lieren – Von der Lust am Einknicken“. Er
beschreibt, wie Karnevalisten vor Spöttelei
gegen den Islam zurückschrecken oder wie
eine junge Künstlerin eine islamkritische
Skulptur von einer Werkschau zurück-
zieht, nachdem sie bedroht worden war.
Dieses Einknicken sieht Broder als Fol-
ge des Karikaturenstreits. Im Winter hat-
te Dänemark die Wut eines Teils der isla-
mischen Welt auf sich gezogen, weil in
einer dänischen Zeitung Karikaturen über
Mohammed veröffentlicht worden waren.
Es gab Boykotte und gewaltsame Demon-
strationen, die auch in Deutschland Wir-
kung zeigten. Broder: „So entstand inner-
halb weniger Wochen eine Kultur der
Angst, des Bedauerns und der Entschuldi-
gung, wie sie Deutschland noch nicht er-
lebt hatte.“
Es ist nicht zu erwarten, dass diese Angst
aufgehört hat. Der Fall „Idomeneo“ ist ein
Wendepunkt beim Trockenschwimmen.
Man machte sich für die Freiheit stark, als
die Gegner der Freiheit weit weg waren.
Die Deutschen sind ein Angstvolk. In
keinem anderen Land ist dies ein so großes
Thema wie hier. Die Engländer haben
nicht einmal ein eigenes Wort für diese dif-
fuse Furcht. Sie nehmen das deutsche. Es
liegt nahe, dass ein ängstliches Volk be-
sonders sensibel auf Gefahren reagiert.
„Terror verwandelt alle sozialen Räume
in Orte höchster Gefahr“, schreibt der So-
ziologe Wolfgang Sofsky. Und weiter: „Auf
Schonung darf niemand hoffen.“
Das galt im Kalten Krieg zwar ebenso,
weil die Atombomben alles Leben aus-
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gelöscht hätten. Aber in dem Wort „alles“
steckt genau der Unterschied. In den
Zeiten des Terrors ist das Schicksal indi-
vidualisiert. Es sterben nicht alle, son-
dern einige. Das heißt auch: Mein persön-
liches Verhalten kann über mein Schick-
sal entscheiden. Das steigert Angst und
Hysterie.
So kann die Frage, in welches Flugzeug
man steigt, welchen Zug man nimmt, wel-
che Oper man besucht, über Leben und
Tod entscheiden.
Genauso entsteht eine neue Verant-
wortlichkeit für Worte und Taten. Über
Leonid Breschnew oder Ronald Reagan
konnte der Bürger, ob als Regisseur oder
Karikaturist, nach Herzenslust schimpfen
und spotten, die Atomraketen blieben in
ihren Depots.
Heutzutage kann praktisch jeder islami-
stischen Furor entfachen, indem er sich
über Mohammed äußert. Papst Benedikt
XVI. konnte das jüngst erfahren, als er
während einer Vorlesung in Regensburg
Äußerungen eines byzantinischen Kaisers
über den Propheten zitierte.
Andere, auch weniger prominente Fälle
sind längst aktenkundig. Es muss sich nur
einer finden, der beleidigt ist. Übers Inter-
net findet sich leicht einer.
Kirsten Harms von der Deutschen Oper
in Berlin hat das erkannt. Sie wollte nicht
verantwortlich für Opfer sein. Davor hatte
sie Angst, vorauseilend, ohne echte Be-
drohung. Gleichwohl sollte jeder, der sie
kritisiert, dazu sagen, ob er bereit ist, die
Verantwortung für Opfer zu übernehmen,
wenn die Freiheit tatsächlich verteidigt
werden muss.
Bislang zeichnet sich Deutschland durch
Vorsicht aus. Die Soldaten der Bundes-
wehr bleiben vorerst im Norden Afghani-
stans, obwohl die Schlachten gegen die Ta-
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liban im Süden geschlagen werden. Vor al-
lem dort entscheidet sich, ob in Afgha-
nistan Demokratie und Menschenrechte
Geltung bekommen können. Deutschland
möchte dafür keine Opfer bringen.
Das ist für jeden einzelnen deutschen
Soldaten eine gute Entscheidung. Für die
Freiheit der Afghanen ist es womöglich
eine schlechte (es sei denn, die Amerikaner
füllen die Lücken mit ihren Soldaten, also
möglichen Opfern).
Zugespitzt kann man sagen, die Bun-
desregierung und Kirsten Harms haben
eine ähnliche Entscheidung getroffen: eine
Entscheidung für die Sicherheit, nicht für
die Freiheit, eine Entscheidung gegen deut-
sche Opfer.
Die Gesellschaft wird noch zu entschei-
den haben, ob das zu einer Grundhaltung
werden soll.
Es gibt neben der Angst vor Opfern ei-
nen zweiten Grund für „appeasement“. Er
liegt in einer neuen Toleranz gegenüber
anderen Gesellschaften. Bis in die neunzi-ger
Jahre hinein gab es starke Strömun-
gen in der deutschen Politik, die sich für ei-nen
Universalismus der Werte starkge-macht
haben. Freiheit und Menschenrech-
te sollten in aller Welt gelten. Dafür sind
Politiker aller Parteien eingetreten, zum
Beispiel Norbert Blüm von der CDU und
die Grünen sowieso.
Das hat sich im Zuge der wirtschaftli-
chen Krisen und der Globalisierung geän-
dert. Im Anderen wird jetzt vor allem der
Handelspartner gesehen. Man will in aller
Ruhe Geschäfte miteinander machen. Für
diese Haltung stand vor allem Gerhard
Schröder, der Kanzler von Rot-Grün.
In Dänemark hat der Boykott dänischer
Waren in einigen islamischen Ländern eine
Haltung des „appeasement“ gefördert.
Diese Dominanz des Ökonomischen macht
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den Westen schwach in der Vertretung sei-
ner Werte.
Ein dritter Grund für das „appeasement“
liegt im Zweifel an der eigenen , Zweifel bis
hin zum Selbsthass. John Updike spielt da-
mit gekonnt in seinem Roman „Terrorist“.
Ahmad, ein junger Amerikaner mit musli-
mischen Wurzeln, lässt sich kobern für ein
Attentat auf den Lincoln-Tunnel, der von
New Jersey nach New York führt. Dieser
Ahmad ist kein sympathischer Bursche,
aber man ertappt sich dabei, seine Ab-
neigung gegen Konsumsucht, Sexwahn
und Fernsehschwachsinn nachzuvollziehen,
wenn nicht teilen zu können.
Auch in Deutschland gibt es ein starkes
Unbehagen an der westlichen Kultur mit
ihren hässlichen Wucherungen. Der Völ-
kerkundler Hans Peter Duerr attestiert den
modernen Zeiten eine „Brutalisierung“ und
eine „Auflösung des Schamgefühls“, die
„beispiellos in der Kulturgeschichte“ seien.
Seit fast hundert Wochen behauptet sich
Peter Hahnes Pamphlet gegen die Spaßge-
sellschaft „Schluss mit lustig“ in der Best-
sellerliste. Ein Neuzugang der vergangenen
Woche heißt „Lob der Disziplin“. Bern-
hard Bueb, ehemals Schulleiter des Elite-In-
ternats Salem, fordert darin, bei Kindern
Respekt und Achtung einzufordern.
Da macht sich mehr und mehr ein Wi-
derwille gegen die Laisser-faire-Gesell-
schaft breit. So findet sich der eine oder
andere in Deutschland plötzlich in dem ei-
nen oder anderen Punkt der Gesellschafts-
kritik mit einem Taliban einig.
Zu dieser Selbstdistanz aus aktuellen
Gründen kommt bei den Deutschen eine
Selbstdistanz aus historischen Gründen.
Wegen der Nazi-Verbrechen hatte und hat
man Probleme, sich selbst zu lieben. Und
was man nicht liebt, empfiehlt man auch
nicht weiter.
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Lange haben die Deutschen vorgezogen,
den Islam in Deutschland als eine fremde
Kultur zu betrachten, die sie nicht viel an-geht.
Sie haben es hingenommen, dass
muslimischen Mädchen jeder Kontakt zu
deutschen Jungen verboten wird, dass sie
nicht am Sportunterricht teilnehmen dür-
fen, nicht beim Schwimmen und, dass sie
bei Klassenfahrten fehlen. Sie haben sich
angewöhnt, über die Frauen hinwegzuse-hen,
die selbst bei Hitze mit Kopftuch und
fußlangem Mantel über die Straße gehen.
Sie haben sich auch nicht dafür interes-siert,
dass viele Muslime nur gebrochen
Deutsch sprechen, die Eltern, aber auch
die Kinder.
So entstand das, was Soziologen Paral-
lelgesellschaften nennen, eine abgeschlos-
sene Welt mit eigenen Bräuchen und Sit-ten,
die um Begriffe wie „Ehre“ und „Re-spekt“
kreisen. Tatsächlich muss man eher
von einem Rückzug sprechen, einer Land-
aufgabe, bei der die Mehrheitsgesellschaft
vor der Minderheitsgesellschaft zurück-
wich und ihr die freien Räume überließ.
Erst allmählich kommt in den Blick, dass
der Rückzug Kosten hat, dass eine Gesell-
schaft nicht ungestraft auf jeden Anpas-
sungszwang an ihre Normen und Werte
verzichten kann, zumal, wenn der Teil der
Leute, die sich bewusst abgrenzen, zah-
lenmäßig so bedeutsam ist, dass schon bald
nicht mehr klar sein wird, wer Mehrheit
und wer Minderheit ist. Schon in wenigen
Jahren wird der Anteil der Zugewanderten
in deutschen Großstädten bei den unter
40-Jährigen bei 50 Prozent liegen.
Es ist die Erkenntnis, dass die Dinge
zu entgleiten drohen, die den Bundes-
innenminister nun veranlasst hat, die ers-
te Islamkonferenz abzuhalten, mit Ver-
tretern von Muslimverbänden, Kritikern
und Fachleuten aus seinem Haus. Wolf-
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gang Schäuble will die muslimischen Ein-
wanderer nicht mehr einfach so in Ruhe
lassen; er spricht viel von „Dialog“ und
„Miteinander“, aber er sagt auch, dass es
an der Zeit sei, denjenigen, die auf Dauer
in Deutschland leben wollen, mehr abzu-
verlangen.
CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla
fordert auch vom Westen mehr Einsatz für
das, was diesem wichtig ist: „Wir müssen
bereit sein, für unsere christlich geprägten
westlichen Werte einzustehen“, schreibt er
in der „Bild am Sonntag“. Scharf kritisiert
er zugleich islamistische Eiferer.
Wie es mancherorts um die Integration
islamisch gläubiger Zuwanderer bestellt ist,
zeigt der Blick in die Hauptschule eines
Einwandererviertels wie Berlin-Neukölln
oder Duisburg-Marxloh. Es ist eine Welt, in
der deutsche Kinder als „Christenschwei-
ne“ oder „Schweinefleischfresser“ be-
schimpft werden. Deutsch zu sein gilt hier
als Zeichen von Schwäche. Als die Berliner
Schulbehörde nach der Aufregung im
Frühling Psychologen an die Berliner Rüt-
li-Schule entsandte, um dort nach dem
Rechten zu sehen, stellten die überrascht
fest, dass auch die wenigen verbliebenen
deutschen Kinder nur noch gebrochen
Deutsch sprachen. Sie taten das ganz be-
wusst, um auf dem Schulhof weniger auf-
zufallen.
Vierzig Prozent der Einwandererkinder
schaffen nur einen Hauptschulabschluss,
zwanzig Prozent nicht einmal das. Ent-
sprechend hoch ist die Arbeitslosigkeit un-
ter Ausländern. Sie liegt inzwischen bei
22,4 Prozent, mehr als doppelt so hoch wie
in der Gesamtbevölkerung.
Die Migrationsforschung hat die Schuld-
frage schon vor Jahren entschieden. Nach
ihrer Meinung hat die deutsche Auf-
nahmegesellschaft versagt, die Ausländer
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nicht genug willkommen heißt und sie so
in die Leistungsverweigerung treibt. „War-
um scheitern so viele muslimische Jungen
in der Schule? Weil sie einem Rollen-
bild folgen, das nach innen Gehorsam
und Unterwerfung verlangt und nach au-
ßen Männlichkeit mit Stärke und Gewalt
gleichsetzt“, sagt dagegen die Soziologin
Necla Kelek.
Die Deutsch-Türkin Kelek gehört zu
der kleinen Gruppe von Wissenschaftlern,
die einen Zusammenhang zwischen den
Integrationsschwierigkeiten der muslimi-
schen Einwanderer und ihrem Glauben
vermutet. Kelek selbst ist das Paradebei-
spiel einer gelungenen Integration. Sie
kam mit zehn Jahren nach Deutschland,
sie machte ihr Abitur und studierte Sozio-
logie und Volkswirtschaft, gegen den Wil-
len des Vaters. Im März veröffentlichte
sie „Die verlorenen Söhne“, eine hellsich-
tige Analyse zur Lage der muslimischen
Männer.
Bei ihren Landsleuten, aber auch in wei-
ten Teilen der Linken, gilt Kelek als Ver-
räterin. Die „Zeit“ veröffentlichte vor we-
nigen Monaten einen Aufruf von 60 Mi-
grationsforschern, die ihre Arbeiten als
„unseriös“ und „unwissen-
schaftlich“ bezeichneten, weil
sie eigene, ältere Forschungs-
ergebnisse neu gedeutet habe.
Kelek hat eine ziemlich kla-
re Vorstellung, was schiefge-
laufen ist, und vieles hat mit
der Weigerung von Politik zu
tun, Realitäten anzuerkennen.
Die Rechten im Lande hätten
Ausländerpolitik defensiv be-
trieben, gegen Ausländer, ge-
gen Immigration, sagt Kelek.
„Die Linke hat einfach die
Vorzeichen umgedreht. Aus-
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länder waren an sich gut, und
wo sie es mal nicht waren, da
war sofort die Sozialpädagogik
zur Stelle, die nach dem Dreisatz verfuhr:
erklären, verstehen, helfen.
Das ist nichts anderes als „appease-
ment“ nach innen.
Nun wird nach Wegen gesucht, wie sich
die Deutschen ertüchtigen können, um
selbstbewusster ihre Werte nach innen und
außen zu verteidigen. Zum Beispiel wird
in manchen Kreisen eine Rückkehr der Re-
ligiosität erhofft und eingefordert, da nur
der starke Christ dem starken Muslim et-
was entgegenzusetzen habe. Den Deut-
schen soll wieder etwas heilig sein.
„Die Beleidigung, dass wir Christen von
Muslimen als ,ungläubig‘ bezeichnet wer-
den, beschwert den Dialog“, schreibt
CDU-General Pofalla.
Der CSU-Fraktionschef in Bayern, Joa-
chim Herrmann, nutzt den Fall „Ido-
meneo“, um die Kunstfreiheit in einem
Atemzug zu verteidigen und zu kritisieren.
Es sei falsch gewesen, die Aufführung ab-
zusetzen, aber Christus, Mohammed und
Buddha ohne Köpfe zu zeigen sei zugleich
„Verhöhnung und psychische Gewalt ge-
genüber vielen Gläubigen“. Er meint vor
allem Christen.
Die christlichen Kirchen haben in
Deutschland immer wieder versucht, sich
Schonräume zu sichern. Zuletzt gab es
einen klerikalen Aufschrei gegen die Reli-
gionssatire Popetown“ von MTV. Der
Münchner Kardinal Friedrich Wetter sagte,
man könne nicht zulassen, „dass Christus
und seine Leiden, die Mitte unseres Glau-
bens, so verhöhnt werden“. Zum wieder-
holten Male versuchte die CSU bei dieser
Gelegenheit, Gotteslästerung verschärft
unter Strafe zu stellen. Seit 1969 ist sie nur
verboten, wenn der „öffentliche Friede“
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gestört werden könnte.
Nicht alles ist ein Kunstwerk, was im
Namen der Kunstfreiheit geschützt wer-
den soll. Und nicht jede Religionskritik ist
Aufklärung, manches entspringt eher über-
großen Egos oder Geldgier. Aber wie will
man objektiv in guten und schlechten Ge-
brauch von Kunstfreiheit unterscheiden?
„Eine Freiheit, die nicht missbraucht werden
kann, ist keine“, so der Soziologe
Wolfgang Sofsky.
Deshalb liegt in der Verteidigung der
Freiheit immer auch die Verteidigung des-sen,
was einem nicht passt. Das ganze
Glück ist nicht zu haben. Es kommt für
die westliche Gesellschaft darauf an, sich
mögen zu können, auch wenn einen das
eine oder andere abstößt. Man braucht
vor allem Gelassenheit. Gerade die ver-hindert
„appeasement“.
Ein Vorbild könnte Henry Perowne sein,
der Held des Romans „Saturday“ von Ian
McEwan. Perowne ist Arzt und lebt in Lon-don.
Eines frühen Morgens beobachtet er
ein Flugzeug und hat den Eindruck, dass es
abstürzt. Er denkt an einen Terroranschlag.
So beginnt sein Tag. Und es ist ein Tag,
an dem er so ziemlich alles erlebt, was
an der westlichen Gesellschaft gut und
schlecht ist. Was an Perowne beeindruckt,
ist die Gelassenheit, mit der er durch die-sen
ereignisreichen Tag geht. Und er hat
nie Zweifel daran, dass es richtig ist, dieses
Leben ganz und gar anzunehmen. Am
Ende zeigt er sich tatsächlich wehrhaft und
verteidigt seine Familie erfolgreich gegen
einen Überfall.
Erklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich diese Arbeit selbstständig verfasst und keine
anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe.
Unterschrift