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Sommersemester 2003
Institut für Musikwissenschaft der LMU MünchenProseminar: Arnold Schönbergs frei-atonale Schaffensphase (1908-1920)
Dozent: Dr. phil. Klaus Döge
Hausarbeit von Fy GadiotImmatrikulationsnummer: 10118140231
Quagliostraße 12
D - 81543 München
E-mail: [email protected] 8. Okt. 03
Analyse von
Arnold Schönberg
op. 14 / I
„Ich darf nicht dankend...“
(Stefan George)
17. Dezember 1907
Arnold SchönbergOpus 14 / I: Ich darf nicht dankend... 1907
(Stefan George)
Hausarbeit von Fy Gadiot Proseminar: Arnold Schönbergs frei-atonale Schaffensphase 1München, SoSe 2003 Leitung: Dr. phil. Klaus Döge
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung ...................................................................................................... 2
II. Stilistische Einordnung................................................................................... 3III. Textwahl und Textbedeutung bei Schönberg.................................................. 4
IV. Schönberg und Stefan George....................................................................... 6
V. Analyse von Op. 14 / I.................................................................................... 71) Allgemeines.............................................................................................. 7
2) Melodische Gedanken .............................................................................. 9a) Erster Gedanke, Referenzklang alterierter Quartakkord ........................ 9
b) Zweiter Gedanke.................................................................................. 9c) Dritter Gedanke.................................................................................. 10
d) Vierter Gedanke................................................................................. 11e) Nebengedanke................................................................................... 13
f) Weiteres Vorkommen der Gedanken und musikalische Analyse ......... 14VI. Skizze und autographe Reinschrift im Vergleich........................................... 18
VII. Schluss........................................................................................................ 18
Literaturverzeichnis ............................................................................................ 20Abbildungsverzeichnis........................................................................................ 20
Anhang:
Partitur mit MarkierungenAusdruck des Scans der autographen Reinschrift
Ausdruck des Scans der Skizze
Arnold SchönbergOpus 14 / I: Ich darf nicht dankend... 1907
(Stefan George)
Hausarbeit von Fy Gadiot Proseminar: Arnold Schönbergs frei-atonale Schaffensphase 2München, SoSe 2003 Leitung: Dr. phil. Klaus Döge
I. Einleitung
Das Lied „Ich darf nicht dankend...“ op. 14/I von Arnold Schönberg entsteht am
17.12.1907. Es ist die Vertonung des gleichnamigen Gedichts aus dem 4. Kapiteldes Zyklus’ „Waller im Schnee“ von Stefan George.
Die Datierung des Liedes verrät schon, dass dieses in einer interessantenSchaffensphase Schönbergs entsteht, nämlich in der – wenn man so will –
„Umbruchszeit“ zur frei atonalen Phase. Außerdem ist es das erste Gedicht,welches Schönberg von Stefan George vertont. Später folgt nach dem Lied „In
diesen Wintertagen“ op. 14/II (Georg Henkel) der Zyklus ‚15 Gedichte aus „Das
Buch der hängenden Gärten“ von Stefan George op. 15“. 1
Weiter entsteht es in einer Zeit, die von der öffentlichen und privaten
Vereinsamung Schönbergs geprägt ist2, kurz nachdem dessen Freund, Fördererund Mentor Gustav Mahler Wien verlässt,3 während seine Frau Mathilde
Zemlinsky Ehebruch mit Richard Gerstl begeht4 und die Aufführungen seinerneuen Werke mehr Skandale als Erfolge erzielen.5
Diese vielen verschiedenen Begebenheiten zeigen, dass sich eine genauereBetrachtung des Liedes lohnt, die nicht rein analytisch sein kann, sondern
verschiedene Aspekte mit einbeziehen muss. Schritt für Schritt versuche ich indieser Arbeit, dem Lied gerecht zu werden. Zunächst werde ich das Lied
stilistisch einordnen, im Anschluss daran auf die Textwahl und Textbedeutung bei
Schönberg eingehen und die Beziehung Schönbergs zu George erläutern. Nachder Besprechung dieser Gesichtspunkte folgt die musikalische Analyse des
Stückes, in der ich als Quelle die Schönberg Gesamtausgabe verwende. EinVergleich der Skizze mit der erhaltenen autographen Reinschrift schließt daran
an, bleibt aber kurz, da die Unterschiede unter anderem schon in der SchönbergGesamtausgabe aufgelistet sind.6 Am Schluss werden die Ergebnisse
zusammenfassend dargestellt und ein Interpretationsversuch gewagt werden.
1 Henke, Matthias: „Arnold Schönberg“. (dtv: portrait), 2001, München, S. 57 und Schönberg
Gesamtausgabe.2 Dümling, Albrecht: „Die fremden Klänge der hängenden Gärten“. München, 1981, S. 160.3 Dümling, S. 162.4 Henke, S. 54 und Dümling, S. 161.5 Dümling, S. 162.6 www.schönberg.at - Scan des Skizzenblattes und der autogr. Reinschrift
Arnold SchönbergOpus 14 / I: Ich darf nicht dankend... 1907
(Stefan George)
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II. Stilistische Einordnung
Ab etwa 1907 / 1908 spricht man bei Schönbergs Kompositionen von „früherAtonalität“.7 In der Literatur scheiden sich jedoch die Geister, wo genau man die
Grenze zur Atonalität ziehen soll. So wird bei einigen Autoren Lied Op. 14/I nochüberhaupt nicht als atonales Lied wahrgenommen, für andere jedoch ist es der
Beginn der Atonalität. Autoren wie Pfisterer und Shaw stützen sich dabei auf dieAussage Schönbergs, er habe mit diesen Lied den ersten Schritt zur Atonalität
getan8. Der Diskussion, ob „Ich darf nicht dankend...“ das erste frühe atonale Lied
ist oder eben nicht, möchte ich mich nicht weiter widmen, denn eine Grenzemitten durch eine stetige, wenn auch nicht immer lineare Entwicklung zu ziehen,
deren Endpunkt nicht einmal klar definiert ist, halte ich für unsinnig. AuchSchönberg sagt, man kann nicht von einem plötzlichen klaren Bruch zur frei
atonalen Kompositionsweise sprechen. Vielmehr handelt es sich dabei um einenProzess, der sich über verschiedene Werke hinweg zieht. Op. 14/I steht also ein
relativ am Anfang dieser Entwicklung zur freien atonalen Komposition, eineweitere Diskussion darüber würde den Rahmen meiner Hausarbeit sprengen.
Frühe Atonalität wird definiert durch den Verzicht auf die tonalen Mittel derFormung (das Fehlen des harmonischen Bezuges der Töne zu einem Grundton
bzw. einer Grundtonart) einerseits, andererseits durch das Fortfahren
Schönbergs, auf der Satzgrundlage motivischer Beziehungen zu komponieren.9
Sie folgt der mit „Pelleas und Melisande, op. 5“ (1905) zum Höhepunkt
gekommenen und an das Ende gelangten Phase vielschichtiger, überladener,extrem komplizierter polyphoner Komplexität, einer Phase, die an einen
Klangrausch der wagnerschen Art erinnert.10 Nach dieser Periode setzt eine Zeitder so genannten „Reduktion“ ein, in der Schönberg seine kompositorischen
Mittel beschneidet und weniger Aufwand hinsichtlich der Besetzung und
7 Pfisterer, Manfred: „Studien zur Kompositionstechnik in den frühen atonalen Werken von Arnold
Schönberg“. 1978, Neuhausen-Stuttgart.8 Pfisterer, S. 53. und
Shaw, Jennifer: „Zwei Lieder für eine Singstimme und Klavier op. 14“ in: Arnold Schönberg –Interpretation seiner Werke“, Bd. 1, Hg.: Gruber, Gerold W.
9 Pfisterer, S. ??10 Henke, S. 49.
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Komplexität betreibt.11 Dies ist eine Entwicklung, die sich nicht nur auf
Schönbergs Werk beschränkt, sondern eine weiter verbreitete Erscheinung in derKunst- und Musikwelt ist. Ein Aufsatz Adolf Loos’, ein Architekt, Freund und
Förderer Schönbergs, versinnbildlicht und benennt diese Entwicklung sehrtreffend; laut ihm ist Ornament gleich Verbrechen.12
Etwa zwei Jahre nach dem Entstehen von op. 5. ist tatsächlich nichts mehr vonOrnamentalem in op. 14/I nichts mehr zu spüren. „Es soll stets etwas Neues
kommen, sich nichts wiederholen“ ist die Maxime, nach der Schönberg jetztarbeitet.13
III. Textwahl und Textbedeutung bei Schönberg14
In seinem Aufsatz „Mein Verhältnis zum Text“15 beschränkt Schönberg selbst die
Bedeutung des Textes auf den Anfangsklang der ersten Worte:„... dass ich viele meiner Lieder berauscht von demAnfangsklang der ersten Textworte, ohne mich auch nur imgeringsten im den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge zukümmern, ja, ohne diese im Taumel des Komponierens auchnur im geringsten zu erfassen, zu ende geschrieben und erstnach Tagen darauf kam, nachzulesen, was denn eigentlich derpoetische Inhalt meines Liedes sei.“
Das lässt die Frage aufkommen, ob in diesem Fall der Dichter noch wichtig sein
und das Werk Schönbergs in dem Maße beeinflussen kann, wie Richard Dehmel
und George es tatsächlich tun. Betrachtet man jedoch die Textwahl im Verhältniszu den Lebenssituationen Schönbergs, fallen einige Parallelitäten auf. Auffallend
ist vor allem, dass Schönberg sich in zwei entscheidenden Jahren jeweils aufeinen Dichter beschränkt und fast ausnahmslos dessen Werk vertont. Diese
11 Henke, S. 49.12 Henke, S. 49. und Hiller, Egbert: „Entrückung, Traum und Tod“. Wien, 2002, S. 20.13 Pfisterer: ... ?14 Dümling, S. 128 ff.15 Schönberg, Arnold: „Das Verhältnis zum Text“, aus Hg. Kandinsky und Marc: „Der Blaue
Reiter“, S. 66.
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Jahre sind 1888/99 – eine Dehmel-Phase und 19(07/)08 – eine George-Phase.16
Die erotischen Dehmel-Lieder sind Ausdruck Schönbergs Liebe zu MathildeZemlinsky, die späteren George-Lieder entstehen der Zeit der großen Ehekrise
und privaten und öffentlichen Vereinsamung.17 Diese beiden Phasen zeigenjedoch nicht nur private Geschehnisse Schönbergs an, sondern sind gleichzeitig
Indikator für dessen musikalische Wendepunkte18. Die Bedeutung, die denTexten zukommt, beruht vor allem auf Schönbergs starkem Ausdrucksbedürfnis.
Denn scheinbar vertont Schönberg hauptsächlich Texte - außer er hat bestimmteVorgaben z. B. aufgrund eines Kompositionswettbewerbs - zu denen er eine
innere Affinität besitzt. Der Text muss seinem Gemütszustand in irgendeiner
Form entsprechen, er muss genau das aussagen, was Schönberg mit seinerMusik auszudrücken versucht. Später schreibt er seine Texte selber – erst dann
hat er den authentischen Selbstausdruck, der treibender Moment seinesSchaffens bleibt, wirklich völlig selbst in der Hand.19
Es liegt nicht fern, das Liedschaffen Schönbergs als Abbild seiner Biografie zubetrachten, zu der die Texte ihn inspirieren, den passenden und um 1907/8
„neuen Ton“ zu finden. Doch wie kann man in Anbetracht dessen die Aussagewerten, nur die Anfangsworte eines Gedichtes seien für die Textwahl
ausschlaggebend? Und wie solle man glauben, er hätte ohne den weiterenpoetischen Inhalt zu kennen, das Lied zu Ende geschrieben, wenn die Texte an
sich doch eine so große Rolle für Schönberg spielen? In der Analyse von op. 14/I
wird man einige Wortmalereien bemerken, die sich nicht auf den Anfangreduzieren, sondern über das ganze Gedicht hinweg vorkommen - auch das ist
undenkbar, ohne dass man den Text genau kennt. Vielleicht möchte Schönberganknüpfen an den Komponisten Schumann, denn auch dieser behauptete, den
Text bzw. das „Programm seiner Lieder“ nicht zu kennen.20 Andererseits jedochfällt bei Betrachtung des Skizzenblattes von op. 14/1 (siehe Anhang) auf, dass
Schönberg tatsächlich nur die erste Verszeile in die Notenschrift notiert hat -ohne weiteren Text hinzuzufügen.
16 Dümling, S. 137.17 Ebda.18 Ebda.19 Ebda.20 Hr. Döge, während des Kurses.
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IV. Schönberg und Stefan George
Wie bereits beschrieben entsteht das Lied „Ich darf nicht dankend...“ in einer der
schwierigsten Phasen in Schönbergs Lebens. Zunächst wird seine Musik wedervon der Presse noch vom Publikum angenommen, seine neuartige dissonante
Art des Komponierens wird von seiner Zuhörern, aber auch von einigen seinerFreunde missbilligt und nicht verstanden, seine Konzerte bringen immer größere
Skandale hervor. Er selbst stellt fest:„Ich hatte für jedes neue Werk kämpfen müssen. Ich war vonder Kritik in höchst unverschämter Art und Weise beleidigtworden, ich hatte Freunde verloren, und ich hatte absolutjeglichen Glauben an das Urteil meiner Freunde eingebüßt. Undich stand fast allein gegen eine Welt voller Feinde.21
Interessant ist, dass es George zu der Zeit, als er „Ich darf nicht dankend...“schrieb (≈1903/4), ähnlich ergeht, auch er hat mit Vereinsamung zu kämpfen.
Schönberg hört Georges Werk zum ersten Mal vermutlich am 11. Februar 1904in einer „Aufführung moderner Tonwerke“ im Ansorge-Verein. Ansorge selbst
hatte den Zyklus „Waller im Schnee“ vertont. Im Programmheft wird in diesemZusammenhang das „Moment des Einsamen Künstlers“ hervorgehoben.22
George widmet das Buch „Waller im Schnee“ Ida Coblenz, doch erwidert sie
seine Liebe nicht und heiratet später tatsächlich Richard Dehmel23, wasParallelen zu Schönbergs Ehe erkennen lässt.24
Laut Dümling widmet Schönberg das Lied „Ich darf nicht dankend...“ GustavMahler, doch ist dies mit keiner Notiz Schönbergs belegt. Dümling kommt zu
dieser Annahme, weil Mahler wenige Tage vor der Entstehung des Liedes, am 9.Dezember 1907, Wien verlässt und Schönberg diesen fasst wie einen Heiligen
verehrte25. Für Schönberg bedeutet der Abschied einen ungeheuren Verlusst,denn er war ihm ein guter Freund und starker Förderer. Es ist eine gut denkbare,
21 Schönberg, Arnold: „Wie man einsam wird“.22 Dümling, S. 176.23 Übrigens waren Dehmel und George keine großen Freunde voneinander, weder beruflich noch
privat.24 Pfeiffer, Iris: www.schönberg.at.25 Dümling, S. ca. 175
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aber rein fiktive Behauptung Dümlings, denn es ist unklar, ob das Lied überhaupt
jemandem gewidmet ist.Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Dichter George und dem
Komponisten Schönberg fällt auf: beide bauen in ihrem Umfeld eine Art „Schule“auf, in der sie von Ihren Schülern absolute Gefolgschaft und Verehrung erwarten.
Beide betrachten sich als der Messias ihrer jeweiligen Kunstrichtung26.
V. Analyse von Op. 14 / I
1) Allgemeines
Schönberg vertont das vierte Gedicht aus dem Zyklus „Waller im Schnee“ von
Stefan George:a Ich darf nicht dankend an dir niedersinken.
b Du bist vom Geist der Flur, aus der wir stiegen:b Will sich mein Trost an deine Wehmut schmiegen,
a so wird sie zucken, um ihm abzuwinken.
c Verharrst du bei dem quälenden Beschlusse,d nie deines Leides Nähe zu gestehen,
d und nur mit ihm und mir dich zu ergehenc am eisigklaren tiefentschlafnen Flusse.27
Die Verse bestehen aus jeweils elf Silben im fünfhebigen Jambus. Dem
zweistrophigen Gedicht liegt das umarmende Reimschema zugrunde.28 Reinformal betrachtet handelt es sich also um eine ganz konventionelle äußerliche
Form. Typisch für die Textwahl Schönbergs ist die hermeneutischeVerschlossenheit der Gedichte.
Auffallend bei der Vertonung ist eine kleine Textänderung Schönbergs in derletzten Verszeile, denn bei George heißt es an dieser Stelle „am eisigkalten“
anstatt „am eisigklaren“. Es scheint, als findet Schönberg erst beimNiederschreiben der autographen Reinschrift, dass es einer Änderung bedarf, 26 Hiller, S. 37.27 Schönberg Gesamtausgabe, Wien, 1966. S. 107 - 10828 Pfisterer, S. 151.
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denn es ist deutlich erkennbar, dass das erste Wort überschrieben ist. Außerdem
ergänzt Schönberg die bei George fehlende Interpunktion und ändert dieKleinschreibweise.29
Dem Gedicht entsprechend teilt sich das Lied in zwei Teile mit Coda30, wobei diezweite Hälfte eine variierte Wiederholung der ersten Hälfte31 sein könnte.
Getrennt werden beide Teile durch ein kleines Zwischenspiel. DieTempoanweisung lautet „langsam (Halbe)“.32
Der Schlussakkord des Liedes ist ein h-moll-Akkord. Obwohl die vorhandeneTonartvorzeichnung von zwei Kreuzen dazu passt, wirkt dieser Schlussakkord
völlig fehl am Platz, störend und losgelöst von dem davor da gewesenem, fast
wie ein zwanghaftes Festhalten an herkömmlichen Konventionen, nach denenein Musikstück in der Tonika enden soll. So gut wie nichts in den
vorausgehenden 29 1/2 Takten bezieht sich im herkömmlichen Sinne auf h-moll,es werden andere Bezugspunkte gefunden. Ebenso gut kann die Tonart D-Dur
gemeint sein.33
Kennzeichnend für op. 14 / I ist eine intensive motivische Struktur.34 Das Lied ist
durchsetzt von wenigen Hauptgedanken35, die ständig neu miteinanderverschränkt und kombiniert wiederkehren. So deutlich, wie Schönberg versucht,
Bezüge und Haltepunkte mit anderen Mitteln als der konventionellentonartbezogenen Harmonik herzustellen, unterstreicht es die Vermutung, op. 14 /
I stehe zumindest an der Schwelle zur Atonalität.36
Im Folgenden sollen die melodischen Gedanken des Stückes dargestellt werden.
29 www.schönberg.at30 Hiller, S. 70.31 Pfisterer, S. ??.32 Hiller, S. 70.33 Ebda.34 Shaw, S. 184 und Pfisterer, S. 151.35 Shaw, S. 185.36 Pfisterer, S. 151.
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2) Melodische Gedanken
a) Erster Gedanke, Referenzklang alterierter Quartakkord
Der erste Hauptgedanke des Stückes ist ein alterierter Quartenklang auf ‚a’(a-dis-gis) direkt im ersten Takt, der fortgeführt wird mittels
Halbtonverschiebung in einen reinen Quartklangq (a-d-g).
Notenbeispiel 1, Referenzklang
Beide Akkorde kommen zwar auch getrennt im Stück vor (der reine
Quartakkord zum Beispiel auf seiner ursprünglichen Tonhöhe in Takt 3 zumEinsatz der Singstimme), doch meistens kehren sie als Akkordpaar wieder.37
Die Bezeichnung „Referenzklang” wird deswegen verwendet, weil mit demerneuten Ertönen eines alleinigen Quartakkordes oder der
Quartakkordverbindung ein Bezug zum Anfang hergestellt wird, den manauch als Hörer sehr deutlich wahrnehmen kann. In der beigefügten Partitur
werden die Quartverbindungen und Quartakkorde grün dargestellt.
b) Zweiter Gedanke
Das aus Achtelnoten bestehendes Motiv in der linken Hand der
Klavierstimme (T. 1-2) beschreibt den zweiten Gedanken:38
37 Shaw: S. 185.38 Ebda.
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Notenbeispiel 2, zweiter Gedanke.
Besonders auffällig ist die Tonwiederholung und die auf- und absteigende
kleine None cis-d-d-cis. Im Anschluss an T. 1-2 wird das Motiv direkt sotransponiert, dass es in T. 3 1/2 auf ais beginnt, doch wird es in der Form
variiert, dass die absteigende None d-cis, um eine Oktave höher transponiertbeibehalten wird39. Dieser Gedanke ist im Anhang rot markiert.
c) Dritter Gedanke
Ob der dritte Gedanke ein eigenständiges Motiv ist, ist fraglich, denn vomBewegungsablauf ähnelt er sehr dem zweiten Gedanken40; die ersten zwei
Intervallschritte sind sogar gleich, der Rhythmus ist schlicht halbiert. Bei demGedanken handelt es sich um die ersten fünf gesungenen Töne, die
miteinander verschränkt das Material des gesamten Verses ausmachen41, es
fehlt jedoch der vorher als charakteristisch dargestellte Nonen-Schritt:42
Notenbeispiel 3, dritter (Neben-?)Gedanke.
39 Ebda.40 Ebda.41 Pfisterer, S. 156.42 Shaw, S. 185.
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In T. 2-3 tritt das Motiv bereits in der Klavieroberstimme auf. Es führt, in
Verbindung mit dem reinen Quartakkord (T. 3 S. 1), die Gesangstimme ein.Bei der verschränkten Wiederholung des Motivs wird die vorher verminderte
Quarte dis’-d’ zu einer reinen alteriert: dis’-gis’. Das erinnert an dieAlterierung und deren Auflösung im Referenzklang.
Einen weiteren Bezug zum Referenzklang stellt der Schlusston43 diesesVerses dar, der eigentlich nichts mehr mit dem dritten Gedankenmaterial zu
tun hat: der Ton a. Gleichzeitig erklingt in der Klavieroberstimme ein dis’.Zwar wird die untere übermäßige Quarte des ersten Quartklanges um eine
Oktave ausgedehnt, doch ist das Notenmaterial dasselbe. Durch diesen
Intervallsprung zum a’ wird die generelle Bewegung nach unten, die vorhernur aus dem Halbton gis – g besteht, verstärkt. Sie kann an dieser Stelle als
Wortmalerei aufgefasst werden, denn in der Singstimme erklingt
„niedersinken“.
Auffallend ist, dass die Melodie sich innerhalb einer Quarte bewegt, was an
Klagegesänge oder an mittelalterliche Kirchenmusik erinnert. Dass dieserdritte Gedanke als ein „Umdenken“ des ersten Gedankens interpretiert
werden kann, klingt plausibel, doch sind auch einige Unterschiede zuerkennen. Der dritte Gedanke kommt im Verhältnis zum zweiten Gedanken
jedoch recht selten vor. Es erscheint sinnvoll, die Mischfarbe Orange
zuzuordnen.
d) Vierter Gedanke
Der vierte Gedanke (im Anhang blau markiert) wird in T. 6 in der Klavier-
Oberstimme u eingeführt nd sogleich im Achtel-Abstand durch dieverschiedenen Stimmen gereicht und imitiert.44
Charakteristisch ist der Abstieg vom hohen fis zum ais (Klavier z.B. fis’’’ ‡ais’, Gesang fis’’ ‡ ais’, Verkleinerung des Sprungs vermutlich
hauptsächlich aufgrund der Sanglichkeit), dem der bereits bekannte typischeAbstieg der kleinen None d – cis in der Klavierstimme folgt.45
43 Pfisterer, S. 156.44 Shaw, S. 185.45 Ebda.
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Notenbeispiel 4, vierter Gedanke.
Die Gesangstimme besteht zwar aus dem gleichen Notenmaterial wie der
vierte Gedanke, doch die großen Intervalle sind jeweils um eine Oktavereduziert. Der Schritt von fis’’’ nach ais’ wird, wie oben bereits erwähnt, auf
eine kleine Sexte fis’’-ais’ reduziert, der darauf folgende kleine Nonen-Schrittist im Gesang ein kleiner Sekund-Schritt.
Kennzeichnend ist auch die gleichzeitig angeschlagene große Sekunde an
dritter Stelle des Motivs. Sie erscheint häufig mit einem nachfolgend großenIntervallsprung nach unten in Zusammenhang mit dem Motiv.
Anders wie im „orangen“ Gedanken ist hier nicht auf Anhieb zu erkennen,dass beispielsweise durch Verschränkung auch der zweite Teil des Verses
aus dem Material des Grundgedankens besteht. Laut Pfisterer ist dies aberdurchaus der Fall, denn wenn man den Krebs der Umkehrung etwas
abwandelt, könnte man das Material des zweiten Teiles erhalten.46 Diese Artder Motivsuche halte ich allerdings für überzogen, hier werden einem
Musikstück Mittel der Dodekaphonie auferlegt, das noch Jahre vor dieserKompositionstechnik steht. Daher möchte ich diesen Punkt in dieser Arbeit
nicht weiter ausbreiten.
Wichtig erscheint mir stattdessen, dass „die sprunghaft-geisterhaftenEinzeltöne den Vers sinnfällig ausdeuten“47, während das Wort „Geist“ durch
die Punktierung betont wird48.
46 Pfisterer, S. 159.47 Zitat Hiller, S. 71.
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e) Nebengedanke
Die dritte Verszeile wird vertont von einem weiteren Gedanken49, doch ist
auch hier wieder fraglich, ob es sich bei dem Motiv um etwas Neues oderdoch um eine Variation des zweiten Gedankens handelt:
Notenbeispiel 5, Nebengedanke.
Im Vergleich dazu nochmals der zweite Gedanke:
Notenbeispiel 6, zweiter Gedanke.
Zu sehen ist, dass der Nebengedanke in der typischen Tonverdoppelung deszweiten Gedankens erscheint und der Bewegungsablauf fast identisch ist,
allerdings mit dem Anfangston fis statt eis. Aus der absteigenden kleinen
None wird hier eine kleine Sekunde, wie auch die kleine None im zweitenVers T. 6 um eine Oktave reduziert wurde.
Der Abschlusston cis’’ nimmt hier gar kein Bezug auf den Anfang, erklärt sichaber aus dem Notenmaterial des ursprünglichen Grundgedankens auf eis.
Auch dieses Motiv endet auf cis. Viel mehr scheint hier wichtig zu sein, dasWort „schmiegen“ auszudeuten. So „schmiegen“ sich die Töne es und cis an
den Halbton d, der dazwischen steht. Während die Singstimme dieseVariation des zweiten Motivs singt, erscheint die Anfangsfigur des Motivs
mehrmals aufeinanderfolgend in einer absteigenden Linie und mündet in deroberen Klaviernotenzeile unter dem Wort “deine“ in einen auf as angesetzten
48 Pfisterer, S. 157.49 Pfisterer, S. 158.
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Quartklang. Derweil führt die Bassstimme die Anfangsfigursequenzierung
fort.Insgesamt fallen so viele Merkmale des roten Motivs zusammen, dass es an
dieser Stelle wohl eher übertrieben ist, von einem neuen Grundgedanken zusprechen, besser eignet sich wohl „Nebengedanke“. Im Anhang ist dieser
Nebengedanke ebenfalls rot, aber mit einem ‚b’, gekennzeichnet.
f) Weiteres Vorkommen der Gedanken und musikalische Analyse
Wiederholungen und Variationen der behandelten Motive bestimmen den
wesentlichen Verlauf des Liedes50. Nur an den wichtigen Stellen; also bei
den Versen der Gesangstimme, soll auf das Auftreten der Motiveeingegangen werden. Auch die verschiedenen Farben markieren im Anhang
das Vorkommen der Gedanken.
Vers 4, T. 11.
Hier erklingt der Gedanke, allerdings stark verformt. Die kleine Sexte amAnfang und die große Sekunde g’’/a’’ im Klavier sind jedoch Merkmale des
Motivs. Wie im 2. Vers ist der Gedanke hier im 2. Teil kaum wiedererkennbar. Auch an dieser Stelle findet er nicht zurück in einen Referenzton,
doch gemeinsam mit der vorgegebenen Dynamik in T. 12. wird „abzuwinken“mit der drei-tönigen chromatischen Figur sinnvoll dargestellt.
Die Bedeutung des Wortes „zucken“ (T. 11) wird durch das punktierte Viertel
mit anschließender Achtel rhythmisch demonstriert.
Zwischenspiel
Im Zwischenspiel (T. 13-16) treten verschiedene Figuren aus den Gedankenauf, die streckenweise aber sehr mehrdeutig sind (T. 13-14). Deutlich zu
erkennen sind verschiedene Variationen des Referenzklanges, in T. 15 und16 zwei Mal in ursprünglicher Form, in T. 15 führt er von einem d-moll- hin zu
einem fis-moll-Akkord. Der deutlich kadenzierende Verlauf kann als
50 Shaw, S. 64.
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dominantische Vorbereitung von h-moll verstanden werden51, jedoch wird
dieser Eindruck durch die darauf folgenden Takte wieder zerstört.Der Referenzklang hält das Stück in sich zusammen und bildet für den Hörer
einen harmonischen Bezugspunkt. In T. 15 weist der Bass auf seineOktavlinie ab T. (20) 21 voraus, kehrt jedoch in T. 16 nochmals zurück zum
zweiten Gedanken. Darüber setzt erneut der Referenzklang ein. Ähnlich wieVers 1 wird so Vers 5 also durch den ersten und zweiten Gedanken
eingeführt. Auch der Einsatz der Gesangstimme erscheint mit dem eis’zunächst gleich, doch kristallisiert sich in T. 17 durch Rhythmus und
melodischer Verlauf das zweite Motiv heraus.
Vers 5, T. 17-18.
Die Singstimme setzt den Bass imitierend52 auftaktig ein, das rote Motiv ist in
beiden Stimmen53 wieder zu erkennen, diesmal auch im passendenRhythmus. Dem Wort „quälenden“ wird mittels der kleinen None, mit der sich
die Gesangstimme hoch zum d’’ und doch gleich wieder herunter schwingenmuss, Nachdruck verliehen. Der zweite Gedanke in der Singstimme bleibt
verstärkt im Bass bis zum nächsten Vers.
Vers 6, T. 19-20.
Vers 6 fällt aus dem Rahmen, denn in der Gesangstimme ist auf Anhieb kein
Motiv in den beiden Takten 19 und 20 zu erkennen. Er stellt denn auch einengewissen Höhepunkt im Lied dar – dynamisch, die Stimmenzahl, die Höhe
der Gesangstimme betreffend. „Deines Leides“ wird zudem Ausdruckverliehen durch die spannungsbildende Häufung von dissonanten Klängen
(Sekunden, Tritoni), die aufeinander folgen.54
Im Bass baut sich zunächst stufenweise erneut ein Referenzklang unter
„deines“ (T. 19), allerdings in transponierter Form auf d, auf. In T. 20.erscheint der vierte (blaue) Gedanke in T. 20 im Klavier, gleichzeitig nimmt
51 Shaw, S. 185.52 Hiller, S. 72.53 Pfisterer, S. 158.54 Hiller, S. 73.
Arnold SchönbergOpus 14 / I: Ich darf nicht dankend... 1907
(Stefan George)
Hausarbeit von Fy Gadiot Proseminar: Arnold Schönbergs frei-atonale Schaffensphase 16München, SoSe 2003 Leitung: Dr. phil. Klaus Döge
die Oktavprägung55 des Basses Form an, die ab Takt 21 eine Linie aus
überwiegend Halb- und Ganztönen aufwärts beschreibt.
Vers 7, T. 22-23
Vers 7 wird zunächst durch einen Bewegungsablauf, der sehr stark an dasdritte Motiv erinnert, vertont. Doch in T. 23 weitet sich die Bewegung
wellenförmig aus, ein Bezug wäre zu jedem Motiv in gleichem Maßefeststellbar.
Die Takte 21-25 bewirken eine tonale Assoziation56, doch fast jeder Versuch,
einen Klang harmonisch zu benennen, schlägt fehl. Eine Ausnahme bildet in
T. 23 z. B. der fis-moll-Akkord.
Vers 8, T. 26-28
Der Schlussvers wird – als Rückbesinnung auf den Anfang – wiederumeingeführt vom dritten Motiv (T. 25 S. 2+), während der Bass darunter eine
Linie aus drei-Achtel-Figuren, bestehend aus kleiner Sekunde undanschließender Oktave, abwärts führt und unter „Flusse“ in einen G7-Akkord
münden lässt. Auch die Gesangstimme weist Figuren aus dem dritten Motivauf.
Die Punktierung, welche im ersten Vers auf der achten Silbe den sonst
strengen Rhythmus auflockert, fehlt hier, was eine Assoziation mit „etwasUnaufhaltsamen“ nahe legt.
Nachspiel/Schluss
In Takt 28 unter dem Wort „Flusse“ erinnert das Klavier nochmals an den
zweiten Gedanken. In T. 28 ertönt ein orgelpunktartiger Akkord Contra G-D-Fis, in T. 29 eine Oktave höher.57
Im Schlusstakt erklingt der alterierte Quartakkord des Referenzklanges, derdiesmal jedoch nicht chromatisch in seine Auflösung als reiner Quartakkord
rutscht, sondern in einen h-moll-Akkord übergeht. Dieser kommt für den
55 Ebda..56 Ebda.57 Hiller, S. 74.
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Hörer völlig unerwartet und fehl am Platz Er erscheint losgelöst und ohne
Bezug auf die 29 1/2 Takte vor ihm und wirkt damit unbefriedigend.
Harmonische Bezüge
Klar definierbare Akkorde kommen durchaus vor, doch stehen diese nichtmehr wie im herkömmlichen funktionsharmonischen Sinn im Bezug
zueinander, sondern sind ähnlich dem Schlussakkord losgelöst als Klang imRaum komponiert.
Ein solcher Akkord findet sich zum Beispiel in T. 8 als eine Art Schluss- bzw.Übergangsakkord von Vers 2 zu Vers 3 in Form eines fis-moll-Quart-Sext-
Akkord wieder, und an einer ähnlichen Stelle T. 11 als d-moll-Vierklang mit
Terz im Bass.Ein G-Dur-Septakkord mit kleiner Sept erscheint in T. 21. Er löst sich jedoch
nicht dominantisch auf, sondern geht kurz über in einen g-moll-Sept-Akkord,in dem die kleine Sept nachträglich in eine große geführt wird (f‡ fis).
In T. 23 ist in der Singstimme ein gebrochener G-Dur-Dreiklang inGrundstellung über den Silben „zu er-ge“ (Vers 7) notiert. Auf der Silbe
„hen“ geht die Gesangstimme über in moll-(b), statt zur Dur-Terz (h) zurückzu kehren. Während der Gesang die G-Tonalität ausschöpft, erkling im
Klavier auf S. 2 ein fis-moll-Akkord, zu der das g’ aus der Singstimme eine
kleine None bildet. Diese beiden so eng aneinander liegende Akkorde sindzwar in sich klar, doch wenn sie wie hier gleichzeitig ertönen, erzeugt das
eine sehr starke Reibung.Die Takte zwischen den beiden letzten Versen (24-25) bewirken wie bereits
erwähnt, eine tonale Assoziation, doch die Klänge schlittern immer knapp ander fassbaren Tonalität vorbei. Gleichzeitig fällt in den Klavieroberstimmen
eine abwärts schreitende, chromatische Linie aus reinen Quarten ins Auge,die zumindest an bestimmten Stellen erneut Bezug auf den Referenzklang
(T. 24. S. 3: g’-cis’’-fis’’ ‡ g’-c’’-f’’) nimmtIn T. 26 zeigt sich nochmals der reine Quartakkord als eine Art
nachgelieferter Anfang des letzten Verses oder als Ende des kurzen
Zwischenspiels.
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VI. Skizze und autographe Reinschrift im Vergleich
Zwischen Skizze und autographer Reinschrift hat sich, soweit ich das Beurteilen
kann, klanglich nichts verändert. Auffällig ist jedoch, dass einige enharmonische
Änderungen, die einerseits die Bewegungen der Stimme in der Reinfassungdeutlicher erscheinen lassen, andererseits den Verdacht aufkommen lassen,
Schönberg habe einen gewissen Hang zum Verkomplizieren.Der Referenzklang beispielsweise, der so deutlich als Quartenschichtung auftritt:
in der Skizze heißt es a-es’-gis’, anstelle von a-dis’-gis’. Der Klang ändert sichnicht, dafür die Notation.
Auch der zweite Gedanke beginnt laut Skizze auf einem F, aber in der Reinschriftfindet sich hier ein Eis, wie es übrigens auch im dritten Takt am Anfang der
Singstimme der Fall ist.
Verwirrend ist, dass nach den ersten zwei Systemen (T. 16) zunächst derSchluss notiert ist, an dessen Ende wiederum T. 17 anschließt. Hatte Schönberg
zuerst den Schluss im Kopf, auf den er danach den Mittelteil abstimmte? War dasjetzige Ende ursprünglich als Mittelteil gedacht? Letzteres bezweifle ich, weil die
Umbruchstellen und auch das Durchgestrichene nicht zueinander passen und einÜbergang zwischen den beiden Stellen nicht vorhanden ist.
VII. Schluss
Der Sinn von Akkorden ist nun nicht mehr der, den Hörern einen Halt zu geben,
sondern viel eher scheint es, als solle jeglicher harmonische Halt gleich im
Ansatz zerstört werden.Schönberg suchte während der Entstehungszeit des Liedes nach Halt,
stattdessen verlor er diesen umso mehr durch Mahlers Weggang aus Wien.Dieses „in der Schwebe stehen“, das „nicht wissen ob vorwärts oder rückwärts“,
die Hoffnungsschimmer, die, kaum sind sie aufgekeimt, wieder zunichte gemachtwerden - all das verkörpert Lied op. 14/I.
Die schwebende Tonalität in „Ich darf nicht dankend...“ ist gleichzeitig Ende undAnfang zweier aufeinander stoßender Zeiten. Schönberg hat sich noch nicht
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ganz von der Tonalität gelöst. Das sieht man schon an kleinen Details wie das
Vorzeichnen einer Grundtonart, obwohl es eine solche eigentlich gar nicht mehrgibt, oder am zwanghaften Beenden des Liedes in einem h-moll-Akkord, der nicht
zur vorher eröffneten Klangwelt passt.„Ich darf nicht dankend...“ op. 14/I (Stefan George) ist ein musikalischer Spiegel
der damaligen Lebensumstände Schönbergs, in dem sich Seelenschmerz,Verzweiflung und die gleichzeitige Suche nach etwas Neuem zeigen und die
aufkommende Liebe zu Gedichten von Stefan George begründet wird.
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Literaturverzeichnis
Ë Dümling, Albrecht: „Die fremden Klänge der hängenden Gärten“.
München, 1981.Ë Henke, Matthias: „Arnold Schönberg“ (dtv: Portrait). München, 2001.
Ë Hiller, Egbergt: „Entrückung, Traum und Tod“. Wien, 2002.Ë Pfisterer, Manfred: „Studien zur Kompositionstechnik in den frühen
atonalen Werken von Arnold Schönberg“. Neuhausen – Stuttgart, 1978.Ë Schönberg Gesamtausgabe, Berlin, 1966, Bd. 2.
Ë Shaw, Jennifer: „Zwei Lieder für eine Singstimme und Klavier op. 14“ in:
„Arnold Schönberg – Interpretation seiner Werke“, Hrsg.: Gruber, GeroldW. Laaber-Verlag, 2002.
Ë Simms, Bryan R.: „The Atonal Music of Arnold Schönberg 1908 – 1923“.Oxford, 2000.
Ë www.schönberg.atSeite der Schönberg-Gesellschaft, Wien, August 2003.
Abbildungsverzeichnis
Notenbeispiel 1, Referenzklang............................................................................ 9
Notenbeispiel 2, zweiter Gedanke. ..................................................................... 10
Notenbeispiel 3, dritter (Neben-?)Gedanke......................................................... 10Notenbeispiel 4, vierter Gedanke........................................................................ 12
Notenbeispiel 5, Nebengedanke......................................................................... 13Notenbeispiel 6, zweiter Gedanke. ..................................................................... 13