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Magisterarbeit im Fach Kulturwissenschaft an der Universität Bremen „Orientalismus“ im Spiegel? eine kritische Diskursanalyse von Publikationen zum Thema „Islam in Deutschland“ im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (Jahrgänge 2006-2008) vorgelegt von Annabel Trautwein Betreuende Gutachterin: Prof. Dr. Dorle Dracklé Zweitgutachterin: Dr. Cora Bender Bremen, den 03.04.2011

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Magisterarbeit

im Fach Kulturwissenschaft

an der Universität Bremen

„Orientalismus“ im Spiegel?

eine kritische Diskursanalyse

von Publikationen zum Thema

„Islam in Deutschland“

im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“

(Jahrgänge 2006-2008)

vorgelegt von

Annabel Trautwein

Betreuende Gutachterin: Prof. Dr. Dorle Dracklé

Zweitgutachterin: Dr. Cora Bender

Bremen, den 03.04.2011

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ...................................................................................................1

2. Die Theorie ................................................................................................6

2.1. Was bedeutet Orientalismus? .............................................................7

2.2. Wozu die Frage nach journalistischem Orientalismus? ....................10

2.3. Stand der Forschung ........................................................................12

3. Die Analyse .............................................................................................16

3.1. Die Methode .....................................................................................17

3.2. Ergebnisse der Strukturanalyse ........................................................20

3.3. Dossier und Interpretationsschlüssel ................................................25

3.4. Ergebnisse der Feinanalyse .............................................................28

3.4.1. „Der innerste Ring“ ..................................................................28

3.4.2. „Angst vor dem Befreiten“ .......................................................31

3.4.3. „,Kaum verhüllte Drohung’“ .....................................................35

3.4.4. „Die Integrierten“ .....................................................................38

3.4.5. „Das Wunder von Marxloh“ .....................................................42

3.4.6. „Die Freiheit der anderen“ .......................................................45

3.4.7. „Schlesische Schlachten“ ........................................................48

3.4.8. „Das Phantom der Oper“ .........................................................51

4. Fazit ..........................................................................................................56

5. Schlussbemerkung ...................................................................................61

Literaturverzeichnis .................................................................................64

Verzeichnis der analysierten Artikel ........................................................69

Anhang ....................................................................................................80

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Kapitel 1 – Einleitung

Das Ergebnis meiner Magisterarbeit bietet Antwort auf eine Frage, die mich

seit meinem Grundstudium beschäftigt: Wie lässt es sich erklären, dass ein

renommiertes Magazin wie der Spiegel in seiner Berichterstattung über Islam

offenbar Konzepte anwendet, die vielen Kulturwissenschaftlern1 längst als

überholt gelten?

Die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs über Islam und

dem Islam-Bild des Spiegel trat in meinem Studienalltag immer wieder

zutage: Im Einführungskurs Kulturwissenschaft beschäftigte ich mich mit

Transkulturalität und postkolonialer Kritik an essentialistischen

Identitätskonzepten, während auf der Titelseite des Spiegel, der zu Hause

auf meinem Küchentisch lag, das Bild einer kopftuchtragenden Muslima mit

der Schlagzeile „Allahs rechtlose Töchter“ prangte (Nr. 47/2004). In

Hausarbeiten und Referaten meines Nebenfachs Religionswissenschaft

setzte ich mich mit den methodologischen Facetten islamischer

Rechtsauslegung und verschiedenen Konzepten von Scharia auseinander,

während der Spiegel „[d]ie stille Islamisierung“ Deutschlands ausrief und

unter dem Titel „Haben wir schon die Scharia?“ deutsche Gerichte als

Handlanger von „Islam-Fundamentalisten“ stilisierte, weil eine Frankfurter

Richterin die Klage einer Muslima mit Verweis auf einen Koranvers

abgewiesen hatte (Nr. 13/2007). Die Kritik an Samuel Huntingtons

essentialistischem Konzept eines „Clash of Civilizations“ erschien mir unter

Kommilitonen und Dozenten unbestritten – und zu Hause ärgerte ich mich

über den Spiegel, der den Karikaturenstreit unter der Überschrift „Der heilige

Hass“ auf die Titelseite brachte und darin einen „Zusammenprall der

Kulturen“ eskalieren sah (Nr. 6/2006).

In Edward W. Saids Theorie des „Orientalismus“ fand ich einen Ansatz, der

meine Frage nach dem Hintergrund dieser Diskrepanz zu beantworten

schien. Dennoch bezweifelte ich, dass ein so anerkanntes Magazin, das mit

dem Slogan „Spiegel-Leser wissen mehr“ seinen aufklärerischen Anspruch

unterstreicht, sich einer so kritikwürdigen ideologischen Tradition

anschließen würde. War mein Eindruck von der Islam-Berichterstattung des 1 Der Einfachheit halber verwende ich die männliche Form. Damit sollen Frauen nicht ausgeschlossen werden.

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Spiegel nicht längst verzerrt durch meinen Ärger über einzelne Artikel, so

dass ich immer wieder dieselben Muster bestätigt sah, Gegenpositionen aber

ausblendete? Auch wenn ich das Heft abonniert hatte und die

Berichterstattung über Islam und Muslime aufmerksam verfolgte - kritisch

überprüft hatte ich die Position des Spiegel nicht.

In meiner Magisterarbeit hole ich nun diese kritische Analyse des Islam-Bilds

im Spiegel nach. Bei der systematischen Untersuchung von Beiträgen des

Magazins tritt letztendlich ein breites Spektrum an Diskurspositionen zutage,

bei denen sich die Darstellung von Islam und Muslimen teilweise von Beitrag

zu Beitrag, teilweise auch innerhalb einzelner Artikel stark unterscheidet. In

der Gesamtwirkung dominieren jedoch Darstellungsmuster und Stereotype,

die ein orientalistisches Bild von Muslimen und Islam bekräftigen.

Dieser Befund ergibt sich aus meinen Forschungsparametern, die ich an

dieser Stelle knapp skizziere und im Verlauf meiner wissenschaftlichen Arbeit

genauer erläutere und begründe:

Meine Forschungsfrage ist in zwei Aspekte gestaffelt. Zunächst untersuche

ich: Wie stellt der Spiegel das Thema „Islam in Deutschland“ dar? Daran

schließt sich die Frage an: Wie positioniert sich das Magazin mit dieser

Darstellung zum orientalistischen Diskurs?

Das Werkzeug, mit dem ich mein Material anhand dieser Fragen

entschlüssele, ist die Methode der kritischen Diskursanalyse von Siegfried

Jäger (Jäger 2004).

Um den Materialfundus meiner Arbeit dem vorgegebenen Rahmen einer

Magisterarbeit anzupassen, nehme ich zwei Einschränkungen vor: Zum

einen grenze ich den Untersuchungszeitraum ein auf die Jahrgänge 2006,

2007 und 2008. Zum anderen fokussiere ich meine Untersuchung auf

Berichterstattung über Muslime in Deutschland.

Die Begrenzung des Untersuchungszeitraums dient in erster Linie dazu, den

Umfang des Materials auf eine handhabbare Menge zu reduzieren. Den

Fokus auf den gesellschaftlichen Kontext Deutschland wähle ich, da mich

besonders interessiert, wie das Magazin Muslime darstellt, die sich in der

Alltagswelt ihrer Leser befinden. 2 Hinzu kommt, dass dieser Fokus

2 Die Debatte um Integration von Muslimen in Deutschland, die im Herbst 2010 entbrannte, sowie die Diskussion um die Bedeutung des Islam für die deutsche Gesellschaft nach der Rede des Bundespräsidenten am Tag der Deutschen Einheit 2010 bekräftigen mich in meinem Interesse.

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außenpolitische Themen wie den Irak-Krieg ausklammert, die einerseits den

Materialumfang erheblich vergrößern würden und andererseits wegen der

Vielschichtigkeit der damit verbundenen Diskurse (militärische,

diplomatische, humanitäre usw.) die Analyse wesentlich aufwändiger

gestalten würden.

Bei meiner Analyse konzentriere ich mich demnach auf Artikel, in denen

Personen oder Personengruppen im Vordergrund stehen, deren muslimische

Identität sowie deren Leben und Handeln in Deutschland für die Geschichte

des Beitrags relevant sind. Nach diesem Kriterium schließe ich Artikel über

Menschen aus, die zwar Muslime sind, jedoch gar nicht oder nur beiläufig als

solche dargestellt werden.

Der Fokus auf Muslime dient dazu, Beiträge auszuklammern, in denen

ausschließlich nicht-muslimische Wortführer ihre Vorstellungen von Islam

ausbreiten – zwar können diese Ausführungen durchaus interessant sein,

jedoch handelt es sich hier weniger um direkte Repräsentationen des Spiegel

als um Repräsentationen Dritter, denen das Magazin lediglich Raum gibt.

Dabei ist – abgesehen davon, dass die Spiegel-Redaktion sie offenbar für

lesenswert hält – meist nicht eindeutig bestimmbar, wie sich der Spiegel zu

diesen Repräsentationen positioniert. Aus demselben Grund klammere ich

Interviews bei der Materialauswahl für die Feinanalyse aus.

Abgesehen von meinem persönlichen Interesse am Spiegel bietet sich das

Magazin aus verschiedenen Gründen für eine kritische Untersuchung seiner

Diskursposition an: Zum ersten stellt sich der Spiegel als politisches

Nachrichtenmagazin3 eine besondere gesellschaftliche Aufgabe – zu

aktuellen Geschehnissen liefert es Hintergrundinformationen, stellt

Zusammenhänge zwischen einzelnen Ereignissen her und bietet so

umfassende Analysen und Interpretationen an (Schneider/Raue 2007:291).

Damit zeichnet das Magazin ein mehr oder weniger kohärentes Bild der

gesellschaftlichen Lage, das dem Leser als Verständnis- und

Orientierungshilfe dienen soll. Laut Wolfram Schrage gilt das Blatt seit

Anfang der 60er Jahre „als Blatt der Aufklärung, als ‚Sturmgeschütz der

Demokratie’“ (Schrage 2007:165). Die Textgattung der Magazingeschichte,

die entscheidend vom Spiegel mitgestaltet wurde (Mast 2004:319, 3 http://www.spiegel-qc.de/deutsch/media/dokumente/partner/kurzportraet/spiegel_factsheet_2011.pdf (Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011)

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Pürer/Raabe 2007:166), spielt dabei eine besondere Rolle (Mast 2004:318).

Da das Vermischen von Fakten und Wertungen im Fall des Spiegel üblich

und weitgehend anerkannt ist, erhalten auch Berichte, deren Stoßrichtung

durch die Meinung des Verfassers vorgegeben ist, den Anschein objektiver

Wahrheit (Pürer/Raabe 2007:166, Schneider/Raue 2007:101).

Allgemein gilt der Spiegel als „Leitmedium“ mit sehr hohem Einfluss (Schrage

2007:163, Pürer/Raabe 2007:162). Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur

Stefan Aust kommentierte das Ansehen seines Magazins 1997 mit dem Satz

„Das muß ja stimmen, es hat doch im Spiegel gestanden.“ (Aust 1997, zit.

nach Wolf 2006:256) und verlieh damit nach Ansicht von Claudia Maria Wolf

dem Magazin die „Aura der Unfehlbarkeit“ (ebd.). Besonders für Journalisten

gilt der Spiegel traditionell als Orientierung (Pürer/Raabe 2007:167,

Schneider/Raue 2007:201). Mit einer aktuellen Auflage von rund 975.000

verkauften Heften ist der Spiegel nach eigenen Angaben das derzeit

meistverkaufte Nachrichtenmagazin Deutschlands. 4 In den Jahrgängen

2006, 2007 und 2008, auf die ich mich in meiner Analyse beziehe, ist der

Spiegel mit einer durchschnittlichen Druckauflage von 1.289.763 Exemplaren

das auflagenstärkste Nachrichtenmagazin vor Focus und Stern. 5 Angesichts

der journalistischen Gepflogenheiten des Spiegel, die den Journalisten eine

verhältnismäßig große Deutungshoheit beimessen, des hohen Stellenwerts,

den das Magazin in der Öffentlichkeit hat, sowie seiner weiten Verbreitung ist

der Spiegel ein besonders lohnenswerter Gegenstand für die Untersuchung

einer orientalistischen Diskursposition.

Bei der Darstellung meiner Arbeit liegt ein grundsätzliches Problem in der

Verwendung von Begriffen wie „der Islam“, „der Orient“, „der Westen“ oder

„die deutsche Gesellschaft“: Als scheinbar eindeutige Bezeichnungen wirken

sie wie Labels, die die Vielschichtigkeit der damit gemeinten Phänomene

einebnen und so das Bild homogener, statischer Einheiten vermitteln. Eine

Kennzeichnung durch Anführungsstriche oder eine Paraphrasierung

erscheint mir jedoch auch zweifelhaft – zum einen möchte ich keine

Verwechslung mit Zitaten riskieren, zum anderen lässt sich schwer

bestimmen, welche Begriffe als Labels hervorgehoben werden müssten und

4 http://www.spiegel-qc.de/deutsch/media/dokumente/partner/kurzportraet/spiegel_factsheet_2011.pdf (Datum des letzten Besuchs: 30.03.2011) 5 eigene Berechnung; Quelle: http://www.ivw.eu/index.php (Datum des letzten Besuchs: 27.03.2009)

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welche nicht.6 Der Gefahr, die eine Nicht-Kennzeichnung von Labels birgt,

bin ich mir bewusst – dennoch halte ich die Begriffe für eine alltägliche

Verständigung für unvermeidlich. Die Tatsache, dass sie ihren Gegenstand

sehr unscharf und eindimensional wiedergeben, bedeutet meiner Ansicht

nach nicht, dass sie nichtssagend wären. Ich appelliere daher an meine

Leser, sich beim Lesen bewusst zu machen, dass sich hinter diesen

Begriffen verschiedene, zum Teil konkurrierende Inhalte, Entwicklungen und

Interpretationen verbergen.

Da meine Forschung durch die zeitliche Überschneidung mit meiner

journalistischen Ausbildung als Tageszeitungsvolontärin mehr Zeit in

Anspruch genommen hat als für eine Magisterarbeit üblich, sind die

untersuchten Artikel weniger aktuell als ursprünglich geplant. Damit sind

auch die Ergebnisse nicht ohne erneute Prüfung auf die heutige

Berichterstattung des Spiegel übertragbar. Auch habe ich nicht den

Anspruch, in meiner Arbeit alle Ursachen und Hintergründe des Islam-Bilds

im Spiegel offen zu legen; es bleiben zwangsläufig einige Faktoren

unberücksichtigt, die auf dieses Bild einwirken. Demnach sollen die Beiträge

über Muslime und Islam im Spiegel nicht als reine Manifestation von

Orientalismus gelesen werden. Die Orientalismus-Theorie bietet einen

Erklärungsansatz für die Position des Magazins, der jedoch andere

Erklärungsansätze nicht ausschließen soll.

Mit meiner Arbeit möchte ich – neben dem konkreten Erkenntnisziel meiner

Forschung – auf ein Phänomen aufmerksam machen, das in vielen Medien

und immer wieder zutage treten kann. Insofern soll diese Arbeit über die

konkrete Analyse des zugrunde liegenden Quellenmaterials hinaus auch

grundsätzlich für das Phänomen des Orientalismus in journalistischen

Darstellungsformen sensibilisieren und damit die Rezipienten von

Mediendiskursen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit journalistischen

Inhalten anregen.

6 Von den Begriffen „Islamismus“ oder „Islamist“ distanziere ich mich bewusst, indem ich sie durch Anführungszeichen als Kategorie anderer Autoren kennzeichne. Der Grund für meine Ablehnung dieser Begriffe liegt darin, dass sie mangels einer greifbaren Definition m. E. stark diffamierend und politisch klassifizierend wirken.

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Kapitel 2 – Die Theorie

In den folgenden Kapiteln erläutere ich die theoretische Grundlage meiner

Arbeit und gebe einen Überblick über den bisherigen Forschungsstand zum

Islambild in deutschen Nachrichtenmagazinen.

Ich stütze mich dabei auf die Orientalismus-Theorie Edward W. Saids, die er

in seinem gleichnamigen Werk (Originaltitel „Orientalism“, erstmals

erschienen 1978) ausführlich darlegt. Das Buch wurde in mehr als 30

Sprachen übersetzt und hat zu einer weltweiten Debatte geführt, die bis

heute fortwirkt und ständig aktualisiert wird (Said 2003a:xv). Mehr als 30

Jahre nach seiner Erstveröffentlichung und bei aller Kritik, die daran

geäußert wurde (Varisco 2007, Porter 2005), gilt „Orientalism“ bis heute als

ein Standardwerk postkolonialer Kulturtheorie (Varisco 2007).

Indem ich Saids Orientalismus-Konzept als theoretische Grundlage meiner

Arbeit anwende, erkenne ich seine Befunde und Schlussfolgerungen

weitgehend an. Da ich meinen Schwerpunkt auf die empirische

Diskursanalyse der Spiegel-Beiträge lege, bleibt im vorgegebenen Rahmen

meiner Arbeit kein Raum für eine fachgerechte theoretische Kritik von Saids

Thesen. Zwar halte ich eine kritische Rezeption der Orientalismus-Theorie

grundsätzlich für sinnvoll und wünschenswert, jedoch sehe ich das Konzept

nicht in dem Maße in Frage gestellt, dass es als theoretisches Fundament für

meine Arbeit disqualifiziert würde.

Im folgenden Kapitel 2.1 gebe ich einen knappen Überblick über diejenigen

Aspekte der Orientalismus-Theorie, die für meine Arbeit relevant sind. Dabei

stelle ich Merkmale und Darstellungsmuster in den Vordergrund, an denen

ich mich bei der Analyse der Spiegel-Beiträge und der Auswertung meiner

Analyseergebnisse orientiere.

Im Kapitel 2.2 erläutere ich die Bedeutung journalistischer Publikationen für

die Wirkungsmacht des orientalistischen Diskurses.

Im Kapitel 2.3 gebe ich einen Überblick über den wissenschaftlichen

Forschungsstand zum Islam-Bild in deutschen Nachrichtenmagazinen.

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Kapitel 2.1 – Was bedeutet Orientalismus?

Edward Said beschreibt Orientalismus als einen ideologischen Diskurs in

erster Linie westlicher Wort- und Schriftführer über den Orient7, der ein

ungleiches Machtverhältnis zwischen Westen und Orient konstituiert und bis

in die heutige Zeit aufrecht erhält (Said 2003a).8 Dabei werden drei zentrale

Prinzipien des Diskurses deutlich: Grundlegend für Orientalismus ist erstens

die Dichotomisierung, also die fundamentale Gegenüberstellung von Orient

einerseits und Westen andererseits – diese Dichotomie bezeichnet Said als

das zentrale Element des Orientalismus (ebd.:45).9 Dabei erfolgt, ausgehend

von einer Generalisierung sämtlicher Beobachtungen über den Orient

(ebd.:86), eine Essentialisierung, in der das „Wesen“ des Orients, aber auch

das der eigenen, westlichen Kultur, festgeschrieben wird (v.a. ebd.:104 ff.).

Die Untersuchung dieser Darstellungsmuster ist in mein

Forschungsinstrumentarium zur Analyse von Beiträgen des Spiegel über

Islam in Deutschland eingegliedert (s. Kapitel 3.1).

Said definiert vier „Dogmen“ des Orientalismus (ebd.:300 f.). Demnach

erscheint erstens der Orient als statisch, unterentwickelt, irrational und damit

dem fortschrittlichen, modernen, rationalen und aufgeklärten Westen

unterlegen (ebd.:300). Bei der Repräsentation und Rezeption des Orients

zieht der Orientalist zweitens Abstraktionen einer realitätsorientierten

Beweisführung vor (ebd.). Aus der Überzeugung, Orientalen seien aufgrund

mangelhafter Selbstreflexivität nicht in der Lage, sich selbst zu

repräsentieren, leiten Orientalisten drittens den Anspruch ab, für den Orient

zu sprechen und untermauern damit einen universellen Herrschaftsanspruch 7 Der Begriff „Orient“ muss in Hinblick auf Saids Theorie differenziert betrachtet werden: Einerseits bezeichnet er ein Territorium, dessen Grenzen jedoch nicht klar definiert sind (Said 2003a:116 f.), andererseits ist er eine „Idee“ (Said 2003a:5), ein „topos“ (ebd.:177), das mit Repräsentationen des vermeintlich Orientalischen aufgeladen und menschengemacht ist (ebd.:5). Beide Bedeutungen des Begriffs sind miteinander verbunden: die Idee umkleidet den Ort, der Ort impliziert die Idee in der westlichen Wahrnehmung. Hinzuzufügen ist, dass auch die Kategorie „westlich“ nicht eindeutig begrenzt und definiert werden kann. 8 Da ich an dieser Stelle nur eine knappe Skizze des orientalistischen Diskurses wiedergeben kann, lassen sich sehr abstrakte, allgemeine und zum Teil typisierende Darstellungen leider nicht vermeiden. Die Gefahr, dass dabei die handelnden Akteure in den Hintergrund treten, ist mir bewusst. Meine Leser bitte ich daher, den orientalistischen Diskurs nicht als Selbstläufer zu verstehen, sondern sich bewusst zu machen, dass dahinter individuelles Handeln steht. 9 Der Lesbarkeit halber gebe ich die Thesen Saids im Indikativ wieder. Die Verwendung des Konjunktivs wäre zwar korrekt, würde aber meiner Einschätzung nach das Verständnis des Textes beeinträchtigen und außerdem den Eindruck erwecken, ich wolle mich explizit von Saids Thesen distanzieren, was nicht der Fall ist.

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des Westens (Said 2003a:21). Die Darstellung des Orients als Hort der

Gefahr, die möglichst kontrolliert werden muss, hebt Said als viertes

„Dogma“ des Orientalismus hervor (ebd.:301). Bei meiner Untersuchung von

Beiträgen aus dem Spiegel orientiere ich mich an diesen Charakteristika von

Orientalimus.

Der westliche Orientalist als geschulter Experte ist demnach allein befähigt,

den Orient in seinem Wesen zu erfassen; ihm ist es vorbehalten, den Orient

und die dort lebenden Menschen zu definieren, charakterisieren,

lexikalisieren und seinem Urteil zu unterwerfen. Seine Generalisierungen

und Theorien über den Orient gelten als wissenschaftlich objektive

Wahrheiten (ebd:46). Ausgestattet mit dieser Definitionsmacht kann der

westliche Orientalist den mysteriösen (ebd.:44), in seiner Fremdheit

furchteinflößenden Orient „domestizieren“ (ebd.:78) und seiner westlichen

Rezipientenschaft nahe bringen (ebd.:60). Die Logik westlicher Dominanz

und damit der imperialistischen Macht im weitesten Sinne bestimmt auf diese

Weise den orientalistischen Diskurs. Auch dieses Merkmal des

Definitionsanspruchs ist ein Untersuchungskriterium meiner Analyse.

Said beschreibt Orientalismus als eine dreiseitig wirksame Kraft (ebd.:67). In

erster Hinsicht wirkt sie auf den Orient, weil er der Definitionsmacht und

Herrschaft des Westens unterworfen und für sein Anders-Sein moralisch

verurteilt wird. Orientalismus als Diskurs wirkt jedoch auch auf den

Orientalisten: Er ist den diskursiven Spielregeln seiner Disziplin unterworfen;

die Festlegung dessen, was gesagt werden kann und was nicht, kann er

innerhalb dieser Spielregeln nur geringfügig beeinflussen. In letzter Hinsicht

wirkt Orientalismus auf den westlichen „Konsumenten“, der darauf

angewiesen ist, sich auf die Definitionen und Erkenntnisse des Orientalisten

zu verlassen, wenn er etwas über den Orient erfahren möchte. Indem der

Orientalist lediglich das Bild seiner Rezipienten bestätigt (ebd.:65), wirkt der

Orientalismus als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – sein

Gegenstand ist gleichzeitig sein Produkt, seine Untersuchungsergebnisse

bestätigen zwangsläufig seine Hypothesen. Selbst Abweichungen können –

mittels weiterer Essentialisierung – in das bestehende Orient-Bild integriert

werden (ebd.:102 f.). Was dabei herauskommt, ist ein Orient, wie er

sprichwörtlich „im Buche steht“ – jedoch ist in diesem Bild nicht mehr

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erkennbar, welche Zensur oder Manipulation der Orientalist bei seiner Arbeit

vorgenommen hat (ebd.:129). Im Zuge meiner Analyse richte ich daher mein

Augenmerk auch darauf, ob Autoren Stereotype oder

Wiedererkennungseffekte einsetzen, um ihre Thesen zu untermauern.

Besondere Bedeutung misst Said dem „Islam-Orientalismus“ (ebd.:261) bei.

Diese Disziplin, die die fremde Religion als homogene, transzendentale

Instanz darstellt, betont die traditionelle Abgrenzung des christlichen

Okzidents gegen den „gefährlichen“ Islam (ebd.:260). „Der Islam“ gilt als

resistent gegen Modernisierung (ebd.:260 f.), und da sie das gesamte

orientalische Leben traditionell von den Prinzipien und Beschränkungen des

Islam durchwirkt sehen (ebd.:279), erheben die Islam-Orientalisten die

Kategorien „orientalisch“ und „abendländisch“ zu einem prinzipiellen

Gegensatz (ebd.:262 f.). Diesen Zweig des Orientalismus bezeichnet Said,

selbst in Vergleich mit anderen orientalistischen Disziplinen, als beispiellos

regressiv und ideologisch wie methodologisch rückständig (ebd.:261).

Aus Saids Hervorhebung des Islam-Orientalismus als moderner Ausprägung

orientalistischer Tradition (ebd.:260 f.) leite ich – neben meinem persönlichen

Interesse an der Repräsentation von Muslimen in Deutschland – meinen

Fokus auf Islam und Muslime bei meiner Analyse ab.

Das Fortwirken der zunehmend unsichtbaren und verinnerlichten Prinzipien

und Mechanismen des Orientalismus bis in die heutige Zeit ist für Said

ebenso aktuell wie brisant – elektronische Medien (ebd.:27) und Presse

(ebd.:108) sieht er als Multiplikatoren von modernem Orientalismus. In den

zeitgenössischen Orientalisten des 21. Jahrhunderts sieht Said die

ideologischen Zuarbeiter für die von den USA geführte Invasion in den Irak –

ein Krieg, den Said unmittelbar in die Tradition des westlichen Imperialismus

stellt (ebd.: xviii ). Noch deutlicher als in seinem Standardwerk „Orientalism“

wird Said in einem 2003 erschienenen Artikel in Le Monde diplomatique:

„Ohne das systematisch produzierte Gefühl, diese fernen Völker im Nahen

Osten seien nicht wie ‚wir’ und würden nicht ‚unsere’ Werte hochhalten – und

das genau macht den Kern des Orientalismus-Dogmas aus –, hätte es

keinen Krieg gegeben.“10

10 http://www.monde-diplomatique.de/pm/2003/09/12/a0005.text.name,askgc4jFO.n,10 (Datum des letzten Besuchs: 02.04.11)

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Kapitel 2.2 – Wozu die Frage nach journalistischem Orientalismus?

Dass Orientalismus sich auch in journalistischen Texten manifestiert,

erwähnt Said bereits in seinem Standardwerk „Orientalism“ (Said 2003a:23).

In „Covering Islam“ (Said 1981) führt er die Rolle des Journalismus bei der

Darstellung von Islam für ein westliches Publikum detaillierter aus. Dabei

zeigt er auf, welche Wirkungsmacht Orientalismus in medialen Diskursen

entfaltet – die zentrale orientalistische These einer Dichotomie zwischen

„Orient und Okzident“ erscheint als ideologische Grundlage der damaligen

US-amerikanischen Berichterstattung über Islam (ebd.:40). Als Vertreter der

einen Seite dieser Dichotomie sieht Said westliche Journalisten in einem

kulturellen Konsens verhaftet, der Nachrichten definiert, ihren Inhalt und ihre

Darstellung bestimmt (ebd.:48 f.). Dabei behalten Journalisten zwar

grundsätzlich die Gestaltungsmacht über die Inhalte, die sie an ihre Leser

weitergeben – sie wählen aus, welche Informationen und Bilder sie publik

machen und mit welchen Mitteln sie sie darstellen (ebd.:46). Gerade in

komplexen Situationen, die das Verständnis westlicher Reporter und ihr von

Orientalismus geprägtes Islambild herausfordern, sieht Said jedoch die

Tendenz, dass Journalisten zugunsten stereotyper Bilder und Konzepte auf

eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fremden verzichten (ebd.:xi f.).

Der kulturelle Konsens wirkt als „unsichtbare Linie“ (ebd.:49 f.), die den

Horizont von Journalisten insofern eingrenzt, als dass kritische,

faktenorientierte Recherche gar nicht notwendig erscheint (Hall

Jamieson/Waldmann 2003:1).

Neben dieser ideologischen Kongruenz lassen sich auch in der Methodik von

Journalisten und Orientalisten Parallelen feststellen: Genauso wie der

Orientalist ein „Porträt“ des Orients zusammenstellt (Said 2003a:151), indem

er bestimmte Ausschnitte aus seinen Beobachtungen als essentiell auswählt

und hervorhebt (ebd.:247), so wählt auch ein Journalist Beobachtungen und

Informationen, Szenen und Protagonisten aus, um seine Geschichte oder

Nachricht zu vermitteln. Er kann nicht einfach Realität wiedergeben, „so wie

sie ist“ (Said 1981:44). Er muss auswählen: Was ist wichtig, was ist

wesentlich – auch: welche Information ist vor dem Hintergrund eines

gesellschaftlichen Konsenses überhaupt annehmbar (Hall

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Jamieson/Waldmann 2003:xiii). Journalistische Texte sind demnach

mosaikähnliche Bilder der Realität, die zwar einerseits Neuigkeiten bergen,

andererseits aber auch grundsätzlich für wahr Befundenes bestätigen

(Nesbitt-Larking 2001:99). Der Journalist beachtet also herrschende

Ideologien und kulturelle Verstehensmuster bei der Auswahl der

Informationen, aus denen er seine Geschichte macht (Hall 1979).

Eine weitere Parallele zwischen Orientalismus und Journalismus liegt in der

Definitionsmacht beider Professionen begründet: Wie der Orientalist seine

westlichen Leser mit dem Orient „bekannt macht“ (Said 2003a:60), bereiten

auch Journalisten den Islam für ein westliches Medienpublikum auf (Said

1981:x f.). Hier spielt die gesellschaftliche Position der Medien eine wichtige

Rolle: Ihre Aufgabe ist es, Informationen und Debatten aus den

„Spezialdiskursen“ (Jäger 2004:15) der Politik, Wissenschaft, Kultur usw.

öffentlich zu machen und so in den Alltagsdiskurs ihrer Rezipienten zu

transportieren (Hall Jamieson/Waldmann 2003:xii). Auch der orientalistische

Diskurs wirkt sich nach Saids Definition auf mehreren Ebenen aus (Said

2003a:23). Als Kommunikatoren zwischen den verschiedenen

gesellschaftlichen Sphären scheinen die Medien also geradezu prädestiniert

dazu, auch orientalistische Diskurse und „Diskursfragmente“ (Jäger 2004:15)

zu verbreiten.

Die dreifache Wirkungsmacht der orientalistischen Tradition, die Said in

„Orientalism“ beschreibt (s. Kapitel 2.1), entfaltet sich so auch im medialen

Diskurs über Islam: Primär wirkt er sich auf Muslime aus, die durch

orientalistische Repräsentation der Deutungshoheit westlicher Journalisten

unterworfen und abgewertet werden (s. Kapitel 2.1). Zugleich werden auch

Journalisten durch den Diskurs festgelegt und eingeschränkt (Said 1981:49

f.). In dritter Hinsicht wirkt der Diskurs auf die Rezipienten von Medien, deren

Bild von Islam maßgeblich durch die journalistischen Repräsentationen, die

sich linientreu dem hegemonialen Diskurs über Islam anschließen,

beeinflusst wird (ebd.:161). Die Diskrepanz zwischen dem so konstruierten

Islambild und der gesellschaftlichen Verantwortung und Sorgfaltspflicht der

Medien führt Said explizit vor:

The success of this coverage can be attributed to the political influence of those people and

institutions producing it rather than necessarily to truth or accuracy.

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12

The result has been the triumph not just of a particular knowledge of Islam but rahter of a

particular interpretation which, however, has neither been unchallenged nor impervious to

the kinds of questions asked by unorthodox, inquiring minds.“ (ebd.)

Ziel meiner Arbeit ist es, genau diese kritischen Fragen an die

Berichterstattung des Spiegel heranzutragen, indem ich die beschriebenen

Auswirkungen von Orientalismus auf den journalistischen Diskurs über Islam

in meiner Analyse der ausgewählten Artikel des Magazins über Muslime in

Deutschland überprüfe.

Kapitel 2.3 – Stand der Forschung

Welche Forschungsergebnisse liegen bislang zur Darstellung des Themas

„Islam in Deutschland“ im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vor? Zunächst ist

festzustellen, dass es keine aktuellen Studien11 gibt, die genau mein

Forschungsvorhaben widerspiegeln. Es existieren jedoch einige

Forschungen, die sich im diskursiven Umfeld meines Forschungsthemas

ansiedeln lassen. Zu nennen sind die Diskursanalyse von Alexander Görlach

zur Berichterstattung über den Karikaturen-Streit in deutschen Printmedien

(Görlach 2009), Cosima Liviana Krögers Untersuchung der Magazine

Spiegel und Fokus in Hinblick auf das Thema „Religion“ (Kröger 2008), Maria

Röders Studie zum Bild der Muslima im Spiegel (Röder 2007), Bernadette

Kneidingers Vergleich der Golfkrieg-Berichterstattung in Spiegel und Focus

(Kneidinger 2005), die Studie von Kai Hafez zum „Nahost- und Islambild in

der deutschen überregionalen Presse“ (Hafez 2002), der Beitrag von

Thomas Kliche, Suzanne Adam und Helge Jannik mit einer Diskursanalyse

zur Konstruktion von „Islam“ im Spiegel im Sammelband „Politische

Psychologie der Fremdenfeindlichkeit – Opfer – Täter – Mittäter“

(Kliche/Adam/Jannik 1999), die Analyse des Islambilds im Spiegel von Detlef

Thofern (Thofern 1998), sowie Michael Vogts Beitrag zum Islambild im

11 Ich habe mich bei der Suche nach passender Literatur nicht strikt an die Richtlinie gehalten, nach der aktuelle Literatur nicht älter als zehn Jahre sein sollte, um nicht einzelne Publikationen zu übersehen, die trotz ihrer Inaktualität interessante Hinweise liefern. Die älteste hier berücksichtigte Publikation stammt aus dem Jahr 1996.

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13

Spiegel in der Anthologie „Sichtbares und Unsichtbares – Facetten von

Religion in deutschen Zeitschriften“ (Vogt 1996). 12

Der wichtigste Unterschied dieser Forschungen zu meiner Untersuchung

besteht darin, dass die zur Analyse ausgewählten Spiegel- Beiträge teilweise

oder ganz aus dem Bereich der Auslandsberichterstattung stammen. Sie

klammern also die Berichterstattung über das Thema „Islam in Deutschland“

entweder komplett aus oder behandeln sie nur als Ausschnitt eines viel

umfassenderen Materialfundus. Zudem wurden bisher vorwiegend Spiegel-

Beiträge untersucht, deren Veröffentlichung mehrere Jahrzehnte zurückliegt

und die daher nicht mehr als Zeugnisse des aktuellen Islam-Diskurses im

Spiegel gelten können (Hafez 2002; Röder 2007; Kliche [u.a.] 1999; Thofern

1998; Vogt 1996). Dies ist vor allem deshalb der Fall, da die Terroranschläge

des 11. September 2001 außerhalb des jeweiligen Untersuchungszeitraums

liegen – dieses besonders starke „diskursive Ereignis“ (Jäger 2004:162 f.)

markiert einen Einschnitt sowohl in der Wahrnehmung als auch der

Darstellung des Thema Islam durch westliche Medien (Zelizer/Stuart 2002).

Zudem wurden in einigen der erwähnten Studien mehrere Printmedien

zugleich untersucht, wodurch die Besonderheiten des Spiegel nicht immer

klar in den Forschungsergebnissen erkennbar sind (Hafez 2002; Kneidinger

2005; Kröger 2008). Abgesehen von den Unterschieden zu meiner Studie,

die sich auf die Materialauswahl beziehen, variieren auch die Themen und

damit die Erkenntnisinteressen der aufgeführten Studien. Der Bezug auf die

Orientalismus-Theorie, die in meiner Untersuchung eine wichtige Rolle spielt,

kommt nur bei Hafez, Röder, Thofern und Vogt vor. Die Methode der

kritischen Diskursanalyse wenden nur Kliche, Adam und Jannik sowie

Görlach an.

Dennoch liefern die Ergebnisse dieser unterschiedlichen Studien

interessante Hinweise für meine Forschung, weshalb ich einige Befunde

wiedergeben möchte:

12 Weitere Beiträge zum Thema finden sich in der von Bärbel Röben herausgegebenen Anthologie „Verwaschen und verschwommen – fremde Frauenwelten in den Medien“ (Röben 1996), in dem Reader „’Heiliger Krieg’ gegen den Westen. Das Gewaltbild des Islam in der deutschen Presse“ von Kai Hafez (Hafez 1996) oder in dessen Aufsatz „Antisemitismus, Philosemitismus und Islamfeindlichkeit: ein Vergleich ethnisch-religiöser Medienbilder“ (Hafez 1999). Da in diesen Beiträgen jedoch kein eigenständiger wissenschaftlicher Forschungsanspruch erkennbar ist, klammere ich sie in diesem Kapitel zum aktuellen Stand der Forschung aus.

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14

Zum ersten fällt auf, dass alle Studien dem Spiegel eine deutliche Tendenz

zur negativen Generalisierung und Stereotypisierung attestieren, und zwar

nicht nur angesichts von Beiträgen aus vergangenen Jahrzehnten (Görlach

2009; Röder 2007; Hafez 2002; Kliche [u.a.] 1999, Thofern 1998; Vogt 1996),

sondern auch hinsichtlich aktueller Publikationen (Kröger 2008; Kneidinger

2005). Michael Vogt spricht sogar von „einer an Demagogie grenzenden

Indoktrination“ (Vogt 1996:293). Laut Kai Hafez verhält sich der Spiegel

konform zu den Gepflogenheiten der deutschen überregionalen Presse, der

er allgemein eine Negativdarstellung des Islam sowie „essentialistische

Kulturvorstellungen“ (Hafez 2002:304) vorwirft:

In der extremen Negativbelastung eines zentralen Kulturmusters (wie des Islam), nicht in der

überdurchschnittlichen Repräsentanz von Gewalt und Konflikten (wie Kriegen), liegt eine

Besonderheit des Nahost- und Islambildes [...] in der Presse. (ebd.:296)

Thomas Kliche, Suzanne Adam und Helge Jannik attestieren dem Spiegel

eine Stilisierung von Islam als angriffslustiges, fremdes „Außen“ gegenüber

einer „Wir“-Gemeinschaft (Kliche [u.a.] 1999:312), in der das Magazin sich

und seine Leser verortet (ebd.:321). Hafez, Röder, Thofern und Vogt

verzeichnen außerdem eine unverhältnismäßige Konzentration der Presse

bzw. des Spiegel auf den Islam als politischen Faktor (Hafez 2002:294;

Röder 2007:83; Thofern 1998:137; Vogt 1996:285f.); der Islam werde, so

Hafez,

„stellenweise massiv zur Erklärung politischer Vorgänge herangezogen [...] [was]

essentialistische Abgrenzungen gegenüber anderen Kulturen (Islam als ‚unvereinbar’ mit

Menschenrechten) befördern kann“ (Hafez 2002:310, Ergänzung von A.T.).

Diese beobachtete starke Gewichtung der politischen Aspekte des Islam

hängt sicherlich auch damit zusammen, dass „diskursive Ereignisse“ wie die

Ölkrise 1973, die Iranische Revolution 1978/79 und die sogenannte Rushdie-

Affäre im jeweiligen Untersuchungszeitraum der Studien liegen.

Ein weiterer Befund, zu dem mehrere Studien kommen, besagt, dass der

Islam in den untersuchten Spiegel-Beiträgen häufig als bedrohlich oder

gewalttätig dargestellt wird (Görlach 2009:109; Kneidinger 2005:150; Hafez

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15

2002:296; Kliche [u.a.] 1999:311; Thofern 1998:138; Vogt 1996:291 ff.).

Thofern, Kliche, Adam und Jannik sowie Vogt verzeichnen außerdem eine

Charakterisierung von Muslimen als irrational oder fanatisch (Kliche [u.a.]

1999:317; Thofern 1998:136; Vogt 1996:286,288 f.) Hierbei ist jedoch

anzumerken, dass fast alle dieser Befunde sich auf Spiegel-

Veröffentlichungen vergangener Jahrzehnte beziehen.

In den Forschungsergebnissen der oben aufgeführten Studien finden sich

demnach verschiedene Merkmale orientalistischer Darstellungsmuster

wieder (s. Kapitel 2.1). Auch wenn die unterschiedlichen

Forschungsvariablen keine direkte Antwort auf meine Forschungsfrage zu

orientalistischen Darstellungen bei der Berichterstattung über Islam in

Deutschland zulassen, zeichnet sich dennoch eine grundsätzliche

ideologische Verwurzelung des Spiegel im orientalistischen Diskurs ab.

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16

Kapitel 3 – Die Analyse

In den folgenden Kapiteln stelle ich die Ergebnisse meiner Strukturanalyse,

das Dossier und meinen Interpretationsschlüssel sowie die Ergebnisse der

Feinanalyse vor. Das Kapitel 3.1 beginnt mit einer Erläuterung der Kriterien,

an denen ich das Thema „Islam in Deutschland“ festmache – nach diesen

Kriterien richtet sich die Auswahl der Spiegel-Beiträge für die

Strukturanalyse. Die Ergebnisse der Strukturanalyse untergliedere ich in die

Auflistung quantitativer Befunde wie die Zahl der untersuchten Artikel sowie

die Zahl und Häufigkeit der darin vorkommenden Themen und Unterthemen

und in einige qualitative, vorläufige Befunde, die sich aus der Anschauung

des Materials ergeben. In Kapitel 3.2 stelle ich das aus der Strukturanalyse

gewonnene Dossier von Artikeln vor, die ich für die Feinanalyse auswähle.

Zudem führe ich in dem Kapitel meinen Schlüssel mit elf

interpretationsleitenden Fragen auf und erläutere die Zielrichtung der

einzelnen Fragen in Hinblick auf mein Forschungsinteresse. In Kapitel 3.3

fasse ich die Ergebnisse der Feinanalyse zu jedem einzelnen Artikel des

Dossiers in Unterkapiteln zusammen.

Die Vielschichtigkeit und Breite des Diskurses zum Thema „Islam in

Deutschland“, der schon in der Strukturanalyse deutlich wird, zwingt mich zu

einer umfangreichen und kleinteiligen Analyse und einer Auswertung des so

entstandenen Materialkorpus’ in mehreren Schritten. Um den vorgegebenen

Umfang meiner Magisterarbeit einzuhalten, muss ich also meine Ergebnisse

stark raffen – für die „Entstehungsgeschichte“ meiner Erkenntnisse lässt die

Arbeit keinen Raum. Das Problem, das dadurch für die Leser meiner Analyse

entsteht, fassen Thomas Kliche, Suzanne Adam und Helge Jannik treffend

zusammen:

„DA [Diskursanalyse, Zusatz von A.T.] steht (...) im Dilemma zwischen Plausibilisierung und

Darstellungsökonomie. Die Ergebnisse können vorgestellt, nicht aber alle Beweise (...)

ausgebreitet werden. Die angeführten Beispiele sind nicht die vollständige Interpretation; sie

illustrieren, sie beweisen nicht.“ (Kliche/Adam/Jannik 1999:309)

Um dennoch annähernd transparent zu machen, wie ich zu meinen

Ergebnissen komme, füge ich die Text-Steckbriefe aus der Strukturanalyse,

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meine Notizen aus der Feinanalyse und die Interpretation dieser Notizen

anhand des Schlüssels dem Anhang in digitaler Form auf einer CD bei.

Diese Daten sind jedoch nicht als erweiterte Version meiner

wissenschaftlichen Aufbereitung der Analyse zu verstehen – sie sind rohe

Notizen, die den Prozess meiner Auseinandersetzung mit dem

Forschungsgegenstand dokumentieren. Die Inhalte sind dementsprechend

nicht immer deckungsgleich mit meinen letztendlichen Ergebnissen: Im Zuge

der Analyse habe ich einzelne Befunde verworfen, in anderen Fällen kamen

neue Erkenntnisse dazu. Auch enthalten die Notizen gelegentlich Verweise

auf meine persönlichen Empfindungen bei der Arbeit, die für die

Beantwortung meiner Forschungsfrage nicht relevant und somit nicht in die

Ausarbeitung der Analyseergebnisse einflossen sind.

Kapitel 3.1 – Die Methode

Für die Analyse der ausgewählten Spiegel-Beiträge verwende ich die

kritische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger (Jäger 2004), die der Sprach-

und Sozialwissenschaftler erstmals 1993 vorstellte. Jäger stellt damit ein

methodologisches Verfahren bereit, das von denselben diskurstheoretischen

Grundlagen ausgeht wie Said in seiner Orientalismus-Theorie; für beide

spielt der Diskursbegriff Michel Foucaults eine zentrale Rolle:

Diskurse sollen hier – vorläufig formuliert - als eine artikulatorische Praxis begriffen werden,

die soziale Verhältnisse nicht passiv repräsentiert, sondern diese als Fluß [sic] von sozialen

Wissensvorräten durch die Zeit aktiv konstituiert und organisiert. [Fußnote:] Mit dieser

Bestimmung orientiere ich mich strikt an Foucaults Verständnis von Diskurs. (Jäger 2004:23,

Zusatz von A.T.)

I have found it useful here to employ Michel Foucault’s notion of a discourse, as described

by him in The Archeology of Knowledge and in Discipline and Punish, to identify Orientalism.

(Said 2003a:3, kursiv im Original)

Entsprechend beschreiben beide dasselbe Verhältnis von Text und Diskurs.

Texte gelten als „gesellschaftliche Produkte“ (Jäger 2004:24; Said

2003a:xxix). Jäger begreift Texte als „Fragmente von Diskursen“ (Jäger

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18

2004:13), die auch als individuelle Sprachhandlungen einzelner Sprecher

oder Schreiber immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu

betrachten sind (ebd.:15). Der einzelne Text steht also nicht für sich, sondern

im Zusammenhang mit weiteren Texten, die sich um einen Gegenstand

gruppieren und so die Wahrnehmung dieses Gegenstandes maßgeblich

mitgestalten. Diesen Zusammenhang beschreibt auch Said in seinem Buch

„Orientalism“, in dem er einzelne Texte als repräsentative „Fragmente“ des

gesamten orientalistischen Diskurses klassifiziert (Said 2003a). Die

Annahme, dass der Diskurs „Handeln bestimmt und verfestigt und also auch

schon Macht ausübt“ (Link 1983a, zit. nach Jäger 2004:128), spielt ebenfalls

für die kritische Diskursanalyse wie für die Orientalismuskritik eine

elementare Rolle. Angesichts dieser diskurstheoretischen Parallelen

zwischen Jäger und Said bietet sich die kritische Diskursanalyse zur

Untersuchung orientalistischer Repräsentationen an. Entscheidend ist für

mich zunächst nicht die ideologische Bewertung des Diskurses, sondern

dass die theoretischen Grundannahmen und damit auch die Bedeutung, die

den Analyseergebnissen beigemessen wird, bei Jäger und Said insofern

gleich sind, als dass sie auch einzelnen Texten eine gesamtgesellschaftliche

Wirksamkeit beimessen. Dennoch gehe ich davon aus, dass letztendlich

auch der Anspruch der kritischen Diskursanalyse, auf gesellschaftliche und

politische Verhältnisse einzuwirken, indem „das je anders Mögliche benannt

und das vermeintlich Selbstverständliche infragegestellt [sic]“ wird (Jäger

2008:9), einen fruchtbaren Ansatz für mein Forschungsvorhaben darstellt.

Die kritische Diskursanalyse eignet sich für die Untersuchung von Medien, da

sie über die Analyse der formal-sprachlichen Merkmale des Textes hinaus

auch die „transportierten Inhalte und Vorstellungen“ (Jäger 2004:14)

berücksichtigt. Ich frage also nicht nur danach, wie etwas sprachlich

dargestellt wird, sondern auch, welche Informationen und Assoziationen das

Magazin an seine Leser weitergibt. Diese doppelte Ausrichtung kommt

beiden Aspekten meiner Forschungsfrage – Wie stellt der Spiegel das

Thema „Islam in Deutschland“ dar und wie positioniert er sich damit zum

orientalistischen Diskurs – entgegen.

In den folgenden Kapiteln sollen nun die ausgewählten Spiegel-Beiträge als

Zeugnisse eines gesellschaftlichen Diskurses und als Festschreibungen

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sozial anerkannten „Wissens“ untersucht werden. In der Terminologie Jägers

bedeutet das: Ich möchte den „Diskursstrang“ zum Thema „Islam in

Deutschland“ anhand einzelner „Diskursfragmente“, also einzelner

Textbeiträge, deren Veröffentlichungszeitpunkte zwischen den „synchronen

Schnitten“ Beginn 2006 und Ende 2008 liegen, auf der „Diskursebene“ der

Medien, genauer gesagt auf der Diskurslinie13 des Nachrichtenmagazins Der

Spiegel, untersuchen mit dem Ziel, die „Diskursposition“ des Magazins in

Hinblick auf den „hegemonialen“ Diskurs des Orientalismus zu ermitteln.

Mit diesem Vorhaben klammere ich einige Instrumente der kritischen

Diskursanalyse aus, die für umfassendere Forschungsprojekte vorgesehen

sind. Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Medien oder

Diskursebenen (etwa zwischen medialer Ebene und Alltagsdiskurs) kann ich

im Rahmen meiner Forschung nicht untersuchen. 14 Von Analyseschritten, in

denen die „Genealogie“ des Diskursstranges ermittelt werden könnte (Jäger

2004:201), um daraufhin Prognosen über weitere Entwicklungen aufstellen

zu können (ebd.:169), sehe ich ebenfalls ab.

Diese Auslassungen wirken sich auf mein Forschungsinstrumentarium aus:

Untersuchungen zur früheren Spiegel-Berichterstattung zum Thema „Islam in

Deutschland“ oder zu Wechselbeziehungen zwischen thematisch

verschiedenen Beiträgen (ebd.:176), Untersuchungen zum allgemeinen

„diskursiven Kontext“ (ebd.:190) sowie eine „synoptische Analyse“ mehrerer

Medien (ebd.:194) erübrigen sich. Da die meisten Spiegel-Beiträge von

mehreren Autoren verfasst werden und der individuelle Einfluss kaum

nachvollziehbar ist, verzichte ich auch auf Recherchen zu einzelnen Autoren

(ebd.:177).

Durch diese Modifizierungen werde ich also nicht alle Mittel der kritischen

Diskursanalyse ausschöpfen, sondern mich gezielt der Werkzeuge bedienen,

die mir in Hinblick auf mein Erkenntnisinteresse sinnvoll erscheinen.

13 Der Begriff „Diskurslinie“ stammt nicht von Jäger, sondern ist von mir zusätzlich eingeführt worden. Da der Terminus „Diskursebene“ nach Jägers Definition nur auf das gesamte Medienspektrum anwendbar ist (Jäger 2004:117, 164), identifiziert der Begriff „Diskurslinie“ ein einzelnes Medium, das, um bei dem geometrischen Bild Jägers zu bleiben, mit anderen Diskurslinien die Diskursebene formt. 14 Publikationen anderer Medien, die ich ggf. hinzuziehen werde, um das Bild des Spiegels zu relativieren oder einen alternativen stilistischen und inhaltlichen Umgang mit dem Thema aufzuzeigen, sollen nur am Rande eine Rolle spielen.

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Im Gegenzug erweitere ich das Instrumentarium, indem ich konkrete

Befunde aus Saids Untersuchungen (Said 2003a; Said 1981) als zusätzliche

Analysekriterien aufnehme. So möchte ich etwa bei der Untersuchung der

Text-Oberfläche auch den Umgang mit Quellentexten oder

Expertenmeinungen berücksichtigen und die einzelnen Beiträge gezielt auf

Generalisierungen, Essentialisierungen und Dichotomien hin überprüfen.

Damit berücksichtige ich den Hinweis Jägers, dass

(...) die gewählte Methodologie von den vorausgesetzten theoretischen Grundannahmen

jeweils abhängig ist und in Auseinandersetzung mit den zu untersuchenden Gegenständen

weiter modifiziert werden muss. (Jäger 2004:56)

Kapitel 3.2 – Ergebnisse der Strukturanalyse

In der strukturierenden Voranalyse untersuche ich sämtliche Beiträge des

Spiegel der Jahrgänge 2006 bis 2008, in denen erstens Muslime im

Vordergrund stehen und zweitens deren muslimische Identität und ihr Leben

und Wirken in Deutschland eine signifikante Rolle spielen. Anhand dieser

Kriterien definiere ich das Thema „Islam in Deutschland“. In einigen Fällen ist

die Bestimmung eine Gratwanderung: In den zahlreichen Beiträgen über den

Fall Murat Kurnaz etwa verschiebt sich die Debatte von der Hauptfigur

Kurnaz hin zu Frank-Walter Steinmeier, dessen Verantwortung als

Kanzleramtschef und Außenminister zunehmend in den Fokus rückt

(Nr.4/2007, S. 34 ff.; Nr.5/2007, S. 32 ff.). Eine ähnliche Verschiebung ist in

der Berichterstattung über die Berliner Rütli-Schule zu beobachten, in der

Anfangs muslimische Schüler im Vordergrund stehen (Nr.14/2006, S. 22 ff.),

wobei sich der Diskurs später auf Krisenmanagement an Schulen allgemein

ausweitet (Nr.15/2006, S.38). Besonders schwierig ist die Einordnung von

Texten, in denen eine muslimische Identität der Protagonisten eher

suggeriert als belegt wird (Nr.38/2007, S. 58 ff.; Nr.41/2007, S. 74;

Nr.6/2008, S. 12; Nr.8/2008, S. 70) – in den meisten dieser Fälle, in denen es

häufig um Gewalt oder soziale Probleme geht, sehe ich von der Aufnahme in

den Materialkorpus ab, um nicht der Suggestion aufzusitzen, hinter den

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beschriebenen Problemfällen würden sich vorwiegend Muslime verbergen.15

Nach dieser Auswahl umfasst der Materialkorpus 122 Beiträge und

insgesamt ca. 250 Seiten Text.

Bei der Strukturanalyse erfasse ich Titel, Länge, Inhalt, Genre16, die

wichtigsten Themen und Unterthemen, Verschränkungen mit anderen

Diskurssträngen und die Kernaussage eines Textes in einem Steckbrief und

versehe ihn mit einer Quellenangabe; zudem finden sich in den Text-

Steckbriefen gelegentliche Anmerkungen zu den einzelnen

Untersuchungskriterien.17 In die Kategorie „wichtigste Themen“ fallen dabei

diejenigen Themen, die bei einer Zusammenfassung der wesentlichen

Textaussagen zutage treten. Als „wichtigste Unterthemen“ gelten mir die

Themen, die bei einer verfeinerten Ausführung der Textaussagen auftreten

oder „nebenbei“ gesagt, angedeutet oder hinzugefügt werden. Unterthemen,

die nur knapp angerissen werden, die jedoch Assoziationen hervorrufen und

so die Wahrnehmung des Berichteten lenken oder beeinflussen, stehen in

Klammern. Die Gewichtung eines Themas richtet sich nach meinem

Forschungsinteresse. Eine gesonderte Auflistung von Kollektivsymbolen

schien mir wegen des Umfangs und der thematischen Diversität der Texte

nicht sinnvoll.

Insgesamt lassen sich 63 Themen und Unterthemen herausarbeiten (die

Zahlen geben die Häufigkeit in Prozent an):

Justiz/Behörden 81 international. Kampf gegen Terror 17 Familie 66 Parallelgesellschaft 16 Glaube 65 Frauen im Islam 15 Gewalt/Gewaltverbrechen 63 Konversion 15 zwei Welten 57 interkultureller Dialog 14 Integration 54 Kopftuch 14 Islamismus 54 Überwachung 12 Terrorismus 52 Kunst/Kultur 11 Politik 46 islamisches Recht/Scharia 11 Werte 44 Ehrenkodex 10 Sprache 40 Kampf der Kulturen 10

15 Auch die Steckbriefe der ausgesonderten Texte sind dem Anhang beigefügt. 16 Eine eindeutige Bestimmung des Genres ist nicht immer möglich (vgl. Kapitel 1); die Angaben in den Text-Steckbriefen sind daher als ungefähre Einordnung zu verstehen. 17 Diese Anmerkungen habe ich bewusst stehen lassen, um meine Reflexionen und Entscheidungsprozesse transparent zu machen.

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Emotionen 36 Kriminalität 10 Bildung 36 Terror-Ausbildung im Ausland 10 Identität 33 Moscheen in Deutschland 10 soziale Ungleichheit 32 Zwangsheirat 9 innere Sicherheit 32 Guantanamo 9 Jugendliche 29 Jugendliche/Kinder 9 Bürokratie 28 Patriarchat 8 Dschihad 27 Abschottung 8 Verfassungsschutz 27 Ghettoisierung 8 Diplomatie 26 Nationalismus 7 Schule 25 Sport 6 Geheimdienste 25 Rechtsextremismus 6 Unterdrückung 24 Rechtsstaat 6 Diskriminierung 23 Ehrenmord 6 Al Qaida 22 Karikaturenstreit 4 muslimische/türkische Organisationen 19 Militär 4 Bedrohung 19 Meinungsfreiheit 3 Eskalation 18 Gesundheit 3 Türken in Deutschland 18 Wissenschaft 1 Internet/virtuelle Räume 18 Verhältnis von Staat und Religion 1 Arbeit/Wirtschaft 17

Die verhältnismäßig hohe Anzahl der Themen und Unterthemen liegt meiner

Einschätzung nach darin begründet, dass ich mit dem Fokus auf Muslime in

Deutschland nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasse;

hier zeichnet sich ab, wie weit der Mediendiskurs über Islam verzweigt ist

und welches Wirkungspotenzial er durch seine Vielschichtigkeit entfaltet.

Zugunsten dieser Vielschichtigkeit verzichte ich weitgehend auf Raffungen

und Vereinfachungen. In bestimmten Fällen (etwa dem Thema „Arbeit /

Wirtschaft“ oder „Justiz / Behörden“) ist eine Raffung deshalb sinnvoll, weil

eine Auflistung etwa von einzelnen Berufsgruppen oder einzelnen Behörden

keine bedeutende inhaltliche Differenzierung bewirkt hätte. Die

Hervorhebung einzelner, auf den ersten Blick sehr partikular wirkenden

Themen wie „Kopftuch“ oder „Guantanamo“ entspricht der prominenten

Position dieser Schlüsselbegriffe innerhalb des Diskurses. So ergeben sich

Themen von unterschiedlichem Abstraktionsgrad, die jedoch die inhaltlichen

Schwerpunkte der untersuchten Texte widerspiegeln.

Bei der Voranalyse zeichnen sich grob zwei Themenfelder ab: Einerseits das

Themenfeld „Integration“, andererseits „Islamismus“. Beiden Themenfeldern

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sind wiederum Beiträge mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten

zuzuordnen – so fallen etwa Beiträge über Schule, Jugendliche,

Zwangsheirat, interkulturellen Dialog oder Sprache eher in das Themenfeld

„Integration“, wohingegen Beiträge über Terroristen, innere Sicherheit,

Dschihad oder internationale Terrorismusbekämpfung dem Themenfeld

„Islamismus“ zuzurechnen sind. Obwohl das Feld „Integration“ inhaltlich

heterogener ist als das Feld „Islamismus“, ist die quantitative Verteilung

ungefähr gleich. Die beiden Themenfelder sind jedoch nicht als getrennte

Einheiten zu sehen – einige Themen wie Familie, Glaube, Justiz / Behörden,

zwei Welten oder Gewalt / Gewaltverbrechen kommen sowohl in

„Integrations-Texten“ als auch in „Islamismus-Texten“ vor, was auch die

Häufigkeit dieser Themen bzw. Unterthemen erklärt.

Obschon eine sprachliche Untersuchung der Beiträge in der Strukturanalyse

noch sehr oberflächlich erfolgt, lassen sich bereits einige vorläufige Befunde

festhalten:

Zunächst stelle ich fest, dass sich Stil und Sprachgestus von Beitrag zu

Beitrag teilweise erheblich unterscheiden – in einigen Artikeln wird offen

polemisiert und Stimmung geschürt (Nr.40/2006, S. 40 ff.; Nr.13/2007, S. 22

ff.), andere Artikel sind wiederum einfühlsam, aber distanziert geschrieben,

ohne dass offenkundig gewertet oder Partei ergriffen würde (Nr.45/2006, S.

68 ff.).

Die Dichotomisierung von deutscher Gesellschaft und muslimischer bzw.

muslimisch geprägter Tradition ist auffallend präsent. Oft geht es dabei um

Konfliktfälle, in denen Einzelpersonen zwischen die vermeintlichen Fronten

geraten (Nr.4/2006, S. 62 ff.; Nr.22/2008, S.62 ff.), oder in denen sich zwei

Parteien gegenüberstehen – meist Muslime auf der einen und Deutsche auf

der anderen Seite (Nr.20/2006, S.44 ff.; Nr.12/2007, S. 86; Nr.33/2008, S.

59), manchmal aber auch integrationswillige Muslime auf der einen und

traditionalistische Muslime auf der anderen Seite (Nr.11/2008, S. 135;

Nr.15/2008, S. 102 ff.; Nr.35/2008, S.56 ff.). Als charakteristisch für die „zwei

Welten“ erscheint eine profunde Diskrepanz von Werten und Kultur. Diese

Kluft zu überwinden scheint dem Tenor der Spiegel-Beiträge zufolge das Ziel

von Integration. Bei der Beschreibung muslimischer Traditionen fällt auf,

dass die Familie oft als Hort traditioneller Werte und damit als Bremsklotz für

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Integration dargestellt wird (Nr.15/2006, S. 40; Nr.17/2006, S. 80 ff.;

Nr.34/2007, S. 52 ff.). Muslimische Mädchen und Frauen treten in Texten, in

denen „Frauen im Islam“ Thema sind, vorwiegend als Benachteiligte oder

Unterdrückte auf (Nr.37/2006, S. 83; . Nr.38/2006, S. 85 ff.; Nr.13/2007, S.

22 ff.). Muslimische Verbände erscheinen meist offensiv (Nr.28/2006, S. 44

f.) (Nr.9/2007, S. 122 f.) (Nr.19/2007, S. 34 ff.), Konkurrenz oder Streit unter

Türken wird mit militant anmutenden Worten („Türkenkrieg“) beschrieben

(Nr.7/2006, S. 50; Nr.24/2006, S. 148 f.).

Auch als Opfer von Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung spielen

Muslime eine Rolle (Nr.17/2008, S.62; Nr.21/2008, S. 52 f.). Gegenüber

deutschen Behörden und politischen Instanzen nimmt der Spiegel vor allem

beim Thema „internationaler Kampf gegen den Terror“ und bezüglich der

Sicherheitspolitik des Innenministers Schäuble eine kritische Haltung ein;

muslimische Terrorverdächtige wie Murat Kurnaz oder Mohammed Zammar

treten als Opfer irrationaler und rechtswidriger Sicherheitsmaßnahmen in den

Mittelpunkt (Nr.2/2006, S. 42 f.; Nr.10/2006, S. 38; Nr.25/2006, S. 58 ff.).

Auffallend bei der Voranalyse des Materials ist auch der Umgang mit

bestimmten ideologischen Begriffen – so taucht etwa der umstrittene Begriff

„Kampf der Kulturen“ (Huntington 2002) häufig auf, bisweilen auch an

prominenter Stelle in der Überschrift oder Unterzeile, ohne dass die Autoren

auf die politische und ideologische Prägung dieses Begriffs hinweisen

(Nr.4/2006, S. 62 ff.; Nr.38/2006, S. 85 ff.; Nr.45/2006, S. 68 ff.; Nr.13/2007,

S. 22 ff.; Nr.13/2007, S. 26 f.). Der „Kampf der Kulturen“ erscheint so als

objektiv feststellbarer Sachverhalt. Ferner werden maßgebende Begriffe wie

„Islamismus“ bzw. „Islamisten“ oder„Islam-Fundamentalisten“ (Nr.13/2007, S.

22 ff), „Hasspredigten“ (Nr.12/2006, S. 58 ff.), „Hass-Seiten“ (Nr.42/2006, S.

32 f.) oder „Hass-Demonstranten“ (Nr.30/2006, S. 94 f.) nicht definiert oder

erklärt, wirken aber aufgrund ihrer eindeutig negativen Färbung

stigmatisierend oder diffamierend (Nr.23/2006, S. 44). Auch von Experten,

die sich solcher Schlagworte in Interviews bedienen, wird keine erläuternde

Definition eingefordert (Nr.40/02.10.06, S. 47 ff.).

Zudem fällt mir auf, dass Implikationen und Suggestionen auf die Darstellung

des Themas „Islam in Deutschland“ einwirken. So wird der muslimischen

Identität von Protagonisten oder Gruppen bisweilen eine erhebliche

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Bedeutung beigemessen, ohne dass erläutert wird, welche Bedeutung diese

Identität für den beschriebenen Sachverhalt hat; dies ist besonders in

Beiträgen zu beobachten, in denen Jugendkriminalität oder –Gewalt eine

zentrale Rolle spielen (Nr.14/2006, S. 22 ff.; Nr.29/2006, S. 38 ff.;

Nr.32/2006, S. 66 ff.; Nr.50/2007, S. 138).

Zusammenfassend lässt sich also nach einer ersten, oberflächlichen

Untersuchung eine Tendenz zur Dichotomisierung von deutscher

Gesellschaft und Islam beobachten. Außerdem ist bei der Darstellung von

Muslimen die Verwendung von negativen Schlagworten, Implikationen und

Suggestionen feststellbar.

Diese Beobachtungen stellen für sich genommen keine Grundlage für die

Formulierung wissenschaftlich valider Ergebnisse dar; sie sind als

Nebenprodukte der strukturierenden Voranalyse zu betrachten und fließen

als solche in die Gesamtinterpretation der Analyse ein.

Kapitel 3.3 – Dossier und Interpretationsschlüssel

Das aus der Strukturanalyse gewonnene Dossier umfasst acht Beiträge und

insgesamt rund 22 Seiten Text. Die zur Feinanalyse ausgewählten Beiträge

sind folgende:

„Der innerste Ring“ (Nr.46/2007, S. 56 ff.). Ein Bericht mit über den

Terrorverdächtigen Attila Selek, dem eine Mittäterschaft bei den

vereitelten Anschlagsplänen der sogenannten islamistischen Sauerland-

Gruppe vorgeworfen wird. Der Autor stellt die Vorwürfe der Fahnder den

Aussagen des Verdächtigen gegenüber.

„Angst vor dem Befreiten“ (Nr.2/2006, S. 42 f.). Hauptfigur ist der

Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz aus Bremen. Im Fokus des Berichts

steht das zwiespältige Verhältnis des deutschen Staates zu Kurnaz –

einerseits bemüht sich die Bundesregierung um seine Freilassung,

andererseits gilt er den Sicherheitsbehörden als Gefahr für die innere

Sicherheit.

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„,Kaum verhüllte Drohung’“ (Nr.39/2008, S. 36 ff.). Ein Magazinbericht über

den Konflikt zwischen freier Wissenschaft und religiösem Dogmatismus.

Im Mittelpunkt steht der deutsche muslimische Wissenschaftler

Muhammed Sven Kalisch, der wegen seiner Thesen angeblich mit dem

Tod bedroht wird.

„Die Integrierten (Nr.27/2007, S. 58 ff.). Die Magazinstory schildert die

Integrationsgeschichte türkischer Migranten in Deutschland zu

verschiedenen Epochen. Eine besondere Rolle misst die Autorin dem

Islam bei.

„Das Wunder von Marxloh“ (Nr.1/2007, S. 40 ff.). Der Autor der Magazinstory

schildert das friedliche und konstruktive Zusammenleben von Katholiken

und Muslimen in Duisburg-Marxloh als sozialen Ausnahmefall.

„Die Freiheit der anderen“ (Nr. 7/2007, S. 80). Die Milieureportage befasst

sich mit dem Gerichtsfall eines kurdischen Vaters, der angeblich seine

Tochter ermorden lassen wollte. Der Autor richtet den Fokus auf den

Wertekonflikt zwischen der muslimischen Familie und dem deutschen

Rechtsstaat.

„Schlesische Schlachten“ (Nr.50/2007, S. 138) – eine Milieureportage über

Jugendliche aus Berlin-Kreuzberg, die brutale Straßenkämpfe als

Sportereignisse austragen. Der Autor präsentiert eine von muslimischen

Werten geprägte, abgeschottete „Ghettokultur“, die sich dem Einfluss der

Polizei entzieht.

„Das Phantom der Oper“ (Nr.40/2006, S. 40 ff.). Ein stark meinungsgefärbter

Artikel anlässlich der Absetzung der Oper „Idomeneo“ in Berlin aus Angst

vor einem Terroranschlag. Die Autoren kritisieren eine kollektive

Geisteshaltung der Deutschen im Angesicht einer angeblichen

Bedrohung der deutschen Kultur durch „Islamismus“ und Muslime.

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Diese Artikel unterziehe jeweils einer umfassenden Feinanalyse. Um das aus

der Feinanalyse gewonnene Datenmaterial auszuwerten, setze ich einen

Interpretationsschlüssel, bestehend aus elf Fragen, an:

• Erscheinen Muslime als Individuen oder als Kollektive?

• Welche Rolle spielen Muslime im Text?

• Welche Bedeutung hat der Islam / ihre Zugehörigkeit zum Islam für

• diese Rolle?

• Wie werden Muslime / der Islam charakterisiert?

• Erscheinen Deutsche als Individuen (in welcher Rolle?) oder als

Kollektive

• Wie wird die deutsche Gesellschaft dargestellt?

• In welchem Verhältnis stehen Muslime / der Islam und Deutsche / die

deutsche Gesellschaft?

• Welches Konzept von Integration liegt vor?

• Manifestieren sich Machtansprüche? Wie werden sie bewertet?

• Welche funktionale Rolle nehmen Magazin bzw. Autoren im Diskurs

ein

• Worüber beanspruchen die Autoren Deutungshoheit? Für wen

sprechen sie?

Diese elf interpretationsleitenden Fragen dienen dazu, das Datenmaterial in

Hinblick auf die von Said beschriebenen orientalistischen Darstellungsmuster

hin zu überprüfen (s. Kapitel 2.1). Die ersten vier Fragen richten den Fokus

auf eventuelle Generalisierungen oder Essentialisierungen von Muslimen

und sind darauf ausgelegt, eventuelle Stereotype zu identifizieren. Die

folgenden vier Fragen lenken das Augenmerk auf eventuelle Dichotomien

zwischen deutscher Gesellschaft und Islam und möglicherweise daraus

abgeleitete Essentialisierung der deutschen Gesellschaft; auch hier treten

ggf. Stereotype in den Vordergrund. Die letzten drei Fragen beleuchten den

Machtanspruch des Magazins bzw. der Autoren des Spiegel und ihre Rolle

im Diskurs über Islam in Deutschland.

Der Interpretationsschlüssel ist als Werkzeug gedacht, der mir schrittweise

Zugang zu dem komplexen Datenmaterial der Feinanalyse ermöglicht. Die

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Antworten auf diese Fragen sind als Annäherung an das Endergebnis meiner

Untersuchung zu verstehen. Im folgenden Kapitel behalte ich mir daher vor,

diejenigen Interpretationsergebnisse herauszugreifen, die zur Beantwortung

meiner übergeordneten Forschungsfrage relevant sind.

Kapitel 3.4 - Ergebnisse der Feinanalyse

Im Folgenden liste ich die Befunde auf, die aus meiner Feinanalyse der

einzelnen im Dossier aufgeführten Spiegel-Artikel resultieren; die Einteilung

der Ergebnisse in gesonderte Kapitel dient dazu, die Schlussfolgerungen, die

ich in Kapitel 4 ziehe, anhand von gezielten Verweisen leichter

nachvollziehbar zu machen.

Kapitel 3.4.1 – „Der innerste Ring“

Der Autor des Artikels „Der innerste Ring“ (Nr. 46/2007, S. 56 ff.)

nimmt eine Gegenposition zum orientalistischen Diskurs über Muslime in

Deutschland ein, indem er fast vollständig auf Generalisierungen oder

Essentialisierungen bei der Beschreibung von Muslimen verzichtet, keine

Dichotomie zwischen Islam und deutscher Gesellschaft herstellt und seine

Leser zur kritischen Einzelfallanalyse animiert.

Hauptfigur des Textes ist Attila Selek. Er und die bekannten

Terrorverdächtigen Fritz Gelowicz, Adem Y. und Daniel S., implizit auch

Dana (Z. 196-198), stehen als potenzielle Aggressoren, denen die Planung

von Anschlägen in Deutschland angelastet wird (Z. 17-21), im Fokus des

Artikels. In der Fahndungssituation erscheinen sie als Gegenspieler zum

deutschen Staat (Z. 227-229). Die Mitwirkung Seleks an den Terrorplänen

stellt der Autor als strittig dar (Z. 4-5). Diese Sonderrolle Seleks unterstreicht

der Autor, indem er ihn von den Terrorverdächtigen Fritz Gelowicz, Adem Y.

und Daniel S. abgrenzt (Z. 399-405, Bilder und Bildunterzeilen S. 56). Eine

prominente Rolle spielt zudem der Imam Yehia Yousif (Z. 243). Er erscheint

als „Ideologe“ und „Vordenker“ (Z. 244-245) und zentrale Figur der

„Islamisten“-Szene in Süddeutschland (Z. 239-247). Die „Islamisten“ im

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Umfeld des Ulmer Multikulturhauses erscheinen als politische Agitatoren (Z.

241-251, Z. 260-263), die als potenziell kriminelle Staatsgegner behandelt

werden (Z. 263-267).

Grundsätzlich geht der Autor sehr distanziert mit den Befunden von

Geheimdiensten, Verfassungsschutz und Polizei um. Dies zeigt sich vor

allem in dem expliziten Hinweis auf die nebulöse „Welt der Geheimdienste“

(Z. 90-101), die den Agenten Definitionsmacht abspricht, und in der

distanzierten Art, mit der der Autor die Darstellungen und Einschätzungen

der Ermittler wiedergibt (Z. 41-42). Somit stellt der Autor die muslimischen

Verdächtigen nicht als faktische Aggressoren oder Gefahr dar, sondern

betont ihren Status als Verdächtige (Z. 388-399).

Der Autor attestiert den Protagonisten Selek und Gelowicz ein „zerrüttete[s]

Verhältnis [...] zum deutschen Staat“ (Z. 227-229). Den Befund untermauert

er implizit mit dem Verweis auf ihre Aktivitäten im Ulmer Mulikulturhaus, das

offenbar einen Konflikt mit dem Staat austrägt (Z. 229 ff.).

Des Weiteren vermeidet der Autor explizite Charakterisierungen, indem er

vorwiegend Handlungen und Einschätzungen anderer (der Fahnder und

Selek selbst) wiedergibt (Z. 41-42, Z. 102-110) und kritische Distanz zu

diesen Einschätzungen hält (Z. 90-101). Auch mit dem Einsatz des Hilfsverbs

„sollen“ (Z. 84) sowie des Konjunktivs bei wiedergegebenen Aussagen (Z.

178-181) und indem er fortwährend die Quellen einzelner Informationen oder

Einschätzungen angibt (Z. 41-42, Z. 111-115, Z. 161-163), verhindert der

Autor den Eindruck einer eigenen Bewertung oder Charakterisierung. Er

bezieht Aussagen charakterisierende Schilderungen meist auf eine konkrete

Situation (Z.32-35, Z. 222-223) und lässt damit keine Verallgemeinerung

seiner Beobachtungen zu.

Attila Selek und Fritz Gelowicz zeigt der Autor in unterschiedlichen sozialen

Rollen: Selek erscheint außer als Terrorverdächtiger auch als Fremder in

Konya (Z. 28-35), als Sohn (Z. 307-315) und in seinem Berufsumfeld (Z. 252-

255). An einigen Stellen erscheint Attila Selek implizit als Opfer staatlicher

Gewalt (Z. 375-385, Z. 448-449). Gelowicz bildet der Autor indirekt als sozial

kompetenten Freund (Z. 234-238) und als Studenten (Z. 255-256) ab. So

erscheinen die Protagonisten mehrdimensional, der Autor vermeidet

Stereotype.

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Der Autor stellt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Glauben der

Terrorverdächtigen und ihren mutmaßlichen terroristischen Plänen her; die

„politischen Biografien“ (Z. 399-400) erscheinen für die Identität als

„Islamisten“ bedeutender als der Glaube. Dies bestärkt der Autor, indem er

die Bedeutung der Sozialisation von Gelowicz und Selek im Ulmer

Multikulturhaus (Z. 230-233, Z. 256-257) und den Einfluss des Imam als

ideologischem „Vordenker“ betont (Z. 244-247) . Die „Islamisten“ in dem

Milieu beschreibt er als politische Gruppe (Z. 239-251, Z. 260-263). Implizit

findet sich dieses politische Motiv auch bei der Beschreibung der

verdächtigen Protagonisten in der Metapher „Vollversammlung“ (Z. 326)

wieder.

Als einzige Verbindung zwischen Glauben und Terrorismus erscheint der

Begriff „Dschihad“, den der Autor jedoch nicht übersetzt, sondern lediglich als

„mystisch[...]“ (Z. 341-342) beschreibt. Offenbar setzt der Autor voraus, dass

seine Leser den Begriff „Dschihad“ als umstrittenes religiöses Konzept des

heiligen Krieges kennen. Ein Rückschluss, dass der „Islamismus“ unmittelbar

aus essentiellen Glaubenssätzen des Islam entspringt, ermöglicht die

Darstellung des Autors nicht. Damit verhindert er eine Generalisierung oder

Essentialisierung von Islam.

Als Terrorverdächtige, die Anschläge in Deutschland geplant haben sollen,

stehen die muslimischen Protagonisten der deutschen Gesellschaft implizit

als Aggressoren gegenüber. Indem er die Muslime jedoch nicht

generalisierend darstellt, baut der Autor keine Dichotomie zwischen den

Muslimen und der deutschen Gesellschaft auf. Dies zeigt sich am

deutlichsten darin, dass der Autor den Protagonisten Selek durch dessen

Selbstbezeichnung als „eher deutsch“ (Z. 32-33) der deutschen Gesellschaft

zurechnet. Auch die Formulierung „der Mann aus Deutschland“, mit dem der

Autor die Perspektive des türkischen Fernsehens wiedergibt (Z. 36-38),

verstärkt diese Zuordnung. Die muslimischen Terrorverdächtigen Fritz

Gelowicz und Daniel S. erscheinen als „deutsche(n) Konvertiten“ ebenfalls

als Teil der deutschen Gesellschaft.

Die Geschichte erzählt der Autor entlang überprüfbarer Fakten und

Handlungen einzelner Personen – dies zeigt sich vor allem daran, dass als

Subjekte überwiegend Personen auftreten und dynamische Verben

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dominieren. Bei der Wiedergabe von Interpretation dieser Fakten und

Handlungen durch verschiedene Instanzen benennt der Autor fast immer die

Sprechposition, was neben dem Gebrauch von Konjunktiv (Z. 205-209) und

dem Hilfsverb „sollen“ als in Frage stellendem Element (Z. 4) eine kritische

Distanz zu den Vorwürfen und Verdächtigungen gegen die muslimischen

Protagonisten fördert. Der Autor komponiert seinen Text so, dass der

Protagonist sich selbst gegen jeden neuen Verdacht verteidigen kann (Z.

108-110, Z. 176-177, Z. 223-226, Z. 286-293), meist in direkter Rede – der

Autor beansprucht also nicht, für den Protagonisten sprechen zu können. In

der Schuldfrage lässt der Autor dem Angeklagten das letzte Wort (Z. 449).

Mit diesen Mitteln emanzipiert der Autor sich und seine Geschichte von

stereotypen Darstellungsmustern über Muslime oder den Islam.

Eine Ausnahme bildet die Anwendung der Bezeichnung „Islamisten“ (Z. 200)

auf drei Personen, die zu sehr unterschiedlichem Grad als Terrorverdächtige

gelten können (Z.328-390, Z.322-327). Dass der Autor den Begriff

verwendet, aber nicht erläutert, ist insofern problematisch, als dass der

Begriff im Gesamtdiskurs meist mit Gewalt gegen Nicht-Muslime assoziiert

wird (s. Kapitel 3.2). Hier begünstigt der Autor eine dichotomisierende

Rezeption durch seine Leser – die sogenannten Islamisten erscheinen als

Gefahr für Deutsche, bevor ihr Status im Einzelnen juristisch geklärt ist.

Grundsätzlich animiert der Autor seine Leser jedoch dazu, den Einzelheiten

des Falls kritisch auf den Grund zu gehen und sich nicht von Stereotypen

oder Vorverurteilungen beirren zu lassen. Hier stellt die collagenhafte

Erzähltechnik mit raschen Schauplatz- und Perspektivwechseln, die durch

den dramaturgischen Einsatz der Tempi verstärkt wird, einen besonderen

Anreiz für die Leser dar, selbst ins „Spiel“ (Z. 123) der Ermittlungen

einzusteigen.

Kapitel 3.4.2 – „Angst vor dem Befreiten“

In dem Artikel „Angst vor dem Befreiten“ (Nr.2/2007, S. 42 f.) distanzieren

sich die Autoren von orientalistischen Darstellungsmustern, indem sie auf

Generalisierung und Essentialisierung von Muslimen und eine

Dichotomisierung von Islam und deutscher Kultur vermeiden und ihre

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Darstellungen an überprüfbaren Fakten festmachen. Dennoch geben sie

dem Bild eines gefährlichen „Islamismus“ Raum und ermöglichen so eine

Assoziation von Islam mit Gefahr bei ihren Lesern.

Obwohl in dem Text ein Muslim die Hauptfigur ist und Muslime eine tragende

Rolle spielen, steht der Islam als Glaube nicht im Vordergrund. Die

Personen, die eindeutig als Muslime erkennbar oder bekannt sind,

erscheinen als Individuen. Die wichtigste muslimische Person im Text ist

Murat Kurnaz (Z. 4), in Nebenrollen erscheinen der Bahreiner Guantanamo-

Häftling Issa al-Murbati (Z. 15) und der Terrorverdächtige Mohammed

Haydar Zammar (Z. 181-182). Sie alle stellen die Autoren vielschichtig und in

ambivalenten Rollen dar.

Murat Kurnaz ist als Terrorverdächtiger und Guantanamo-Häftling

vordergründig Hauptfigur des Artikels – die Geschichte, die die Autoren

erzählen, macht sich an seinem „Fall“ fest (Titel, Unterzeile). Im Laufe der

Geschichte erfüllt Kurnaz jedoch eher die Rolle eines Auslösers

diplomatischer Verstrickungen – er tritt kaum als Handelnder auf, sondern

erscheint vorwiegend in einer passiven Rolle (Z. 8-12, Z. 71-74) oder gar

Opferrolle (Z. 103-115, Bildkombination Seite 42-43). Durch ein wörtliches

Zitat geben die Autoren dem Protagonisten die Chance, sich selbst zu

charakterisieren (Z. 19-25). Das Bild, das sich Kurnaz selbst gibt, stützt die

Charakterisierung durch die Autoren, in denen Kurnaz als harmloses

jugendliches Opfer erscheint (Z. 70-77, Z. 116-119), das sich vorwiegend

passiv verhält und nur wenige unbeholfene Versuche unternimmt, sich zur

Wehr zu setzen (Z. 26-27). Im Vergleich zu übrigen Guantanamo-Häftlingen

teilen die Autoren Kurnaz eine Sonderrolle als „pflegeleichter Häftling“ (Z. 7-

8) zu.

Dem gegenüber steht die Rolle des Protagonisten als potenzielle Gefahr für

Deutschland im letzten Abschnitt, die nach Darstellung der Autoren das

Innenministerium Kurnaz zuspricht (Z. 213-221). Hier erscheint Kurnaz aktiv

und sogar aggressiv. Als potenzieller Mujahid (Z. 216-221) erscheint er als

strategisch handelnder Aufrührer, der ein politisches Ziel verfolgt (Z. 220)

und so eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands darstellen könnte.

Den Widerspruch zwischen diesen beiden Rollen lösen die Autoren nicht auf,

sie beziehen keine explizite Stellung in der Bewertung der Hauptfigur. Der

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einzige Hinweis auf eine implizite Bewertung zugunsten einer

Unschuldsvermutung gegenüber Kurnaz liegt in der Verwendung des

Adjektivs „drakonisch(en)“ (Z. 213).

Der prominente Terrorverdächtige Mohammed Haydar Zammar erscheint

ebenfalls in einer ambivalenten Rolle: Zum einen wird er mit gefährlichen

Terroristen (Z. 184-185, Z. 189) und – durch das Wort „Dschihad“ (Z. 188) –

mit religiös motivierter Gewalt in Verbindung gebracht; durch die Verben

„rekrutierte“ (Z. 185), „aufgeklärt“ (Z. 188) und die Formulierung „an das Büro

der Taliban verwiesen“ (Z. 189) erscheint er als routinierter Terror-Profi. Zum

anderen stellen ihn die Autoren als Opfer einer archaischen Strafverfolgung

dar (Z. 183-184).

Murat Kurnaz und Mohammad Haydar Zammar erscheinen als eigenständige

Individuen, die Autoren schreiben ihnen keine Repräsentanten- oder

Symbolfunktion zu. Issa al-Murbati erscheint dagegen als repräsentatives

Beispiel für die aufständischen Guantanamo-Häftlinge (Z. 12-16), was vor

allem das Wort „etwa“ (Z. 14) nahe legt. Al-Murbati erscheint in einer

ambivalenten Rolle als rebellierendes Opfer der US-Terrorpolitik (Z. 15-16).

Im Kontext der Erzählung erscheint er als kompromissloser politischer

Agitator (ebd.).

Als Kollektiv beschreiben die Autoren die Beamten des türkischen (Z. 37-38)

– hier spielt jedoch religiöse Zugehörigkeit weder keine Rolle. Die Abstraktion

von einzelnen Personen (Z. 61-62) liegt in dem Fokus der Autoren auf

diplomatische Prozesse und Handlungen von politischen Instanzen

begründet. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Wahl von Substantiven

(Z. 17, Z. 45, Z. 89) und Verben (Z. 33, Z.42), die Politik, Diplomatie und

Behörden als Handlungsfelder der Geschichte markieren.

Zentraler Streitpunkt des Artikels ist, ob der Guantanamo-Häftling tatsächlich

ein „Islamist“ (Bildunterzeile S. 42) ist, wie die Klassifizierung der US-

amerikanische Geheimdienste (Z. 97) nahe legt. Für die Darstellung der

Hauptfigur Kurnaz als mutmaßlichem „Islamisten“ spielen jedoch dessen

religiöse Gesinnung oder Glaube keine Rolle – sämtliche Indizien, die die

Autoren für oder gegen diese Darstellung anführen, liefern nur Anhaltspunkte

für seine politische Gesinnung (Z. 19-25, 216-221). In dem Zukunftsszenario,

das Kurnaz als radikalisierten Aufrührer zeigt, erscheint er als Demagoge,

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der religiösen Märtyrerkult (Z. 219) und Moscheen (Z. 220-221) für seine

politischen Ziele instrumentalisiert („PR- und Werbetour“, Z. 220).

Die Autoren stellen „Islamismus“ als terroristisches politisches Lager dar,

dass vor allem als gewaltsamer Aggressor gegen die USA (Z. 97, Z. 100-

102) und Gefahr für Deutschland (Z. 214-221) erscheint. Der Begriff

„Dschihad“ (Z. 188), der verschiedene religiöse Konzepte birgt, wird nicht

erläutert. Im Kontext erscheint er in der Übersetzung als „heiliger Krieg“.

Moral- oder Glaubensvorstellungen thematisieren die Autoren nicht. Dem

entgegen steht, dass die Autoren Murat Kurnaz jeweils einmal als „Taliban“

(Z. 155) und „Islamisten“ (Bildunterzeile S. 42) bezeichnen, ohne sich von

den Begriffen zu distanzieren. In der Gesamtwirkung des Textes relativiert

sich jedoch das darin implizierte Bild eines religiösen Fanatismus. Mit der

weitgehend differenzierten Darstellung der muslimischen Protagonisten und

der impliziten Klassifizierung von „Islamismus“ als politische Ideologie

distanzieren sich die Autoren von dem orientalistischen Stereotyp eines

aggressiven, gefährlichen Islam. Dennoch geben sie dem Bild einer

potenziell gefährlichen Erscheinungsform des Islam – bezeichnet als

„Islamismus“ – ihrem Artikel an prominenter Stelle Raum (Z. 214-221).

Hier erscheint der Muslim Kurnaz in der Rolle als „[R]adikalisiert[er]“ (Z. 218-

219) als künftige Bedrohung für die deutsche Gesellschaft, den die

Behörden, die mit dem Schutz dieser Sicherheit betraut sind, abwehren

müssen (Z. 213-215). Das Bild einer generellen Gefahr für die Gesellschaft

befördert vor allem die Erwähnung „deutsche[r] Moscheen“ (Z. 220-221).

Durch die Platzierung am Schluss des Artikels hinterlässt dieses Szenario

einen schwerwiegenden Eindruck beim Leser.

Andererseits ordnen die Autoren Murat Kurnaz und den Terrorverdächtigen

Mohammed Haydar Zammar der deutschen Gesellschaft zu (Z. 39-41, Z.

181). Indem die Autoren keine Trennung zwischen Zugehörigkeit zu Islam

oder „Islamismus“ und Zugehörigkeit zum deutschen Staat vornehmen,

verhindern sie Essentialisierungen und Dichotomie zwischen Islam und

deutscher Gesellschaft.

Mit ihrer faktenorientierten Darstellung animieren die Autoren ihre Leser zu

einer differenzierten Betrachtung und einer eigenen Bewertung des „Falls

Kurnaz“, wenngleich sie durch subtile Wertungen und Kommentare (Z. 212)

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die Einschätzung des Lesers lenken. Dabei legen sie eine kritische Haltung

gegenüber staatlichen Machtinstanzen nahe, die sich vor allem in der

Bewertung der Gefangenschaft von Kurnaz durch die USA (Z. 141-142) und

die Implikation einer möglichen Instrumentalisierung des Falls durch die

Bundesregierung (Z. 150) spiegelt.

Kapitel 3.4.3 – „,Kaum verhüllte Drohung’“

Die Autoren des Artikels „,Kaum verhüllte Drohung’“ (Nr.39/2008, S. 36 ff.)

teilen Muslime in verschiedene Gruppen ein. Die Beschreibung der „guten,

rechtgläubigen Muslime(n)“ (Z. 28-29) wirkt orientalistischen

Generalisierungen und Essentialisierungen sowie einer Dichotomie zwischen

Islam und deutscher Gesellschaft entgegen. Dem gegenüber skizzieren die

Autoren ein Bild von Muslimen, die islamische Dogmen offensiv oder mit

Gewalt verwirklichen wollen. Hier legen sie eine Rezeption im Sinne

orientalistischer Deutungsmuster nahe.

Die Hauptfigur des Textes ist der deutsche muslimische Wissenschaftler

Muhammad Sven Kalisch (Z. 26-35). Ihm teilen die Autoren eine ambivalente

Rolle zu: Er erscheint als zweifaches Opfer (Z. 6-18) anonymer Aggressoren

einerseits (Z. 11-12) und des dogmatisch auftretenden Koordinationsrats der

Muslime andererseits (Z. 44-45). Zugleich wirkt der Wissenschaftler Kalisch

im aktuellen Zwist um seine Forschungsergebnisse als selbstbewusster und

mutiger Verfechter von Aufklärung freier Forschung (Z. 250-257). Die

Autoren ordnen den Protagonisten einem Kollektiv von „guten,

rechtgläubigen Muslim(en)“ (Z. 26-29) zu. Dieses Kollektiv schildern sie als

Träger von Werten wie Freiheit und Aufklärung, die sie implizit der deutschen

Gesellschaft zuschreiben – dies zeigt sich etwa in der Assoziation des

Begriffs „Freiheit“ mit Deutschland (Z. 46-47) oder in dem unkommentierten

Zitat des nordrhein-westfälischen Kultusministers Andreas Pinkwart (FDP)

(Z. 210-213). Durch die Formulierung „einer ihrer bekanntesten Köpfe

hierzulande“ (Z. 29-30) verknüpfen die Autoren das Kollektiv der „guten,

rechtgläubigen Muslime(n)“ implizit mit den muslimischen Experten, die

Kalisch unterstützen und für freie Wissenschaft und Aufklärung plädieren (Z.

214-249).

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Indem sie einen Protagonisten wählen, der Deutscher und Muslim ist und

sowohl freie Wissenschaft und Aufklärung als auch den Islam vertritt, setzen

die Autoren der verbreiteten Dichotomie zwischen Islam und deutscher

Gesellschaft oder Islam und Aufklärung ein Alternativbeispiel entgegen, das

den hegemonialen Diskurs in Frage stellt. Mit dem Bild der „guten,

rechtgläubigen Muslime“ verhindern die Autoren zudem ein

generalisierendes oder essentialisierendes Islam-Bild.

Die Position kritischer Wissenschaft, die in der Person Kalischs als

Bindeglied zwischen Werten der deutschen Gesellschaft und muslimischem

Glauben erscheint (Z. 221-225), wird nach Darstellung der Autoren einem

Zugeständnis gegenüber muslimischen Dogmatikern geopfert (Z. 41-44).

Hier bilden die Autoren zwei Gruppen ab: Den Koordinationsrat der Muslime

in Deutschland (Z. 36-37) und ein anonymes Kollektiv, das die Autoren als

„manche konservative Muslime“ (Z. 259) bezeichnen.

Der Koordinationsrat der Muslime erscheint als Organisation, die nach

politischem und gesellschaftlichem Einfluss strebt (Z. 185-197), der ihr nicht

zusteht (Z. 65-68, Z. 166-168). Die Autoren schildern den Anspruch des

Dachverbandes – vor allem durch die Charakterisierung des Sprechers Ali

Kizilkaya, der selbstherrlich (Z. 178) und vorlaut (Z. 184-185) wirkt, – als

anmaßend und dreist. Auch die Schilderung von kirchlichem Einfluss als

Gefahr für den deutschen Staat (Z. 86-87) wirkt sich auf die Bewertung des

Habitus’ des Koordinationsrates aus (Z. 166-171). Der Koordinationsrat

erscheint als Gegner freier Wissenschaft (Z. 191-197) und offener

Herausforderer des deutschen Staates, der die durch historische

Zugeständnisse an die Kirchen ohnehin belastete Integrität der säkularen

Gesellschaft (Z. 72 ff.) angreift.

Implizit skizzieren die Autoren einen potenziellen Konflikt zwischen

religiösen Werten von Muslimen und deutschen Grundrechten allgemein –

hier wirkt das Zitat des Wissenschaftsministers Pinkwart (Z. 203-212), das

mit der Interpretation der „Solidaritätserklärung“ (Z. 226) als „Vorwurf

staatlicher Selbstaufgabe“ (Z. 214-215) bekräftigt wird. Indem sie das Zitat

Pinkwarts nicht kommentieren, übernehmen die Autoren die Implikation, dass

ein nennenswerter Teil von Muslimen auf kritisches Hinterfragen von

Glaubensinhalten im Schulunterricht mit Boykott reagieren würde. Auch die

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Bezeichnung „Dachorganisation deutscher Islam-Verbände“ (Z. 36-37)

suggeriert, dass der Dogmatismus des Koordinationsrats die Haltung der

meisten Muslime in Deutschland wiederspielt. Dies wird verstärkt durch das

generalisierend wirkende Synonym „die Muslime“ (Z. 43), auch in der

Selbstdarstellung des Rates durch Kizilkaya (Z. 175). Hier fördern die

Autoren das generalisierende Bild eines dogmatischen muslimischen

Kollektivs und implizieren eine Dichotomie zwischen islamischem

Geltungsanspruch und deutschen Grundrechten.

Als nicht identifiziertes, anonymes Kollektiv erscheinen „manche

konservative Muslime“ (Z. 259). Sie charakterisieren die Autoren nur indirekt

über die Interpretation des Experten Kalisch, der sie implizit als aggressiv

und dogmatisch charakterisiert (Z. 259-265), indem er ihnen – auch implizit –

religiös motivierte Mordabsichten unterstellt (Z. 267-269). Obwohl die Leser

von ihnen nur indirekt erfahren, räumen die Autoren ihnen eine prominente

Position ein: Indem sie die implizierte „,(...) Drohung’“ schon in der

Überschrift platzieren, machen die Autoren die Gefahr, die angeblich von

dieser nicht-definierten Gruppe ausgeht, zum vordergründigen Thema des

Textes. Die Autoren setzen das Kollektiv als dramatisierendes Element ein,

indem sie es am Anfang des Textes schemenhaft andeuten (Z. 6, Z. 17) und

erst am Ende des Textes als „manche konservative Muslime“ (Z. 259)

benennen. So wirkt das Bild der latenten Lebensgefahr, ausgehend von nicht

identifizierbaren muslimischen Aggressoren, auf den Leser fort. In der

Bezeichnung dieses Kollektivs als „konservativ“ folgen die Autoren der

Deutung des Protagonisten Kalisch, der zugleich als Experte auftritt (Z. 259-

269). Indem die Autoren ihn den Code, der die „,(...) Drohung’“ birgt,

entschlüsseln lassen (ebd.), steigern sie das Bild unberechenbarer

muslimischer Aggressoren, deren Motive und Kodizes für Außenstehende

nicht nachvollziehbar sind.

Die latente Aggression der „konservative[n] Muslime“ erscheint als

Konsequenz ihres dogmatischen Glaubens – so interpretiert es der

betroffene Experte Kalisch (ebd.). Indem die Autoren ihm in diesem Punkt

uneingeschränkte Deutungshoheit zubilligen (Z. 266-267), machen sie sich

die Interpretation Kalischs zu eigen und stellen sie als faktisch dar. Die

„konservative[n] Muslime“ erscheinen als Bedrohung für den Protagonisten

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Kalisch als Einzelperson, aber in ihrer Nicht-Greifbarkeit implizit auch als

Bedrohung für die ganze Gesellschaft (Z. 21-22, Z. 45). Hier fördern die

Autoren das Stereotyp gefährlicher, unberechenbarer und irrationaler

Muslime. Da die Autoren die schwammige Kategorie „konservativ“, die als

einziges Merkmal der Aggressoren erscheint, nicht definieren, steigern sie

das gefühlte Bedrohungspotential: Das Stereotyp der gefährlichen,

unberechenbaren „Konservatien“ ist auf alle Muslime anwendbar, die sich

nicht eindeutig als „nicht-konservativ“ präsentieren.

Durch Implikation, dass sich Kalisch mit dem Zweifel an der Existenz des

Propheten quasi zwangsläufig in Gefahr bringe (Z. 33-35), entsteht

verstärkend der Eindruck, dass gewaltsame Sanktionen eine unter Muslimen

konsensfähige Reaktion auf Kritik an Glaubensinhalten des Islam darstellen.

Auch das Bild des muslimischen Dachverbandes als Herausforderer des

säkularen Staates und Gegner von Aufklärung kann im Sinne des

orientalistischen Stereotyps eines irrationalen, aggressiven und gefährlichen

Islam gelesen werden.

Kapitel 3.4.4 – „Die Integrierten“

In ihrer Darstellung türkischer Einwanderer wirkt die Autorin des Artikels „Die

Integrierten“ (Nr.27/2006, S. 58 ff.) Orientalismus entgegen. Bei ihrer

Schilderung von Islam als Triebkraft für Abgrenzung von der deutschen

Gesellschaft bleibt sie jedoch orientalistischen Darstellungsmustern und

Stereotypen verhaftet.

Die Autorin setzt individuelle Protagonisten ein, die sie als Repräsentanten

eines jeweiligen Kollektivs von Einwanderern zu bestimmten Epochen

beschreibt: Die Familie Kandemir steht als repräsentatives Beispiel (Z. 124-

145) für das Kollektiv der sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei (Z. 115-

119). Saliha Scheinhardt verköpert eine Epoche, in der die Autorin Trennung

des Kollektivs der türkischen Arbeitsmigranten in politisch engagierte Türken

und traditionalistische Muslime verortet (Z. 232-236) – Saliha Scheinhardt

erscheint einerseits als Repräsentantin der politisch und wirtschaftlich

emanzipierten Einwanderergruppe (Z. 164 ff.), andererseits als Insider-

Expertin, die von Alltagsleben und Machtverhältnissen der Traditionalisten

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berichtet (Z. 292-297). Der Protagonist Aytac Eryilmaz erscheint als Beispiel

für ausländische Flüchtlinge (Z. 372-376), die potenziell oder tatsächlich

Opfer von Rechtsextremismus werden (Z. 454-459). Im letzten historischen

Abschnitt beschreibt die Autorin eine kollektive „Abschottung“ von

muslimischen Migrantengemeinden (Z. 471-489). Für diesen historischen

Abschnitt, den die Autorin als Ghettoisierung schildert (Z. 570-571, Z. 601),

wählt sie zwei Stellvertreter: Oktay Özdemir erscheint als Repräsentant

derjenigen, die es außerhalb des Milieus „schaffen“ (Z. 604-606). Hülya

Kandemir erscheint als Repräsentantin derer, die den „Rückzug in eigene

Welten“ (Z. 472) wählen und die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft

ablehnen (Z. 611-616).

Einzelne Protagonisten portraitiert die Autorin sehr detailliert und mit

Augenmerk auf ihre individuelle Geschichte (Z. 124-145, Z. 164-224, Z. 394-

408, Z. 546-563) – die Figuren erscheinen in ihrer gegenwärtigen Situation,

zugleich schildert die Autorin ihre persönliche Biografie und Entwicklung (Z.

617 ff.). Die türkischen oder muslimischen Individuen erscheinen

„mehrdimensional“, Religiosität erscheint als eine mögliche Eigenschaft unter

vielen. So wirkt die Autorin Essentialisierungen und Generalisierungen

entgegen. Indem sie einen menschlich-emotionalen Zugang zu den

Alltagswelten der türkischen und muslimischen Einwanderer schafft (Z. 34-

35, Z. 144-145, Z. 208-209), setzt die Autorin einen Kontrapunkt zum

orientalistischen Diskurs. Orientalistische Stereotypen entkräftet die Autorin,

indem sie Rollenklischees an authentischen Bildern bricht. (Z. 11-22).

In der Darstellung von Islam bleibt die Autorin jedoch dem orientalistischen

Diskurs verhaftet, indem sie implizit eine Dichotomie zwischen Islam und

Westen aufstellt und muslimische Migrantenmilieus generalisierend und

essentialisierend mit orientalistischen Stereotypen assoziiert.

Während die Kollektive „Gastarbeiter“ oder „Flüchtlinge“ noch als Nachbarn

(Z. 135-136), Streikende (Z. 242-243), Bewohner von Sammellagern (Z. 431)

oder Opfer lokalisierter rassistischer Gewalt (Z. 441-453) sichtbar in

Erscheinung treten, ist dies beim Kollektiv der traditionalistischen Muslime

oder „Fundamentalisten“ (Z. 474) nicht der Fall. Lediglich im „Ghetto“ (Z. 601)

Kreuzberg treten Angehörige des Milieus noch sichtbar auf; hier stellt die

Autorin einen schwachen Zusammenhang zu Traditionalismus her (Z. 560-

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563, Z. 597). Die „Fundamentalisten“ stellt die Autorin als anonyme, weltweit

agierende Gruppe dar (Z. 473-475), die sie nur mit der vagen Ortsangabe

„aus den fundamentalistischen Moscheen“ (Z. 486-487) kennzeichnet.

Prominent ist die Darstellung von islamischem Glauben und Tradition als

Gegenmodell zu Integration. Dieses Bild zieht sich durch den gesamten Text;

es manifestiert sich zum einen in der Gegenüberstellung von politisch

engagierten Türken und traditionalistischen Muslimen (Z. 232-243), in der

Schilderung einer Agitation fundamentalistischer Autoritäten (Z. 471-489) und

in der Geschichte des „Rückzugs“ von Hülya Kandemir (Z. 613 ff.).

Besonders plakativ grenzt die Autorin islamischen Glauben von Integration

ab, indem sie Hülya Kandemirs Bruch mit dem Alkoholverbot als

Höchstmarke ihrer Integration hervorhebt (Z. 624-625). Das Kollektivsymbol

des Kopftuchs als Zeichen für muslimischen Traditionalismus stellt die

Autorin implizit in Zusammenhang mit Nicht-Integration (Z. 673-679).

Gleichzeitig stellt die Autorin Islam als Bremsklotz für Bildung dar. Dies zeigt

sich etwa in der Figur der bildungsfeindlichen religiösen Mutter Saliha

Scheinhardts (Z. 174-175). Auch stellt die Autorin Bildungsfeindlichkeit, vor

allem in Bezug auf Mädchen, als Massenphänomen der „abgeschotteten“

muslimischen Gemeinschaften dar (Z. 475-484). Diese These illustriert die

Autorin durch Statistiken, die die Verbreitung von Bildungsdefiziten bei

türkischen Schülern belegen sollen (Z. 490-500). Hier impliziert sie eine

bewusste Behinderung von Bildungsfortschritt (Z. 500-502) – es erscheint

der fundamentalistische Islam als ominöse Machtinstanz (Z. 511-514).

Zudem assoziiert die Autorin Islam mit „Gewalttradition“ (Z. 292-296); dabei

setzt sie auf die Insider-Perspektive der Protagonistin Saliha Scheinhardt (Z.

267-300). Indem sie Gewalt auch als Massenphänomen in türkischen

Familien darstellt (Z. 531-533) und durch implizierte Binnensicht suggeriert,

Gewalt diene den Kreuzberger Jugendlichen als Identifikationsmerkmal (Z.

573-575), bekräftigt die Autorin ihr Bild eines von Gewalt geprägten

muslimischen Migrantenmilieus. Im Zusammenhang mit islamischem

Traditionalismus hebt die Autorin auch das Stereotyp der Unterdrückung von

Frauen hervor (Z. 296). Besonders deutlich wird dies in der Darstellung von

Hülya Kandemirs „neuer“ Identität (Z. 658-674). Auch die Verteilung der

Verbformen zeugt von der stereotypen Darstellung: Der sonst seltene

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Einsatz des Passivs häuft sich bei der Beschreibung muslimischer Mädchen

(Z. 477-486). Das Wort „Importbraut“ (Z. 305) impliziert zudem, dass eine

frauenverachtende Heiratspraxis bei vielen Türken (Z. 315) Konsens sei.

Indem sie ausschließlich türkischstämmige Protagonisten wählt, erweckt die

Autorin den Eindruck, dass sich die Notwendigkeit von Integration vor allem

an Türken oder Muslime richte. Das Bild von Islam als Hindernis und

Gegenmodell von Integration verstärkt den Eindruck, dass Integration für

Muslime besonders schwierig sei.

Der Ausdruck „Weg in die andere Richtung“ (Z. 612-613) suggeriert, dass es

für Muslime in Deutschland nur zwei Alternativen gibt: die Zugehörigkeit zur

deutschen Gesellschaft oder zum traditionellen Islam. Diese Dichotomie

spiegelt sich in der Schilderung von eindeutiger kultureller Identität als

psychosoziale Notwendigkeit; eine multiple kulturelle Identität erscheint als

zwangsläufig zerstörerisch (Z. 405-408).

Die Autorin stellt türkische oder muslimische Einwanderer nicht per se der

deutschen Gesellschaft gegenüber – eine Dichotomie kultureller Identitäten

liegt insofern nicht vor. Anders geht sie mit religiöser Identität um:

Muslimischer Glaube und islamische Tradition erscheinen als Trennmittel

zwischen nicht-muslimischen Deutschen und Muslimen. Besonders deutlich

wird dies in der generalisierenden und essentialisierenden Beschreibung des

„Rückzugs“ von muslimischen Einwanderern „in eigene Welten“ (Z. 471-489).

Dabei schildert die Autorin die angeblich wachsende „Bedeutung des Islam“

(Z. 473) analog zu sozialer „Abschottung“ (Z. 471); Glaube und

Traditionalismus erscheinen als Triebkräfte der „Abkehr von der westlichen

Welt“ (Z.488-489). Bei der Beschreibung des „Rückzugs“ (Z. 673) von Hülya

Kandemir stellt die Autorin religiöse Konformität in direkten Gegensatz zu

einem „westliche[n](s) Leben“ (Z. 656-658). Damit bekräftigt sie die

verbreitete Dichotomie von Islam und Westen. Die Nicht-Integrierten, die die

Autorin implizit mit beschreibt, erscheinen als „bedeutendes Anderes“ (Hall

1994) zur deutschen Gesellschaft.

Besonders durch das Bild von fundamentalistischem Islam als Gegenspieler

zur deutschen Gesellschaft begünstigt die Autorin die Rezeption ihres Textes

im Sinne eines orientalistischen Islam-Bildes. Die Tatsache, dass die Autorin

weder konkrete Akteure nennt, noch Fundamentalismus erkennbar und von

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Islam unterscheidbar macht, verstärkt den Eindruck, dass sich bekennende

Muslime allgemein konträr zur deutschen Gesellschaft positionieren. Diesen

Generalverdacht befördert auch das Seite 60: Während das Motiv eine

gewöhnliche muslimische Gemeinde zeigt, suggeriert die Bildunterzeile eine

Nähe zu „Fundamentalisten“ (Z. 472-474).

Einen besonderen Anspruch auf Deutungshoheit erhebt die Autorin in der

Darstellung eines „Rückzugs in eigene Welten“ (Z. 472), den sie kausal mit

Phänomenen wie vermehrtem Kopftuchtragen oder kollektiver Verweigerung

gegenüber bestimmten Schulfächern verknüpft (Z. 471-489) – hier behauptet

die Autorin, den Grund zu kennen, nämlich ein wachsender Einfluss von

Fundamentalisten. 18 Dabei liefert die Autorin keine Belege, sondern setzt

allein darauf, dass ihre Leser ihre Deutung insofern plausibel finden, als dass

sie sich linientreu in den hegemonialen Diskurs einordnet.

Kapitel 3.4.5 – „Das Wunder von Marxloh“

In dem Artikel „Das Wunder von Marxloh“ schildert der Autor das Bild eines

harmonischen und konstruktiven Zusammenlebens von deutschen Christen

und türkischen Muslimen. Damit widerlegt er scheinbar orientalistische

Dichotomien und Stereotype. In seiner Bewertung des Geschilderten als

„Wunder“ (Titel) fällt die Darstellung jedoch in orientalistische Muster zurück.

Der Autor beschreibt alle im Text vorkommenden Muslime als tolerant und

offen gegenüber den christlichen Marxlohern (Z. 176-187, Z. 214-237, 272-

299). Eine zentrale Rolle spielt dabei der Imam Sadik Caglar, der als

Repräsentant der muslimischen Gemeinde und Dialogpartner des

katholischen Pfarrers auftritt (Z. 138-149); gemeinsam mit dem Pfarrer

definiert er nach Darstellung des Autors das religiöse Credo des „neue[n]

Ruhrgebiet[s]“ (Z. 148-161). Die muslimische Ditib-Gemeinde stellt der Autor

als besonders kompromissbereit und rücksichtsvoll dar, indem er sie implizit

von anderen muslimischen Gemeinden abgrenzt (Z. 177-187). Dass er die

Teilnahme an der Islamkonferenz des Innenministeriums (Z. 183-184) oder

18 Hinweise darauf, dass die Deutung der Autorin auf ungeprüften Vermutungen beruht, liefert etwa die Zeit mit einem Bericht über eine Studie zu Wertvorstellungen von kopftuchtragenden Musliminnen (http://www.zeit.de/2006/38/Kopftuch-Studie, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011) und einem Artikel zu vermeintlich flächendeckender Unterrichtsverweigerung von muslimischen Schülern (http://www.zeit.de/2006/50/B-Schulverweigerung, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011)

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die Tatsache, dass der Ditib nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird

(Z.186-187), als Zeichen für die Bereitschaft zu Austausch und

harmonischem Zusammenleben wertet (Z. 176-177), zeigt, dass der Autor

implizit der Klassifizierung muslimischer Gemeinden durch staatliche

Instanzen als problematisch oder unproblematisch folgt. Als Planer der

neuen Moschee schildert er die Muslime als besonders entgegenkommend

(Z. 314-322). So umgeht der Autor demonstrativ das Stereotyp aggressiver,

imperialistisch auftretender Muslime.

Weitere Muslime setzt der Autor als illustrierende Beispiele ein, um seine

Darstellung zu stützen. Er konzentriert sich dabei auf Frauen: Neben

individuellen Musliminnen, die die Harmonie zwischen Christen und

Muslimen veranschaulichen sollen (Z. 214-226), erscheint ein Kollektiv

türkischer Frauen exemplarisch als eine von vielen Triebkräften (Z. 272-274),

die sich für das interkulturelle und interreligiöse Zusammenleben und die

Etablierung eines Wertekonsenses stark machen (Z. 285-299). Indem der

Autor etwa Musliminnen mit Kopftuch implizit als religiöse Grenzgängerinnen

(Z. 234-237, Z.281-284) darstellt oder die Bildungs- und Berufserfolge

türkischer Frauen (Z. 278-279) und ihr Engagement (Z. 285-299) hervorhebt,

grenzt er sie von dem Stereotyp der traditionalistischen Kopftuchträgerin

oder der auf Heim und Familie beschränkten, ungebildeten Türkin ab. Der

muslimische Glaube erscheint flexibel und undogmatisch (Z. 219-226) –

dieses Bild setzt der Autor dem Stereotyp eines traditionalistischen,

monolithischen Islam gegenüber und verhindert damit zunächst eine

essentialisierende Rezeption seiner Islam-Darstellung.

Intention des Autors war es offenbar, dem hegemonialen Diskurs und der

problemorientierten Integrationsdebatte ein positives Bild von Muslimen in

Deutschland entgegen zu setzen (Z. 309-311). Die Metapher „Wunder“

(Titel, Z. 173) impliziert jedoch, dass friedliche und konstruktive Koexistenz

von Christen und Muslimen eigentlich unmöglich sei. Damit impliziert der

Autor eine wesenhafte Dichotomie zwischen Christentum und Islam. Indem

er die Metapher als Titel an die prominenteste Stelle des Artikels setzt, färbt

die Dichotomie auf den gesamten Text ab. Die Toleranz der Katholiken hebt

der Autor entsprechend als [a]ußergewöhnlich(e)“ hervor (Z. 68-69).

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Die „interreligiöse Begegnungstätte“ (Z. 63) erscheint als Besonderheit und

Alleinstellungsmerkmal der neuen Moschee – damit impliziert der Autor, dass

andere muslimische Gemeinden keinen so großen Wert interreligiöse

Begegnung legen. In der Klassifizierung Marxlohs als Problemviertel (Z. 162-

163), taucht die Implikation, dass das Zusammenleben von Christen und

Muslimen meist problematisch sei, wieder auf. Zwar stellt der Autor die

Anwesenheit von Muslimen nicht grundsätzlich als Problemfaktor dar; bei der

Schilderung Marxlohs als „Problemviertel“ bezieht er sich vor allem auf das

äußere Stadtbild (Z. 165-171). Mit der Einleitung „Natürlich“ (Z. 162)

verknüpft der Autor jedoch die religiöse Struktur, die bis dahin dominantes

Thema war, mit dem Begriff „Problemviertel“ (Z. 163). Hier scheint der Autor

davon auszugehen, dass seine Leser angesichts der Präsenz von Muslimen

in einem traditionell katholischen Stadtteil (Z. 94-100) Probleme erwarten.

Diesen Eindruck vermittelt auch die als Negation wiedergegebene

Einschätzung der Polizei, die Marxloh als „nicht auffälliger als andere

Stadtteile“ beschreibt (Z. 188-189), sowie die Implikation im Zitat des

nordrhein-westfälischen Integrationsministers Armin Laschet (CDU), der

suggeriert, es sei ein „Klima [...] der Abgrenzung“ zu erwarten (Z. 191-196).

In der unvermittelten Erwähnung des Themas „Angst“ durch den Imam (Z.

148) wirkt unterschwellig das Stereotyp eines gefährlichen Islam als

naheliegendes Thema.

Indem der Autor muslimische Frauen teils unvermittelt und ohne sonstigen

erkennbaren Grund in den Fokus rückt (Z. 231-239), erscheinen sie als

exotische Ausnahmefälle – so entsteht der Eindruck, das Klischee, das diese

Musliminnen zu widerlegen scheinen, sei der eigentliche Normalfall.

Der Autor schreibt Deutschen implizit eine Distanz zum Islam zu. Dies zeigt

vor allem die Implikation, die der Ausdruck „irritierend harmonisch(e)“ (Z.

155-159) beinhaltet. Hier suggeriert der Autor eine kollektive Binnensicht der

Deutschen. Indem er offenbar von vorgefertigten Meinungen seiner Leser zur

Präsenz von Muslimen in der deutschen Gesellschaft ausgeht, beansprucht

der Autor Deutungshoheit über die innere Haltung seiner Leser.

Integration erscheint in der Darstellung des Autors als ein Vernetzen und

Verweben (Z. 157), bei dem die Essenzen der sich Vernetzenden („das

Katholische“, „[das] Muslimische(n)“, „das Deutsche“, „[das] Türkische(n)“, Z.

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158-159) erhalten bleiben. Indem er diese Begriffe nicht differenzierend

erläutert, fördert der Autor ein essentialistisches Bild von Katholiken und

Deutschen einerseits und Muslimen und Türken andererseits.

Das Kollektivsymbol des Kopftuchs als implizites Zeichen für

Traditionalismus und Nicht-Zugehörigkeit zur deutschen Kultur macht den

suggerierten Kontrast besonders anschaulich (Z. 231-239).

Der Autor entwirft ein homogenisierendes Bild von Marxloh: Der Stadtteil

erscheint als homogene christlich-muslimische Konsensgemeinschaft. Das

zeigt sich vor allem in der Metapher des „neue[n] Ruhrgebiet[s]“ (Z. 160-161),

aber auch darin, dass der Autor alle Kritiker – abgesehen von der Postbotin,

die das harmonisierende Bild des Stadtteils geringfügig in Frage stellt (Z.

163-165) – außerhalb von Marxloh verortet (Z. 134-138, Z. 237-247),

wohingegen alle Muslime als tolerant und offen charakterisiert werden. Dass

es offenbar auch unter Marxlohern Ablehnung gegenüber der Moschee

gegeben hat (Z. 311-313), übergeht der Autor bei seiner Gesamtdarstellung.

So wirkt das Bild, das der Autor von dem Stadtteil zeichnet, geschönt.

Kapitel 3.4.6 – „Die Freiheit der anderen“

Der Autor des Artikels „Die Freiheit der anderen“ (Nr.7/2007, S. 80) inszeniert

seine Geschichte wie ein klassisches Drama, in dem er das Wertesystem

einer muslimischen Familie dem Wertesystem des deutschen Rechtsstaats

gegenüberstellt. Indem er die Muslime wie idealtypische Figuren in Szene

setzt und sie einer archaischen, von Gewalt und Unterdrückung geprägten

„Welt(en)“ (Z. 150) zuordnet, legt der Autor eine Rezeption der Geschichte im

Sinne einer orientalistischen Generalisierung und Dichotomie nahe.

Der Autor stellt alle handelnden Akteure seiner Geschichte als Figuren eines

Gerichts-Dramas dar: Hauptfigur ist die Tochter der kurdischen Familie (Z.

48). Sie erscheint als Opfer ihres Vaters (Unterzeile). Den Sohn der

kurdischen Familie (Z. 51) stellt der Autor ebenfalls als Opfer (Z. 94-97),

gleichzeitig jedoch als wehrhaft dar (Z. 101-102).

Mit Ausnahme des Vaters, der als Familienoberhaupt einerseits und als

Angeklagter (Z. 25) andererseits eine ambivalente Position einnimmt,

reduziert der Autor alle Hauptfiguren auf ihre Rolle innerhalb der

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Wertegemeinschaft der Familie. Dies wird vor allem in der Bezeichnung der

Subjekte als „die Tochter“ (Z. 69, Z. 111-112, Z.146), „der Sohn“ (Z. 101)

oder „der Bruder“ (Z. 89, Z. 133) deutlich. Seine Erzählung inszeniert der

Autor wie ein Theaterstück: Die Textkomposition entspricht dem Aufbau der

klassischen griechischen Tragödie, der Einsatz der Tempi folgt

dramaturgischen Zielen, die Dominanz dynamischer Verben macht die

Szenen lebendig.

Der Autor stellt die muslimischen Hauptfiguren vorwiegend als irrational dar.

Dies zeigt sich etwa darin, dass den Muslimen vor allem Substantive

zugeordnet werden, die Emotionalität, Gewalt und Irrationalität vermitteln (Z.

4-5, Z. 31, Z. 139-140).

Die Tochter charakterisiert der Autor als das Opfer schlechthin (Z. 3, Z. 10-

11, Z. 155) – sie taucht im Familien-Kontext vorwiegend als Objekt auf (Z.

69, Z. 71-72). Durch die Betonung des eigenmächtigen Handelns der Tochter

(Z. 77-78) als „etwas Unvorhergesehenes, etwas für den Vater

Unvorstellbares“ (Z. 74-76) bestärkt der Autor die untertänige Rolle der

Tochter in der Familie. Durch die Metapher eines Verstrickens in

Widersprüche (Z. 139-141) scheint es, als nehme die Tochter ihren

Opferstatus nicht nur an (Z. 155), sondern verstärke ihn sogar. Indem der

Autor das widersprüchliche Verhalten der Tochter (Z. 120-136) hervorhebt,

charakterisiert er die Tochter als irrational und verängstigt (Z. 153-154).

Auch den Sohn schildert der Autor als Opfer der Gewalt und Tyrannei des

Vaters (Z. 49-54). Zugleich erscheint der Sohn als symbolischer Rebell, der

dem Vater Grenzen aufzeigen will (Z. 101-105), jedoch mit seinem

Aufbegehren keinen sichtbaren Effekt erzielt (Z. 106-109).

Der Vater erscheint in der Darstellung des Autors als Täter, was vor allem

der Gebrauch des Indikativs in der Schilderung einzelner Tathergänge (Z.

93-97) und Ereignisse (Z.69-78) verdeutlicht. Indem er die Gegenposition der

Tochter durch die Betonung von augenscheinlichen Widersprüchen als

irrational und unglaubwürdig verwirft, stützt der Autor das Bild des Vaters als

Täter. Durch die Hervorhebung des Widerspruchs zwischen innerer

Gefühlswelt (Z. 27-32) und äußerer Selbstdarstellung des Vaters (Z. 106-

109) erscheint auch er als irrational und innerlich zwiegespalten.

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Das Wertsystem der muslimischen Familie stellt der Autor als patriarchalisch

(Z. 46-47, Z. 72-73) und von Gewalt und Unterdrückung geprägt (Z. 47-50)

dar. Die Religion erscheint dabei als „Wertekatalog“ der Familie, mit dem der

Vater seine patriarchalische Macht legitimiert. Dies veranschaulicht

besonders die Rolle des Imam, der als religiöse Autorität die Machtposition

des Vaters in dessen Abwesenheit sichert (Z. 77-78). Indem der Autor die

Verweigerung einer arrangierten Hochzeit durch die Tochter als Mordmotiv

des Vaters als Fakt darstellt (Z. 54-56), erweckt er unterschwellig

Assoziationen mit dem Handlungsmuster des sogenannten Ehrenmordes,

das innerhalb des Islam-Diskurses ein Stereotyp darstellt.

Die Familie erscheint als abgeschottete Wertegemeinschaft (Z. 59-60), die

mit der deutschen Gesellschaft eigentlich nicht in Kontakt tritt. Kommen die

„zwei Welten“ (Z. 149-150) dennoch – wie in dem Gerichtsfall – miteinander

in Berührung, kommt es nach Darstellung des Autors zum kulturellen Clash

(Z. 61-62) – die beiden Wertesysteme erscheinen unvereinbar. Neben der

Metapher der „zwei Welten“ (Z. 149-150) versinnbildlicht auch das

Kollektivsymbol „Schwelle“ (Z. 15) diese Trennung.

Den Werte-Dissenz zwischen kurdischer Familie und deutschem Rechtsstaat

stellt der Autor in den Fokus seiner Beobachtungen (Z. 60-63). Die Werte

dieses Rechtsstaats beschreibt der Autor als freiheitlich (Titel, Z. 1) und

geprägt von Gerechtigkeitssinn (Z. 151-152) und Rationalität, was die

Hervorhebung von Nummern (Z. 42, Z. 64) und Aktenzeichen (Z. 67-68)

illustriert. Die Geschlossenheit der muslimischen Wertegemeinschaft

erscheint als Herausforderung und Dilemma für den deutschen Rechtsstaat

(Z. 138-143, Z. 146-149).

Bei der Abgrenzung von kurdischer Familie zu deutschem Rechtsstaat

konzentriert sich der Autor auf das Patriarchat des Familienvaters, das aus

deutscher Sicht historisch und lokal deplatziert erscheint (Z. 40-41, Z. 80-83).

Dies zeigt sich vor allem in dem Kontrast zwischen der Tochter und der

Richterin als Repräsentantin des deutschen Rechtsstaats: Die Tochter

erscheint passiv (Z. 7-9), unterdrückt (Z. 153-154), irrational (Z. 137) und

fatalistisch (Z. 146), die Richterin dagegen aktiv (Z. 138 ff.), emanzipiert (Z.

110-111), rational (Z. 150-153) und energisch (Z. 141-143). Die

gegensätzlichen Frauenbilder verstärken den Kontrast, der patriarchalische

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Machtbeziehungen in Deutschland als anachronistisch und fehl am Platz

darstellt. Durch die Betonung der historischen Entwicklung in Deutschland,

versinnbildlicht in „vergilbte[n] Bilder[n]“ (Z. 38-39) und dem implizierenden

Begriff „noch“ (Z. 41), erscheint die deutsche Gesellschaft zivilisatorisch

weiter entwickelt als die Wertegemeinschaft der kurdischen Familie.

Mit der Schilderung des Wertsystems der kurdischen Familie als archaisch,

zivilisatorisch unterentwickelt und basierend auf Gewalt und Unterdrückung

von Frauen befördert der Autor orientalistische Stereotype. Mit der

Gegenüberstellung von muslimischer Familie und deutschem Rechtsstaat,

die der Autor als „zwei Welten“ (Z. 149-150) darstellt, kreiert er eine

Dichotomie. Der Autor trifft keine allgemeinen Aussagen über den Islam.

Durch die Inszenierung der Muslime als Idealtypen wirkt der Einzelfall jedoch

exemplarisch; der Autor befördert durch seine Art der Darstellung eine

generalisierende Rezeption durch seine Leser (Z. 64-66), die wiederum eine

Dichotomisierung von Islam und deutschem Rechtsstaat begünstigt.

Kapitel 3.4.7 – „Schlesische Schlachten“

In dem Artikel „Schlesische Schlachten“ (Nr.50/2007, S. 138)

beschreibt der Autor ein abgeschottetes Minderheiten-Milieu, in dem eigene

sozialmoralische Werte vorherrschen und das von Gewalt und archaisch-

patriarchalischen Machtstrukturen geprägt ist. Der Islam erscheint implizit als

Hintergrund der Sozialmoral in dem Milieu. Indem der Autor bestimmte

Szenen und statistisch anmutende Daten auswählt und zu einem Gesamtbild

zusammenfügt, bietet er seinen Lesern ein klischeehaftes Bild eines

muslimisch geprägten Milieus an, das mit orientalistischen

Darstellungsmustern korrespondiert.

Hauptakteure der Geschichte sind die Jugendlichen, die im Berliner Kiez

rund um das Schlesische Tor leben (Unterzeile Z. 4-5, Z. 58-60). Der Autor

stellt sie als Kollektiv generalisierend dar – dies befördert vor allem die

Anwendung des Pronomens „sie“ (Z. 31, Z. 51, Z. 111) und den Gebrauch

des Passivs, mit dem der Autor Gewohnheiten und Gepflogenheiten

impliziert (Z. 46-47, Z. 91-93). Auch der Einsatz statistischer Angaben (Z. 63-

66) trägt zu einem homogenen Milieu-Bild bei.

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Der Autor wählt einen Hauptprotagonisten, Mahmud (Z. 8), der als Insider

und Repräsentant des Milieus auftritt, indem der Autor ihn für das Kollektiv

sprechen lässt (Z. 28-30, Z. 94-98).

Nach Behauptung des Autors bilden Muslime die überwiegende Mehrheit im

Kiez (Z. 63). Durch diese Verknüpfung von Milieuzugehörigkeit und

Zugehörigkeit zum Islam erscheinen die Muslime als homogene Gruppe –

die einzigen Unterschiede, die der Autor benennt, liegen in nationaler

Herkunft (Z. 60-63) und in biographischen Details, die mit dem Glauben in

keinem konkreten Zusammenhang stehen (Z. 66-78). Indem die

Zugehörigkeit zum Islam statistisch gesehen als „größter gemeinsamer

Nenner“ der Bewohner des Kiezes dargestellt wird, erweckt der Autor den

Eindruck, als seien Alltag und soziale Beziehungen im Milieu durch die

Religion geprägt.

Der Autor richtet sein Augenmerk besonders auf die sozialmoralischen Werte

der muslimischen Jugendlichen (Z. 26-28, Z. 39-40, Z. 86-87). Da die

Bemerkung „Fast alle sind Muslime“ (Z. 63) den einzigen Hinweis auf ein

sozialmoralisches Wertesystem darstellt, impliziert der Autor, dass die Werte

der Protagonisten mit ihrer Religionszugehörigkeit in Verbindung stehen oder

aus dem Islam abgeleitet sind. Den Eindruck einer besonderen Wirkung des

Islam auf die Sozialmoral im Milieu bekräftigt der Autor durch den Verweis

auf Begriffe wie „,Ehre als Mann’“ (Z. 95) oder „,(...) Ehre der Familie (...)’“ (Z.

123), die oft mit Islam assoziiert werden (s. Kapitel 3.2) und die im Kontext

als zentrale Werte erscheinen.

Indem der Autor die Zugehörigkeit zum Islam in eine Reihe stellt mit hohem

Ausländeranteil und verbreiteter Arbeitslosigkeit, erscheint die Religion als

einer von mehreren Indikatoren für eine problematische Sozialstruktur.

Vordergründiges Motiv bei der Schilderung des Milieus ist die Gewalt, die im

Spektakel des Straßenkampfs (Z. 8-16), aber auch in Alltagskonflikten (Z.

121-124) zutage tritt. Diese Gewalt schildert der Autor als essentielles

Charakteristikum der „Schlesier“ – zum einen durch den Titel, zum anderen

durch die generalisierenden sprachlichen Mittel, mit denen der Autor die

Jugendlichen als kollektive, Gewalt bejahende Wertegemeinschaft beschreibt

(Z. 88-98). Auch die Zitate des Protagonisten, der als Repräsentant die

Werte und Kodizes des Milieus erläutert, implizieren, dass Gewalt den

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muslimischen Jugendlichen als normal gilt (Z. 28-30). Die Feststellung, dass

die Straßenkämpfe nicht der Polizei gemeldet werden (Z. 101-104)

impliziert, dass die Gewalt der Jugendlichen in dem muslimisch geprägten

Milieu akzeptiert wird oder gar konsensfähig ist; dies scheint der

Repräsentant des Milieus zu bestätigen (Z. 94-95). Verstärkend wirkt dabei,

dass der Autor das Milieu als quasi-rechtsfreien Raum darstellt, auf den

Kontroll- und Sicherheitsorgane kaum Zugriff haben (Z. 109-110). Hier wirkt

sich vor allem das Kollektivsymbol der „’Mauer (...)’“ im Zitat des

Polizeibeamten (Z. 101) als Implikation einer hermetisch abgeschotteten

Gemeinschaft aus. Auch der kontrastierende Vergleich mit der Sportart

„Ultimate Fighting“ (Bilder, Z. 72-76) unterstützt den Eindruck von Anarchie.

In den Gewaltszenen schildert der Autor die Protagonisten als animalisch (Z.

20-22), irrational und zügellos (Z. 34-35, Z. 42-46). Das Kollektivsymbol

„Testosteron“ (Z. 17) impliziert – verstärkt durch die diffuse Beschreibung

„liegt in der Luft“ (ebd.) – Kontrollverlust und unzivilisierte Körperlichkeit;

diesen Eindruck verstärkt der Autor, indem er im ersten Abschnitt Körperteile

zu Subjekten erhebt (Z. 8, Z. 14-16).

Der Autor schildert zudem Gewalt als anerkanntes Mittel zur sozialen

Distinktion im Milieu (Z. 114-124) und verknüpft so implizit Gewalt mit einem

muslimisch geprägten sozialmoralischen Wertekonsens. Diese Verknüpfung

stellt der Autor einerseits selbst her (Z. 27-28), andererseits bekräftigt er sie

durch die Worte des Protagonisten Mahmud (Z. 86-87, Z. 122-124) – so

erscheint der Zusammenhang plausibel.

Bei der tiefergehenden Charakterisierung seiner Protagonisten geht der

Autor auf sozialmoralische Konzepte wie Ehrenkodex (Z. 95, 123),

Patriarchat (Z. 39-40, Z. 121-124) und Abgrenzung von „anderen“ (Z. 96-98)

ein. Das Weltbild der Muslime erscheint archaisch ( Z. 35) und geprägt von

einer hierarchischen Rangordnung, die durch die Macht des Stärkeren – hier

wirkt vor allem der Begriff „Opfer“ in seiner milieuspezifischen Bedeutung (Z.

13) – und der Dominanz von Männern über Frauen (Z. 121-124) bestimmt

wird. Auch hier verleihen die Zitate des Repräsentanten Mahmud den

Schilderungen des Autors den Eindruck von Authentizität.

Indem der Autor das muslimisch geprägte Milieu als Keimzelle sozialer

Gewalt und Aggression auch gegen Außenstehende (Z. 97-98) schildert,

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impliziert er eine latente Gefahr für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die

von der Kombination eines muslimisch geprägten, arachaisch-

patriarchalischen Wertesystems mit wirtschaftlich-sozialer Perspektivlosigkeit

ausgeht (Z. 136-138). So legt der Autor seinen Lesern die Assoziation von

Islam mit Gefahr nahe.

Der Autor wertet nicht explizit, sondern gibt die geschilderten sozialen

Verhältnisse im Milieu zur Bewertung durch seine Leser frei. Durch die Art

seiner Darstellung (Z. 17-18, Z. 22-27) fördert er jedoch eine ablehnende

Haltung seiner Leser und eine Gegenpositionierung zu dem Wertsystem des

Milieus. Zum anderen schafft der Autor eine Gegenüberstellung von

deutscher Gesellschaft und dem muslimisch geprägten Milieu, indem er die

Abgrenzung hervorhebt, die der Repräsentant des Milieus Mahmud selbst

äußert (Z. 55-57, Z. 96-98). Damit regt der Autor seine Leser zu einer

dichotomisierenden Rezeption seiner Schilderungen an.

Indem er dieses Wertsysten implizit als archaisch und unzivilisiert darstellt,

befördert er eine Deutung der Dichotomie als ungleiches Verhältnis einer

moralisch und zivilisatorisch überlegenen und einer moralisch und

zivilisatorisch unterlegenen Gruppe im Sinne orientalistischer Stereotypen.

Auch die Assoziation von Islam mit Patriarchat und Gewalttradition befördert

verbreitete orientalistische Klischees.

Kapitel 3.4.8 – „Das Phantom der Oper“

Die Autoren des Artikels „Das Phantom der Oper“ (Nr.40/2006, S. 40 ff.)

schildern Muslime und „Islamisten“ als Aggressoren in einem Kulturkampf

gegen die deutsche Gesellschaft. Orientalistische Darstellungsmuster und

Stereotype bilden die Grundlage dieser Schilderung.

Die Autoren befassen sich vor allem mit „islamistischen Terroristen“ (Z. 29)

als Kollektiv, das sie nicht näher definieren oder identifizieren; „Islamismus“

wirkt als diffuse Kategorie. Die „Islamisten“ erscheinen als Einzeltäter, deren

Zahl und Präsenz jedoch nicht einschätzbar ist und die theoretisch jederzeit

angreifen könnten. Diese Implikation zieht sich durch den gesamten Text

(v.a. Z. 43-45, Z. 59-61, Z. 71-75). Die Aggression der „Islamisten“ richtet

sich nach Darstellung der Autoren gegen Leib und Leben jedes einzelnen

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Deutschen (Z. 120 ff.). Hier setzen die Autoren vor allem Substantive und

dynamische Verben aus dem Themenfeld „Krieg“ und „Kampf“ ein, um

Gewaltszenen vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen zu lassen (Z.

15, Z. 42, Z.60, Z.84). Auch indem sie die „Zeiten des Terrors“ (Z. 121) mit

Krieg vergleichen (Z. 117-137, Z. 173-178), befördern die Autoren

Gewaltassoziationen. Besonders gefährlich erscheinen die „Islamisten“

dadurch, das die Autoren sie als irrational und unberechenbar

charakterisieren (Z. 138-139). Dass die Autoren die Motivation zur Gewalt

von „Islamisten“ in ihrem Glauben sehen, geht aus der Implikation hervor,

dass Kritik am Islam oder eine nicht-respektvolle Darstellung des Propheten

Aggression („islamistischen Furor“, Z. 138-139) auslöse (Z. 24-29, Z. 85-87,

Z. 140-144).

Muslime allgemein ordnen die Autoren einer „Parallelgesellschaft(en)“ (Z.

264-265) zu, die sich nach ihrer Darstellung in Deutschland ausbreitet (Z.

278-281) und die kulturelle Dominanz der Deutschen bedroht (Z. 285-286).

Indem die Autoren „vielen Muslimen“ defizitäre Deutschkenntnisse

attestieren (Z. 261-263), „Einwandererkinder“ kollektiv als schlechte Schüler

darstellen (Z. 323-325) sowie eine hohe und implizit stetig steigende

Arbeitslosigkeit von Ausländern hervorheben (Z. 326-329), erscheinen

Muslime (deren Bild hier mit dem der Einwanderer und Ausländer verknüpft

wird) generell als integrationsunwillig, ungebildet, unproduktiv und implizit als

wirtschaftliche und soziale Belastung.19 Die Präsenz und den nach ihrer

Darstellung dramatisch wachsenden Anteil von „Zugewanderten“ (Z. 282)

schildern die Autoren als aggressive und für die innere Stabilität

Deutschlands gefährliche Übernahme der Gesellschaftsmehrheit. (Z. 268 ff.)

Die Implikation, dass deutsche Schüler in „Einwanderervierteln“ (Z. 308) von

muslimischen Mitschülern wegen ihrer Religion und Kultur pauschal

beschimpft (Z. 310-312) und unterdrückt werden (Z. 318-322), stützt das Bild

einer aggressiven und immer dominanter auftretenden muslimischen

Minderheit.

Diese muslimische Minderheit wird essentialisierend als „abgeschlossene

Welt“ skizziert, die sich vor allem durch ihre eigenen Traditionen und

19 Hier fällt die Parallele zu den Thesen Thilo Sarrazins (Sarrazin 2010) auf – die Vermutung liegt nahe, dass die Autoren mit dem Diskursfragment dazu beitragen, den späteren Behauptungen Sarrazins den Weg zu ebnen.

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sozialmoralische Wertvorstellungen definiert (Z. 265-267); das Verb

„kreisen“ (Z. 268) impliziert dabei eine ergebnislose Selbstbezogenheit, die

den Eindruck von Statik und kollektivem geistigen Verharren in archaischen

Moralkonzepten stützen. Muslimen schreiben die Autoren generell eine

Unterdrückung von Mädchen (Z. 252-256) und Frauen zu (Z. 257-259). So

suggerieren sie, dass muslimische Mädchen und Frauen in Deutschland

kollektiv in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, weil es die patriarchalischen

Traditionen des Islam so fordern. Den Eindruck, dass die angebliche

kulturelle Blockbildung von Muslimen in Deutschland religiös motiviert ist,

erwecken die Autoren vor allem dadurch, dass sie ihre prominenteste

Expertin, Necla Kelek, für diese These plädieren lassen (Z. 343-348).

In der Gesamtwirkung des Textes verschwimmt die Trennlinie zwischen

„Islamisten“ und Muslimen – beide Gruppen erscheinen als das „Andere“,

das die Autoren der deutschen Gesellschaft gegenüberstellen (Z. 57-61).

Den Begriff „appeasement“, der in seiner Fährenfunktion Assoziationen mit

fataler Akzeptanz gegenüber dem totalitären Terrorregime der Nazis weckt,

wenden die Autoren sowohl auf die Haltung zu „Islamisten“ als auch auf die

Haltung zu „Ausländern“, implizit Muslimen, an (Z.30, Z. 382-383). So

verknüpfen die Autoren beide Kollektive. Da die Autoren mit Ausnahme des

Mörders Theo van Goghs (Z. 65-67) keine Individuen beschreiben und die

Gruppen, über die sie sprechen, nicht identifizieren, wirken ihre

Charakterisierungen essentialisierend: Die Attribute und Eigenschaften, die

sie Muslimen zuschreiben, erscheinen als wesenhaft für das Kollektiv aller

Muslime in Deutschland.

Indem sie „Islamisten“ (Z. 105) und implizit auch Muslime (Z. 252-256, Z.

257-259) als „Gegner der Freiheit“ stilisieren, die deutsche Gesellschaft

jedoch als Hort der Freiheit darstellen (Z. 51-53, Z. 431-437) schaffen die

Autoren eine Dichotomie. Auch die deutsche Gesellschaft essentialisieren

die Autoren – einerseits, indem sie ein „Selbst“ beschwören, das sie mit

Nation gleichsetzen (Z. 244-245) und andererseits, indem sie ihr mit dem

Begriff „Angstvolk“ (Z. 106) eine kollektive psychische Disposition

zuschreiben. Essentialisierung und Dichotomie verstärken die Autoren,

indem sie Distanzierung von diesem „Selbst“ als psychische Störung

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(„Selbsthass“, Z. 209) darstellen und – im Sinne einer Feindbegünstigung –

mit der Bedrohung durch Terroristen oder „Taliban“ assoziieren (Z. 237-240).

Die Autoren richten ihr Augenmerk auf „die Deutschen“ (Z. 54) als Volk.

Deutlich wird dies in zahlreichen Generalisierungen „der Deutschen“ oder

„der Gesellschaft“ (Z. 54 ff., Z. 77). Auch die häufige Verwendung des

unpersönlichen Pronomens „man“ und des Pronomens „wir“, mit dem sich

die Autoren selbst der impliziten Wertegemeinschaft der Deutschen

zurechnen, transportieren ein generalisierendes Volks-Bild. Wie die

Kollektive „Islamisten“ und „Muslime“ ist auch das Kollektiv der Deutschen

unscharf begrenzt – die Autoren verknüpfen es mit dem nicht näher

definierten „Westen“ (Z. 205), der meist mit Christentum assoziiert wird (Z.

384 ff). Die deutsche Mehrheitsgesellschaft und „die westliche Gesellschaft“

erscheinen synonym (Z. 220-222, Z. 434 ff.).

Die Autoren beanspruchen Gestaltungsmacht für die „wir“-Gemeinschaft der

Deutschen über die Gesellschaft. „Die Deutschen“ erscheinen als die Herren

im Haus, die nicht nur das Recht, sondern (aus Selbsterhaltungsgründen)

auch die Pflicht haben, „muslimische Zuwanderer“ zurecht zu weisen und

Anpassung zu erzwingen (Z. 275-276). Das zeigt vor allem die Implikation,

die im Wort „ungestraft“ enthalten ist (Z. 274-277) und das Kollektivsymbol

der „Schranke“ (Z. 17). Selbstbewusstsein bei der Vertretung eigener Werte

(Z. 384-391) gilt den Autoren als Richtmaß kultureller Hegemonie. Hier

werfen die Autoren den Deutschen kollektiv „appeasement“ (Z. 78) und

„Rückzug“ (Z. 269) vor.

Mit dem Artikel „Das Phantom der Oper“ bekräftigt der Spiegel einen

orientalistischen Diskurs über Muslime in Deutschland.

Indem die Autoren ein essentialistisches Bild von Islam als statisches,

archaisches und von Gewalt geprägtes Wertesystem zeichnen und Muslime

generalisierend und dichotomisierend als unberechenbare, irrationale

Aggressoren in einem Kulturkampf der deutschen bzw. westlichen

Gesellschaft gegenüberstellen, bedienen die Autoren alle von Said

definierten Dogmen des Orientalismus (s. Kapitel 2.1).

Dabei verkleiden die Autoren ihre orientalistischen Darstellungen als

Gesellschaftsanalyse: Sie verzichten weitgehend auf eine tatsächliche

Beweisführung ihrer Thesen – in vielen Sätzen ersetzen das Pronomen

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„man“ (Z. 128-129) oder Formulierungen wie „Es gibt“ (Z. 220), „Es ist“ (Z.

285) oder „Da macht sich (...) breit“ (Z. 235-237) das handelnde Subjekt,

Passiv (Z. 384) oder vage Ortsangaben („in weiten Teilen der Linken“, Z.

357-358) machen Akteure unkenntlich. Die so dargestellten Thesen sind also

nicht überprüfbar; der Leser muss den Autoren glauben.

Plausibiliät in ihrer Argumentation konstruieren die Autoren stattdessen

durch wiedererkennbare Bilder (Z. 127-130, Z. 257-259), die das „Kopfkino“

ihrer Leser in Gang setzen. Auch die Marginalisierung von Gegenpositionen,

die sich vor allem im Umgang mit Expertenmeinungen zeigt, der selektive

Einsatz von statistischen Angaben und ihre Vermischung mit Implikaten (Z.

280-281), die Verwendung emotional gefärbter Substantive und Verben

(„Opfer“, Z. 41, „bedrohen“, Z. 60) und das Beschwören einer „wir“-

Gemeinschaft (Z. 59-61) dienen eher dazu, Ressentiments zu wecken, als

Thesen objektiv zu verifizieren. So wird die Analyse zu einer im wahrsten

Sinne des Wortes populistischen Warnung vor einem diffusen Feindbild.

Die Autoren bieten ihren Lesern einen Standpunkt an und schlagen in dem

Dickicht des Diskurses Argumentationswege frei. Dabei gehen sie offensiv

vor, indem sie einzelne Meinungen abwerten oder gar diffamieren

(„verbale[s] Heldentum“, Z.40) und andere Meinungen aufwerten und positiv

hervorheben. Damit hemmen sie eine kritische Auseinandersetzung der

Leser mit ihren Thesen.

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Kapitel 4 – Fazit

Die Ergebnisse der Feinanalyse zeigen, wie unterschiedlich die Positionen

der Spiegel-Autoren im orientalistischen Diskurs ausfallen – das Spektrum

reicht von offenkundigem Orientalismus (s. Kapitel 3.4.8) bis zur

Gegenposition zum orientalistischen Diskurs (s. Kapitel 3.4.1). Auch

innerhalb der einzelnen Artikel treten bisweilen konkurrierende

Diskurspositionen zutage (s. Kapitel 3.4.3, Kapitel 3.4.4). Anhand der

Überprüfung der zentralen Charakteristika von Orientalismus lässt sich die

Position des Spiegel im Diskurs über „Islam in Deutschland“ dennoch

einordnen.

Nicht flächendeckend, aber prominent ist das für den orientalistischen

Diskurs zentrale Merkmal der Dichotomisierung (s. Kapitel 2.1): In der

Mehrzahl der Artikel erscheint Islam implizit oder explizit als Gegensatz zur

deutschen Gesellschaft. Hier bestätigt sich die Beobachtung aus der

Strukturanalyse (s. Kapitel 3.2). Besonders auffallend ist diese

Dichotomisierung in Artikeln oder Textpassagen, in denen Islam als

Wertesystem erscheint (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8). Oft

liegt die Implikation oder Behauptung eines Gegensatzes zwischen Islam

und deutscher Gesellschaft bereits im Thema des Artikels begründet (s.

Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6 und 3.4.8). In Artikeln oder Passagen, in

denen individuelle Muslime im Fokus stehen, vermeiden die Autoren die

Dichotomie zwischen Muslimen und deutscher Gesellschaft oder entkräften

sie sogar – damit erklärt sich der auf den ersten Blick verblüffende Befund,

dass ausgerechnet in Artikeln, in denen muslimische Terrorverdächtige die

Hauptrolle spielen, keine Dichotomie zwischen Islam und deutscher

Gesellschaft auftritt (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2).

Weniger prominent, aber mit einer ähnlichen Verteilung tritt das Merkmal der

Generalisierung von Muslimen in Erscheinung: In den meisten Artikeln

stellen die Autoren Muslime allgemein oder bestimmte Gruppen von

Muslimen generalisierend dar oder befördern durch ihre Darstellungen eine

generalisierende Rezeption durch ihre Leser (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4., 3.4.5,

3.4.6, 3.5.7 und 3.4.8) – die häufige Darstellung von Muslimen als Kollektive

begünstigt dieses Muster. Im Gegensatz zeigt sich, dass der Fokus auf

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Individuen einem generalisierenden Bild von Muslimen entgegenwirkt –

besonders, wenn diese Individuen vielschichtig und mehrdimensional

beschrieben werden (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2 und 3.4.4).

Essentialisierungen von Islam kommen in wenigen Texten vor. Nur in einem

Artikel (s. Kapitel 3.4.8) stellen die Autoren Islam offenkundig und mit

Nachdruck essentialisierend dar. In einigen Texten bewirkt die Darstellung

muslimischer Gemeinschaften oder muslimisch geprägter Milieus als

abgeschlossene Welt eine implizite Essentialisierung oder legt eine

entsprechende Rezeption des Geschilderten nahe (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.6).

Schwerwiegender ist dagegen der Einsatz von Stereotypen in den

untersuchten Spiegel-Artikeln:

Besonders prominent ist das Stereotyp eines gefährlichen und

gewaltgeprägten Islam – dieses Bild findet in fast allen Artikeln Raum (s.

Kapitel 3.4.2, 3.4.3, 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8) und bestimmt oft das

Thema der Spiegel-Beiträge (s. Kapitel 3.4.2, 3.4.3, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8).

Die Verbreitung dieses Stereotyps deckt sich zum Teil mit der Prominenz von

Dichotomien zwischen Islam und deutscher Gesellschaft. In der

Gesamtwirkung erscheint der Islam als potenzielle Bedrohung für die

deutsche Gesellschaft, die eine ständige Kontrolle und Wachsamkeit seitens

deutscher Sicherheitsorgane erfordert.

Auch die stereotype Darstellung von Muslimen als irrational findet sich in

vielen der untersuchten Artikel wieder (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.6, 3.4.7 und

3.4.8), tendenziell unterstützt durch das Bild eines bildungsfeindlichen Islam

(s. Kapitel 3.4.4). In einigen Fällen verstärkt dieses Stereotyp den Eindruck

einer Bedrohung durch den Islam – Muslime werden durch die

Charakterisierung als irrational als besonders gefährlich dargestellt (s.

Kapitel 3.4.3 und 3.4.8).

Ein stereotypes Bild, das den Islam als unterentwickelt oder zivilisatorisch

unterlegen erscheinen lässt, findet sich in drei der acht untersuchten Artikel

wieder (s. Kapitel 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8); das Stereotyp eines statischen

Islam tritt nur in einem Fall auf (s. Kapitel 3.4.8).

Zusätzlich zu den in Kapitel 2.1 aufgeführten orientalistischen

Charakterisierungen tritt das Stereotyp eines Frauen unterdrückenden Islam

in vielen Artikeln zutage (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.5, 3.4.6, 3.4.7 und 3.4.8). Auch

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hier decken sich die Ergebnisse von Struktur- und Feinanalyse (s. Kapitel

3.2). Dieses Stereotyp korrespondiert in der Darstellung der Autoren mit dem

Bild von Islam als zivilisatorisch rückständig.

Aufschlussreich ist auch die Überprüfung von Saids Beobachtung, dass

orientalistische Darstellungen sich eher auf Abstraktionen statt auf faktische

Belege stützen (s. Kapitel 2.1): In der Gesamtschau der Artikel zeigt sich,

dass in den Artikeln oder Textpassagen, in denen orientalistische Muster

nach den oben beschriebenen Merkmalen am deutlichsten in Erscheinung

treten, die Autoren ihre Schilderungen vorwiegend auf Behauptungen, diffuse

Konzepte, Feindbilder oder emotionsgeladene Szenarien stützen oder durch

Wiedererkennungseffekte den Eindruck von Authentizität zu vermitteln

versuchen (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.8). Dagegen treten in Artikeln, in denen

sich die Autoren stark an Fakten orientieren, kaum orientalistische

Darstellungsmuster in Erscheinung (s. Kapitel 3.4.1, 3.4.2).

Die Frage nach dem Definitionsanspruch der Autoren, die über Islam und

Muslime schreiben, erfordert eine differenzierte Untersuchung. Schon der

bloßen Tätigkeit des publizistischen Schreibens über Muslime liegt ein

Definitionsanspruch zugrunde – die Autoren zeichnen ein Bild von Muslimen

oder Islam, das durch Autorität und Verbreitung der Medien eine besondere

Wirkungsmacht entfaltet. Die Berichterstattung über Islam und Muslime

deshalb per se als Zeichen für Orientalismus zu werten, halte ich jedoch für

überzogen; dies wird auch den Thesen Saids nicht gerecht (Said 2003a:xxiii).

Wesentlich erscheint mir dagegen, wie das Bild zustande kommt, das die

jeweiligen Journalisten zeichnen und in welchem Maß die beschriebenen

Muslime daran mitwirken. Dies mache ich daran fest, ob die Autoren ihren

Protagonisten Raum geben, sich selbst zu repräsentieren, oder ob sie

beanspruchen, für ihre Protagonisten zu sprechen.

Der Raum, den die Autoren einzelnen Muslimen geben, um sich selbst zu

repräsentieren, fällt insgesamt gering aus. In zwei von acht Artikeln lassen

die Autoren individuelle Muslime in eigener Sache sprechen (s. Kapitel 3.4.1

und 3.4.2). Bei der Charakterisierung von Kollektiven, die die

Gesamtdarstellung des Themas „Islam in Deutschland“ im Spiegel dominiert,

setzen die Autoren oft Repräsentanten ein, die für das Kollektiv sprechen (s.

Kapitel 3.4.4, 3.4.5, 3.4.7). Dabei bleibt offen, ob die Repräsentanten

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tatsächlich einen kollektiven Konsens wiedergeben oder nicht. In einem der

acht Artikel kommt überhaupt kein Muslim zu Wort (s. Kapitel 3.4.8) – hier

beanspruchen die Autoren uneingeschränkte Definitionsmacht.

Häufig zeigt sich dagegen, dass die Autoren für ihre muslimischen

Protagonisten sprechen (s. Kapitel 3.4.4, 3.4.5 und 3.4.8) oder

beanspruchen, die inneren Vorgänge, Gedanken und Gefühle von individuell

oder kollektiv auftretenden Muslimen zu kennen und ihren Lesern erläutern

zu können (s. Kapitel 3.4.6 und 3.4.7).

Zudem fällt auf, dass die Autoren der meisten Artikel Definitionen und

Deutungen von anderen Autoritäten übernehmen, etwa staatlichen Macht-

und Kontrollinstanzen (s. Kapitel 3.4.5, 3.4.7 und 3.4.8) oder muslimischen

Insidern, die zugleich als Experten auftreten (s. Kapitel 3.4.3. und 3.4.4).

Dabei stehen diese Autoritäten fast immer in Opposition zu der Gruppe, die

sie definieren und beschreiben (s. Kapitel 3.4.3, 3.4.4, 3.4.7 und 3.4.8).

Indem sie ausgewählte Personen oder Instanzen mit Deutungshoheit

ausstatten und über ein ihnen gegenübergestelltes Kollektiv sprechen

lassen, machen sich die Autoren diese Definitionen zunutze, um ihrem Bild

von Muslimen Authentizität und Gewicht zu verleihen.

In zwei Artikeln pflegen die Autoren einen kritischen und distanzierten

Umgang mit den Definitionen außenstehender Machtinstanzen (s. Kapitel

3.4.1 und 3.4.2). Diese kritische Haltung tritt meinen Beobachtungen aus der

Strukturanalyse zufolge in Beiträgen über mutmaßlichen Terrorismus

verstärkt zutage (s. Kapitel 3.2).

Die Untersuchung von Merkmalen des orientalistischen Diskurses in den

Spiegel-Artikeln über Muslime in Deutschland deckt auf, wie prominent und

vielschichtig sich orientalistische Darstellungsmuster in dem Bild

niederschlagen, das das Magazin seinen Lesern von Muslimen oder Islam in

Deutschland vermittelt. Dieser Dominanz des hegemonialen Diskurses

setzen nur wenige Artikel Gegenpositionen entgegen; in der Gesamtwirkung

der Diskurslinie des Spiegel gibt die orientalistische Tradition die

Stoßrichtung des Magazins vor.

Auch wenn keines der von Said beschriebenen Merkmale von Orientalismus

flächendeckend in allen Artikeln auftritt, zeigt sich in der Gesamtanalyse,

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dass der Spiegel mit seinen 2006-2008 erschienenen Beiträgen über das

Thema „Islam in Deutschland“ insgesamt Orientalismus bekräftigt.

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Kapitel 5 – Schlussbemerkung

Die kritische Diskursanalyse der verschiedenen Beiträge des Spiegel über

Muslime in Deutschland hat gezeigt, auf welch unterschiedlichen Wegen

orientalistische Darstellungsmuster in journalistische Texte einfließen und

darin Wirkung entfalten. Der Effekt, den Orientalismus in dieser Form erzielt,

ist besorgniserregend: Bekräftigt durch die Autorität und diskursive Macht der

Medien manifestiert sich ein Bild von Islam als fremde, latent gefährliche

Machtinstanz, die einer deutschen Mehrheitsgesellschaft antagonistisch

gegenübersteht. Muslime erscheinen als Außenstehende, deren Werte und

Normen nicht in „unsere“ Gesellschaft passen.20 Frauen und Mädchen mit

Kopftuch haftet das Bild der unterdrückten Muslima, des Opfers

patriarchalischer Gewalt, an.21 Moscheen in deutschen Städten erscheinen

als Fremdkörper und Keimzellen einer latent gefährlichen Ideologie, die sich

der Kontrolle deutscher Sicherheitsorgane zu entziehen droht.22 Wie

destruktiv sich der orientalistische Diskurs auswirkt auf das große Projekt

„Integration“ und das Ziel, dass Muslime eines Tages selbstverständlich als

Zugehörige der deutschen Gesellschaft gelten, ist offensichtlich.

Journalisten, die „[v]erantwortungsethisch(en)“ (Pürer 1996, zit. nach Mast

2004:98) über Islam und Muslime schreiben wollen, müssen sich vom

orientalistischen Diskurs distanzieren. Doch nicht nur sie – auch ihre Leser

müssen sich der diskursiven Techniken des Orientalismus bewusster werden

und Diskurse hinterfragen, indem sie Texte nicht als Abbild von Wahrheit

betrachten, sondern als Produkte menschlicher Arbeit, der bisweilen auch

fragwürdige Methoden zugrunde liegen.

20 Ein Indiz für die Verbreitung dieses Islam-Bildes stellt etwa die Debatte dar, die sich nach der Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff am Tag der Deutschen Einheit entzündete, nachdem Wulff gesagt hatte, „(...) der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“. (http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews-,11057.667040/Rede-von-Bundespraesident-Chri.htm?global.back=/-%2c11057%2c6/Reden-und-Interviews.htm%3flink%3dbpr_liste, Datum des letzten Besuchs: 28.03.2011) 21 Dieses Bild beförderte etwa Alice Schwarzer mit ihrer Behauptung, das Kopftuch sei „(...) eine Art ‚Branding’, vergleichbar mit dem Judenstern (...)“, das Musliminnen zu „(...) Menschen zweiter Klasse (...)“ mache. (http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~EF6816D734A5C42A8A352CBB10367B7FA~ATpl~Ecommon~Scontent.html, Datum des letzten Besuchs: 02.04.2011) 22 Belege für die Verbreitung dieses Feindbildes liefern zahlreiche Bürgerinitiativen, die gegen den Neubau von Moscheen protestieren – ein prominentes Beispiel ist etwa die Initiative „Pro Köln“, deren Konzept bereits überregional Nachahmer gefunden hat (http://www.aktuell.pro-koeln.org/, Datum des letzten Besuchs: 28.03.2011)

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Hier soll meine Arbeit einen Beitrag dazu leisten, die Wirkungsmechanismen

des orientalistischen Diskurses sichtbar zu machen und Produzenten wie

Rezipienten des Mediendiskurses über Islam in Deutschland dazu

anzuregen, wachsam und kritisch mit Repräsentationen von Islam und

Muslimen umzugehen.

Wie können sich Journalisten von Orientalismus distanzieren? Die Lösung ist

sicherlich nicht, gar nicht oder nur positiv über Islam und Muslime zu

berichten (s. Kapitel 4). Auch selektive Berichterstattung, die sich auf

scheinbare Ausnahmefälle oder Gegenbeispiele konzentriert und alle

Faktoren ausblendet, die orientalistisch anmutende Bilder befördern könnten,

wirkt letztendlich verfälschend und zeugt weder von Qualität noch von

journalistischem Berufsethos.

Die wichtigste Voraussetzung für eine verantwortungsethische

Berichterstattung über Islam und Muslime ist m. E. ein geschärftes

Bewusstsein für die Wirkungsmacht orientalistischer Darstellungen. Edward

Said liefert selbst einige Ratschläge, die sich sowohl für Wissenschaftler als

auch für Journalisten anbieten (Said 2003a:326 f.):

Zum einen empfiehlt er, eine wachsame und kritische Haltung gegenüber

dem eigenen Geschriebenen einnehmen; die Gefahr, in Orientalismus zu

verfallen, sollten Autoren immer im Kopf behalten. Hilfreich sei es auch, auf

Entwicklungen in anderen Disziplinen achten, um gegebenenfalls „instruktive

Korrektive“ zu finden, die sich auf die eigenen Projekte anwenden lassen.

Zudem sollten Autoren, die über Islam schreiben, eine eigenständige und

konkrete Herangehensweise an das Thema Islam entwickeln, sich von

spezifischen Problemen und Gesellschaften animieren lassen und die

Rituale, Vorurteile und Doktrinen des Orientalismus außen vor lassen.

Diesen Punkt halte ich für die wichtigste und wirkungsvollste Methode, um

bei der Berichterstattung über Muslime und Islam in Deutschland

orientalistische Konzepte zu vermeiden. Auch in meiner Diskursanalyse zeigt

sich, dass die Autoren, die individuelle Muslime als vielschichtige Personen

in den Vordergrund stellen und sich beim Schreiben an Fakten und

Handlungen orientieren, deutlich seltener in orientalistische

Darstellungsmuster verfallen als diejenigen Autoren, die zu pauschalen

Beschreibungen von Kollektiven und „Strömungen“ ansetzen, die sich an

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Fakten und Personen allenfalls notdürftig belegen lassen (s. Kapitel 3.4 und

Kapitel 4).

Einen konstruktiven Vorschlag für eine Technik konkreten und differenzierten

Schreibens liefert die Anthropologin Lila Abu-Lughod, deren Konzept der

„Ethnografie des Partikularen“ auch lohnenswerte Ansätze für journalistische

Praxis bietet (Abu-Lughod 1996). Abu-Lughod plädiert dafür, Menschen als

„Individuen in Zeit und Raum“ (ebd.:33) zu schildern und ihrer persönliches

Handeln im Kontext ihrer sozialen Umgebung in den Fokus zu rücken, mit

dem Ziel, Generalisierungen und Dichotomien zwischen „Selbst“ und

„Anderen“ zu vermeiden. Die Geschichten, die ein solcher Fokus auf

partikulare Lebenswelten hervorbringt, erscheinen gerade für Journalisten

und ihre Leser attraktiv, die sich von Orientalismus verabschieden wollen:

„Der besondere Wert dieser Strategie liegt darin, daß [sic] sie Ähnlichkeiten in allen unseren

Lebensumständen zum Vorschein bringt. Festzustellen, daß [sic] wir alle im Partikularen

leben, bedeutet nicht, daß [sic] alles Partikulare dasselbe ist. Es kann durchaus sein, daß

[sic] wir sogar beim Blick auf den Alltag grundlegende Unterschiede entdecken (...). Aber die

Alltäglichkeit bricht die Kohärenz und führt die Kategorie der Zeit ein; sie orientiert uns so auf

Ablauf und Widerspruch. Und das Partikulare weist darauf hin, daß [sic] andere so leben,

wie auch wir unser Leben sehen, nicht als Roboter, die mit kulturellen „Regeln“ programmiert

sind, sondern als Menschen, die durchs Leben gehen und sich dabei mit Entscheidungen

herumschlagen, Fehler machen, versuchen, gut auszusehen, Tragödien und persönliche

Verluste ertragen, Freude an anderen haben und Augenblicke des Glücks finden. Die

Sprache der Verallgemeinerung kann diese Art von Erfahrungen und Tätigkeiten nicht

vermitteln.“ (ebd.:38)

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Beier, Lars-Olav/Matussek, Matthias (2007). „Ich mag offene Enden“. Der

Spiegel, Nr. 39/2007: S. 159.

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Drohung aus dem Libanon? Der Spiegel, Nr. 34/2006: S. 36-37.

Brandt, Andrea/Meyer, Cordula (2006). Und nachts der Koran. Der Spiegel,

Nr. 46/2006): S. 56-60.

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Nr.22/2008: S. 66.

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Markus/Wensierski, Peter (2008). „Kaum verhüllte Drohung“. Der

Spiegel, Nr. 39/2008: S.36-38.

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Darnstädt, Thomas (2007). Im Vorfeld des Bösen. Der Spiegel, Nr. 28/2007:

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Darnstädt, Thomas (2008). Identität als Gefängnis. Der Spiegel, Nr. 8/2008:

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Der Spiegel (ohne Autor) (2006). Diskretes Willkommen. Der Spiegel, Nr.

38/2006: S. 22.

Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Geld von Mili Görüs. Der Spiegel, Nr.

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Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Angst vor Türken-Protest. Der Spiegel, Nr.

12/2007: S. 18.

Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Ermittlungen gegen Islamismus-Plattform.

Der Spiegel, Nr. 15/2007: S. 16.

Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Fahrkarte in den Irak. Der Spiegel, Nr.

15/2007: S. 32-35.

Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Muslime wollen Gleichstellung. Der Spiegel,

Nr. 16/2007: S. 21.

Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Legale Werbung für Dschihad. Der Spiegel,

Nr. 18/2007: S. 17.

Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Warnung aus Washington. Der Spiegel, Nr.

26/2007: S. 15.

Der Spiegel (ohne Autor) (2007). Klüger werden mit: Ibrahim Kepenek. Der

Spiegel, Nr. 39/2007: S. 107.

Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Al-Qaida-Kämpfer aus Braunschweig. Der

Spiegel, Nr. 5/2008: S. 15.

Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Mehrere Deutsche in Terrorcamps. Der

Spiegel, Nr. 7/2008: S. 17.

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Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Törichte Toleranz. Der Spiegel, Nr. 9/2008:

S. 65.

Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Fremd zu Hause. Der Spiegel, Nr. 11/2008:

S. 73.

Der Spiegel (ohne Autor) (2008). „Unter aller Kanone“. Der Spiegel, Nr.

12/2008: S. 20.

Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Märtyrertod in Afghanistan. Der Spiegel, Nr.

12/2008: S. 21.

Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Zum Märtyrertod bereit. Der Spiegel, Nr.

39/2008: S.16.

Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Fahndung nach Islamisten floppt. Der

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Der Spiegel (ohne Autor) (2008). Cousin und Cousine. Der Spiegel, Nr.

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Ehlers, Fiona (2006). Und ewig grüßt der Muezzin. Der Spiegel, Nr. 4/2006:

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Elger, Katrin (2008). „Meine Zeit wird kommen.“ Der Spiegel, Nr. 13/2008: S.

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Elger, Katrin und Hülsen, Isabell (2008). „Kein Tag ohne Flammen“. Der

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Feldenkirchen, Markus (2007). Der Supertürke. Der Spiegel, Nr. 29/2007: S.

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Kaiser, Simone/Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2007). „Operation

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Kaiser, Simone/Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2007). „Wirst du Taliban,

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Kleinhubbert, Guido (2006). Brühwurst vom Spieß. Der Spiegel, Nr. 7/2006:

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Mascolo, Georg/Stark, Holger/Röbel, Sven (2006). Falsche Zeit, falscher Ort.

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Mascolo, Georg/Stark, Holger (2006). Ticket in die Freiheit. Der Spiegel, Nr.

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Meyer, Cordula (2006). „Holen Sie die mit Gewalt“. Der Spiegel, Nr. 20/2006:

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Meyer, Cordula/Ulrich, Andreas/Widmann, Marc (2006). Der dritte Mann. Der

Spiegel, Nr. 36/2006: S. 42

Meyer, Cordula (2006). Lesen unter Polizeischutz. Der Spiegel, Nr. 37/2006:

S. 83.

Meyer, Cordula/Schmidt, Caroline (2006). „Friede, Freude, Eierkuchen.“ Der

Spiegel, Nr. 40/2006: S. 47-49.

Meyer, Cordula (2006). Schwester im Glauben. Der Spiegel, Nr. 51/2006: S.

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Meyer, Cordula/Rosenbach, Marcel (2007). Schlagabtausch im Fahrstuhl.

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Pfister, René (2008). Der Unisex-Politiker. Der Spiegel, Nr.46/2008: S. 36-38.

Röbel, Sven (2007). Im Kartenhaus. Der Spiegel, Nr. 47/2007: S. 58.

Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2007). Aladins Erzählungen. Der Spiegel,

Nr. 41/2007: S. 68.

Rosenbach, Marcel/Stark, Holger (2008). Der Hass des Abdullah. Der

Spiegel, Nr. 36/2008: S. 44-50.

Sandberg, Britta (2008). Der Diener Gottes. Der Spiegel, Nr. 38/2008: S. 48-

50.

Schrep, Bruno (2006). Eine Frage der Ehre. Der Spiegel, Nr. 29/2006: S. 38-

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Schrep, Bruno (2008). Verrat der Heimat. Der Spiegel, Nr. 11/2008: S. 135.

Sontheimer, Michael (2008). Jung, gut und unerwünscht. Der Spiegel, Nr.

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Stark, Holger (2006). Schläge und Pistazien. Der Spiegel, Nr. 10/2006: S. 38.

Stark, Holger/Fleischhauer, Jan (2006). „Hier gibt es ein Problem“. Der

Spiegel, Nr. 38/2006: S. 85-88.

Stark, Holger (2006). Als Spion bei al-Qaida. Der Spiegel, Nr. 47/2006: S. 60-

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Stark, Holger (2006). Im schwarzen Tor. Der Spiegel, Nr. 48/2006: S. 48-49.

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Stark, Holger (2007). Der innerste Ring. Der Spiegel, Nr. 46/2007: S. 56-60.

Supp, Barbara (2006). Die innere Emigration. Der Spiegel, Nr. 16/2006: S.

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Supp, Barbara (2006). Die Integrierten. Der Spiegel, Nr. 27/2006: S. 58-63.

Supp, Barbara (2008). Der digitale Osama. Der Spiegel, Nr. 11/2008: S. 86.

Ulrich, Andreas (2006). Schwimmende Bombe. Der Spiegel, Nr. 37/2006: S.

82.

Voigt, Claudia (2006). Wörter wie Silberringe. Der Spiegel, Nr. 13/2006: S.

165-166.

Wensierski, Peter (2006). Von Köhler nach Kurdistan. Der Spiegel, Nr.

12/2006: S. 42.

Wensierski, Peter (2007). Das Wunder von Marxloh. Der Spiegel, Nr. 1/2007:

S. 40-42.

Wöhrle, Christoph (2007). Schlesische Schlachten. Der Spiegel, Nr. 50/2007:

S. 138.

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Anhang

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1 T E R ROR I SM U S 2 Der innerste Ring 3 Attila Selek gilt den Ermittlern als Mitverschwörer der Islamistenzelle um Fritz Gelowicz,

4 er soll Zünder für Autobomben beschafft haben. Vergangene Woche wurde er

5 in der türkischen Stadt Konya festgenommen. Doch er beteuert seine Unschuld.

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Attila Selek hat sie gleich erkannt,

schon in der Eingangshalle, sie fol-

gen ihm seit Wochen, überallhin.

Zwei Männer in dunkler Lederjacke, die

jetzt aufmerksam registrieren, wer das Ho-

tel Dedeman in Konya betritt.

Es ist Dienstagmorgen, kurz vor zehn

Uhr, der Himmel hängt tief im anatolischen

Hochland. Die Polizisten beobachten, wie

Selek die Lobby betritt, er hat sich hier

verabredet, weil er sich erklären will. Es

gibt viel zu erklären, es geht um Terroris-

musvorwürfe, seine Freundschaft zu Fritz

Gelowicz und offenbar geplante Anschlä-

ge, die die Behörden Anfang September in

Deutschland verhindert haben.

Die Männer in Lederjacke folgen Selek

durch die mit bernsteinfarbenem Marmor

ausgelegte Halle, über die Straße hinweg in

das Einkaufszentrum, wo es ein Kaffee-

haus gibt, das sich „Willy Wonder’s“ nennt.

Selek bestellt einen Kaffee und ein Känn-

chen Milch. Manchmal sprechen ihn die

Leute in Konya an, die Türken aus Anato-

lien hören an seiner Aussprache, dass

er hier nicht aufgewachsen ist, sondern

in Deutschland, in Ulm. „Ich bin eher

deutsch, meine türkische Kultur stimmt

nicht mit der Realität in der Türkei über-

ein“, sagt er und lächelt.

Neulich kam sein Name sogar im türki-

schen Fernsehen: Attila Selek, der Mann

aus Deutschland, den sie

überwachen. Der Terrorver-

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dächtige.

Glaubt man der Bundes-

anwaltschaft in Karlsruhe,

dann ist Selek der vierte

Mann jener Islamistenzelle

um Fritz Gelowicz, die ge-

plant haben soll, mehrere

Autobomben mit Hunderten

Kilo Sprengstoff zu präpa-

rieren. In einem Ferienhaus

im Sauerland fanden die

Fahnder Chemikalien und

26 Zünder militärischer Bau-

art, vermutlich aus Syrien.

Selek, behaupten die Er-

mittler, „fiel im Gefüge der Vereinigung

die Aufgabe zu, die Zünder für die Spreng-

vorrichtungen zu beschaffen“.

Der Fall, der Anfang September die Re-

publik bewegte und den die Ermittler

„Operation Alberich“ nennen, ist verbun-

den mit den Gesichtern der beiden deut-

schen Konvertiten Fritz Gelowicz und Da-

niel S., aber wenn ein Ermittlungsverfah-

ren Jahresringe hätte wie ein Baum, dann

trüge der innerste Ring den Namen Selek.

Denn die Fahndung beginnt im Novem-

ber 2006 bei einem Mann, den die CIA nur

als „Muaz“ aus Deutschland kennt und bei

dessen Identifizierung der US-Geheim-

dienst die deutschen Kollegen um Mithilfe

bittet.

Die Geheimen von CIA und Verfas-

sungsschutz versuchen, Puzzlestücke zu-

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sammenzufügen. Das Puzzle besteht aus

mitgeschnittenen Telefongesprächen und

abgefangenen E-Mails, aus Augenzeugen-

berichten aus dem wilden Waziristan, aus

beobachteten Reisebewegungen. Und es be-

steht aus Erkenntnissen aus Verhören von

Verdächtigen, die in den pakistanischen La-

gern waren. Die Informationsbrocken be-

sagen, dass „Muaz“ und ein weiterer Mann

aus Deutschland im Juni 2006 in einem sol-

chen Camp gewesen sein sollen, bei einer

ominösen Gruppe namens Islamische

Dschihad Union (IJU). Die IJU ist, glaubt

man den Sicherheitsbehörden, eine aus

Usbekistan nach Pakistan mäanderte Ter-

rortruppe im Dunstkreis von al-Qaida.

Es gehört seit dem 11. September 2001

zu den Merkmalen des Kampfes gegen

den Terror, dass viele Spuren in jener Ne-

belwand beginnen, die die

Welt der Geheimdienste um-

gibt. Dieser Nebel lichtet

sich auch in deutschen Ge-

richtssälen nicht, der Rechts-

staat muss damit leben, dass

mitunter zentrale Vorwür-

fe nicht bewiesen werden

können.

„Man weiß mittlerweile,

dass die Amerikaner fol-

tern“, sagt Selek, „wer kann

nachprüfen, was an solchen

Informationen stimmt und

was nicht?“ Und er beteu-

ert: „Ich war nie in einem

Ausbildungslager. Ich bin

nicht ,Muaz‘.“

In Langley, bei der CIA, und in Köln

und Stuttgart, beim deutschen Verfas-

sungsschutz, fügen sich die Puzzlestücke

kurz vor Weihnachten 2006 zu einem an-

deren Bild. Die Auswerter haben die Zei-

ten verglichen, in denen ein Unbekannter

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mit dem Pseudonym „Muaz“ E-Mails nach

Pakistan abschickte, mit den Momenten, in

denen Selek in Internet-Cafés surfte. Weil

die Zeiten passen, sind die Nachrichten-

dienstler überzeugt, den Richtigen gefun-

den zu haben. Mit der Identifizierung be-

ginnt ein Spiel, das um die halbe Welt

reicht, nach Pakistan, nach Usbekistan, in

die Türkei, nach Washington und schließ-

lich nach Frankfurt am Main, wo

am Silvesterabend ein Observa-

tionsteam des Verfassungsschutzes

Überstunden schieben muss.

Die Beamten haben den Auf-

trag, Selek und Gelowicz zu ver-

folgen. Sie beobachten, wie ein

junger Kurde namens Dana erst

Selek und dann, am Hauptbahn-

hof, Gelowicz aufsammelt. Gegen

21.30 Uhr folgen die Geheimen

dem Honda Accord, den Dana

steuert, bis nach Hanau, in den

Stadtteil Lamboy. Im Observa-

tionsprotokoll heißt es: Die Ver-

dächtigen „umfahren mehrfach,

dabei unter anderem auch im

Schritttempo, das dortige Gelände

der US-Armee. Dabei schauen sie

aufmerksam in das Innere der Lie-

genschaften. Sie interessieren sich

insbesondere für die Zu- und Ab-

fahrtsmöglichkeiten“.

In Washington, wo der Bericht

ebenfalls vorliegt, gilt höchster

Alarm. Bald hängt Gelowicz’ Kon-

terfei in den amerikanischen Ka-

sernen in Deutschland. In Ulm

sind die Observanten angewiesen,

Selek keine Sekunde aus den Au-

gen zu lassen. So kommt es am

2. Januar, zwei Tage nach der Sil-

vestertour, auf einer Ulmer Hauptver-

kehrsstraße zur offenen Konfrontation.

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Selek springt vor die Motorhaube eines

Autos der Verfassungsschützer, im Bericht

der Geheimen wird später als Uhrzeit 9.28

Uhr vermerkt, dazu folgender Dialog:

„Was wollt ihr von mir?“, ruft der junge

Mann.

„Warum springen Sie mir vor das Fahr-

zeug?“, erwidert der Beamte. „Sind Sie le-

bensmüde? Was soll ich von Ihnen wol-

len? Nichts!“

Das ist gelogen.

„Wenn ihr was von mir wollt, dann fragt

mich!“, sagt Selek erregt, ehe sich die Lage

entspannt.

Die Frage ist, was er in Hanau vor der

Kaserne wollte, in jener Silversternacht.

„So war es nicht“, sagt Selek nach ei-

ner Pause. „Es war keine Ausspähfahrt.“

Dana, ein Freund, den er Ende 2004 in

Mekka bei der Pilgerfahrt kennenlernte,

habe ihn und Gelowicz eingeladen, zum

muslimischen Opferfest. Am Nachmittag

des 31. Dezember hätten sich die drei in

Frankfurt getroffen und beim Afghani-

schen Kulturverein vorbeigeschaut, und

auf dem Weg seien sie spontan auf die Idee

gekommen zu schauen, „wie die Ameri-

kaner Silvester feiern, wir wollten das ein-

fach sehen, das Knallen und so“.

Es fällt schwer, Selek das Gegenteil zu

beweisen. Von einer „mutmaßlichen Er-

wägung“, dass die Kasernen „als An-

schlagsziele in Betracht kommen könn-

ten“, spricht die Bundesanwaltschaft; die

sprachlichen Verrenkungen lassen Rück-

schlüsse auf die Probleme bei der Beweis-

führung zu. Auch Dana, der Fahrer des

Autos, hat die Geschichte bei seiner Ver-

nehmung so wie Selek erzählt. Anderer-

seits muss schon viel passieren, damit drei

Islamisten in der Silvesternacht aufreizend

langsam an einer amerikanischen Kaserne

vorbeifahren, um ohne Hintergedanken

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den GIs beim Feiern zuzuschauen.

Nach der Silvesternacht spitzt sich die

Lage zu. „Sehr aggressiv im Ton“ und „ei-

ner Gewaltanwendung gegenüber den Ob-

servanten nicht abgeneigt“ sei Selek, wird

es später in den Verfassungsschutzproto-

kollen heißen. Er habe nur „mit Unterbre-

chungen unter Kontrolle gehalten“ wer-

den können, und manchmal, wie in einer

Winternacht im Januar, auch gar nicht.

Selek ist zu Fuß in Ulm unterwegs, es ist

schon dunkel draußen, der Verfassungs-

schutz ist da wie jeden Tag, wie ein Schat-

ten, der sich nicht abschütteln lässt – oder

doch? Der Deutschtürke macht abrupt

kehrt, er geht auf die Beamten zu und

zückt ein Taschenmesser, er bückt sich,

dann pfeift es vernehmlich: Selek hat in

den linken Vorderreifen gestochen.

Wer Selek auf den Zwischenfall anspricht,

erlebt einen unruhigen jungen Mann. Er

sei nicht gewalttätig, sagt er. „Ich habe ge-

dacht, wer folgt mir da, dann habe ich Angst

bekommen und wollte mich schützen.“

Um das zerrüttete Verhältnis von Attila

Selek und Fritz Gelowicz zum deutschen

Staat zu verstehen, hilft ein Blick zurück,

ins Jahr 2004. Selek sagt, damals habe er

begonnen, das Multikulturhaus zu besu-

chen, und dort habe er auch Gelo-

wicz kennengelernt, nach dem

Freitagsgebet. „Wir haben zusam-

mengesessen und Tee getrunken,

der Fritz war immer sehr hilfsbe-

reit und hat geschlichtet, wenn an-

dere gestritten haben.“

Wären die Islamisten in Süd-

deutschland eine Partei, dann wäre

das Multikulturhaus ihre Partei-

zentrale und ein Ägypter namens

Yehia Yousif zu dieser Zeit ihr Vor-

sitzender. Yousif ist Imam, Ideolo-

ge, Vordenker und für junge Leu-

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te wie Gelowicz und Selek eine

absolute Autoritätsperson. Er pre-

digt den Dschihad, und seine

Freunde aus dem Multikulturhaus

geben eine Zeitung heraus, die

„Denk mal islamisch“ heißt.

Attila ist damals 19, er hat eine

Lehre als Autolackierer gemacht

und verkauft nun Gebrauchtwa-

gen. Gelowicz ist 25 und studiert

an der Fachhochschule. Sie sind

Yousifs Fußsoldaten, sie verteilen

die Zeitung, „wir haben sie in den

Moscheen ausgelegt“, sagt Selek.

In einer der Ausgaben wird der da-

malige bayerische Innenminister

Günther Beckstein mit Joseph

Goebbels verglichen. Es ist ein

zähes Ringen zwischen Yousifs Leuten und

dem Staat, der eine eigene Ermittlungs-

gruppe gegen das Multikulturhaus einge-

setzt hat, die „EG Donau“.

Zu diesem Zeitpunkt sind Selek und Ge-

lowicz für die Polizisten nur Mitläufer, aber

am 11. Dezember 2004 geraten sie ins Vi-

sier des Staatsschutzes. Es ist ein un-

gemütlicher Samstag um ein Uhr morgens,

es schneit in Ulm, als ein Wachmann vor

dem Werkstor einer Firma zwei Männer

beobachtet, die ein Buch verbrennen.

Der Wachmann ruft die Polizei, die Be-

amten kontrollieren das Duo. In Seleks

Auto finden sie eine CD mit Texten über

den Dschihad, eine Lobpreisung Osama

Bin Ladens, Lehrmaterial von Yehia You-

sif und einen Karton voller „Denk mal is-

lamisch“- Ausgaben.

Die Beamten glauben, dass die beiden

Beweise vernichten wollen. Tage zuvor hat

die EG Donau mit Razzien begonnen.

„Unsinn“, sagt Selek. Weil Gelowicz eine

Fatwa gelesen habe, ein islamisches

Rechtsgutachten, nach dem Bücher mit

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dem Wort „Allah“ nicht einfach wegge-

worfen werden dürften, sondern nur ver-

brannt oder vergraben, hätten sie sich fürs

Verbrennen entschieden, „ganz offen, wir

hatten nichts zu verbergen“.

Ganz offen, nachts um eins? Und die

Zeitungen, die CDs?

Waren von Gelowicz, sagt Selek, und

Yousifs „Lehrmaterial“ hätten sie vertei-

len wollen, „ist das verboten?“

Nein, ist es nicht, und vielleicht war

es so, vielleicht ist diese Version aber

auch nur eine Geschichte aus Tausend-

undeiner Dezembernacht in Ulm, wo

manches merkwürdig ist, so merkwürdig,

dass die EG Donau Anfang 2005 eine

Großrazzia gegen das Multikulturhaus

startet.

Sie kommen auch zu Selek, der noch

bei seinen Eltern wohnt, aber Attila ist an

diesem Morgen nicht da, er ist noch vor

dem Morgengrauen nach Saudi-Arabien

aufgebrochen, zur Hadsch. Selek stammt

aus einer konservativen Familie, die Eltern

sind streng religiös, daheim gibt es eine

Gebetsecke mit Teppich. Attilas Mutter be-

gleitet ihren Sohn auf der Reise.

Anfang 2005 muss halb Ulm nach Mek-

ka gepilgert sein, auch Gelowicz ist los-

gezogen, mit einer Gruppe deutscher Kon-

vertiten. Zweimal treffen sich Attila und

Fritz in Mekka, sie tragen traditionel-

le weiße Tücher und reden viel über

den richtigen Glauben. Auch Dana ist da,

der später das Auto vor der Kaserne steu-

ert, und Adem Y., der nun als Mitver-

schwörer im Gefängnis sitzt. Es ist fast

eine Vollversammlung der jetzt Verdäch-

tigen.

Als Selek von den heiligen Stätten

zurückkehrt, wird er noch am Flughafen

verhaftet, die Polizisten fahren ihn in

Fußfesseln ins Gefängnis in Stadelheim.

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13 Tage behalten sie ihn, obwohl es nur

um Volksverhetzung geht. Später wird das

Verfahren eingestellt.

Vielleicht ist damals schon absehbar,

dass die Geschichte keinen guten Lauf neh-

men würde. Vieles spricht dafür, dass die

Weichen zu diesem Zeitpunkt bereits ge-

stellt sind, dass die jungen Radikalen aus

Deutschland nach ihrer Rückkehr aus

Mekka nur danach suchen, in die mysti-

sche Welt des Dschihad einzutauchen. Im

Sommer 2005 geht Gelowicz nach Damas-

kus, angeblich wegen eines Sprachkurses;

das Zeugnis einer Stiftung Scheich Ahmed

Kuftaru bescheinigt ihm, einen Kurs von

August 2005 bis Juni 2006 belegt zu ha-

ben. Kurz darauf fliegt auch Attila Selek

nach Damaskus, zu einem Vorbereitungs-

jahr für die Universität.

Heute meinen die Ermittler nachweisen

zu können, dass Gelowicz im März 2006

heimlich von Syrien nach Pakistan weiter-

reiste, zur Islamischen Dschihad Union,

angeblich mit einem Zweitpass, damit die

Visaeinträge nicht nachprüfbar sind. Das

Gleiche glauben sie von Selek, aber sie

können es nicht beweisen. Offenbar treffen

sich die beiden jungen Männer in Damas-

kus, ein- oder zweimal laut Selek.

Die Ermittler sind sich sicher, dass die

Auslandsaufenthalte ein Schlüssel zum

Verständnis dieses Falls sind. In Syrien und

in Pakistan habe die zweite Phase der Ra-

dikalisierung stattgefunden, jene Phase, in

der die Ablehnung westlicher Dekadenz

garniert wurde mit konkreten Ideen und

dem praktischen Rüstzeug. In Pakistan soll

die Gruppe auch Grundzüge des Plans dis-

kutiert haben, den Gelowicz und Co. spä-

ter umsetzen wollten und der Selek nun in

der Türkei zum Verdächtigen gemacht hat,

der überwacht wird, „obwohl ich nie in

Pakistan war“, wie er beteuert.

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Es ist kurz nach zwölf Uhr, als sich zwei

Männer in Lederjacke aus dem Schatten

des Einkaufszentrums in Konya lösen. „At-

tila Selek?“ Sie warten die Antwort nicht

ab, sie haken ihn von beiden Seiten aus

mit eisernem Griff unter. Aus dem Hinter-

grund fährt ein silbergrauer Renault Clio

vor, plötzlich stoßen von allen Seiten Poli-

zisten auf den Vorplatz, sie drücken Se-

leks Kopf hinunter und zwängen ihn auf

die Rückbank.

Seitdem ist Selek der vierte Häftling in

diesem Verfahren.

Mit den anderen drei Festgenommenen,

Fritz Gelowicz und seinen beiden Freun-

den Daniel S. und Adem Y., scheinen die

Dinge relativ klar. Die Bundesanwaltschaft

wirft ihnen Verbindungen zur IJU vor, aber

selbst wenn die Kontakte nach Pakistan

fraglich bleiben sollten, sind da immer

noch das Wasserstoffperoxid, die Militär-

zünder, die aufgezeichneten Gespräche im

Mietwagen, in denen sie von möglichst vie-

len toten Amerikanern sprechen.

Seleks Fall ist diffiziler. Die politischen

Biografien von ihm und Fritz gleichen sich

in weiten Teilen, im Januar dieses Jahres

haben die beiden sogar ein paar Tage zu-

sammengewohnt. Aber ihr Weg geht an ei-

nem wichtigen Punkt auseinander: als die

Vorbereitungen konkret wurden.

Selek sagt, er habe Gelowicz das letzte

Mal Ende Januar, Anfang Februar gese-

hen, bei dessen Hochzeit in einer türki-

schen Moschee an der Donau. Danach sei-

en sich die beiden nie wieder begegnet.

Attila Selek ist Anfang Februar nach

Konya gezogen, im Juni hat er dort eine

junge Türkin geheiratet und sich amtlich

angemeldet, er wollte ein neues Leben be-

ginnen. Selek behauptet, er habe nichts

von dem Anschlagsplan gewusst, „man

kann nicht abstreiten, dass es diese Che-

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mikalien und die Verhaftungen gibt, aber

man kann das nicht wissen“.

Vielleicht sagt er die Wahrheit. Vielleicht

wusste er aber auch von der Idee und hat

für sich nur eine andere Entscheidung ge-

troffen als Gelowicz, weil der Druck nach

jener Silvesternacht zu groß wurde für ei-

nen jungen Mann wie ihn. Möglicherweise

hat er seinem Freund Fritz noch einen Ge-

fallen getan oder auch zwei.

Die Bundesanwaltschaft glaubt inzwi-

schen nachweisen zu können, dass die Is-

lamisten in E-Mails zwischen Deutschland

und der Türkei codiert kommuniziert hät-

ten. So haben sie angeblich die Übergabe

der Zünder in Istanbul Ende August abge-

sprochen, einer der E-Mail-Schreiber soll

Selek gewesen sein. Selek bestreitet das:

„Ich hatte gar keinen Kontakt mehr zu Ge-

lowicz, die beiden anderen kenne ich über-

haupt nicht.“ Schon die angebliche Aus-

spähfahrt in Hanau lasse sich nicht bewei-

sen, kritisiert sein Anwalt Manfred Gnjidic:

„Jetzt werden wir erst mal sehen, ob die

neuen Belege ähnlich dünn sind.“

Es sind solche Detailfragen, die über die

Glaubwürdigkeit des Attila Selek ent-

scheiden werden; und darüber, ob er ein

Leben in Freiheit verbringen wird oder im

Gefängnis.

Bevor die Tür des Polizeiwagens zufällt,

ruft Selek noch: „Ich bin unschuldig!“

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1 D I PLOM AT I E

2 Angst vor dem Befreiten 3 Die Bundesregierung bereitet eine Initiative zur Freilassung des

4 Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz vor – doch die

5 Sicherheitsbehörden fürchten seine Rückkehr nach Bremen.

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Murat Kurnaz gilt in Camp Delta,

Guantanamo, als pflegeleichter

Häftling. Er sammelt nicht Urin

in staubigen Plastikflaschen, um ihn an-

schließend, wie andere Gefangene, über

seine Wärter zu gießen. Er beteiligt sich

offenbar nicht an dem tödlichen Hunger-

streik, den 84 der Inhaftierten zurzeit

führen und mit dem etwa der Bahreiner

Muslim Issa al-Murbati einen fairen Pro-

zess ertrotzen oder ansonsten sterben will.

Und einem Militärtribunal der US-Ar-

mee versicherte der Türke aus Bremen:

„Ich hasse Terroristen, ich habe hier mehrere

Jahre meines Lebens wegen Osama

Bin Laden verloren.“ Er wolle in Deutsch-

land freiwillig die Behörden über alles in-

formieren, „um zu zeigen, dass ich den

Terrorismus nicht unterstütze, und damit

ich ruhig schlafen kann“.

Das eilfertige Wohlverhalten hat Kurnaz

bislang wenig geholfen. Fast auf den Tag

genau vier Jahre sitzt der „Bremer Taliban“

nun schon in Guantanamo. Während

inzwischen fast alle anderen europäischen

Terrorverdächtigen in ihre Heimatländer

nach Großbritannien, Frankreich oder

Schweden expediert wurden, passierte bei

Kurnaz nichts.

Das könnte sich nun ändern. In einer

diskreten Initiative will sich die Bundes-

regierung derzeit gemeinsam mit der

Regierung am Bosporus für den Sohn türki-

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scher Einwanderer einsetzen, der zwar

einen türkischen Pass besitzt, aber in Nord-

deutschland geboren und aufgewachsen ist.

Vertraulich sondierte der deutsche Ge-

sandte kurz vor Weihnachten in Ankara,

wie offen die Türken für eine gemeinsame

Freilassungsinitiative seien. Der außenpoli-

tische Berater von Angela Merkel, Chris-

toph Heusgen, erklärte, die neue Regie-

rung werde sich „aus humanitären Grün-

den“ weiter für Kurnaz verwenden. Das

Auswärtige Amt bestätigt „Kontakte auf

diplomatischer Ebene“, will sich zu De-

tails aber nicht äußern. Türkische Beamte

ließen bereits durchblicken, womöglich

komme Kurnaz schon im März frei.

So viel Bewegung war nie. Die Türken

interessierten sich für Kurnaz bislang we-

nig bis gar nicht. Selbst als dessen Mutter

Rabiye im Frühjahr 2005, nach drei Jahren

ergebnislosem Tauziehen mit Botschaft

und Generalkonsulat, entnervt nach An-

kara fuhr und direkt bei einem Referenten

von Außenminister Abdullah Gül vor-

sprach, beschied sie der Beamte lediglich

unverbindlich, man kenne den Fall. „Wenn

die Deutschen sich nicht richtig einsetzen“,

klagt Rabiye Kurnaz, „bewegt sich bei den

Türken gar nichts.“

Ein ernsthaftes türkisches Engagement

ist der Schlüssel für eine mögliche Ent-

lassung des gelernten Schiffbauers, der ge-

rade 19 Jahre alt war, als ihn pakistanische

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Polizisten Ende November 2001 in Paki-

stan aus einem Reisebus zogen und den

Amerikanern übergaben. Wochen später

informierten die Amerikaner die deut-

schen Behörden und flogen Kurnaz

schließlich nach Guantanamo aus.

Seitdem steht die Administration in

Washington auf dem Standpunkt, Kurnaz

gehe die Deutschen nichts an – nur

die Türken seien „anfrageberechtigt“. Ob

nun Schröders außenpolitischer Chefbera-

ter Bernd Mützelburg seinen US-Kollegen

Stephen Hadley im Februar 2005 am Ran-

de des Bush-Besuchs in Mainz beiseite

nahm und sich für Kurnaz verwandte, ob

zwei Monate später der deutsche Bot-

schafter Wolfgang Ischinger es gar mit ei-

ner förmlichen Demarche versuchte oder

sich im Oktober 2005 der Völkerrechts-

beauftragte der Bundesregierung in Wa-

shington mit seinem amerikanischen Kol-

legen traf – es gab keine verbindliche

Antwort.

Listig hatten die Amerikaner den deut-

schen Sicherheitsbehörden stattdessen

Zugang zu dem „feindlichen Kämpfer“ of-

feriert, wie Kurnaz von der US-Armee

bezeichnet wird – allerdings nicht aus hu-

manitären Motiven, sondern nur um die

Front zur Terrorismusbekämpfung fester

zu schließen. Die deutschen Geheim-

dienstler, die Kurnaz zwei Tage vernah-

men, notierten auch dessen Klagen über

die Behandlung durch die Amerika-

ner, die den Häftling in schweren

Ketten vorführten. Später erzählte

der Einwanderersohn aus dem Bre-

mer Arbeiterviertel Hemelingen

auch, er sei gefoltert worden. Ein-

mal habe ein Militär ein Gewehr an

seinen Kopf gehalten und gedroht

abzudrücken, wenn er nicht zugebe,

ein Komplize des Todespiloten Mo-

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hammed Atta zu sein.

Seit der Vernehmung sind die

deutschen Geheimdienstler über-

zeugt davon, dass Kurnaz nur ein

relativ kleines Licht ist. Ganz förm-

lich teilten sie den amerikanischen

Behörden mit, „dass der Inhaftierte

keine Verbindungen zu einer al-

Qaida-Zelle in Deutschland hat“.

Gegenüber dem CIA-Chef in Berlin

wurde der BND noch deutlicher:

„Das ist doch ein harmloser Spin-

ner, lasst ihn raus.“

Grund für die andauernde Inhaf-

tierung ist offenbar ein bis heute als

geheim eingestuftes Memo in Kur-

az’ Akte mit dem Kürzel R-19. Ein

Militär schreibt darin, dass der Bre-

mer ein Qaida-Mitglied sei, Verbindungen

zu Terroristen in Deutschland besitze und

in Afghanistan gegen die US-Truppen habe

kämpfen wollen. Irritierend ist nur, dass

sich an anderer Stelle eine Einschätzung

der Guantanamo-Vernehmer findet, nach

der „kein Beweis vorliegt, dass der Häftling

mit al-Qaida in Verbindung steht“.

Neben solch offensichtlichen Wider-

sprüchen sind es wohl auch ganz pragma-

tische Gründe, die die Bundesregierung

nun zu dem erneuten Vorstoß motiviert

haben. Die Affären um die CIA-Flüge und

die Entführung des Deutschen Khaled el-

Masri durch die Amerikaner haben das In-

teresse an der Haltung der Merkel-Regie-

rung zu den US-Verstößen geweckt, eine

baldige Lösung des Falls Kurnaz würde ihr

wohl als politischer Erfolg angerechnet.

Gleichzeitig bedeutet ein aktuelles Urteil

des Verwaltungsgerichts Bremen, dass die

Deutschen es auch künftig mit dem Bre-

mer Taliban zu tun haben werden.

Die Richter kassierten Ende November

einen Entscheid der Bremer Ausländer-

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behörde, die dem jungen Türken das Auf-

enthaltsrecht aberkannt hatte – mit der

feinsinnigen Begründung, er habe sich län-

ger als sechs Monate außer Landes aufge-

halten und es damit versäumt, seine Auf-

enthaltsgenehmigung zu verlängern. Guan-

tanamo, rügten hingegen die Richter, sei

nicht selbstverschuldet, Kurnaz habe keine

Möglichkeit gehabt, sich zu melden.

Anders als die Diplomaten betrachten

die Ministerialen im Bundesinnenministe-

rium Kurnaz weniger als humanitäres denn

als Sicherheitsproblem. Als im Oktober

vergangenen Jahres wieder einmal Ge-

rüchte aufkamen, seine Freilassung stehe

unmittelbar bevor, wurden alle deutschen

Sicherheitsbehörden aufgefordert, Grün-

de zusammenzutragen, „die gegen eine

Einreise sprechen“.

Auf der Liste finden sich Details wie

Kurnaz’ Spleen, als Hintergrundbild für

sein Handy zeitweise das Wort „Taliban“

einzublenden, ebenso wie die Aussage

des Deutsch-Syrers Mohammed Haydar

Zammar.

Der in einem Verlies in Damaskus weg-

gesperrte Zammar, der auch die Todes-

piloten vom 11. September rekrutierte,

hatte bei seinen Vernehmungen erzählt,

er habe auch „zwei Türken aus Bremen“

über den Dschihad aufgeklärt und an

das Büro der Taliban verwiesen. Eine sei-

ner Personenbeschreibungen passt exakt

auf Kurnaz. Vermutlich basieren auf die-

sen bis heute geheimgehaltenen Aussagen

auch die Vorwürfe der

Amerikaner.

Jedenfalls erließ das Bun-

desinnenministerium bereits

im Mai 2004 eine Ein-

reisesperre nach dem

Schengener Abkommen,

die noch bis zum 11. Mai

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2007 gilt. Würde Kurnaz

tatsächlich freikommen und

über Ankara nach Deutsch-

land einreisen, müssten ihn

die Grenzschützer nach

derzeitigem Stand als „Ge-

fahr für die öffentliche Si-

cherheit und Ordnung“ an

der Passkontrolle zurück-

weisen und in das nächste

Flugzeug Richtung Bos-

porus setzen.

Mit der drakonischen Maßnahme wollen

die Sicherheitsbehörden auch ein Szenario

verhindern, vor dem ihnen am meisten

graut: ein heimgekehrter Murat Kurnaz,

der Bremen vielleicht als Mitläufer verließ,

auf Guantanamo dann aber richtig radika-

lisiert wurde – und nun als Märtyrer zu

einer PR- und Werbetour durch deutsche

Moscheen aufbricht.

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2 „Kaum verhüllte Drohung“ 3 Die Hochschulen kooperieren, offen oder versteckt, mit den Kirchen

4 und neuerdings auch mit den Muslimen. Wo aber der

5 Glaube anfangt, kann mit freier Wissenschaft schnell Schluss sein.

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Der Mann, den sie Verräter nennen,

wohnt in einer Doppelhaushälfte.

Roter Klinker, gepflegter Vorgar-

ten, ein gutbürgerlicher Stadtteil im west-

fälischen Münster. Die Adresse müsse er

geheim halten, rat ihm die Polizei, sein Le-

ben sei in Gefahr.

Langsam öffnet sich die Haustür, ein

blasser Mann mit Dreitagebart entschul-

digt sich. Er könne, leider, den Besuch

nicht hineinbitten. „Die Familie soll nicht

in die Sache hineingezogen werden“, sagt

er. Die Sache nämlich, von der Muham-

mad Sven Kalisch später in seinem Büro an

der Universität erzahlt, ist schon jetzt ein

Drama. Für ihn selbst, aber auch für den

deutschen Staat.

Auf dem Konferenztisch in seinem Büro

stehen weder Kaffee noch Gebäck. Er fas-

te, sagt der 42-Jährige, wie es die Rama-

dan- Regeln gebieten. Als Jugendlicher

konvertierte er zum Islam. Seitdem zählt er

sich zu den guten, rechtgläubigen Musli-

men. Kalisch ist einer ihrer bekanntesten

Köpfe hierzulande, als erster Universitäts-

professor durfte er Lehrer für den Islam-kunde-

Unterricht an deutschen Schulen

ausbilden. Als Wissenschaftler hat er es

aber auch gewagt zu zweifeln, dass Mo-

hammed tatsächlich gelebt hat.

Der Koordinationsrat, die Dachorgani-

sation deutscher Islam-Verbände, versagte

ihm deshalb die Unterstützung. In der ver-

gangenen Woche kündigte die Universität

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daraufhin an, einen anderen Professor ein-

zustellen. Kalisch darf an der Uni bleiben,

aber keine Islamkunde-Lehrer mehr aus-

bilden. Die Muslime sind seitdem besänf-

tigt, Kalisch aber ist vermutlich in Gefahr.

Der Staatsschutz sorgt sich um ihn.

Andere sorgen sich um die Freiheit in

diesem Land, denn der Fall Kalisch wirft

fundamentale Fragen auf. Was zählt die

Vernunft und was der Glaube? Wo endet

Wissenschaft, wo beginnt Religion? Nicht

weniger als die großen Fragen der

Menschheit also, aber damit nicht genug.

Weil die Wissenschaft in Deutschland vor

allem an staatlichen Hochschulen betrie-

ben wird, stellt ein solcher Konflikt auch

die Gretchenfrage an den Staat: Wie hältst

du’s mit der Religion?

Frankreich optiert für den Laizismus.

Der Staat will von den Kirchen nichts

wissen, Religionsunterricht an staatlichen

Schulen gibt es nicht. Deutschland hat ei-

nen Mittelweg gewählt und kooperiert mit

Katholiken, Protestanten, Juden und neu-

erdings auch Muslimen. Die Zusammen-

arbeit mit den islamischen Verbänden ist

noch ein vorsichtiger Versuch; verpflichtet

ist der Staat dazu nicht. Mit den christ-

lichen Kirchen aber, anerkannte Körper-

schaften des öffentlichen Rechts, gibt es

alte Verträge.

Staat und Kirchen haben beschlossen,

gemeinsame Sachen zu machen. Die Kir-

chensteuer etwa ist so eine res mixta, eine

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gemeinsame Angelegenheit, der Religi-

onsunterricht eine andere. „Ordentliches

Lehrfach“ soll er sein, so will es das Grund-

gesetz, der Staat möge aber bitte schön

weltanschauliche Neutralität wahren. Die

Bundesrepublik darf also den Kirchen

nicht reinreden, muss aber Religionsun-

terricht gewährleisten.

Aus diesem Dilemma helfen die theo-

logischen Fakultäten. Der Staat sorgt für

den Rahmen, die Kirchen für den Inhalt.

Diese Mischung aus Geld und Glaube ist

allerdings explosiv. Uni-Präsidenten und

Landesregierungen müssen hinnehmen,

dass die Bischofe an den Universitäten

mitregieren.

Wenn ein Professor an eine katholische

Fakultät berufen werden soll, braucht es

das „Nihil obstat“ des Bischofs: Es steht

nichts dagegen. Anschließend muss der

Professor aufpassen, nicht in Ungnade zu

fallen. Stößt sich der Bischof an Ansichten

oder auch nur dem Lebenswandel des Wis-

senschaftlers, kann er ihm die kirchliche

Lehrbefugnis entziehen. Unter den Ka-

tholiken traf es unter anderem Hans Küng,

Uta Ranke-Heinemann und Eugen Dre-

wermann, bei den Protestanten ist Gerd

Lüdemann der bekannteste Fall.

Der Göttinger Professor bezweifelte un-

ter anderem, dass Jesus leiblich auferstan-

den sei. Seinen Lehrstuhl für Neues Testa-

ment musste er daraufhin räumen. Nun

hat er einen Lehrstuhl für „Geschichte und

Literatur des frühen Christentums“ inne,

doch damit ist er keineswegs zufrieden.

„Die Freiheit der Forschung wird zuguns-

ten der Dogmatik mit Füßen getreten“,

sagt Lüdemann, „Glaubenswächter schrei-

ben vor, welche Ergebnisse tabu sind.“

Er scheiterte vor Verwaltungsgericht,

Oberverwaltungsgericht und Bundesver-

waltungsgericht. Seine Hoffnung setzt Lü-

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demann nun auf die letzte irdische Insti-

tution in Deutschland. Das Bundes-

verfassungsgericht hat angekündigt,

noch in diesem Jahr entscheiden zu

wollen.

In Bayern sind unterdessen schon

die nächsten kritischen Geister vor

Gericht gezogen. Sie greifen nicht

die theologischen Fakultäten an,

sondern eine weithin unbekannte

Kooperation im großen kirchlich-

staatlichen Komplex. Dem unbe-

darften Leser jedenfalls konnte

kaum auffallen, dass die Ausschrei-

bung der Professoren-Stelle für

Praktische Philosophie der Univer-

sität Erlangen-Nürnberg eine wichti-

ge Einschränkung enthielt. „Für die

Besetzung dieser Stelle gilt Art. 3 §

5 des Bayerischen Konkordats“, hieß

es nur.

Für die Besetzung dieser Stelle am

Institut für Philosophie gilt damit:

Zum Zuge kommen nur Bewerber

von Gnaden seiner Exzellenz. Der

Erzbischof von Bamberg, Ludwig

Schick, dessen Bistum sich nach Er-

langen und Nürnberg erstreckt, hat ein Ve-

torecht. Er darf widersprechen, wenn ihm

Bewerber „hinsichtlich ihres katholisch-

kirchlichen Standpunktes“ nicht passen.

Solche „Konkordatslehrstühle“ gibt es vor

allem in Bayern. Die katholische Kirche

hat sich die Mitsprache an rund 20 Lehr-

stühlen für Philosophie, Gesellschaftswis-

senschaften und Pädagogik gesichert.

„Selbst die Studierenden dieser Profes-

soren aber wissen oft gar nichts davon“,

kritisiert der Münchner Philosoph Alex-

ander von Pechmann. Er will den „Ana-

chronismus einer solchen Verquickung von

Wissenschaft und Religion“ nicht länger

hinnehmen. Gemeinsam mit sechs Kolle-

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gen – alle nicht katholisch – hat er beim

Verwaltungsgericht beantragt, das Beset-

zungsverfahren zu stoppen. Vermutlich im

Oktober will das Gericht über eine einst-

weilige Anordnung entscheiden.

Solcherlei Streitigkeiten den deutschen

Gerichten zu bescheren war bisher den

Christen und ihren Gegnern vorbehalten.

Der Fall Kalisch lasst nun ahnen, welche

Auseinandersetzungen um Islam-Unter-

richt dem Land bevorstehen könnten.

Der Sprecher des Koordinationsrats

der Muslime, Ali Kizilkaya, freut sich un-

gemein, dass ein Wissenschaftsminister

„erstmals den Willen der Muslime bei

der Besetzung des Lehrstuhls für Islam

berücksichtigt“ habe. Denn damit hätten

die Muslime, frohlockt Kizilkaya, „de

facto die gleichen Rechte bekommen wie

die Kirchen“. Die Verbände seien „einen

großen Schritt weitergekommen bei dem

Ziel, endlich als Religionsgemeinschaft an-

erkannt zu werden“.

Begeistert vom eigenen Erfolg fordert

Kizilkaya gleich noch mehr. Er will ein

„Mitspracherecht“, wenn an der Univer-

sität Münster ein neuer Professor berufen

wird. Wichtigste Qualifikation seiner Mei-

nung nach: Der Bewerber müsse sich „voll

und ganz zu den Grundprinzipien des Is-

lam bekennen“. Kizilkaya macht auch klar,

was er damit keinesfalls meint. Wissen-

schaftliches Arbeiten nach der historisch-

kritischen Methode könne er „nicht be-

fürworten“, Quellenkritik im Sinne der

Hermeneutik sei gleichfalls „ungeeignet

für den Islam“.

Die Politik stürzt er mit solchen Äußer-

ungen ins nächste Dilemma. Nordrhein-

Westfalens Wissenschaftsminister Andreas

Pinkwart (FDP), überzeugter Liberaler und

langjähriger Hochschullehrer, wirkt eini-

germaßen ratlos. „Es wäre höchst

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unklug, Lehrer auszubilden, die

wegen religiöser Vorbehalte später

an den Schulen von muslimischen

Eltern und Schülern boykottiert

werden“, sagt er. Deshalb müsse

der Staat auf die Muslime zugehen,

„aber nicht um den Preis der Auf-

gabe von Werten wie dem Grund-

recht der Freiheit von Wissenschaft,

Forschung und Lehre“.

Genau diesen Vorwurf der staat-

lichen Selbstaufgabe aber erheben

jetzt zahlreiche prominente Musli-

me, Wissenschaftler und Publizisten.

Der Koordinationsrat der Muslime

distanziere sich von der „ergebnis-

offenen Wissenschaft“ und lasse

damit „eine historische Chance

verstreichen, mit einem Hoffnungs-

träger die Zukunft des Islam und der

Gesellschaft in Deutschland insge-

samt mitzugestalten“. So steht es in

einer Solidaritätserklärung, die dem

SPIEGEL vorliegt.

Die Marburger Islamwissenschaft-

lerin Ursula Spuler-Stegemann hatte

bis Freitag mehr als 30 Unterzeich-

ner gewonnen, darunter bekannte

Persönlichkeiten: die Rechtsanwäl-

tin Seyran Ates, den Aleviten-Führer

Ali Ertan Toprak, den Hamburger

Imam Mehdi Razvi und den Göt-

tinger Arabisten und Islamwissen-

schaftler Tilman Nagel.

Sie alle loben, dass der „hervor-

ragende Wissenschaftler“ Kalisch die

fachlichen, didaktischen und metho-

dischen Voraussetzungen für islami-

schen Religionskundeunterricht in

Deutschland geschaffen habe. „Untrenn-

bar verbunden“ damit sei es, „provokante

Thesen“ zur Diskussion zu stellen. „Ka-

lisch hat den Auftrag der Universität, seine

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Studierenden zum Mitdenken statt zu

blindem Gehorsam auszubilden“, heißt es

in der Stellungnahme.

Muhammad Sven Kalisch selbst war es

durchaus bewusst, dass er provozieren

wurde. Er gibt offen zu, dass er eine Min-

derheitenmeinung vertritt. Er sagt sogar,

dass er sich in der Streitfrage „natürlich

auch irren“ könne. Irren mag menschlich

sein und in der Wissenschaft manchmal

unumgänglich. Für den Professor aber

könnte es tödlich enden.

Dass manche konservative Muslime jetzt

seinen ersten Vornamen Muhammad

wegließen und ihn nur noch Sven Kalisch

nannten, empfindet er als „kaum verhüll-

te Drohung“. Die Botschaft sei klar. „Ei-

nige betrachten mich nicht mehr als Mus-

lim“, sagt Kalisch.

Was das heißt, weis der Islamwissen-

schaftler besser als andere: „Für Konser-

vative verdient der, der vom Islam abfällt,

den Tod.“

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1 DIE WELT DER WANDERNDEN (II): 191 Millionen Migran- 4 „Gastarbeiter“, um sie später wieder nach Hause zu schicken,

2 ten leben auf der Erde, auch Deutschland ist ein Einwande- 5 doch die Hälfte blieb. Heute ist jeder fünfte Einwohner in

3 rungsland – wider Willen. In der Nachkriegszeit holte man 6 Deutschland ein Migrant oder stammt von Migranten ab.

7 Die Integrierten 8 Berliner Türken in Schwarz-Rot-Gold, an Autos von Migranten Deutschland-Fähnchen – nach

9 fünf Jahrzehnten Einwanderung richtet sich der Blick auf diejenigen Neubürger, die in

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Hülyas Mutter war sehr schön und ihr

Vater sehr argwöhnisch, wenn die

Mutter nur Brot holen ging – da-

heim in der Türkei –, blieb er hinter der Gar-

dine stehen, um zu sehen, ob sie mit frem-

den Männern sprach. Er wusste, Deutsch-

land würde voll fremder Männer sein, aber

er würde aufpassen, würde Geld verdienen

und mit ihr in die Heimat zurückkehren,

nach ein paar Jahren Almanya. So dachte

er. Aber dann wollten die Deutschen Hülyas

Vater nicht, sie wollten nur seine Frau.

Hülya Kandemir, eine schmale Gestalt

unter weißem Kopftuch in einer stillen Ecke

des Münchner Westparks, schaukelt ihr

Baby und denkt an ihre Eltern, 1973 ka-

men sie nach Deutschland, einfach war es

nicht. Deutschland war streng. Man musste

Tests bestehen, um den Anwerbern zu

genügen, sie wollten starke, gesunde Ar-

beiter, Hülyas Vater war nicht stark. Er hat-

te es mit der Lunge, also musste er ertra-

gen, dass Hülyas Mutter unglücklich ohne

ihn aufbrach. Ein Transport nahm sie mit zu

einer Porzellanfabrik im Oberpfälzer Wald.

Hülyas Mutter ließ ihren Mann und fünf

Kinder zurück und zog in ein Land, dessen

Sprache sie nicht sprach, aber was „Fami-

liennachzug“ bedeutet, lernte sie schnell.

Sie holte ihren Mann zu sich und die Kin-

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der, aber niemand dachte damals: Das ist

für immer. Wir bleiben.

Sie sind geblieben, so wie Millionen von

Migranten geblieben sind, in einem Ein-

wanderungsland, das nichts davon wissen

wollte, dass es eines war. Und das sich heu-

te erst dieser Erkenntnis stellt.

Jetzt wehen deutsche Fahnen gemein-

sam mit türkischen in Berlin-Kreuzberg,

jubeln Deutschtürken über die deutsche

Fußball-Nationalmannschaft, schmücken

sich Kölner Fans mit Togo-Perücken, jetzt

könnte man meinen: Es gibt sie, die Inte-

gration, sie funktioniert.

Aber eben erst hat die Pisa-Untersu-

chung ergeben, wie dramatisch schlecht

Migrantenkinder in der Schule abschnei-

den, eben erst hat der Skandal um die Rüt-

li-Schule mit ihren 83,2 Prozent Migran-

tenkindern, mit prügelnden Schülern, mit

terrorisierten Lehrern eine Wirklichkeit

grell beleuchtet, die in der Feierlaune nicht

sichtbar bleibt.

Während manche niemals heimisch wer-

den – warum lassen sich andere auf diese

Gesellschaft ein? Was muss geschehen sein

in ihrem Leben? Es lohnt sich, die Biogra-

fien derer zu betrachten, die angekommen

sind in der Mitte der Gesellschaft, wie Hü-

lya Kandemir, Saliha Scheinhardt,

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Aytaç Eryilmaz, Oktay Özdemir, Einwanderer

der ersten, der zwei-

ten, der dritten Generation.

Menschen „mit Migrationshin-

tergrund“, so heißt das Wort, das

man jetzt erfunden hat, das sind 15

von 82 Millionen Einwohnern, je-

der Fünfte ist nach Deutschland

eingewandert oder stammt von Ein-

wanderern ab. Rund acht Prozent

derer, die hier leben, haben keinen

deutschen Pass. Deutschland ist ein

Einwanderungsland, das sagen die

Zahlen schon lange.

Aber sie wollten das nicht, die

deutschen Regierungsvertreter, die

im Dezember 1955 mit den Italie-

nern den ersten Anwerbevertrag

unterschrieben. Sie wollten nicht

Einwanderer, sondern Arbeitskraft,

bedarfsgerecht akquiriert und be-

fristet, für die boomende Nach-kriegsökonomie.

Die Fremden wa-

ren willkommen, aber nicht sehr.

Niemand sprach von Integration,

als die „Gastarbeiter“ aus dem Sü-

den kamen, aus Griechenland, Spa-

nien, Portugal, Tunesien, Jugosla-

wien, aus der Türkei.

Das Versprechen war nicht wie

in Amerika: Komm, und versuch

dein Glück zu machen. Das Ver-

sprechen war: Komm, und schufte

eine Weile, und verschwinde.

Fremdheit ist relativ und verän-

derbar, das war immer schon so,

kommt eine neue Gruppe von Migranten,

dann steigen die Vorgänger in der sozialen

Achtung auf. Ohnehin hatten es Italiener

leichter als die Türken, die ihnen folgten.

Italien, so brachten es die Deutschen ihren

Schulkindern bei, war immerhin das Land

von Michelangelo und Leonardo da Vinci,

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von Cicero, Dante und dem Papst.

Die Türken aber – das Willkommen war

noch kühler als bei den Italienern, meis-

tens jedenfalls. Man holte sie, ab 1961,

weil nach dem Bau der Berliner Mauer

der Zuzug aus dem Osten fehlte. Man

wusste wenig über die Menschen mit den

vielen Ö und Ü im Namen, und außerdem

hatten sie noch ihre fremde Religion, den

Islam.

Familie Kandemir, in der Oberpfalz, war

gemäßigt religiös, Hülyas Mutter kochte

streng muslimisch, aber das Kopftuch trug

sie nicht. Hülya, 1975 als erstes Kind in

Deutschland geboren, war das sechste von

zehn. Die Großen hatten auf die Kleinen

zu achten und bald von der Schule zu ge-

hen, um Geld zu verdienen, so war es, sagt

Hülya, das „System Kandemir“. Sie hat es

geliebt und verlassen und dann wieder ver-

misst, dieses System.

Anfangs wohnten noch Deutsche mit in

ihrer grauen Straße in Fabriknähe, später

nicht mehr. Deutsch sprechen war nicht

nötig, auch in der Firma nicht, dass die Ar-

beiter es könnten, erwartete keiner, und

Hülyas Eltern kümmerten sich nicht dar-

um. Deutschland war ein Land, das Kaf-

feemaschinen und Autos und Geld für ein

Häuschen in der Heimat versprach, und

gute Ärzte, die Hülyas Vater vielleicht ret-

ten würden.

Fremder Ort, fremde Sprache, fremde

Arbeit – ein Migrant muss erfühlen, wie

das soziale Miteinander im neuen Land

funktioniert. Muss sich selbst permanent in

Frage stellen: Wie weit kann ich, wie weit

soll ich mich anpassen?

Der scheinbar leichtere Weg heißt:

Ich muss es nicht. Ich werde mein Leben,

das wahre Leben, auf später verschieben.

Wir werden Fabriken gründen in Anato-

lien, das war so ein Sechziger-Jahre-

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Migrantentraum. Man schuftet und ist

abends zu kaputt für den Deutschkurs,

man sucht nicht den Aufstieg, sondern

Überstunden und Sonderschicht. Der Auf-

stieg wird dann später in der Heimat, so

hofft man, die Sache der Kinder und

Kindeskinder sein.

„Du holst uns aus dem Schlamm“,

das bekam das Mädchen Saliha von sei-

nem Vater zu hören, ein Versprechen, aber

auch eine Bürde besonderer Art. Saliha

Scheinhardt, 1950 im anatolischen Konya

geboren, ist eine dunkle, sehr lebendige

Frau auf einem Podium im Hamburger Li-

teraturhaus, Schriftstellerin, Kind

einer streng religiösen Mutter, die

der Tochter die Schulsachen ver-

steckte, weil sie keine andere Lek-

türe dulden wollte als den Koran.

Und eines Vaters, der auch die

Töchter zur Schule schickte, was

nicht üblich war, und der Saliha so-

gar erlaubte, aufs Gymnasium zu

gehen.

Nachmittags führte Saliha Tou-

risten durch die Altertümer von

Konya, und so traf sie auf diesen

Jungen aus Deutschland, Hartwig

Scheinhardt aus Bremen, Theolo-giestudent.

Es gab keine Küsse,

aber Reden und Spazierengehen,

und als er zurückfuhr, schickte er

Briefe in immer besser werdendem

Türkisch, und manchmal, wenn er

es sich leisten konnte, schickte er 20

Mark. Für einen Sack Holzkohle.

Ein großer Tag.

Du wirst uns aus dem Schlamm

holen, sagte der Vater, mach es, ler-

ne. Du kannst auch in Deutschland

zur Schule gehen, wir werden hei-

raten, sagte Hartwig. Er muss Mus-

lim werden, sagte Salihas Mutter,

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und Saliha, lange nicht so religiös

wie ihre Mutter und später gar

nicht mehr, bat ihn, sich darauf ein-

zulassen, und das tat er, formell zu-

mindest, damit die Mutter zufrieden

war. So kam Saliha mit 17 nach

Bremen, Mitte Oktober 1967, im

Regen, im selbstgenähten Sommer-

kleid, was für ein Himmel, dachte sie, was

für ein Land.

Es war ein Land, das Bildung und Frei-

heit versprach, so sah es Saliha, und der

Weg in die Freiheit führte über die Fabrik.

Sie nähte Unterhosen, verdiente 220 Mark

im Monat, ein Drittel davon zum Leben,

ein Drittel zum Heimschicken, ein Drittel

zum Sparen, für die Hochzeit und für spä-

ter, sie war sicher, eines Tages würde sie

studieren.

Sie sah Deutschland von unten und be-

obachtete genau, auch Unterwürfigkeit

manchmal, „wenn der Vorarbeiter schimpft

mit Hans und Heinz, die ihm widerspre-

chen, aber er zu Ahmet sagt: Du bist ein

guter Junge. Ahmet macht alles recht“.

Nicht ohne Grund waren es ja die Ge-

werkschaften, die sich am meisten um die

Eingliederung der Neuen bemühten. Sie

setzten durch, dass diese arbeits-, tarif- und

rentenrechtlich gleichgestellt wurden –

schon aus Angst um den eigenen Lohn.

Es kam die Zeit, da auch unter den Mi-

granten in den Fabriken die Unruhe wuchs,

zwei Arten von Unruhe eigentlich: Die ei-

nen forderten Gebetsräume und Gebets-

pausen. Die anderen forderten besseren

Lohn. Gebetsräume – ein Wunsch, der gern

erfüllt wurde in den siebziger Jahren. Gab

die Fabrikleitung nach, dann war Ruhe.

Die anderen, die mit den gewerkschaft-

lichen Forderungen, sorgten für Aufsehen

in der Republik, mit den „Türkenstreiks“

in den frühen Siebzigern – Arbeitskämpfe

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mit Migranten in vorderster Front.

Vielleicht spielten die „Türkenstreiks“

tatsächlich eine Rolle, vielleicht war es

auch eher die düstere Gesamtwirtschafts-

lage – 1973 jedenfalls erging der Anwerbe-

stopp, der nur noch Arbeitsmigranten aus

EU-Ländern ins Land ließ, also Italiener,

Griechen, Spanier, Portugiesen, aber keine

Türken mehr. Der Stopp sollte die Zahl

der Türken im Land verringern, doch er

sorgte für das Gegenteil. Es könnte die

letzte Chance sein, dachten viele, und hol-

ten ihre Kinder aus der Heimat nach.

Längst waren Wohnviertel entstanden,

in denen die Zugereisten unter sich blie-

ben, Berlin-Kreuzberg, Duisburg-Marxloh,

Hamburg-Wilhelmsburg, weil dort die bil-

ligen Wohnungen waren und die Wärme,

aber auch der Druck der engen Nachbar-

schaft. Der deutsche Städtetag warnte

schon 1974, die katholische Kirche sah eine

„Generation ohne Hoffnung“ heranwach-

sen. Das Bundesarbeitsministerium sah ein

„Subproletariat“ entstehen.

Es gab jene, die die Fremden nicht

schnell genug loswerden konnten, im kon-

servativen und rechten Spektrum vor al-

lem. Und jene anderen, eher bei Linken

und Grünen zu finden, die Zuwanderer als

Bündnispartner verstanden gegen deut-

schen Nationalismus und deutschen Mief.

Integration war nicht so wichtig. Irgend-

wann würde sie sich ergeben. Forderun-

gen stellen? Wieso?

Saliha, auf ihre Hochzeit sparend, hatte

eine Schwiegermutter, bei der sie leben

konnte, eine Pastorenwitwe, die ihr Weih-

nachten und die „Brandenburgischen Kon-

zerte“ nahebrachte und Deutsch mit ihr

sprach.

Deutsch für das Studium, Deutsch für

die Schule in der norddeutschen Provinz,

an der Saliha Scheinhardt später unter-

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richtet hat, auf Deutsch formulierte sie ihre

Texte, als sie den Beruf wieder aufgegeben

hatte. Sie hatte den Eindruck, dass man

sie nicht ernst nahm in ihrer Arbeit, also

schrieb sie nun.

Schrieb über Dinge, die Wirklichkeit wa-

ren, sie wusste um die Gewalttradition, die

archaisch-patriarchalischen Machtstruktu-

ren in Teilen der Einwanderergesellschaft,

wusste um Zwangsehen, Familiengewalt,

um die Unterdrückung türkischer Frauen.

Als eine der Ersten hat sie davon erzählt.

„Frauen, die sterben, ohne dass sie ge-

lebt hätten“ heißt ihr erstes Buch, erschie-

nen im Jahr 1983. Es basiert auf der wah-

ren Geschichte eines jener Mädchen, die

zum Heiraten nach Deutschland geholt

werden, weil sie kein Deutsch sprechen

und sich nicht wehren können. Es ist die

Geschichte einer Importbraut, die der Ge-

walt ihres Mannes unterworfen ist, keine

Lösung mehr sieht, als ihn umzubringen,

und ausgerechnet im Gefängnis zum ersten

Mal so etwas wie Freiheit erfährt. Als „Ab-

schied vom falschen Paradies“ kam es in

die Kinos, von den Feuilletons wahrge-

nommen, nicht aber von der Politik. Der

gesellschaftliche Mainstream interessierte

sich nicht sehr für diese Dinge, hielt sie

für innertürkische Probleme, die ver-

schwinden würden, wenn die Türken ge-

hen. Doch das taten sie nicht.

Rund 50 Prozent derer, die als „Gast-

arbeiter“ kamen, sind über die Jahre in

ihre Länder zurückgekehrt, die andere

Hälfte blieb. Die Träume von Fabriken in

Anatolien waren gescheitert an Unwissen,

Bürokratie oder Korruption. Dafür stieg

die Zahl der Bausparverträge in Deutsch-

land, der deutsch-türkischen Unterneh-

men, der deutsch-türkischen Gymnasias-

ten, eine deutsch-türkische Mittelschicht

entstand. Und andererseits eine Unter-

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schicht, deren Lage sich in den achtziger

Jahren verschärfte, weil bei Krupp, bei

Thyssen, in den Kohlezechen die Arbeits-plätze

verschwanden – dort, wo früher ein

Einwanderer meist seine Arbeit fand.

Die Töne wurden schärfer, es schlug die

Stunde der Demagogie. Ein „Heidelber-

ger Manifest“ rechtsgesinnter Wissen-

schaftler stellte sich „gegen die Unterwan-

derung des deutschen Volkes durch Aus-

länder, gegen die Überfremdung unserer

Sprache, unserer Kultur und unseres Volks-

tums“. Mit dem Slogan „Deutschland den

Deutschen“ zog die NPD durch die Repu-

blik. Und der Hass hatte ein neues Ziel:

Asylbewerber, deren Anzahl von etwa

100 000 im Jahr 1980 auf fast doppelt so

viele im Jahr 1990 stieg.

Asylbewerber waren jetzt nicht mehr,

wie zur Zeit des Kalten Krieges, die

Schutzbedürftigen auf der Flucht vor ei-

nem unmenschlichen sozialistischen Sys-

tem. Sie waren Flüchtlinge aus aller Welt,

und die Anerkennungsquote sank, 80

Prozent waren es in den siebziger Jahren,

Anfang der Neunziger nur noch 2 bis 3

Prozent. Den anderen gelang es nicht, dem

deutschen Staat zu beweisen, dass sie nicht

vor ortsüblichem Elend geflüchtet waren,

sondern eindeutig vor persönlicher, gegen

sie gerichteter staatlicher Gewalt. Wer

Glück hatte, durfte trotzdem bleiben, ge-

duldet, auf Zeit.

Aytaç Eryilmaz, 1952 im türkischen

Zonguldak geboren, war Drucker und Ver-

leger. Er saß nach dem Militärputsch von

1971 mehrere Monate im Gefängnis und

nach dem von 1980 wieder, weil er die

falschen Bücher herausbrachte. Es wurde

ihm verboten, künftig Bücher zu verlegen,

man drohte ihm mit Haft. 1985 ging er nach

Deutschland, seine Tochter, die er mit-

brachte, war damals drei.

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Aytaç Eryilmaz kam als politischer

Flüchtling und durfte bleiben und tat es

ungern, zweieinhalb Jahre lang, war hier

nicht zu Hause und in der Heimat nicht

mehr. Man trifft ihn im „Domit“, dem

Kölner „Dokumentationszentrum für

Migration“, aus dem ein Museum werden

soll, das hofft er jedenfalls. Er sammelt,

Koffer, Schallplatten, Fotos, Emigrations-

geschichten, es gibt gute Nachrichten zu

registrieren und schlechte, zu den gu-

ten Nachrichten gehören 137000 türkisch-,

griechisch-, italienisch-deutsche Unter-

nehmen mit 600 000 Arbeitsplätzen, ge-

hören erhebliche Beiträge in die Steuer-,

die Sozialversicherungs-, die Renten-

kassen. Zu den schlechten gehört, dass

Ausländer doppelt so häufig arbeitslos

sind wie Deutsche, dass gerade bei jun-

gen Ausländern der Anteil derer ohne

Berufsausbildung so stark wächst wie

nie zuvor.

Aytaç Eryilmaz ist keiner dieser jungen

Männer mehr, er ließ ein halbes Leben und

einen Beruf hinter sich, in der Türkei,

wenn er an seine erste Exilzeit denkt,

denkt er an ein Gedicht von Brecht:

Schlage keinen Nagel in die Wand

Wirf den Rock auf den Stuhl.

Warum vorsorgen für vier Tage?

Du kehrst morgen zurück.

Er beschloss, nach diesen zweieinhalb

Jahren, dass er bleiben würde, weil er es

anders nicht ertrug. Andere Exilanten, die

er kannte, konnten sich nicht entscheiden.

Also gingen sie an dieser doppelten Exis-

tenz kaputt.

Um sich entscheiden zu können für das

Bleiben, braucht es eine Aufenthaltser-

laubnis oder -berechtigung oder bewilligung

oder -befugnis oder was auch immer,

und je größer die Sicherheit ist, die dieses

Papier verspricht, desto leichter fällt dem

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Exilanten sein Entschluss.

Die Zeiten aber waren nicht danach,

an den Flüchtlingen, den Asylbewerbern

entzündete sich der Streit: Wer darf hier

leben? Wie darf er hier leben? Wer wird

geduldet im Land? „Offene Grenzen für

alle“, verlangten die einen, im naiven

Glauben an das Unmögliche. „Ausländer

raus“, kam von der anderen Seite das

Gebrüll.

Das Asylrecht wurde 1993 überarbeitet,

wer über einen „sicheren Drittstaat“ ein-

reist, und das sind alle Nachbarstaaten

Deutschlands, muss dorthin wieder zu-

rück. Sammellager wurden eingerichtet,

auch zur Abschreckung, und natürlich ver-

schärfte die Zusammenballung die Kon-

flikte, aber die Anzahl der Fremden, das

zeigt das Beispiel Ostdeutschlands, muss

nicht unbedingt ausschlaggebend für den

Fremdenhass sein. Es gab ja nur wenige

Ausländer in der DDR, nur knapp 200 000,

einen Ausländeranteil von etwa einem

Prozent. Und der wuchs auch kaum nach

der Wende. Aber es wuchs, im Osten wie

im Westen, eine blinde Wut.

Im September 1991 vertrieb ein rasender

Mob eine Gruppe von Vietnamesen und

Mosambikanern aus einer Vorstadtsiedlung

im sächsischen Hoyerswerda. Nur mit sehr

viel Glück überlebten im August 1992 rund

hundert Vertragsarbeiter, der Ausländer-

beauftragte der Stadt Rostock und ein Ka-

merateam des ZDF ein Pogrom in einem

Wohnblock von Rostock-Lichtenhagen. Im

November 1992 starben drei türkische

Frauen bei einem Brandanschlag in Mölln.

In Solingen, im Mai 1993, waren es drei

türkische Kinder und zwei Frauen.

Aytaç Eryilmaz, ein eher gelassener

Mensch, atmet mühsam, spricht er von je-nen

Monaten, als Brandgeruch über der

Republik lag, als nachts und auch tagsüber

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Angst hatte, wer im Erdgeschoss wohnte

und ausländisch aussah, als er seine Toch-

ter jeden Tag zum Gymnasium brachte und

wieder abholte, sie sieht nicht türkisch aus,

man sieht es ihr nicht an mit ihren hellen

Haaren, aber ihren Namen hat sie natür-

lich, und wer den kennt – er schweigt.

Wer damals Kind war, sagt er dann –

den müsse das geprägt haben. Es gehört

nicht viel Phantasie dazu, in solchen Mo-

menten zu denken, als dunkelhaariges,

vielleicht dunkelhäutiges Kind: Sie wollen

uns nicht. Wir sollen raus.

Das war die Zeit, als sich die Abschottung

verstärkte, der Rückzug in eigene Welten.

Es wuchs die Bedeutung des Islam,

der Einfluss der Fundamentalisten,

in Deutschland und weltweit. Der

Druck nahm zu in den Ausländer-

vierteln, jener Druck, der dazu

führt, dass sich Mädchen plötzlich

vom Schwimmunterricht befreien

lassen und mit Kopftuch erscheinen

und sagen, dass sie das alles freiwil-

lig tun. Oder dass sie aus der Schu-

le verschwinden, bevor sie zu viel

lernen, dass sie nach Hause ge-

schickt und verheiratet werden, in

der Türkei. Aus den fundamentalis-

tischen Moscheen kommt dieser

Druck, als Aufforderung zur Ab-

kehr von der westlichen Welt.

Gut eine Million ausländische

Schüler besuchen heute deutsche

Schulen, knapp die Hälfte davon

junge Türken, und die Hälfte be-

kommt nur einen niedrigen Ab-

schluss oder gar keinen, unter den

Deutschen sind es nur 15 Prozent.

Und, das ist die bitterste Erkennt-

nis: Die hier geborenen sind nicht

besser, sondern schlechter als die

Generation davor. Der Marsch in

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die höheren Schulen – er wurde

gestoppt. Es wird weniger und

schlechter Deutsch gesprochen als

früher, jeder vierte Schüler spricht

es zu Hause nicht.

Viele Eltern kümmern sich nicht

um die Schulkarriere ihrer Kinder,

sie können sich nicht kümmern, wegen

Sprachproblemen, oder interessieren sich

nicht dafür oder hintertreiben sie sogar.

Fundamentalistische Muslime wollen ja

nicht, dass ihre Söhne und Töchter als Teil

dieser Gesellschaft leben. Für sie zählen

deren Werte nicht.

In der Kriminalität, noch immer, sind

Ausländer führend unter den Tatverdäch-

tigen, was auch daran liegt, dass junge

Männer die kriminellste Gruppe sind und

es unter Ausländern überproportional

viele junge Männer gibt. Vor allem bei

Gewaltdelikten liegen junge Migranten

vorn, bei einer Studie, 2005, gaben doppelt

so viele junge Türken wie Deutsche an,

im Vorjahr gewalttätig geworden zu sein.

Wenn geprügelt wird in der Schule, das

sagt eine Kriminologenstudie, dann sind

in jedem vierten Fall junge Türken die

Täter, ihr Anteil an den Schulkindern aber

liegt nur bei neun Prozent. Oft geben sie

dabei die Gewalt weiter, die sie zu Hau-

se erfahren. Viermal so häufig wie Deut-

sche haben sie zu Hause prügelnde Väter

erlebt.

Die Rütli-Schule ist keine Ausnahme.

Sie ist Normalität.

„Es gibt zu wenig Integration“, sagt ei-

ner, der neuerdings öfter zu solchen Din-

gen seine Meinung sagen soll, Oktay Öz-

demir, 19 Jahre alt, Schauspieler in Detlev

Bucks Berlin-Film „Knallhart“. Und Oktay,

der darin sehr glaubhaft einen Neuköllner

Kleingangster spielt, wird plötzlich von den

einen als Fachkraft für Integrationsfragen

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gehandelt und von anderen als Ausländer-

verräter beschimpft.

Oktay Özdemir, dunkler Pferde-

schwanz, selbstgewisses Lächeln, rührt in

seiner Tasse in einem Kreuzberger Stra-

ßencafé, Jungs aus dem Viertel schlendern

lässig vorbei, man grüßt lässig, das ist

sein Territorium, hier ist er groß gewor-

den, dritte Einwanderer-Generation, der

Opa kam 1965 aus der Türkei. Oktays Mut-

ter folgte in den Siebzigern, mit 12, hat

fünf Kinder erzogen, „gut erzogen“, sagt

Oktay, auch ihn, obwohl er ein schwieriger

Bursche war.

Oktay, Schauspieler, 19 Jahre alt, blickt

auf sich selbst zurück, wie er mit 13, 14

war, „delikanli“ heißt das auf Türkisch und

meint diese Halbwüchsigen, die nicht zu

kontrollieren sind, „verrücktes Blut“, so

sagt man. So war er auch.

Viele sind so, und bei vielen geht es

schief. Die Halbwüchsigen, die Gewalt als

Normalität erfahren, zu Hause, in der

Gang. Die 13-Jährigen mit Drogen in der

Tasche, die ihre Vorbilder in der ganz har-

ten Szene suchen, natürlich gibt es diese

Vorbilder im Kiez. Ghetto-Deutsch, das

ist ihre Sprache. Ghetto-Stolz, das ist die

Haltung, auf der Straße, in der Schule,

was wollt ihr, wir sind anders, und härter

als ihr allemal, und wir halten zusammen,

gegen euch.

Hätte schiefgehen können, auch

bei ihm. Dass das nicht passierte,

liegt wohl daran, dass er etwas zu

tun fand, an einen Kinderzirkus

geriet, einen ernsthaften, er war da-

mals acht. Ihm gefiel es, nach der

Schule den Körper zu quälen mit

Akrobatik, und dass er dort für den

Film entdeckt wurde, für „König

der Diebe“, gefiel ihm noch mehr.

Jetzt redet er flüssig über Erzie-

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hung und dass die Kinder wieder

Respekt lernen müssten, sagt er

vor Lehrern und Eltern, und wenn

die Eltern das nicht schaffen, viel-

leicht fiele deutsch-türkischen Leh-

rern etwas dazu ein? So wie in

Kreuzberg, sagt er, sollen seine

Kinder eigentlich nicht leben. „Ich

bin in Kreuzberg zu Hause, aber ir-

gendwann will ich anders leben,

nicht mehr so modern.“

Oktay Özdemir, 19 Jahre alt,

träumt sich eine schöne Welt für

Familien zusammen, mit Natur

und so, nicht wie im Ghetto, er ist

ja selbst Vater, seit zwei Jahren, er

sagt, er sei es gern.

Kann sein, dass er für die Kleinen

in Kreuzberg ein Beweis ist, dass

man es schaffen kann, draußen.

Wäre das so, er wäre stolz.

Es gibt diejenigen, die den Weg

in die deutsche Gesellschaft suchen

und finden, als Vorbilder, als Jura-

studentin, Schauspieler, HipHop-Star. Und

es gibt diejenigen, die den Weg in die an-

dere Richtung wählen, Menschen wie Hü-

lya Kandemir, die mittendrin war und dort

nicht bleiben wollte, Hülya, mit ihrem selt-

samen Weg zwischen Popmusik und Islam.

Hülya Kandemir, sechstes von zehn Kin-

dern, ertrotzte sich den Besuch des Gym-

nasiums, obwohl ein Kandemir-Kind sonst

höchstens auf die Realschule ging. Sie hat-te

evangelische Freunde, wurde Müsli-

Mädchen und machte sich Sorgen um die

Dritte Welt. Wurde Schulsprecherin und

richtig gut am Schwebebalken, und manch-

mal trank sie sogar ein Glas Sekt.

Sie war genau so integriert, wie es sich

deutsche Politiker jetzt wünschen, aber das

ist vorbei.

„Himmelstochter“ nennt sie sich in ihrer

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Autobiografie, die vergangenen Herbst er-

schien, „Mein Weg vom Popstar zu Allah“

heißt der Untertitel, und Hülya sitzt an ei-

nem heißen Tag im Westpark, den Engli-

schen Garten mag sie nicht, zu viel Halb-

nackte dort, zu viel Bier. Sie trägt ihr lan-

ges, grünes Gewand, grün wie die Farbe

des Islam, und das weiße Kopftuch dazu,

sie schaukelt Hamza, ihren Sohn.

Mit 18 ist sie zu Hause ausgezogen, was

ein türkisches Mädchen normalerweise

nicht tut, sie machte Musik und hatte Erfolg,

im Raum München jedenfalls. Aber sie hat-

te auch einen ältesten Bruder, Mesut, der re-

ligiös war, viel strenger religiös als Hülyas

Eltern. Der sich mit Mutter und Vater über

den Glauben stritt. Der in der Türkei, beim

Urlaub, mit Handtüchern herumlief, um die

bikinitragenden Schwestern zu bedecken,

Hülyas großer Bruder, der noch wichtiger

wurde, als der Vater früh verstarb. Ohne

Mesut wäre sie sicher nie auf dieses Som-

merlager für islamische Mädchen gegangen,

mit 15, wo man fünfmal am Tag betete und

selbstverständlich das Kopftuch trug. Ein

Sommer, der Spuren hinterließ.

Sie war Musikerin mit Rasta-Locken und

Gitarre und führte ein westliches Leben,

aber Mesut mahnte, und sie hörte zu. Sie

begann zu beten, nach den Regeln des Is-

lam, zum Beten setzte sie das Kopftuch

auf. Und schließlich den ganzen Tag.

Einen Imam fragte sie um Rat, wie denn

ihre Auftritte auf der Bühne aus der Sicht

des Islam zu sehen seien? Musik, so er-

fuhr sie, dürfe nicht dazu geeignet sein,

Lust zu erwecken. Und eigentlich sei es

nicht gut für Männer, fremde Frauen sin-

gen zu hören. Vor Männern singt sie seit-

her nicht mehr.

Hülya Kandemir hat einen tiefgläubigen

Muslim geheiratet, was Mesut, dem from-

men großen Bruder, gut gefiel.

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Es ist kein drastischer Rückzug, keiner

ins Ghetto, aber ein Rückzug allemal. Und

es sind deutlich mehr junge deutsche Tür-

ken als früher, die diesen Weg gehen, und

Saliha Scheinhardt sagt, sie habe sich im-

mer gewundert, wie lax Deutschland in

dieser Kopftuchfrage war.

Jetzt diskutieren deutsche Politiker über

Kindergartenpflicht und wollen deutsch-

türkische Lehrer und Polizisten und führen

Deutsch- und Integrationskurse ein, spät

tun sie das, zu spät?

Sie werden nicht alle erreichen können,

die Verbohrten nicht, wenn überhaupt,

dann erreicht man die nur aus den Mi-

grantengemeinden selbst heraus.

Man muss ihn wollen, den Weg in

diese Gesellschaft, bei Saliha Scheinhardt

war es der Ehrgeiz, der sie auf diesen

Weg gebracht hat, bei Oktay Özdemir

das Glück, etwas zu tun zu finden, in die-

sem Zirkus, bei Aytaç Eryilmaz der bitte-

re, ernsthafte Entschluss: Ich bin hier, ich

bleibe, also gehöre ich dazu. Und man

muss die Hoffnung haben, dass man sei-

nen Platz in dieser Gesellschaft finden

kann.

Hülyas Brüder, die beiden jüngeren je-

denfalls, sind anderer Meinung. Mit der

deutschen Wirtschaft, meinen sie, werde

das wohl so schnell nichts mehr. Anderswo

sei es besser.

Sie reden jetzt vom Auswandern in die

Türkei.

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1 K I RCH E

2 Das Wunder von Marxloh 3 Kohle und Kirchen gehörten einst zusammen in Duisburg.

4 Das Bild hat sich dramatisch gewandelt: Wo die Zahl der Katholiken

5 merklich schrumpft, entsteht Deutschlands größte

6 Moschee. Doch die Christen stellen sich auf die Nachbarn ein.

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Blaue Stunde im Duisburger Stadtteil

Marxloh. Ein paar Tage vor Weih-

nachten hat der katholische Pfarrer

Michael Kemper, 45, zum abendlichen Ker-

zengottesdienst in die altehrwürdige Kirche

St. Peter eingeladen. Das Gotteshaus bietet

300 Besuchern Platz, gekommen sind zwölf

Gläubige, zumeist Rentner. Die kleinen

Kerzen in den Händen der Anwesenden

wirken wie Irrlichter im riesigen, dunklen

Kirchenschiff.

Ein paar hundert Meter weiter drängen

sich die Besucher in die Merkez-Moschee.

Früher war hier ein Tapetengeschäft. Jetzt

sind selbst Nebenräume, Flur und Eingang

bis auf den letzten Zentimeter belegt, als

Imam Sadik Çaglar, 41, mit dem Vorbeten

beginnt. Im nächsten Sommer will er mit

seiner Gemeinde umziehen in ein würdi-

geres Domizil, in dem sich dann gut 1200

Menschen versammeln können – in

Deutschlands größter Moschee.

Die muslimische Gebetsstätte wird in

Sichtachse von Pfarrer Kemper liegen –

aber auch in seinem Visier? Wie eine

Machtdemonstration wirkt der Bau: 34

Meter hoch ist das Minarett der im osma-

nischen Stil gehaltenen Moschee mit ihren

2500 Quadratmetern Nutzfläche. Der Sie-

ben-Millionen-Euro-Bau entsteht auf dem

einstigen Kantinengelände der Zeche Wal-

sum.

Die schrumpfende Christenschar auf der

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einen, die wachsende muslimische Ge-

meinde auf der anderen Seite, das ist die

raue Wirklichkeit im Heimatland des be-

jubelten deutschen Papstes. In Marxloh be-

stätigt sich das, was Bundesinnenminister

Wolfgang Schäuble (CDU) anlässlich der

Islamkonferenz im Herbst beschrieb: „Der

Islam ist Teil Deutschlands und Europas“,

erklärte er und forderte unmissverständ-

lich, sich dieser Realität zu stellen. Der Is-

lam „ist Teil unserer Gegenwart und unse-

rer Zukunft“.

Doch was Schäuble als Mahnung für die

kommende Epoche verstanden wissen

wollte, erweist sich in Duisburg-Marxloh

nur als verspäteter Versuch, einen Prozess

zu beschreiben, der längst unumkehrbar

ist. Mehr noch: In diesem Stadtteil zeigt

sich, dass es auch gelingen kann, ihn zum

Nutzen von Alteingesessenen und Zuge-

wanderten gleichermaßen zu gestalten.

Denn das Besondere an der neuen Mo-

schee ist nicht die Größe, sondern die ge-

plante interreligiöse Begegnungsstätte mit

Bistro, Bibliothek, Bildungswerk und Be-

sucherräumen für Marxloher Katholiken

– einer der Gründe dafür, dass der Bau

der Moschee hier nicht wie anderswo auf

Ablehnung stößt. Und das Außergewöhn-

liche an den Katholiken vor Ort ist, dass sie

sich der Veränderung stellen und sie nicht

einfach nur über sich ergehen lassen.

Ein Gleisbett führt von der alten christ-

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lichen zur neuen muslimischen Glaubens-

stätte. Einst wurden die Schienen von

Zeche und Stahlwerk genutzt, von der

Industrie, die den Menschen mehr als nur

Arbeit gab. Nun könnte die Moschee zum

Symbol einer neuen Zeit werden.

Früher hatte das Ruhrbistum einmal ei-

nen Kirchenführer, der sich ein Stück Koh-

le in den Bischofsring einfassen ließ. Er

sollte die Einheit von Arbeiterschaft und

Kirche demonstrieren. 60000 Katholiken

zählten in den siebziger Jahren allein zu

den drei Marxloher Gemeinden, jetzt sind

es gerade mal 3300. Im Jahr 2004 gab es

nur noch 30 Taufen und eine einzige kirch-

liche Trauung, die Braut war katholisch,

der Bräutigam konfessionslos. „Eine be-

stimmte Sozialgestalt der Kirche geht zu

Ende“, sagt der katholische Bischof von

Essen, Felix Genn.

Der Bischofsring mit dem Stück Kohle ist

inzwischen im Museum gelandet. Doch das

Pfarrhaus neben St. Peter steht noch heute

für die Zugehörigkeit der Kirchengemein-

de zur Ortsgemeinde. Es wurde aus dem

gleichen roten Backstein errichtet wie die

Bergmannshäuser von Marxloh, in denen

einst Steiger und Hauer lebten.

Pfarrer Kempers Schreibtisch quillt über

von Papieren, sein Tag ist voller Termine:

Hausbesuche, Seelsorgegespräche, hinzu

kommt der Kampf um die Stellen des Kir-

chenchorleiters und seiner Pfarrsekretärin.

Er muss eine, vielleicht sogar zwei seiner

drei Kirchen aufgeben. St. Paul, ein paar

Straßen weiter, wurde bereits geschlossen.

Sie gehört zu den rund hundert Gottes-

häusern, die auf der Streichliste der

Bistumszentrale in Essen stehen. „Die Kir-

che verabschiedet sich mit ihren Gebäuden

strukturell aus der Fläche“, sagt Kemper.

897 Briefe hat er vor Weltjugendtag und

Papstbesuch an die verbliebenen jungen

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Katholiken zwischen 16 und 30 Jahren ver-

teilt – und ihnen das Angebot gemacht,

nach Köln mitzufahren. „Die Resonanz“,

sagt er, „war gleich null.“

Stellvertretend für seine 2000 Jahre alte

Institution will er sich in Marxloh auf Rea-

litäten einstellen, die in Berlin-Neukölln

oder in der Kölner Südstadt kaum anders

aussehen. „Wenn hier das Zusammenleben

von Christen und Muslimen nicht klappt“,

fragt Pfarrer Kemper, „wo denn dann?“

Rund 60000 Muslime leben in Duisburg,

in Marxloh rund 9000. „Die bauen jetzt

die großen Moscheen wie wir vor 40 Jah-

ren die Kirchen im Ruhrgebiet“, stellt Ka-

tholik Kemper fest und zieht daraus den

Schluss: „Marxloh muss ein Stadtteil wer-

den, in dem sich Menschen begegnen.“

Vor Jahren machte ein evangelischer

Kollege aus einem anderen Duisburger

Stadtteil bundesweit Schlagzeilen, weil er

vehement den Bau einer Moschee ver-

hindern wollte. Kemper dagegen wurde

Mitglied im Beirat der Moschee-Begeg-

nungsstätte und war beim Richtfest im Sep-

tember dabei. Vorbeter Çaglar und dessen

liberaler muslimischer Gemeinde über-

brachte er Segenswünsche: „Wir freuen

uns, dass eine Gebetsstätte entsteht.“

Çaglar stammt aus Bolu am Schwarzen

Meer, für vier Jahre ist er nach Duisburg

entsandt, bezahlt wird er über das türki-

sche Außenministerium. „Angst“, sagt der

Imam beim Tee, „Angst sollte man vor

Menschen haben, die nicht glauben. Denn

wenn man an Gott glaubt, wird man nie

die Rechte anderer verletzen.“ Sein ka-

tholischer Kollege formuliert es ähnlich:

„Glauben macht mitmenschlich“, und

dann erzählt Kemper davon, wie sich in

Marxloh alles auf eine geradezu irritierend

harmonische Weise vernetzt und verwebt:

das Katholische mit dem Muslimischen,

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das Deutsche mit dem Türkischen – und

wie aus dem alten allmählich das neue

Ruhrgebiet Gestalt annimmt.

Natürlich gilt auch der Stadtteil Marxloh

als Problemviertel. „Wer kann, ist schon

weggezogen“, sagt die Postbotin auf der

Hauptstraße. Von vielen Unternehmen

blieb nur ein Schatten auf der Hauswand

zurück, wo einst das Firmenschild prangte.

In einer der heruntergekommenen Wohn-

anlagen wurden einige Nachkriegsszenen

von Sönke Wortmanns Fußball-Melodram

„Das Wunder von Bern“ gedreht.

Doch inzwischen glauben viele an ein

Wunder von Marxloh, und zwar nicht nur

die Politiker, die es bei der Grundstein-

legung und beim Richtfest der Moschee

beschworen. Das liegt entscheidend an

den Führern der Merkez-Gemeinde. Sie

gehören zum Ditib, dem größten muslimi-

schen Dachverband in Deutschland. Er ist

den laizistischen Prinzipien des türkischen

Staates verpflichtet, eng mit dem Präsidi-

um für religiöse Angelegenheiten der Tür-

kei verbunden. Ditib-Vertreter nahmen an

der Islamkonferenz teil, Ditib-Gemeinden

legen Wert auf „interreligiösen Dialog“,

sie sind nicht im Visier der Verfassungs-

schützer.

Die Gegend sei nicht auffälliger als an-

dere Stadtteile, so die Polizei, die auch hier

nur eine Tagwache betreibt, die um 23 Uhr

schließt. „Marxloh“, lobt der Integrations-

minister von Nordrhein-Westfalen, Armin

Laschet (CDU), „ist ein Beispiel, wie der

Bau eines Gebetshauses Integration und

Dialog fördern kann. Das Klima ist keines

der Abgrenzung, sondern der Offenheit.“

Schon die Idee zum Neubau der Mo-

schee war ein Gemeinschaftswerk. Sie ent-

stand tausend Meter unter Tage im Berg-

werk beim Gespräch zwischen deutschen

und türkischen Arbeitskollegen. Der

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Marxloher Katholik Wolfgang Köhler, 62,

war dabei, als seine Kollegen darüber dis-

kutierten, eine Moschee zu bauen. Inzwi-

schen ist Köhler Rentner, in seiner Frei-

zeit hat er Türkisch gelernt. Überall wird er

mit Handschlag begrüßt – auch auf einem

Dachboden in der Kaiser-Wilhelm-Straße,

wo sich acht zwölfjährige Mädchen ver-

schiedenster Herkunft einen „internatio-

nalen Club“ eingerichtet haben.

Die 75 Kinder des kirchlichen Kinder-

gartens kommen inzwischen aus mehr

als 20 Nationen. Besonders gern bringen

muslimische Eltern ihre Kinder in den ka-

tholischen Kindergarten, „weil

dort wenigstens religiöse Werte

vermittelt werden“, wie eine Mut-

ter erklärt. Neulich habe ihm,

erzählt Kemper, eine muslimi-

sche Mutter amüsiert berichtet,

dass ihr Ibrahim am Mittagstisch

ein Kreuzzeichen geschlagen und

ein christliches Gebet gesprochen

habe, wie es im Kindergarten

üblich sei.

Eine andere Mutter erzählt von

ihrem Sohn Mohammed, der nach

einem Gottesdienst aufgeregt nach

Hause kam. „Wisst ihr was?“, sag-

te er, „der Nikolaus ist ein Türke.“ Zur

Weihnachtszeit sind die Gottesdienste für

die Kindergartenkinder zum Thema Niko-

laus ein Renner. Leyla, eine junge musli-

mische Mutter mit Kopftuch, hält die

schwere Eingangstür zur katholischen Kir-

che auf. Eine Erzieherin kommt herein und

erregt sich über die Nachrichten, die sie

aus Köln vernommen hat. „Was wir hier

machen, soll also nach dem Willen von

Kardinal Joachim Meisner nicht mehr

stattfinden. Gut, dass wir zum Bistum

Essen gehören!“ Mitte Dezember hatte

Meisner gegen solche multireligiösen Fei-

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ern gewettert. Kinder hätten, meint er, ei-

nen Anspruch darauf, ihren Glauben un-

vermischt kennenzulernen.

Die Kinder des katholischen Kindergar-

tens St. Peter und ihre Erzieherinnen feiern

das muslimische Zuckerfest wie das christ-

liche Weihnachten, Ostern oder Fasten-

brechen gemeinsam. Es ist die nächste Ge-

neration Marxloher, die einträchtig in der

katholischen Kirche dicht beim Altar sitzt.

Auf dem Boden vor ihnen ausgebreitet

liegt die Berufskleidung des katholischen

Bischofs Nikolaus von Myra, wie der Pfar-

rer erklärt. Das Nikolauslied wird gesun-

gen. Mittendrin sitzen Mütter mit Kopf-

tuch auf den Kirchenbänken. Der ge-

mischte Kreis um Kemper sieht aus wie

eine Kinderversammlung der Uno.

„Yapilim – mal sehen, was abgeht“,

rufen sich die Halbwüchsigen mit ihren

Basecaps in der Hauptstraße zu, bevor sie

spätabends in den Internet-Cafés ver-

schwinden. Die Macher der neuen Begeg-

nungsstätte wollen genau an diese Jugend-

lichen heran, mit Freizeit- und Bildungs-

angeboten locken. Dabei werden sie mit

den Katholiken zusammenarbeiten.

Zum harten Kern der Optimisten vor

Ort zählt auch eine Gruppe türkischer

Frauen, derzeit untergebracht in einem

mit Rosen bemalten, vergitterten Con-

tainer gleich neben dem Moschee-Bau.

Sie sind in Deutschland geboren, zumeist

im Ruhrgebiet aufgewachsen. Eine ist

Finanzmanagerin, eine Sozialwissen-

schaftlerin bei der Duisburger Stadtent-

wicklungsgesellschaft, eine der muslimi-

schen Frauen hat evangelische Theologie

studiert – die einzige, die zum Treff mit

Kopftuch erscheint.

Ihre Blechbaracke dient als Begeg-

nungsstätte, in der auch Deutschkurse an-

geboten werden. Die in Duisburg gebore-

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ne Zülfisiyah Kaykin wird den künftigen

Treff leiten. Natürlich weiß sie, dass eine

Moschee auf Bedenken und Widerstände

trifft, besonders weil sie die größte

Deutschlands werden soll: „Wir wollen

einen offenen Ort mit Nachbarschaftstref-

fen. Wir wollen unsere eigene Heimat mit-

gestalten.“ Leyla Özmal, die Sozialwissen-

schaftlerin, ist sicher, dass die Moschee zur

Revitalisierung des gesamten Ortes beitra-

gen wird: „Jetzt ist die Zeit, gemeinsam

Regeln und Werte zu entwickeln.“

Sie hoffen auch, dass der neue Bau Be-

sucher anlockt. Ein Dorado für türkische

Hochzeitspaare ist Marxloh schon jetzt. Im

Zentrum des Stadtteils reiht sich ein orien-

talisches Brautmodengeschäft an das an-

dere. Familien reisen aus Belgien, den Nie-

derlanden oder dem Saarland an, um hier

Goldschmuck und Abendkleidung in gro-

ßem Stil zu erwerben.

Entsteht so mitten im Ruhrgebiet ein

Kontrastprogramm zu gescheiterten Dia-

logversuchen? Eine weise Entscheidung

der Moschee-Erbauer nahm den Deut-

schen ein Gutteil ihrer Ängste. Sie ver-

zichteten auf ein Recht, das ihnen eigent-

lich niemand hätte streitig machen kön-

nen: Der Muezzin-Ruf wird hier nicht

erschallen. Und noch zu einer zweiten

symbolischen Geste waren die Bauherren

bereit. Das Minarett wurde auf exakt

34 Meter beschränkt – damit es nicht höher

ist als der Turm der katholischen Kirche

St. Peter.

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1 Die Freiheit der anderen 2 Ortstermin: In Limburg steht ein türkischer Vater wegen

3 des geplanten Mordes an seiner Tochter vor Gericht.

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An dem Tag, an dem es um Leben

und Tod geht, hebt sie die Arme,

als wolle sie sich ergeben. Sie tritt

durch den Metalldetektor und lässt sich

nach Waffen durchsuchen, an ihrem Kör-

per, unter ihrem Kopftuch. Sie steht da wie

eine angezogene Nackte, wie eine Gefan-

gene.

Sie fährt mit den Händen über ihr Kopf-

tuch, prüft, ob es richtig sitzt, und macht

ein paar kleine Schritte. Sie stoppt an der

Schwelle zum Gerichtssaal, und als sie hin-

ter der Wand aus Glas den Mann sieht,

der sie angeblich ermor-

den lassen wollte, als ihre

Blicke sich treffen, als er

die Hand hebt und winkt,

weint sie – weil er ihr leid-

tut, weil sie will, dass er in

Freiheit lebt.

Er ist ihr Vater.

Der Angeklagte nimmt

seine Brille ab, er senkt

langsam den Kopf, er ver-

sucht, nicht zu weinen.

Dann greift er nach dem

Revers seines Jacketts und

wischt die Tränen aus sei-

nem Gesicht.

Das Landgericht in Lim-

burg an der Lahn ist ein

sehr deutscher Ort, ein al-

tes Gebäude in einer alten

Stadt voller Geschichte

und Tradition. Auf den Fluren hängen ver-

gilbte Bilder von Burgen und Schlössern,

Erinnerungen an eine Zeit, in der Familien-

oberhäupter noch Herrscher waren.

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Saal 129 ist an diesem Morgen ein Ort,

der von einer anderen Zeit erzählt, von ei-

nem anderen Deutschland. Die Zweite

Große Strafkammer verhandelt über einen

schmächtigen Mann, einen Mann mit zwei

Ehefrauen und elf Kindern, der die Ermor-

dung seiner Tochter angeordnet haben soll.

Er soll versucht haben, seinen 16-jährigen

Sohn zu diesem Mord zu zwingen. Der

Vater hatte die Waffe dazu, und er soll sie

auf den Sohn gerichtet und gedroht haben,

ihn zu erschießen, wenn er seine Schwes-

ter nicht umbringen würde. Er hatte ein

Motiv: Seine Tochter wollte den Cousin

nicht heiraten.

Hinter dem schusssicheren Glas, das den

Angeklagten von den Zuschauern trennt,

wird eine verborgene deutsche Wirklich-

keit sichtbar. Zwei Gesellschaften begeg-

nen sich hinter der Scheibe, sie prallen auf-

einander, die Werte des deutschen Rechts-

staats und einer kurdischen Familie. Das

Glas in Saal 129 ist ein Schaufenster in

die Geschichte einer gescheiterten Inte-

gration.

Die Geschichte hinter Aktenzeichen

3JS14048/06 beginnt im August 2006. Da

schickt der Vater die Tochter nach Batman,

in seine kurdische Heimat im Osten der

Türkei. Wenige Tage später wird sie dort

mit einem Cousin verlobt, den der Vater

auswählte. Ein Imam wacht über die Ze-

remonie. Doch es geschieht etwas Unvor-

hergesehenes, etwas für den Vater Unvor-

stellbares: Seine Tochter verliebt sich in ei-

nen anderen Cousin und gibt ihrem Ver-

lobten den Ring zurück.

Es ist der Beginn des Dramas von Ha-

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damar, einer Stadt, deren Name klingt, als

liege sie irgendwo in der türkischen Pro-

vinz. Doch sie liegt mitten in Deutschland,

in der Nähe von Limburg.

Zwei Polizisten nehmen hinter der

Scheibe in Saal 129 Platz und berichten,

was sie nach der Rückkehr der Tochter

nach Hadamar erlebten. Eines Nachts wer-

den sie in die Wohnung der Familie geru-

fen. Der Bruder, der seine Schwester in

die Türkei begleitet hatte, erzählt den Poli-

zisten, was geschehen war. Sie bemerken

rote Druckstellen an dessen Hals.

Der Vater machte seinen Sohn verant-

wortlich für das, was die Schwester tat. Er

ohrfeigte ihn, würgte ihn, dann schlug er

ihn zu Boden und richtete eine Pistole auf

ihn. Die Polizisten durchsuchen das Wohn-

zimmer und finden hinter dem Sofa einen

roten Stoffbeutel mit einer Pistole. Im Ma-

gazin stecken acht Patronen.

Der Sohn erzählt den Polizisten alles in

jener Nacht, doch er will keine Anzeige

erstatten. „Ich möchte nicht, dass mein Va-

ter wegen der Sache bestraft wird“, sagt er.

„Er soll aber auch mal Angst bekommen.“

Der Mann auf der Anklagebank sieht

nicht aus, als habe er Angst. Er blickt zu

den türkischen Männern im Zuschauer-

raum und lächelt.

Die mächtigste Person im Saal ist eine

Frau, und an diesem Morgen soll die Toch-

ter des Angeklagten ihr er-

zählen, was sie erlebte.

Doch wieder geschieht

Unvorhergesehenes, etwas

für die Richterin Unvor-

stellbares. Die Tochter sagt

nichts, was den Vater be-

lastet.

Sie will nichts gewusst

haben von einem Plan, sie

mit ihrem Cousin zu ver-

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heiraten – obwohl sie we-

nige Tage nach ihrer An-

kunft in der Türkei verlobt

wurde und die Einladun-

gen schon gedruckt waren.

Sie will nichts gesehen ha-

ben von dem, was in der

Wohnung mit ihrem Bru-

der geschah, obwohl sie

dort war und nickte, als

der Bruder den Polizisten davon erzählte.

Sie will nicht versucht haben zu flüchten,

obwohl sie ohne Koffer in die Türkei flog

und ihrem Vater nichts erzählte.

Sie weiß nur, dass ihr Vater sie liebt.

Die Richterin, eine strenge Frau mit kur-

zen blonden Haaren, wird mit jedem Wi-

derspruch, in den sich die Tochter ver-

strickt, ungehaltener. Sie zeigt mit dem

Finger auf sie und sagt mit sehr lauter

Stimme: „Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie

über Ihren Vater nicht aussagen müssen.

Aber was Sie sagen, muss wahr sein.“

Die Tochter weint.

Es ist der Moment, in dem etwas zer-

bricht zwischen der Frau hinter dem Rich-

tertisch und der davor. Sie leben in zwei

Welten, die nichts verbindet. Die Richte-

rin will die Wahrheit wissen, sie will am

Ende dieses Prozesses ein gerechtes Urteil

fällen, doch sie sieht nur eine Frau in

Angst. Eine Frau, die will, dass ihr Vater

in Freiheit lebt, die sie nicht hat.

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1 KAM P F S PORT

2 Schlesische 3 Schlachten 4 In Kreuzberger Hinterhöfen üben

5 sich Jugendliche im Straßenkampf –

6 die Polizei rätselt noch, ob es

7 Sport ist oder Körperverletzung

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Treffen Mahmuds Fäuste das Kinn

seines Gegners, hallt es dumpf durch

den Hinterhof im Wrangelkiez von

Kreuzberg. Knochen auf Fleisch, das

klingt, als ob jemand Schnitzel flach klopft.

„Mach weiter, du Opfer!“, brüllt einer der

Zuschauer auf dem kleinen Bolzplatz. Die

Stirn von Jamal, dem Gegner, schwillt an,

rötet sich, aus der Nase quillt Blut.

Testosteron liegt in der Luft und Kin-

derlachen. Knapp 50 Jugendliche schauen

zu, ein paar filmen mit ihrem Handy. Ein-

gehegt von einem Drahtgestell, wirkt der

Bolzplatz wie eine Voliere in einem Tier-

park. Auf der Latte eines der beiden Fuß-

balltore sitzen Kinder, Mädchen und

Jungs, vier, fünf Jahre alt. Was sie hier se-

hen, ist eigentlich Körperverletzung, rohe

Gewalt. Für die Jugendlichen aber ist es

Sport. Der Sport, der am besten passt zu

ihrem Leben, ihrem Viertel. „Wenn du hier

aufgewachsen bist, musst du dich durch-

setzen können“, sagt Mahmud.

Sie treffen sich zwei-, dreimal im Monat,

auf Zuruf improvisieren sie Turniere in den

Höfen, Parks und Hinterzimmern von

Kreuzberg. Die Regeln für den Kampf sind

so vage wie ehern: keine Waffen, nicht

beißen, nicht an den Haaren ziehen, nicht

auf einen am Boden liegenden Gegner

eintreten, keine Tiefschläge. Mahmud fin-

det, „die Eier sind das Wichtigste, was ein

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Mann hat“.

Verloren hat, wer niedergeschlagen wird

und liegen bleibt. Oder die Menge be-

stimmt nach drei gefühlten Minuten einen

Sieger. Es gibt keinen Schiedsrichter, über

Sieg oder Niederlage entscheidet die Grup-

pe. Manchmal wird mit Boxhandschuhen

gekämpft oder Bandagen; während zwei

kämpfen, warten die anderen auf den Ein-

satz. Sie bilden den Ring für den Kampf,

weichen zurück, wenn einer der Kämpfer

getrieben wird. Sie tragen Gangsterlook

und Sportkleidung, ihre Körper sind seh-

nig, gestählt in Fitness-Clubs und Kampf-

sportvereinen oder mit 500 Sit-ups mor-

gens nach dem Aufstehen. „Ich will doch

keine Bierwampe wie die ganzen Deut-

schen“, sagt Mahmud.

Die Jugendlichen nennen sich Schlesier,

weil sie alle im Kiez rund um das Schlesi-

sche Tor aufgewachsen sind. Die meisten

von ihnen sind libanesische Kurden. Aber

auch Türken oder Albaner können Schle-

sier sein. Fast alle sind Muslime. Der Aus-

länderanteil hier beträgt 40 Prozent, jeder

fünfte Bewohner ist arbeitslos, unter den

Jugendlichen sogar jeder vierte. Mahmuds

Eltern sind libanesische Kurden, er ist in

Berlin geboren, hat einen deutschen Pass

und ist 18 Jahre alt. Jamal, sein Gegner, ist

15, seine Eltern sind marokkanische Fran-

zosen, er hat sieben Jahre lang in einem

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Kickbox-Verein das Kämpfen gelernt. Seit

er bei einem Turnier seinem Gegner mit ei-nem

unerlaubten Kopfstoß das Trommel-

fell zerfetzte, ist er für offizielle Fights ge-sperrt.

Im Nahkampf hat Mahmud gegen

Jamal keine Chance, denn er hat das

Kämpfen nur auf der Straße gelernt.

Mahmud nennt seinen Sport „Straßen-kampf“.

Es gibt keinen Verband, es gibt

kein Preisgeld, Mahmud hat keinerlei

Ambitionen, mal ein Profi im Ultimate

Fighting zu werden, das in den USA

populär geworden ist. Sein Sport ist für

Mahmud eine Art Training für den Alltag:

„Wenn jemand meine Familie beleidigt.

Oder meine Ehre.“

Sie kämpfen unter Freunden, vor dem

Kampf küssen sie sich dreimal auf die

Wange: „Egal was gleich passiert, ich bin

dein Freund.“ Wenn sich einer verletzt,

was schon mal vorkommen kann, wird im

Krankenhaus erzählt, er sei die Treppe hin-

untergefallen. Wer zur Polizei geht, ver-

liere seine „Ehre als Mann“, sagt Mahmud.

„Unter uns gibt es Grenzen. Wir schlagen

uns nicht tot. Einem anderen könnte das

schon passieren.“

Gary Menzel ist als Leiter der Polizei im

Abschnitt 53 zuständig für den Wrangel-

kiez. Es gebe, sagt er, eine „Mauer des

Schweigens“, Anwohner meldeten verab-

redete Schlägereien zwischen Jugendlichen

nicht. „Die Grenzziehung ist auch schwer

für uns: Was ist Sport, und wo fängt die

gefährliche Körperverletzung an?“ Und

selbst wenn Menzel und seine Kollegen

derartige Prügeleien auflösen, werden die

Verfahren gegen die Hobbyschläger oft von

der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Nach dem Kampf treffen sie sich in ei-

nem Café. Mahmud zieht an einer Was-

serpfeife, dicke Schwaden durchziehen den

Raum. „Es ist sehr wichtig, dass ich beim

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Kämpfen oft gewinne“, sagt er. Die Kämpfe

gegen die Freunde verschafften ihm Re-

spekt. Mahmud ist schon mehrmals wegen

Körperverletzung angezeigt worden. Da-

mals war er noch nicht 18. Die höchste

Strafe waren vier Wochen Jugendarrest.

Er habe einen Russen niedergestochen, der

seine Schwester küssen wollte: „Ich musste

die Ehre der Familie verteidigen. Ich bin

stolz, dass ich es getan habe.“

Vor zwei Jahren hat er seinen Haupt-

schulabschluss gemacht, seitdem sucht er

eine Lehrstelle, im Moment arbeitet er in

einem Dönerladen. Er sagt, dass er sein

Leben in den Griff bekommen wolle, trotz

seiner Fünfen im Abschlusszeugnis, seines

schlechten Deutschs und seiner Knastver-

gangenheit. Was er noch gut kann, außer

schlagen? „Mit Mädchen reden und Kom-

plimente machen.“

Die Zukunft? Alles sei möglich, sagt

Mahmud: Familie oder Knast. „Vielleicht

muss ich irgendwas arbeiten, das mit Schla-

gen zu tun hat.“

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I S L A M I SM U S 2 Das Phantom der Oper 3 Deutschland zeigt sich heldenhaft: Eine Intendantin wird dafür kritisiert, dass sie das Stück „Idomeneo“

4 aus Angst vor Anschlägen vom Spielplan genommen hat. Es sieht so aus, als würde dem

5 Islamismus endlich die Stirn geboten. Aber die Kritik ist wohlfeil, die wahren Prüfungen kommen noch.

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Sie ist ganz allein. Sie ist von allen kri-

tisiert worden, sogar von der Bun-

deskanzlerin. Ihre Entscheidung hat

weltweit Wellen geschlagen. Sie habe die

Kunstfreiheit verraten, sie habe sich win-

delweich gezeigt gegenüber einer angeb-

lichen Bedrohung durch Terroristen. Man

hat sie feige genannt.

Ihr geht es schlecht. Anderen geht es

gut. Sie konnten draufhauen, sie konnten

sich mutig zeigen, dem Islamismus die

Stirn bieten, den Terror in die Schranken

weisen. Sie konnten sich ganz sicher sein,

richtig zu liegen.

Alles ist so eindeutig.

Kirsten Harms, die Intendantin der

Deutschen Oper in Berlin, hat die Oper

„Idomeneo“ aus dem Programm genom-

men, weil am Schluss Poseidon, Moham-

med, Christus und Buddha mit abgeschla-

genen Köpfen gezeigt wurden. Nach einer

vagen Warnung der Berliner Sicherheits-

behörden hatte sie Angst vor einem An-

schlag islamistischer Terroristen.

Es war „appeasement“, Beschwichti-

gung. Und es war ein Fehler, keine Frage.

Doch in der Masse und Einhelligkeit wirk-

ten die kritischen Kommentare auch wohl-

feil. Nie war Widerstand gegen den Terror

billiger zu haben. Kein Selbstmordatten-

täter in Sicht, niemand riskierte mehr als

ein Verhaspeln vor den Mikrofonen. Es war

nur ein Phantomaufbegehren.

Die eigentliche Frage bleibt auch nach

dem verbalen Heldentum der vergange-

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nen Woche offen: Sind wir zu Opfern be-

reit, um unsere Kultur zu verteidigen?

Man muss den Fall „Idomeneo“ nur va-

riieren, um erkennen zu können, welche

Prüfungen auf Deutschland warten. Was

wäre gewesen, Kirsten Harms hätte die

Einschätzung des Landeskriminalamts ig-

noriert und es hätte tatsächlich einen

Anschlag gegeben, mit Verwundeten und

Toten? Wie wären die Kommentare dann

ausgefallen? Sind wir wirklich bereit, für

Freiheit auf Sicherheit zu verzichten, wenn

die Freiheit einen Blutzoll verlangt?

Das heißt, die Deutschen müssten mal

wieder gründlich über sich nachdenken.

Anders als bei den alten Debatten, als es

vor allem um Erinnerungskultur ging, müs-

sen sich die Deutschen diesmal im Ver-

hältnis zu anderen finden. Wer sind wir,

wenn der Islamismus uns bedroht, heißt

die neue Frage der Nation.

„Wir sind verurteilt zur Verwundbar-

keit“, hat der holländische Publizist Geert

Mak nach dem Mord an Theo van Gogh

geschrieben. Der Filmemacher van Gogh

war im November 2004 von einem Islamis-

ten erschossen worden, weil van Gogh an

einem islamkritischen Film beteiligt gewe-

sen war.

Der Satz gilt auch für Deutschland, auch

wenn hier noch kein Terroropfer zu bekla-

gen ist. Aber die versuchten Attentate auf

zwei Züge haben gezeigt, dass Deutschland

Ziel ist und dass Deutschland verwundbar

ist. Nur Fehler beim Bauen der Bomben

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haben Blutbäder verhindert.

Bislang hat die Gesellschaft auf diese

Bedrohung eher mit „appeasement“ rea-

giert. Der Publizist und SPIEGEL-Autor

Henryk M. Broder hat ein ganzes Buch

darüber geschrieben: „Hurra, wir kapitu-

lieren – Von der Lust am Einknicken“. Er

beschreibt, wie Karnevalisten vor Spöttelei

gegen den Islam zurückschrecken oder wie

eine junge Künstlerin eine islamkritische

Skulptur von einer Werkschau zurück-

zieht, nachdem sie bedroht worden war.

Dieses Einknicken sieht Broder als Fol-

ge des Karikaturenstreits. Im Winter hat-

te Dänemark die Wut eines Teils der isla-

mischen Welt auf sich gezogen, weil in

einer dänischen Zeitung Karikaturen über

Mohammed veröffentlicht worden waren.

Es gab Boykotte und gewaltsame Demon-

strationen, die auch in Deutschland Wir-

kung zeigten. Broder: „So entstand inner-

halb weniger Wochen eine Kultur der

Angst, des Bedauerns und der Entschuldi-

gung, wie sie Deutschland noch nicht er-

lebt hatte.“

Es ist nicht zu erwarten, dass diese Angst

aufgehört hat. Der Fall „Idomeneo“ ist ein

Wendepunkt beim Trockenschwimmen.

Man machte sich für die Freiheit stark, als

die Gegner der Freiheit weit weg waren.

Die Deutschen sind ein Angstvolk. In

keinem anderen Land ist dies ein so großes

Thema wie hier. Die Engländer haben

nicht einmal ein eigenes Wort für diese dif-

fuse Furcht. Sie nehmen das deutsche. Es

liegt nahe, dass ein ängstliches Volk be-

sonders sensibel auf Gefahren reagiert.

„Terror verwandelt alle sozialen Räume

in Orte höchster Gefahr“, schreibt der So-

ziologe Wolfgang Sofsky. Und weiter: „Auf

Schonung darf niemand hoffen.“

Das galt im Kalten Krieg zwar ebenso,

weil die Atombomben alles Leben aus-

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gelöscht hätten. Aber in dem Wort „alles“

steckt genau der Unterschied. In den

Zeiten des Terrors ist das Schicksal indi-

vidualisiert. Es sterben nicht alle, son-

dern einige. Das heißt auch: Mein persön-

liches Verhalten kann über mein Schick-

sal entscheiden. Das steigert Angst und

Hysterie.

So kann die Frage, in welches Flugzeug

man steigt, welchen Zug man nimmt, wel-

che Oper man besucht, über Leben und

Tod entscheiden.

Genauso entsteht eine neue Verant-

wortlichkeit für Worte und Taten. Über

Leonid Breschnew oder Ronald Reagan

konnte der Bürger, ob als Regisseur oder

Karikaturist, nach Herzenslust schimpfen

und spotten, die Atomraketen blieben in

ihren Depots.

Heutzutage kann praktisch jeder islami-

stischen Furor entfachen, indem er sich

über Mohammed äußert. Papst Benedikt

XVI. konnte das jüngst erfahren, als er

während einer Vorlesung in Regensburg

Äußerungen eines byzantinischen Kaisers

über den Propheten zitierte.

Andere, auch weniger prominente Fälle

sind längst aktenkundig. Es muss sich nur

einer finden, der beleidigt ist. Übers Inter-

net findet sich leicht einer.

Kirsten Harms von der Deutschen Oper

in Berlin hat das erkannt. Sie wollte nicht

verantwortlich für Opfer sein. Davor hatte

sie Angst, vorauseilend, ohne echte Be-

drohung. Gleichwohl sollte jeder, der sie

kritisiert, dazu sagen, ob er bereit ist, die

Verantwortung für Opfer zu übernehmen,

wenn die Freiheit tatsächlich verteidigt

werden muss.

Bislang zeichnet sich Deutschland durch

Vorsicht aus. Die Soldaten der Bundes-

wehr bleiben vorerst im Norden Afghani-

stans, obwohl die Schlachten gegen die Ta-

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liban im Süden geschlagen werden. Vor al-

lem dort entscheidet sich, ob in Afgha-

nistan Demokratie und Menschenrechte

Geltung bekommen können. Deutschland

möchte dafür keine Opfer bringen.

Das ist für jeden einzelnen deutschen

Soldaten eine gute Entscheidung. Für die

Freiheit der Afghanen ist es womöglich

eine schlechte (es sei denn, die Amerikaner

füllen die Lücken mit ihren Soldaten, also

möglichen Opfern).

Zugespitzt kann man sagen, die Bun-

desregierung und Kirsten Harms haben

eine ähnliche Entscheidung getroffen: eine

Entscheidung für die Sicherheit, nicht für

die Freiheit, eine Entscheidung gegen deut-

sche Opfer.

Die Gesellschaft wird noch zu entschei-

den haben, ob das zu einer Grundhaltung

werden soll.

Es gibt neben der Angst vor Opfern ei-

nen zweiten Grund für „appeasement“. Er

liegt in einer neuen Toleranz gegenüber

anderen Gesellschaften. Bis in die neunzi-ger

Jahre hinein gab es starke Strömun-

gen in der deutschen Politik, die sich für ei-nen

Universalismus der Werte starkge-macht

haben. Freiheit und Menschenrech-

te sollten in aller Welt gelten. Dafür sind

Politiker aller Parteien eingetreten, zum

Beispiel Norbert Blüm von der CDU und

die Grünen sowieso.

Das hat sich im Zuge der wirtschaftli-

chen Krisen und der Globalisierung geän-

dert. Im Anderen wird jetzt vor allem der

Handelspartner gesehen. Man will in aller

Ruhe Geschäfte miteinander machen. Für

diese Haltung stand vor allem Gerhard

Schröder, der Kanzler von Rot-Grün.

In Dänemark hat der Boykott dänischer

Waren in einigen islamischen Ländern eine

Haltung des „appeasement“ gefördert.

Diese Dominanz des Ökonomischen macht

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den Westen schwach in der Vertretung sei-

ner Werte.

Ein dritter Grund für das „appeasement“

liegt im Zweifel an der eigenen , Zweifel bis

hin zum Selbsthass. John Updike spielt da-

mit gekonnt in seinem Roman „Terrorist“.

Ahmad, ein junger Amerikaner mit musli-

mischen Wurzeln, lässt sich kobern für ein

Attentat auf den Lincoln-Tunnel, der von

New Jersey nach New York führt. Dieser

Ahmad ist kein sympathischer Bursche,

aber man ertappt sich dabei, seine Ab-

neigung gegen Konsumsucht, Sexwahn

und Fernsehschwachsinn nachzuvollziehen,

wenn nicht teilen zu können.

Auch in Deutschland gibt es ein starkes

Unbehagen an der westlichen Kultur mit

ihren hässlichen Wucherungen. Der Völ-

kerkundler Hans Peter Duerr attestiert den

modernen Zeiten eine „Brutalisierung“ und

eine „Auflösung des Schamgefühls“, die

„beispiellos in der Kulturgeschichte“ seien.

Seit fast hundert Wochen behauptet sich

Peter Hahnes Pamphlet gegen die Spaßge-

sellschaft „Schluss mit lustig“ in der Best-

sellerliste. Ein Neuzugang der vergangenen

Woche heißt „Lob der Disziplin“. Bern-

hard Bueb, ehemals Schulleiter des Elite-In-

ternats Salem, fordert darin, bei Kindern

Respekt und Achtung einzufordern.

Da macht sich mehr und mehr ein Wi-

derwille gegen die Laisser-faire-Gesell-

schaft breit. So findet sich der eine oder

andere in Deutschland plötzlich in dem ei-

nen oder anderen Punkt der Gesellschafts-

kritik mit einem Taliban einig.

Zu dieser Selbstdistanz aus aktuellen

Gründen kommt bei den Deutschen eine

Selbstdistanz aus historischen Gründen.

Wegen der Nazi-Verbrechen hatte und hat

man Probleme, sich selbst zu lieben. Und

was man nicht liebt, empfiehlt man auch

nicht weiter.

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Lange haben die Deutschen vorgezogen,

den Islam in Deutschland als eine fremde

Kultur zu betrachten, die sie nicht viel an-geht.

Sie haben es hingenommen, dass

muslimischen Mädchen jeder Kontakt zu

deutschen Jungen verboten wird, dass sie

nicht am Sportunterricht teilnehmen dür-

fen, nicht beim Schwimmen und, dass sie

bei Klassenfahrten fehlen. Sie haben sich

angewöhnt, über die Frauen hinwegzuse-hen,

die selbst bei Hitze mit Kopftuch und

fußlangem Mantel über die Straße gehen.

Sie haben sich auch nicht dafür interes-siert,

dass viele Muslime nur gebrochen

Deutsch sprechen, die Eltern, aber auch

die Kinder.

So entstand das, was Soziologen Paral-

lelgesellschaften nennen, eine abgeschlos-

sene Welt mit eigenen Bräuchen und Sit-ten,

die um Begriffe wie „Ehre“ und „Re-spekt“

kreisen. Tatsächlich muss man eher

von einem Rückzug sprechen, einer Land-

aufgabe, bei der die Mehrheitsgesellschaft

vor der Minderheitsgesellschaft zurück-

wich und ihr die freien Räume überließ.

Erst allmählich kommt in den Blick, dass

der Rückzug Kosten hat, dass eine Gesell-

schaft nicht ungestraft auf jeden Anpas-

sungszwang an ihre Normen und Werte

verzichten kann, zumal, wenn der Teil der

Leute, die sich bewusst abgrenzen, zah-

lenmäßig so bedeutsam ist, dass schon bald

nicht mehr klar sein wird, wer Mehrheit

und wer Minderheit ist. Schon in wenigen

Jahren wird der Anteil der Zugewanderten

in deutschen Großstädten bei den unter

40-Jährigen bei 50 Prozent liegen.

Es ist die Erkenntnis, dass die Dinge

zu entgleiten drohen, die den Bundes-

innenminister nun veranlasst hat, die ers-

te Islamkonferenz abzuhalten, mit Ver-

tretern von Muslimverbänden, Kritikern

und Fachleuten aus seinem Haus. Wolf-

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gang Schäuble will die muslimischen Ein-

wanderer nicht mehr einfach so in Ruhe

lassen; er spricht viel von „Dialog“ und

„Miteinander“, aber er sagt auch, dass es

an der Zeit sei, denjenigen, die auf Dauer

in Deutschland leben wollen, mehr abzu-

verlangen.

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla

fordert auch vom Westen mehr Einsatz für

das, was diesem wichtig ist: „Wir müssen

bereit sein, für unsere christlich geprägten

westlichen Werte einzustehen“, schreibt er

in der „Bild am Sonntag“. Scharf kritisiert

er zugleich islamistische Eiferer.

Wie es mancherorts um die Integration

islamisch gläubiger Zuwanderer bestellt ist,

zeigt der Blick in die Hauptschule eines

Einwandererviertels wie Berlin-Neukölln

oder Duisburg-Marxloh. Es ist eine Welt, in

der deutsche Kinder als „Christenschwei-

ne“ oder „Schweinefleischfresser“ be-

schimpft werden. Deutsch zu sein gilt hier

als Zeichen von Schwäche. Als die Berliner

Schulbehörde nach der Aufregung im

Frühling Psychologen an die Berliner Rüt-

li-Schule entsandte, um dort nach dem

Rechten zu sehen, stellten die überrascht

fest, dass auch die wenigen verbliebenen

deutschen Kinder nur noch gebrochen

Deutsch sprachen. Sie taten das ganz be-

wusst, um auf dem Schulhof weniger auf-

zufallen.

Vierzig Prozent der Einwandererkinder

schaffen nur einen Hauptschulabschluss,

zwanzig Prozent nicht einmal das. Ent-

sprechend hoch ist die Arbeitslosigkeit un-

ter Ausländern. Sie liegt inzwischen bei

22,4 Prozent, mehr als doppelt so hoch wie

in der Gesamtbevölkerung.

Die Migrationsforschung hat die Schuld-

frage schon vor Jahren entschieden. Nach

ihrer Meinung hat die deutsche Auf-

nahmegesellschaft versagt, die Ausländer

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nicht genug willkommen heißt und sie so

in die Leistungsverweigerung treibt. „War-

um scheitern so viele muslimische Jungen

in der Schule? Weil sie einem Rollen-

bild folgen, das nach innen Gehorsam

und Unterwerfung verlangt und nach au-

ßen Männlichkeit mit Stärke und Gewalt

gleichsetzt“, sagt dagegen die Soziologin

Necla Kelek.

Die Deutsch-Türkin Kelek gehört zu

der kleinen Gruppe von Wissenschaftlern,

die einen Zusammenhang zwischen den

Integrationsschwierigkeiten der muslimi-

schen Einwanderer und ihrem Glauben

vermutet. Kelek selbst ist das Paradebei-

spiel einer gelungenen Integration. Sie

kam mit zehn Jahren nach Deutschland,

sie machte ihr Abitur und studierte Sozio-

logie und Volkswirtschaft, gegen den Wil-

len des Vaters. Im März veröffentlichte

sie „Die verlorenen Söhne“, eine hellsich-

tige Analyse zur Lage der muslimischen

Männer.

Bei ihren Landsleuten, aber auch in wei-

ten Teilen der Linken, gilt Kelek als Ver-

räterin. Die „Zeit“ veröffentlichte vor we-

nigen Monaten einen Aufruf von 60 Mi-

grationsforschern, die ihre Arbeiten als

„unseriös“ und „unwissen-

schaftlich“ bezeichneten, weil

sie eigene, ältere Forschungs-

ergebnisse neu gedeutet habe.

Kelek hat eine ziemlich kla-

re Vorstellung, was schiefge-

laufen ist, und vieles hat mit

der Weigerung von Politik zu

tun, Realitäten anzuerkennen.

Die Rechten im Lande hätten

Ausländerpolitik defensiv be-

trieben, gegen Ausländer, ge-

gen Immigration, sagt Kelek.

„Die Linke hat einfach die

Vorzeichen umgedreht. Aus-

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länder waren an sich gut, und

wo sie es mal nicht waren, da

war sofort die Sozialpädagogik

zur Stelle, die nach dem Dreisatz verfuhr:

erklären, verstehen, helfen.

Das ist nichts anderes als „appease-

ment“ nach innen.

Nun wird nach Wegen gesucht, wie sich

die Deutschen ertüchtigen können, um

selbstbewusster ihre Werte nach innen und

außen zu verteidigen. Zum Beispiel wird

in manchen Kreisen eine Rückkehr der Re-

ligiosität erhofft und eingefordert, da nur

der starke Christ dem starken Muslim et-

was entgegenzusetzen habe. Den Deut-

schen soll wieder etwas heilig sein.

„Die Beleidigung, dass wir Christen von

Muslimen als ,ungläubig‘ bezeichnet wer-

den, beschwert den Dialog“, schreibt

CDU-General Pofalla.

Der CSU-Fraktionschef in Bayern, Joa-

chim Herrmann, nutzt den Fall „Ido-

meneo“, um die Kunstfreiheit in einem

Atemzug zu verteidigen und zu kritisieren.

Es sei falsch gewesen, die Aufführung ab-

zusetzen, aber Christus, Mohammed und

Buddha ohne Köpfe zu zeigen sei zugleich

„Verhöhnung und psychische Gewalt ge-

genüber vielen Gläubigen“. Er meint vor

allem Christen.

Die christlichen Kirchen haben in

Deutschland immer wieder versucht, sich

Schonräume zu sichern. Zuletzt gab es

einen klerikalen Aufschrei gegen die Reli-

gionssatire Popetown“ von MTV. Der

Münchner Kardinal Friedrich Wetter sagte,

man könne nicht zulassen, „dass Christus

und seine Leiden, die Mitte unseres Glau-

bens, so verhöhnt werden“. Zum wieder-

holten Male versuchte die CSU bei dieser

Gelegenheit, Gotteslästerung verschärft

unter Strafe zu stellen. Seit 1969 ist sie nur

verboten, wenn der „öffentliche Friede“

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gestört werden könnte.

Nicht alles ist ein Kunstwerk, was im

Namen der Kunstfreiheit geschützt wer-

den soll. Und nicht jede Religionskritik ist

Aufklärung, manches entspringt eher über-

großen Egos oder Geldgier. Aber wie will

man objektiv in guten und schlechten Ge-

brauch von Kunstfreiheit unterscheiden?

„Eine Freiheit, die nicht missbraucht werden

kann, ist keine“, so der Soziologe

Wolfgang Sofsky.

Deshalb liegt in der Verteidigung der

Freiheit immer auch die Verteidigung des-sen,

was einem nicht passt. Das ganze

Glück ist nicht zu haben. Es kommt für

die westliche Gesellschaft darauf an, sich

mögen zu können, auch wenn einen das

eine oder andere abstößt. Man braucht

vor allem Gelassenheit. Gerade die ver-hindert

„appeasement“.

Ein Vorbild könnte Henry Perowne sein,

der Held des Romans „Saturday“ von Ian

McEwan. Perowne ist Arzt und lebt in Lon-don.

Eines frühen Morgens beobachtet er

ein Flugzeug und hat den Eindruck, dass es

abstürzt. Er denkt an einen Terroranschlag.

So beginnt sein Tag. Und es ist ein Tag,

an dem er so ziemlich alles erlebt, was

an der westlichen Gesellschaft gut und

schlecht ist. Was an Perowne beeindruckt,

ist die Gelassenheit, mit der er durch die-sen

ereignisreichen Tag geht. Und er hat

nie Zweifel daran, dass es richtig ist, dieses

Leben ganz und gar anzunehmen. Am

Ende zeigt er sich tatsächlich wehrhaft und

verteidigt seine Familie erfolgreich gegen

einen Überfall.

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Erklärung

Hiermit erkläre ich, dass ich diese Arbeit selbstständig verfasst und keine

anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe.

Unterschrift