antónio lobo antunes buch der chroniken - … · lobo antunes ist verkauft worden) senhor...

23
António Lobo Antunes Buch der Chroniken

Upload: buixuyen

Post on 19-Sep-2018

218 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

António Lobo Antunes

Buch der Chroniken

Page 2: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an
Page 3: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

António Lobo Antunes

Buch der Chroniken

Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann

Sammlung Luchterhand

Page 4: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Die Originalausgabe erschien 1998unter dem Titel Livro de Crónicasbei Publicações Dom Quixote, Lissabon.

Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100Das fsc-zertifizierte Papier Munken Printfür die Sammlung Luchterhand liefertArctic Paper Munkwedals AB, Schweden

1. AuflageDeutsche ErstausgabeCopyright © der Originalausgabe 1998 António Lobo AntunesCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHSatz: Greiner & Reichel, KölnDruck und Einband: Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germanyisbn-10: 3-630-62086-8isbn-13: 978-630-62086-2

www.luchterhand-literaturverlag.de

Page 5: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Im Gedenkenan meinen GroßvaterAntónio Lobo Antunes(1889 – 1960)nach dem ich mich so sehr sehne

Page 6: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an
Page 7: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Inhalt

Lob der Vorstadt 11Der große Barrigana 15Verkehrsampeln und ihre Folgen 19Gestern um drei Uhr nachmittags 21Der Champion 24Das Paradies 27Der Olympiaschwimmer und die Erdnuß 30Die Buchmesse 33Das Alter 36Sonette an Christus 39Des Herzens Herz 42Mein Tod 46Die Erwachsenen 49Offener Brief an Tarzan Taborda 52Meine Sonntage 55Ma petite existence 58Erinnerungen an das Gelbe Haus 61Im Dahinschlendern laut geschriebene Chronik 65Der Schwerhörige 69Habe ich dich je angelogen? 72Ein Brief nach Campo de Ourique 75Die armen Leute 78Die Existenz Gottes 81Praia das Maçãs 86Zwei kleine Chroniken 89

Wie wir 89Brief an meinen Onkel João Maria 90

7

Page 8: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Natürlich erinnerst du dich an mich 93Schatten bärtiger Könige 96So eine Sache 99Gebrauchsanweisung 103Mein Alter 106Edgar, mein Liebster 111Das Ende der Welt 115Theorie und Praxis der Sonntage 119Das große schreckliche Verbrechen 123Die Einsamkeit der geschiedenen Frauen 127Wo der Künstler sich vom werten Publikum

verabschiedet 130Die große Liebe meines Lebens 133Ich bin sechs Monate jünger als Ihr Vater 137Der berühmte Mann 137Die Bräute 145Sandokan und das Minho-Mädchen 148Chopin ist ein Hähnchen 151Zeichen von innerem Reichtum 154Was dich betrifft 157Die ewigen Jagdgründe 160Wiedergutmachung und Lob für Frutuoso França 163In Gesellschaft schlafen 168Chronik des armen Liebenden 171Der Schmetterling im Kokon und ich 175Tierliebe 178Die Computer und ich 181Die Windungen der Meeresschneckenhäuser 184Emília und eine Nacht 187Die Nacht der Miss-Wahlen 190Der letzte Trick meines Vaters 194Weihnachtschronik 198Der Oberstleutnant und Weihnachten 202

8

Page 9: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Porträt des Künstlers als junger Mann 206Das Kreuzworträtsel aus der Zeitung 210He, du Krücke, der Ton ist weg 213Über die Sozialdemokratie als Scheidungsgrund 216Der Spitfire von Olivais 219Der Tag vor meinem Erstickungstod 223Von Sünde nicht die Spur 227Wie das Leben so spielt 230António João Pedro Miguel Nuno Manuel 234Ist ja gut, Junge 237Eheliche Liebe 241Unverhoffte alte Schatten 244Der letzte König von Portugal 248Aufs Blau kommt es an 251Sehnsucht nach Ireneia 254Die erste Begegnung mit meiner Frau 257Der dritte Weltkrieg 260Die Struktur der Schneeflocken 263Chronik zum Karneval 266Meinem Freund Michel Audiard gewidmete und

von uns beiden geschriebene Chronik 269Bringst du mir das Fliegen bei? 273Die Feira Popular 278Auf dem Grund des Leids ein offenes Fenster 282Von der Witwenschaft 286Bin gleich zurück 290Chronik der Fastenzeit 293Heute möchte ich über meine Eltern sprechen 297Die Gasflaschen und ich 301Brasilien 304Nach zwei Glas Rotwein zum Mittagessen

geschriebene Chronik 307Ein Regentropfen auf dem Gesicht 310

9

Page 10: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Mit dem Taschenmesser geschrieben 314Der Bauch 318Besser man geht mit gesenktem Kopf als

mit den Füßen zuerst 323Bevor es Nacht wird 326Die Militärs 330Was Dulce einmal war, gibt es nicht mehr 334Jedes Licht ist besser als die dunkle Nacht 337Letzte Chronik 340Beschreibung der Kindheit 343Über Pferde, Könige, Priester & Tante Pureza 347Mehr oder weniger das Leben 351Die Museen 355Hommage an José Ribeiro 358Stirb jetzt bloß nicht, die Leute gucken schon 361Ansprache an die Rosen 364Alverca, 1970 367Estrada de Benfica 370Glossar 373

10

Page 11: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Lob der Vorstadt

Ich bin in einem Vorort von Lissabon, in Benfica, aufgewach-sen, damals Villen mit Gärten, kleine Gassen, niedrige Häu-ser, und ich hörte, wie in der Abenddämmerung die Müt-ter

– Vííííííííítor riefen, mit einem Schrei, der, von der Rua Ernesto da Silva

ausgehend, die Störche auf den Wipfeln der höchsten Bäumeerreichte und die Pfauen im Teich unter den Ulmen ertränk-te. Ich wuchs auf neben dem kleinen burgartigen Stadtor, dasuns von Venda Nova und der Estrada Militar trennte, in ei-nem Land, dessen Grenzposten die Drogerie von Senhor Jar-dim, der Krämerladen vom Glatzkopf und die Konditorei vonSenhor Madureira und der Kurzwarenladen Havaneza vonSenhor Silvino waren, und verbrachte die Nachmittage in derSchusterwerkstatt von Senhor Florindo, der in einem dunk-len Kabuff, umringt von auf kleinen Schemeln sitzendenBlinden, in den Geruch von Leder und Armut gehüllt, derbis heute der einzige mir bekannte Geruch der Heiligkeit ist,Sohlen hämmerte. Dona Maria Salgado, klein, mager, immerin Trauerkleidern, trug die Heilige Familie von Villa zu Villa,und vierzehn Tage lang beherbergten meine Großeltern diesedrei Tonfiguren unter dem beschlagenen Glassturz, den dieDienstmädchen mit Öldochten beleuchteten. Ich wuchs aufzwischen Senhor Paulo, der mit Bindfäden und Rohrstöck-chen die Flügel der Spatzen richtete, und den »Papageien-nasen«, deren Tante mit einem Zigeuner auf und davon warund am Strand aus Händen die Zukunft las, schwarz geklei-

11

Page 12: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

det wie die Witwe eines Seemanns, der die Küste nie erreichthat. Meine Freunde hatten unglaubliche Vornamen

(Lafaiete, Jaurés)und wohnten in Erdgeschossen, deren Fenster auf Straßen-

höhe lagen und in denen riesige Radioapparate, Blumentöpfemit Basilikum und Gevatterinnen in Pantoffeln zu erken-nen waren. Der Hund der Gerberei zündete in den Julinäch-ten, in denen Akazienpollen auf meine Augenlider regneten,phosphoreszierendes Gebell an, ich fand mich, vor Liebe zurFrau von Sandokan ersterbend, im Schulklo eingeschlossenals Einhorn wieder, und der Brigadier Maia stieg, die Basken-mütze auf dem Kopf, mit ausladenden Gesten auf die Regie-rung schimpfend, zur Adega dos Ossos hinunter. Damals, alsich dreizehnjährig im Fußballclub Benfica das erste Mal Roll-schuhhockey spielte, stellte der mit den Schulterpolstern einesmittelalterlichen Barons versehene Torwart den staunendenKameraden mich mit

– Der Vater vom Blondschopf ist Doktorvor, was sofort in dem Augenblick meinen ersten sportli-

chen Ruhm und die erste finstere Verantwortung herstellte,als der Trainer, indem er meine Muskeln mit den Augen abta-stete, mit zweifelnd verzogenem Gesicht meinte

– Mal sehen, ob du die fertigmachst, Blondschopf, dein Va-ter war nämlich auf der Rollschuhbahn ein ziemlicher Rauf-bold.

Der Besitzer der Apotheke União war Stockkämpfer, dieGattin des Besitzers der Apotheke Marques eine üppige Grie-chin mit amphorenförmigem Hinterteil und glühenden Au-gen, die mich die Frau von Sandokan vergessen ließ, wennich sie sonntags auf dem Weg zur Kirche sah, der Glöckner,der Zé-der-Hammer genannt wurde und während der Ele-vation der Mittagsmesse »Papagaio Loiro« anstelle des vor-geschriebenen »Am dreizehnten Mai« spielte, besaß ein Be-

12

Page 13: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

erdigungsinstitut, dessen Prospekt mit den Worten begann»Wozu unbedingt weiterleben, wenn Sie für hundert Escudoseine schöne Beerdigung haben können?«, und ich schrieb inden Hockeypausen Gedichte, rauchte heimlich, war zwischenJesus Correia und Camões hin- und hergerissen, und ich warunverschämt glücklich.

Wenn ich heute nach Benfica zurückkehre, finde ich Ben-fica nicht mehr. Die Pfauen schweigen, kein Storch hocktmehr auf der Palme bei der Post

(die Palme bei der Post gibt es nicht mehr, das Landgut derLobo Antunes ist verkauft worden)

Senhor Silvino, Senhor Florindo und Senhor Jardim sindgestorben, mehrstöckige Gebäude wurden an der Stelle derHäuser hochgezogen, doch ich habe den Verdacht, daß unterdiesen Gebäuden mit fünf, sechs, sieben, acht, neun Stock-werken, irgendwo unter den verglasten Veranden und Bank-filialen, Senhor Paulo noch immer mit Bindfäden und Rohr-stöckchen die Flügel der Spatzen richtet, Dona Maria Salgadonoch immer mit dem beschlagenen Glassturz mit der Hei-ligen Familie von Villa zu Villa trabt, Lafaiete und Jaurés aufder Calçada do Tojal von Basilikumtöpfen und Gevatterinnenin Pantoffeln umringt Kippel-Kappel spielen. Es gibt keinePfauen und keine Störche mehr,doch dieAkazie meiner Elternhält beharrlich stand. Vielleicht hält nur die Akazie stand,bleibt allein sie aus dieser Zeit wie der die Wellen durchbre-chende Mast eines versunkenen Schiffes. Die Akazie reichtmir. Die Läden und die Hinterhöfe haben sie abgerissen, siespielen nicht mehr »Papagaio Loiro« mit den Glocken, dochdie Akazie hält stand. Hält stand. Und ich weiß, daß ich beiihrem Stamm, wenn ich die Augen schließe und das Ohr anden Stamm lege, die Stimme meiner Mutter hören werde, die

– Antóóóóóónioruft, und ein weizenblonder Junge wird durch den Garten

13

Page 14: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

kommen, in der Hosentasche ein Säckchen mit Murmeln, erwird an mir vorübergehen, ohne mich zu sehen, und dortoben in seinem Zimmer verschwinden und davon träumen,daß die Frau von Sandokan ihn jedenfalls niemals zwingenwürde, beim quälenden Abendessen Kartoffelpüree und Sup-pe mit Kohlrübenblättern zu essen.

14

Page 15: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Der große Barrigana

In den letzten vierzig Jahren habe ich voller Begeisterung,Hingabe und Bewunderung fast alle portugiesischen Torhü-ter spielen sehen, vom unvergeßlichen Azevedo, dem Her-kules von Barreiro, bis hin zu José Pereira, dem Blauen Vogel

(von dem ich monatelang eine illustrierte Biographie wieeinen Schatz gehütet habe, in der es jede Menge Fotos gab,von denen eines einen verhutzelten kleinen Mann neben ei-ner Lokomotive und den beeindruckenden Untertitel zeigte,Sein Vater Amadeu Pereira in Ausübung seines Berufes alsTunnelwächter vom Rossio)

ich habe den hünenhaften Ernesto vom Atlético gesehen,den Schrecken der Rechts- und Linksaußenspieler, ich habeAbraão vom Olhanense gesehen, dessen magischer Name fürmich den apokalyptischen Klang des Katechismus besaß,habe Cesário vom Sporting de Braga an jenem ruhmreichenNachmittag gesehen, an dem er auf dem Grandplatz des Ben-fica die Torschüsse von Palmeiro, Arsénio, Águas, Rogériound Rosário gehalten hat, ich habe Capela vom Académicogesehen und Sebastião, den blonden Nero vom Estoril Praia,der für seine akrobatischen Flüge berühmt war, habe CampoFrancisco Lázaro gesehen, der sich dem phantastischen Aní-bal mit der mit Brillantine geformten Tolle auf ganzer Liniegeschlagen geben mußte, angesichts dessen mein Onkel JoséMaria immer ausrief, größer war nur der von den punischenKriegen, ich habe den kapriziösen Carlos Gomes gesehen, wieer Fotografen mit Fußtritten traktierte, bevor er nach Spa-nien transferiert wurde und dem Präsidenten des Clubs, als

15

Page 16: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

sie ihn nicht bezahlten, mit dem berühmten Satz drohte:Kein Geld kein Torwart, ich habe voller Zärtlichkeit Vitalvom Lusitano de Évora begleitet, der mit der nachdenklichenHacke seines Fußballstiefels die Mitte des Tores markierte,und dennoch habe ich zu meinem größten Bedauern keineinziges Spiel meines Idols gesehen, Frederico Barrigana, den»Eisenhände« genannten Keeper des FC Porto.Um dieses Un-glück wettzumachen, schnitt ich hingerissen die Schnapp-schüsse aus der Zeitung aus, die ihn zeigten, wie er mit einemStürmer hochsprang und ihm dabei ein bremsendes Knie indie männlichen Teile rammte

(warum bloß Teile, wo sie doch ganz sind?)um das mörderische Ungestüm des Gegners abzukühlen;

ich bewunderte seine Glatze, die die Mütze genau wie eineKapsel bedeckte; ich sammelte seine Interviews

(als Beispiel eine seiner prophetischen Erklärungen: »DieJungs vom Elvas werden alles um alles geben«)

und verfolgte mit offenem Mund, die Finger muschelför-mig ans Ohr gelegt, die Reportagen von Artur Agostinho, dersonntags nachmittags um drei in epischem Tonfall von denHeldentaten des großen Frederico Barrigana im bis auf denletzten Platz besetzten Stadion berichtete. Mit zwölf Jahrenwäre ich, hätte es nicht meinen leidenschaftlichen Wunschgegeben,Schriftsteller zu werden,zu gern jener »Eisenhände«gewesen. Aber ich besaß selbstverständlich ein ausreichendgutes Gefühl für meine Grenzen, um zu wissen, daß mannicht der große Frederico Barrigana sein wollen kann; manist es, weil Gott ihn so geschaffen hat, vollkommen wie nurer, von Anfang an.

Der Schmerz, kein einziges Spiel vom großen FredericoBarrigana miterlebt zu haben, hat mich ein ganzes Leben langmit periodisch aufglimmender Melancholie begleitet, wasmich dazu brachte, alle anderen portugiesischen oder auslän-

16

Page 17: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

dischen Torwarte, die mir das Estádio da Luz bot, mit einemschnellen Schulterzucken verächtlich abzufertigen: Es wardas Barrigana-Syndrom

(eine Wesenheit der Nosologie, um deren Eingang in diemedizinischen Fachbücher zu kämpfen ich nicht aufgegebenhabe)

das mein Hirn bearbeitete: »Eisenhände« wurde zum un-erreichbaren idealen Normmeter aus Platiniridium, wie je-ner im Institut für Maße und Gewichte

(für nähere Erklärungen siehe die Abbildung im Physik-buch des 3. Gymnasiumsjahres)

mit dem alles im Leben gemessen wurde, seien es Politi-ker, Dichter, Vizekönige oder Bildhauer.

Im Jahr 1973 gefiel es dem Allerhöchsten, meine Bittenin Angola, in der Ebene von Cassanje, endlich zu erhören. Ineiner Pause in den kriegerischen Dramen an der Grenze zumKongo, die jetzt nichts zur Sache tun, ging ich gerade überden Fußballplatz des Ferroviário de Malanje, als ich einenglatzköpfigen, dickbäuchigen Mann in einem gewissen Altersah, der im Trainingsanzug auf das Tor schoß, in dem einMulatte stand, dessen Scheitel mit einem Taschenmesser insKnäuel des Kraushaars geschnitten war, während ihn hinterdem Netz eine Gruppe schwarzer Kinder begeistert mit denSchreien anfeuerte

– Zeig’s ihm Barrigana– Semmel ihn rein Barrigana– Versenk ihn Barriganaich näherte mich anfangs ungläubig, dann hingerissen: ER

war es. Auf einem verlorenen Fußballplatz in Afrika, inmit-ten von Affenbrotbäumen und Mangobäumen voller Fleder-mäuse, brachte »Eisenhände«, um den Hals eine Trillerpfeife,von missionarischem Geist und einer pädagogischen Hingabeerfüllt,die mich entzückten und rührten,den Kindern aus dem

17

Page 18: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Musseque Fußball bei. Bei jedem Schuß des Genies brülltendie Jungs ekstatisch

– Hau drauf Barriganamit einer Vertraulichkeit, die mein Idol ärgerte. Niemand,

kein Staatschef, Feldmarschall, Papst oder Zahnarzt, hatteaus seiner und aus meiner Sicht das Recht, den göttlichenFrederico Barrigana zu duzen. Zu Recht über eine derartigeBeleidigung empört, ließ »Eisenhände« mit einer Patrizier-geste den gescheitelten Mulatten erstarren, der sofort unter-würfig Haltung annahm, und ging dann mit ausgestrecktemZeigefinger auf die vor Respekt wie angewurzelt dastehendenKinder zu und befahl mit fürchterlicher Stimme wie beimJüngsten Gericht, um ihre Zunge zu zähmen und sie jeneehrerbietige Höflichkeit zu lehren, die man den Götternschuldet, welche Jupiters Barmherzigkeit uns nur höchst sel-ten schickt, um unsere Existenz zu rechtfertigen, wie auchEroberern, Heiligen, Geometern und Steuerprüfern

– Nicht Barrigana und nicht per du. In der dritten Person:Senhor Barrigana.

Und nie habe ich ihn mehr bewundert als an jenem Tag.

18

Page 19: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Verkehrsampeln und ihre Folgen

Ich hasse Verkehrsampeln. Zuerst einmal, weil sie immer rotsind, wenn ich keine Zeit habe, und grün, wenn ich welchehabe, einmal abgesehen vom Gelb, das in mir immer einegräßliche Unentschlossenheit hervorruft: Soll ich bremsenoder Gas geben? Bremsen oder Gas geben? Bremsen oder Gasgeben? Ich gebe Gas, dann bremse ich, gebe wieder Gas, undals ich wieder bremse, ist mir gleich ein Lieferwagen in dieTür gefahren, hat sich bereits eine Menschenmenge versam-melt, die auf Blut hofft, ist schon ein Typ mit einem Schrau-benschlüssel in der Hand aus dem Lieferwagen gestiegen undnennt mich Sie Esel, legt mir die Versicherungsgesellschaftbereits wärmstens nahe, sie gegen irgendeine Rivalin auszu-tauschen, habe ich gleich eine Woche lang kein Auto mehr,stehe ich am Rand des Bürgersteigs und winke den Taxis mitden Gesten eines Ertrinkenden zu, zahle ich ein Vermögenfür jede Fahrt und muß zudem noch das Pirilampo Mágicound die Heilige Jungfrau auf dem Armaturenbrett, das amRückspiegel hängende Plastikskelett, den Aufkleber mit demlanghaarigen Mädchen mit Hut neben dem Hinweis ertragen»Nicht rauchen ich binAsthmatiker«,eine Nachbarschaft,diemich annehmen läßt, daß die Atemwegsprobleme sich auf-grund irgendeiner verborgenen Niedertracht des Mädchensverstärken, welche allerdings ist mir nicht klar.

Der zweite und hauptsächliche Grund, weshalb ich Ver-kehrsampeln hasse, ist,daß jedesmal,wenn ich anhalte,an derScheibe die unglaublichsten Kreaturen auftauchen: Zeitungs-verkäufer, Verkäufer von Heftpflastern, fromme Damen mit

19

Page 20: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

einem Metallkästchen vor der Brust, die einem herrisch denKrebs von der Krebshilfe aufs Herz kleben, die stämmigenBurschen der Blindenliga João de Deus unweit eines Laut-sprechers auf einem Lastwagen mit einem niegelnagelneuenStraßenkreuzer darauf, der würdige Herr, dem die Brief-tasche geklaut wurde und der nun Geld für den Zug nachPorto braucht, der Tuberkulosekranke mit seinem Attest alsBeweis, jede Art von Krüppeln

(Mikrozephale, Makrozephale, Einbeinige, Bucklige, nachinnen und nach außen Schielende, Menschen mit Kropf, ver-krüppelten Armen, Händen mit sechs Fingern, Händen ohneeinen einzigen Finger, Mongoloide, Parteifunktionäre usw.)

einmal ganz abgesehen von den Männern der freiwilligenFeuerwehr, die einen Krankenwagen brauchen, den Coimbra-Studenten im letzten Studienjahr mit Umhang und im Geh-rock, die beschlossen haben, zum Abschluß des Studiumseine Reise nach Burma zu machen, und all den Heroinjun-kies, denen es an diesem Tag noch nicht gelungen war, einenKassettenrecorder zu stehlen.

Ergebnis: An der ersten Ampel ist mein Kleingeld alle. Ander zweiten habe ich keine Jacke mehr. An der dritten habeich keine Schuhe mehr. An der fünften bin ich nackt. An dersechsten habe ich den Volkswagen verschenkt.An der siebtenwarte ich, daß es Rot wird, um mit der Menge aus Feuerwehr-leuten, Studenten, Drogensüchtigen und Mikrozephalen daserste sich nähernde Auto zu überfallen. Im Durchschnittwechsle ich fünfmal die Kleidung und den Wagen, bis ichmein Ziel erreiche, und wenn ich am Lenkrad eines TIR-Lastwagens, in riesigen Hosen schwimmend, ankomme, be-schweren sich meine Freunde darüber, daß ich unpünktlichbin.

20

Page 21: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

Gestern um drei Uhr nachmittags

Ich kenne Pedro, so lange ich denken kann. Wir wohntenbeide in der Travessa dos Arneiros in Benfica, ich unten zwi-schen der Schusterwerkstatt von Senhor Florindo und demKohlenladen, in dem Briketts und Rotwein verkauft wurdenund in dem ein Rabe mit gestutzten Flügeln lebte, der alleWelt vom Sägemehl des Fußbodens aus beschimpfte, und erbei seiner Großmutter in der Nähe des Friedhofs in einemHäuschen mit Porzellanbambis auf den Regalen und einemGarten mit einem riesigen, an die Mauer gelehnten Mispel-baum, der keine Früchte trug.

Wir gingen zusammen in die Schule von Senhor André,sammelten gemeinsam Fußballbildchen und Fotos von Film-schauspielern aus den Kaugummis, wir sammelten für dasFest des heiligen Antonius auf dem Largo Ernesto da Silvaund lasen das Lokalblatt Ecos de Pombal, das seine Großmut-ter abonniert hatte, vor allem die Todesanzeigen voller über-raschender Mitteilungen. Ich erinnere mich an eine, in derkundgetan wurde, daß der Comendador Ernesto da ConceiçãoBorges, der Onkel unseres werten Mitarbeiters Carlos Al-berto Borges, zu gelegener Zeit in Brasilien gestorben sei. Ichfür meinen Teil hoffe, niemals zu gelegener Zeit für einenmeiner Neffen zu sterben.

Später ging ich, da mein Vater Arzt war, in das LiceuCamões. Da Pedros Großmutter Ecos de Pombal abonnierthatte, ging er in die Escola Veiga Beirão.Aber trotz dieser un-terschiedlichen Schicksale, die aus der Tatsache herrührten,daß ich in zwölf Zimmern lebte, er aber nur in zweien, blie-

21

Page 22: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

ben wir Freunde. Wir wurden am selben Sonnabendnach-mittag in die Geheimnisse des Fleisches in einem ersten Stockin der Rua do Mundo initiiert, einem Raum voller Spiegelund zerrissenem Samt, in dem die Wohltäterinnen auf zitt-rigen Stühlen Tantenhäkelarbeiten anfertigten. Eine Damein Pantoffeln, die ihre Krampfadern wie ein invalider Sohlen-gänger herumschleppte, bot uns, als wir hereinkamen, einBier an und leerte, als wir hinausgingen, unsere Taschen. Undwährend wir in einem Seelenzustand die Treppe hinunter-stiegen, der einer Levitation nahekam, dachte ich an das Ge-schöpf, das mir zum ersten Mal in meinem Leben die Fähig-keit zu fliegen verliehen hatte: Sie hieß Arlete, war in einerNonnenschule in Penafiel erzogen worden und arbeitete imBairro Alto, um die blinde Mutter ernähren zu können.

(Noch heute, wenn ich an sie denke, hoffe ich, daß sie Ecosde Pombal abonniert hat, um die Nachricht zu lesen, daß einOnkel von ihr im Range eines Comendador in Brasilien ge-storben ist, damit sie ihrer Mutter die Bequemlichkeiten, diedie würdige Dame verdiente, bieten und selber ihre religiöseErziehung vollenden konnte.)

Nach dem Krieg sahen Pedro und ich uns weiterhin. Er waraus Benfica weggezogen, hatte ein Haus in Amora gemietet,arbeitete als Buchhalter in einer Reifenfabrik und schrieb Ro-mane, die wir auf Segeltuchklappstühlen unter dem Apfel-baum im Garten sitzend Satz für Satz durchsprachen.Ich habeihn zu einer Figur eines meiner Romane gemacht,seine Groß-mutter zu der eines anderen. Ich besuchte ihn sonnabends,und wir sprachen stundenlang über das verlorene Benfica unddarüber, was wir einstweilen noch nicht verdienten. Ich warvor kurzem geschieden worden, Pedro hatte nie geheiratet.

Gestern bin ich wie gewohnt zu ihm nach Amora gefah-ren. Es war drei Uhr nachmittags. Als ich den Wagen anhielt,sah ich ihn, der mich nicht bemerkte, einen Seidenschal um

22

Page 23: António Lobo Antunes Buch der Chroniken - … · Lobo Antunes ist verkauft worden) Senhor Silvino,Senhor Florindo und Senhor Jardim sind gestorben,mehrstöckige Gebäude wurden an

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

António Lobo Antunes

Buch der Chroniken

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Klappenbroschur, 384 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-630-62086-2

Sammlung Luchterhand

Erscheinungstermin: Juli 2006

Sehr zugänglich, sehr vergnüglich, sehr persönlich. In diesen kurzen, ursprünglich für eine portugiesische Tageszeitung geschriebenen Geschichtenzeigt sich Lobo Antunes, der in seinen Romanen die Abgründe der menschlichen Seeleerforscht, von seiner sonnigen Seite. Heitere Episoden aus der Kindheit, Spaziergänge durchLissabon, Anekdoten aus seiner Zeit als Psychiater, Geschichten über Fußball, Tarzan, Gott, dieBuchmesse, die Ehe, Erziehung, Strandleben, Karneval, alte und junge Frauen – Lichtblicke desLebens, festgehalten mit einem Augenzwinkern.