ann patchett: dinner for one,please, james

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Aus: Friederike Schilbach (Hg.), Dinner for One. Ann Patchett, geboren 1963 in Los Angeles, schreibt Romane, Essays, Erählungen. Zu ihren bekanntesten Romanen zählen "Bel Canto" (neu aufgelegt bei bloomsbury taschenbuch, 2012), für den sie den Pen/Faulkner Award und den Orange Prize for Fiction erhielt, sowie "Fluss der Wunder" (Bloomsbury Berlin, 2012). Sie lebt in Nashville, Tennessee, wo sie gerade ihre eigene Buchhandlung Parnassus Books eröffnet hat.

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Dinner for One, Please, James

von Ann Patchett

Im Winter 1990 war ich sechsundzwanzig Jahre alt und pleite. Ich lebte allein in Provincetown, Massachusetts. Der Winter an der Spitze von Cape Cod war eine einsame Angelegenheit, aber ich war schon immer gern allein gewesen, daher fand ich es gar nicht schlecht. Ich war im Rahmen eines Stipendienprogramms im Fine Arts Work Center, bei dem zehn Künstler und zehn Autoren außer-halb der Saison sieben Monate dort arbeiten können. Wir hatten ein Dach über dem Kopf und bekamen drei-hundertfünfzig Dollar im Monat, von denen wir Essen, Telefon und alles andere bezahlten, was man kaufen kann, wenn man sehr wenig Geld hat und kaum eine Gelegenheit, es auszugeben.

Ich kam prima zurecht. Pleite und allein zu sein klingt für die meisten Leute hart, aber wenn man einen Roman zu schreiben hat, ist es eigentlich ganz förder-lich. Ich stellte fest, dass ich, wie das Gestrüpp im Sand an der Küste, durch Vernachlässigung aufblühte. Alles, was in den Sommermonaten in der Stadt geglitzert und pulsiert hatte, hatte seine Zelte abgebrochen und war

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schon weg, als ich im Oktober ankam. Die Obststände waren mit Brettern vernagelt, die Restaurants geschlos-sen. Nur ein oder zwei tapfere Bars waren noch geöffnet, damit die Einwohner nicht vollends verrückt wurden. Der Supermarkt A & P auf der Shank Painter Road ver-kaufte in kürzeren Öffnungszeiten weniger Ware zu, wie mir schien, exorbitanten Preisen. Kurzum, die Saison war vorbei.

Ich hatte eine sehr kleine Wohnung im zweiten Stock  eines Hauses. Ein Zimmer war die Küche, das andere ein Schlafzimmer, das nicht viel größer war als eine Doppelmatratze. Ich bugsierte das Bett in die Küche, um das Schlafzimmer zum Arbeitszimmer zu machen, denn ein Arbeitszimmer war für mich das wich-tigste. Und in der Küche zu schlafen fand ich plausibel. Es war dort wärmer, und morgens konnte ich mir Hafer-brei und Tee kochen und gleich wieder mit ins Bett neh-men.

Diese sieben Monate, lang und kalt und still, waren die ersten, die ich jemals wirklich ganz allein verbrach-te. In meinem zarten Alter hatte ich reichlich Erfahrung damit, dass sich jemand um mich kümmerte, und ein bisschen Erfahrung damit, mich um andere zu küm-mern, aber ich hatte noch nicht die Gelegenheit gehabt, herauszubekommen, wie ich vollkommen allein zurecht-kam. Wann würde ich ins Bett gehen? Würde ich immer noch so ordentlich sein? Würde ich zu viel trinken, oder vielleicht gar nicht trinken? Was würde ich mir zum Abendessen machen?

Die Antwort auf die letzte Frage war nicht gerade beeindruckend.

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Es stellte sich heraus, dass ich, wenn es um Essen geht, die Bereitschaft zu endlosen Wiederholungen besitze. Das Frühstück war immer das gleiche, und Langeweile kam dabei niemals auf. Solange ich allein aß, aß ich Haferbrei, wie die Patchetts es schon seit Generationen tun. Tatsächlich war Haferbrei eines der komplizierteren Gerichte, die ich für mich allein kochte, denn man braucht dafür einen Herd. Allerdings habe ich auch schon schüsselweise ungekochte Haferflocken ge-gessen, die ich bei der Arbeit knabberte. Sie haben mir so gut geschmeckt, wie sie einem Ackergaul geschmeckt hätten. Mein Mittagessen bestand jeden Tag aus einem Tomatensandwich mit Senf. Eine Tomate reichte für zwei Mittagessen, und wenn sie besonders dick war, auch für drei. Davon ließ ich mich nicht mal im Februar abbrin-gen, als die Tomaten orange und nahezu durchscheinend waren und die Konsistenz eines Softballs hatten. Wenn ich richtig gut drauf war, machte ich mir zum Abend-essen ein Rührei oder kippte mir Fertigsoße über ein paar Nudeln, aber so gut war ich meistens nicht drauf. Dann aß ich scheibenweise Weichkäse mit Kräckern und einem Klecks Salsa und ging nach und nach zu Krä-ckern mit Butter und Marmelade als Nachtisch über. Ich aß Kräcker, bis ich keinen Hunger mehr hatte, und dann hörte ich auf. Was ich nicht im Bett sitzend aß, aß ich im Stehen über die Spüle gebeugt, oder manchmal vor dem Kühlschrank, wo ich nach Dingen suchte, die nicht da waren. Tag um Tag, Woche um Monat, hielt ich mich an diesen Ablauf wie ein Chormädchen in der letzten Rei-he. Es machte mir nichts aus. Auch jetzt, Jahre später, in einem Leben voller wunderbarer Supermärkte und mit

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einem verfügbaren Einkommen, liebe ich diese Kräcker immer noch.

Vielleicht ließe sich dieser beschämende Mangel an kulinarischer Raffinesse mit meinem Mangel an Mög-lichkeiten erklären: ich hatte kaum Geld, der Super-markt kaum Auswahl, und die Restaurants, wenn ich sie mir hätte leisten können, waren geschlossen. Wenn es nur darum ginge, was ich in Zeiten des Mangels geges-sen habe, dann wäre es einfach ein trauriges Kapitel in einer ansonsten glänzenden kulinarischen Geschichte. Ich war aber gar nicht traurig, ich war allein, und wenn ich allein bin, ist es mir unmöglich, irgendeinen kulina-rischen Standard zu wahren.

Das hat nichts damit zu tun, dass ich es nicht besser wüsste. Als ich mir Salsa auf Kräcker kippte, wusste ich durchaus über Ernährung Bescheid. Meine Mutter, die sich komplett von Scheibletten und Weetabix ernähren könnte, kann eine perfekte Béchamelsauce zubereiten. Sie hat meiner Schwester und mir beigebracht, wie man die Haut eines Huhns anhebt und frische Kräuter darunterschiebt, und wie man das Innere mit Knoblauch und Zitrone füllt. Wieder und wieder sah ich sie über die Bücher von Julia Child gebeugt, um sich etwas Neu-es für Thanksgiving einfallen zu lassen, ein gesetztes Essen für zwölf Personen oder eine Cocktailparty für Hundert. Meine Schwester und ich lernten, wie man ein Rezept befolgt (es ist nur eine Frage der Aufmerk-samkeit, wie bei den Leseverständnistests in der achten Klasse) und wann man vom Rezept abweicht und sein eigenes Ding macht. In der High School war ich be-sonders gut in Hauswirtschaft. Für die Französisch-AG

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machte ich Crêpes und Madeleines. Mein erster Job auf dem College war die Leitung der Studentenbäckerei, ich stand um fünf Uhr morgens auf und buk vor dem Unterricht einhundert Plätzchen und mehrere Kuchen. Am Abend half ich beim Kochen für Dinnerpartys beim Präsidenten. Ich machte Buttergebäck und Ossobuco. Ich rührte Salatdressings an und ließ Flan stocken. Ich war Mitte zwanzig und verführte die Jungs, auf die ich stand, mit kreolischen Shrimps und Schokoladen-kuchen. Ich habe meinen Anteil Liebe bekommen. Auf der Graduate School kochte ich extra weiche Mahlzeiten für meine beste Freundin Lucy, die als Kind an Krebs erkrankt war und den halben Kiefer verloren hatte, sodass sie nicht alles kauen konnte. Ich arbeitete als Chef de Partie in einem edlen vegetarischen Restaurant und verbrannte mir die Handgelenke und Daumen am Grill. Ich habe ein Pastetenrezept, für das man zwei Tage braucht, und alle meine Pasteten, selbst die mit Blaubeeren, sind von der ersten Scheibe an makellos. Ich war Kellnerin, Gastwirtin und mit vierundzwanzig für kurze Zeit eine eifrige Ehefrau, die jeden Abend ein Essen nach der klassischen Ernährungspyramide auf den Tisch brachte.

Es ist einfach so: Ich liebe es, Leute zu bekochen. Ich liebe es, wenn sie begeistert sind, sich wohlfühlen und sich darüber freuen, dass man sich um sie kümmert. Das Kochen gibt mir die Möglichkeit, andere glück-lich zu machen, was in einer sehr einfachen Gleichung wiederum mich glücklich macht. Ich glaube, dass Essen ein ganz starkes Kommunikationsmittel sein kann, mit dem ich mich auf eine Weise ausdrücken kann, die mir

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manchmal viel tiefer und ernsthafter vorkommt als Wör-ter. Meine Gru yère-Käsebällchen frisch aus dem Ofen sagen: Schön, dass du da bist. Setz dich, entspann dich, ich kümmere mich um alles.

Was sagt es nun über meine Selbstachtung aus, dass ich sehr gut weiß, wie man eine Velouté macht, und mir, wenn ich allein bin, trotzdem eine Dose Nudeln aufmache? (Und »eine Dose Nudeln« ist hier keine Me-tapher.) Bin ich es mir nicht wert, mich selbst ebenso liebevoll zu behandeln wie andere Leute? Oder ist es im Gegenteil ein Zeichen für größere Selbstliebe, mir nicht die ganze Arbeit für ein Essen zu machen?

Ich glaube, man kann eine sehr gute Köchin sein, obwohl man eigentlich gar nicht viel aufs Essen gibt. Dass man ein Gericht zubereiten kann, bedeutet nicht, dass man es unbedingt essen möchte. In Restaurants für Fremde zu kochen macht mir viel mehr Spaß, als mich mit meinen eigenen Gästen hinzusetzen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich Fremde bevorzugen würde, aber Fremde wollen normalerweise nicht mit einem zusam-men essen. Kochen ist anstrengend, und nichts verdirbt mir so sehr den Appetit, wie den ganzen Tag das Fett von Hühnern zu entfernen oder ein paar Pfund Rosenkohl zu papierdünnen Konfetti zu schreddern, ohne mir die Fingerspitzen abzusäbeln. Na klar, ich kann eine See-zunge Müllerin machen, aber das geschieht über einer Flamme, die ebensogut das Tor zur Hölle beleuchten könnte. Es gibt nur einen Sekundenbruchteil, in dem die Seezunge gut wird, man muss die Beilagen auf dem Teller haben und den Teller in dem Augenblick an den Tisch bringen, in dem der Fisch fertig und alles glühend

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heiß ist. Das kriege ich gerade so hin, aber kann ich es dann auch essen? Das Haar klebt mir am Kopf, mir zittern die Hände, wenn ich nur eine Gabel halte, in meiner Nase hängt der Geruch gebräunter Butter. Das ist der Moment, in dem ich mich unter die Dusche wünsche, nicht an den Tisch, und außerdem ist es unmöglich, gleichzeitig den Hauptgang zu essen und die Zabaione zu schlagen.

Es ist mir ein großes und aufrichtiges Vergnügen, mei-ne Lieben zu bekochen, aber es ist mir ein ebensolches Vergnügen, diese Verantwortung nicht zu haben, und delikates, schönes und komplexes Essen links liegen zu lassen zugunsten von irgendetwas, das gar nicht schief-gehen kann. Essen als einfaches Mittel, um den Hunger zu stillen, stellt eine der großen Freiheiten des Allein-seins dar, wie nachmittags allein ins Kino zu gehen, oder wie damals in der goldenen Jugend eine Zigarette in der Badewanne zu rauchen. Es ist ein Vergnügen, nicht ir-gendwessen Geschmack beachten zu müssen oder mich zu rechtfertigen, warum ich meinen Grapefruitsaft gern aus der Packung trinke. Essen ist schließlich eine Frage des Geschmacks, und Geschmack kann nicht immer guter Geschmack sein. Schon der Gedanke, bei jeder einzelnen Mahlzeit einen gewissen Standard zu wahren, ist ermüdend. Außerdem entwertet es alle Erdnussbutter der Welt.

Letzte Woche habe ich meine älteste Freundin, Tavia, bei ihrem Vater zum Essen abgeholt. Kent lebt seit über zwanzig Jahren allein, seit seine Töchter erwachsen und ausgezogen sind. Seine Wohnung ist klein und quillt über vor Erinnerungsstücken aus seinem Leben, Zeu-

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gen seiner Vergnügungen und seines persönlichen Stils. »Komm doch mit uns essen«, sagte ich zu ihm. Zwar hät-te ich seine Gesellschaft tatsächlich geschätzt, aber es war auch eine Höflichkeitsfrage: immerhin war er allein. Da konnten wir wohl so nett sein und ihn mitnehmen.

»Oh, das geht nicht«, sagte er strahlend. »Ich habe mir Hummer Newberg zum Abendessen gemacht.«

Er war in die Stadt gefahren, um beim Fischstand auf dem Bauernmarkt Hummer zu kaufen. Das ist keine kurze Fahrt. Kent hatte, ganz allein, nicht darauf ge-wartet, dass seine Töchter oder Freunde irgendwelche Brosamen an Gesellschaft oder Hummer für ihn fal-lenließen. Kent hatte, ganz allein, den Mittwochabend damit verbracht, sich einen Newburg zuzubereiten. Das machte ihm Spaß, unvorstellbar für mich, aber zutiefst bewundernswert. Ich versuchte mir vorzustellen, ich hätte eine ähnliche Einladung an einem freien Abend abgesagt. Hätte ich das hingekriegt? Könnte ich sagen: Nein, ich habe mir gerade eine frische Packung Krä-cker aufgemacht? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich würde ich lügen. Und dann, wenn die Gäste weg wären, würde ich an der Spüle stehen und essen, was gerade da ist und was ich brauche, um mich an die Arbeit zu machen, die ich liebe. Ein Abend allein in der Tradition meines eigenen niedrigen Standards ist immer noch eine himmlische Vorstellung. Himmlisch.