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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________________
SWR2 LITERATUR
„ICH KRIEGE LUST, EINEN TANGO ZU
TANZEN“
DER ARGENTINISCHE SCHRIFTSTELLER JULIO COTRÁZAR
VON EVA KARNOFSKY
SENDUNG /// 18.03.2014 /// 22.03 UHR Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Literatur sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
1. O-Ton: Gabriela Cabezón Cámara: Hablar de Julio ... suplementos especiales, peliculas.
Overvoice 1:
„Von Julio Cortázar zu sprechen, bedeutet heute in Argentinien, von einem der beiden
großen Mythen der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts zu sprechen. Der andere
Mythos ist Jorge Luis Borges. Borges ist sehr bekannt, jeder Argentinier weiß, wer er ist.
2
Doch im Gegensatz zu Cortázar liest ihn niemand. Cortázar dagegen wird von sehr vielen
Menschen gelesen. Er ist einer der beiden großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Und in
diesem Jahr werden wir seiner gedenken, mit Zeremonien, mit Kalendern, mit
Sonderbeilagen der Zeitungen, mit Filmen.“
Autorin:
Gabriela Cabezón Cámara ist Literaturkritikerin der größten argentinischen
Tageszeitung Clarín. Der Anlass der Feierlichkeiten, von denen sie erzählt: Julio
Cortázars Geburtstag jährt sich am 26. August zum hundertsten Mal.
2. O-Ton: Julio Cortázar: Las circunstancias de mi nacimiento... que hay en este planeta.
Overvoice 2:
„Die Umstände meiner Geburt waren überhaupt nicht ungewöhnlich, aber doch ein wenig
pittoresk, denn die Geburt fand in Brüssel statt, obwohl sie genauso gut in Helsinki oder
Guatemala hätte stattfinden können. Alles hing von dem Posten ab, den man meinem Vater
in dem Moment gerade zugewiesen hatte. Die Tatsache, dass er gerade geheiratet hatte
und quasi auf Hochzeitsreise nach Belgien kam, führte dazu, dass ich in Brüssel geboren
wurde, und zwar genau in dem Moment, in dem der deutsche Kaiser und seine Truppen
dabei waren, Belgien zu erobern. Das hat mir meine Mutter erzählt. Meine Geburt war
höchst kriegerisch, mit dem Resultat, dass ich einer der pazifistischsten Menschen wurde,
die es auf diesem Planeten gibt.“
Sprecher:
Während seine Mutter im Kreißsaal lag, erzählte Julio Cortázar dem Spanischen
Fernsehen 1977 weiter, hörte sie das deutsche Trommelfeuer. Der Vater arbeitete als
Wirtschaftsberater an der argentinischen Botschaft. Ebenfalls in Folge des ersten
Weltkrieges wurde die Familie nach einem guten Jahr in die Schweiz geschickt, und
schließlich nach Barcelona.
1. Musik: Carlos Gardel: Buenos Aires, drübersprechen
Autorin:
3
Julio Cortázar war vier Jahre alt, als er in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires zog,
genauer, in einen Vorort der Stadt mit dem englischen Namen Banfield:
3. O-Ton: Cortázar: Nosotros lo llamabamos ... por los niños.
Overvoice 2:
„Wir sagten Bamfiel. Es war fast ein Dörfchen, eine halbe Stunde mit dem Zug vom
Stadtkern von Buenos Aires entfernt. Es ist diese Art von Stadtvierteln, die du oft in den
Tangotexten findest. Es ist kein richtiger Vorort, sondern ein Vorort vor dem Vorort, das
heißt: unbefestigte Straßen, über die in meiner Kindheit noch viele Menschen mit dem
Pferd unterwegs waren. Der Milchmann brachte die Milch mit dem Pferd. ... Nur an den
Ecken gab es Straßenlaternen, die Beleuchtung war sehr schlecht, was die Kriminalität
enorm förderte. So war meine Kindheit ein wenig von Vorsicht und Angst geprägt, denn die
Mütter hatten große Angst um die Kinder.“
Sprecher:
Als Julio sechs Jahre alt war, verließ der Vater die Familie, zu der inzwischen auch Julios
ein Jahr jüngere Schwester Memé zählte. Die Familie blieb in prekären finanziellen
Verhältnissen zurück. Vater und Sohn sahen sich nie wieder.
Autorin:
Julio Cortázar las als Kind so viel, dass der Arzt ihm mit acht oder neun Jahren für einige
Monate das Lesen verbot.
Zitatsprecherin 1:
„Von klein auf konnte man sagen, dass Cortázar ein gieriger, süchtiger, unmäßiger Leser
war. „Ich lese alles, sogar die Beipackzettel der Medikamente“, sagte er. Besonders süchtig
war er nach Kitschromanen.“
Sprecher:
Er pflegte sie bei Zugfahrten zu lesen, erinnert sich Cortázars langjährige Freundin, die
uruguayische Schriftstellerin Cristina Peri Rossi, in ihrer Biographie des Autors mit dem
schlichten Titel Julio Cortázar.
4
Autorin:
Ebenfalls mit neun Jahren schrieb er, unter einer Weide im Garten sitzend, seinen ersten
Roman. Das erzählte er 1977 dem legendären spanischen Fernsehmoderator Joaquín
Soler Serrano.
4. O-Ton: Cortázar: Es verdad que a los nueve años... lloran en el cine.
Overvoice 2:
„Es stimmt, ich habe mit neun Jahren einen Roman geschrieben. Ich weiß nicht mehr,
worum es darin ging, nur, dass es etwas sehr Tränenreiches war, sehr romantisch, alle
starben am Schluss. Ich bin überhaupt sehr sentimental, ich habe, was Gefühle angeht,
einen sehr schlechten Geschmack. Ich gehöre zu denen, die im Kino weinen.“
Sprecher:
Cortázar blieb bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr in Banfield. Er hatte dann das
Abitur in der Tasche, was ihn damals zum Unterricht an Grundschulen befähigte. Der
Besuch der Universität kam für ihn nicht in Frage, denn er musste arbeiten und der
Mutter finanziell unter die Arme greifen. Er absolvierte lediglich eine weitere dreijährige
Ausbildung zum Gymnasiallehrer.
Autorin:
Ab 1936 folgten Jahre an Schulen verschiedener argentinischer Provinzstädte, bis er
1944 als Dozent für Literatur an die neu gegründete Universität von Cuyo in der Provinz
Mendoza wechselte, wo er auch begann, Französisch zu lernen. Seine Mutter hatte
neben deutschen französische Wurzeln, die Großeltern des Vaters waren aus dem
spanischen Baskenland nach Argentinien gekommen.
Sprecher:
1938 war Cortázars erstes Buch erschienen, ein Band symbolistisch angehauchter
Sonette. Presencia, Präsenz, lautete der Titel, den er unter dem Pseudonym Julio Denis
veröffentlichte. Gerade 250 Stück wurden davon gedruckt.
Zitatsprecherin 1:
5
„Julio wollte immer Dichter werden, obwohl er sehr streng mit seinen Gedichten war. „Zum
Glück“ – schrieb er mir einmal – „habe ich eine sehr genaue Vorstellung davon, welchen
Platz mein Zettelkasten einnimmt, und von meinen Gedichten akzeptiere ich nur sehr
wenige, immer weniger.“
Autorin:
So sind nur wenige Gedichte von ihm veröffentlicht. 1979 hat Cortázar seiner Freundin
und Kollegin Cristina Peri Rossi fünfzehn Gedichte gewidmet, die sie ihrer nur auf
Spanisch vorliegenden Cortázar-Biographie angefügt hat.
Zitatsprecherin 1:
„Ich glaube, dass ich dich nicht liebe,
dass ich nur die Unmöglichkeit liebe,
die so offensichtliche, dich zu lieben
wie die linke Hand
verliebt ist in jenen Handschuh
der auf der Rechten lebt.“
Sprecher:
Nachdem 1946 der populistisch-autoritäre Präsident Juan Domingo Perón zum
argentinischen Präsidenten gewählt worden war, musste der Antiperonist Julio Cortázar
seinen Posten an der Universität von Cuyo nach nur eineinhalb Jahren wieder aufgeben.
Autorin:
1950 erschien dann Bestiarium, Cortázars erster Erzählband. Darin findet sich eine
seiner wohl berühmtesten Kurzgeschichten, „Das besetzte Haus“.
5. O-Ton: Gabriela C.C.: Con Casa tomada... en la Argentina, no?
Overvoice 1:
„Mit „Das besetzte Haus“ gelang Cortázar eine sehr beunruhigende Synthese dessen, was
der Peronismus in Argentinien war und ist.“
6
Sprecher:
Wie etliche Literaturkritiker, begreift Gabriela Cabezón Cámara „Das besetzte Haus“ als
eine politische Geschichte. Der Autor hatte die Kurzgeschichte nach einem Alptraum zu
Papier gebracht, in dem ihn etwas Unbestimmtes, Lautes aus seinem Haus gedrängt
hatte. Gegenüber dem Spanischen Fernsehen sagte er auch Folgendes:
6. O-Ton: Cortázar: Esa interpretacion ... de una manera fantástica.
Overvoice 2:
„Diese Interpretation, dass ich vielleicht meine Reaktion als Argentinier auf das, was in der
Politik passierte, übertragen habe, kann man nicht ausschließen. Es ist sehr wohl möglich,
dass ich meinen Alptraum auf fantastische Weise übertragen habe.“
Zitatsprecher 1:
„Ich werde mich immer deutlich daran erinnern, denn es ging ganz einfach und ohne viel
Umstände vonstatten. Irene strickte in ihrem Schlafzimmer, es war acht Uhr abends und
mir fiel plötzlich ein, das Mate-Teekesselchen aufs Feuer zu stellen. Ich ging den Korridor
entlang bis zur angelehnten Eichentür, bog in den schmalen Gang ein, der zur Küche führt,
als ich etwas im Esszimmer oder in der Bibliothek hörte. Es klang dumpf und unbestimmt,
wie ein Stuhl, der auf den Teppich fällt, oder wie Gemunkel. Gleichzeitig oder eine Sekunde
später hörte ich es auch hinten im Korridor, der von den Zimmern dort bis zur Eichentür
führt. Ich stürzte zur Tür, bevor es zu spät wäre, warf mich mit dem ganzen Körper gegen
sie und schlug sie zu; zum Glück steckte der Schlüssel auf unserer Seite, und zur Sicherheit
schob ich noch den Riegel vor.
Ich ging in die Küche, setzte das Kesselchen auf, und als ich mit dem Teetablett wiederkam,
sagte ich zu Irene:
„Ich mußte die Korridortür zuschließen. Sie haben den hinteren Teil besetzt.“
Autorin:
Am Ende werden der Ich-Erzähler und seine Schwester Irene gänzlich aus ihrem Haus
gedrängt. Wie der Peronismus den Autor der Geschichte aus der Universität gedrängt
hatte.
7. O-Ton: Gabriela C.C.: Hay que tomar en cuenta ... los lectores leen, no?
Overvoice 1:
7
„Man muss berücksichtigen, dass ein literarischer Text immer das ist, was ein Autor
schreibt und was die Leser daraus lesen, nicht wahr?“
8. O-Ton: Michi Strausfeld:
„Man sagt ja immer, er ist der fantastische Erzähler, aber die Fantastik eben um 12 Uhr
mittags. Sie bricht aus der Normalität aus, es sind keine Geister, die kommen. Julio hat
immer gesagt, mir passieren solche Sachen. Also, irgendetwas, das eigentlich unerklärlich
ist, passierte ihm ständig.“
Sprecher:
Die Literaturwissenschaftlerin Michi Strausfeld hatte Julio Cortázar im November 1972
auf einem Seminar in Frankreich zum ersten Mal getroffen.
Autorin:
Cortázars mexikanischer Schriftsteller-Kollege Carlos Fuentes bezeichnet ihn nicht als
fantastischen, sondern als realistischen Autor.
9. O-Ton Carlos Fuentes: Solo que no en el sentido ... mas allá de la obra.
Overvoice 3:
„Nur nicht in dem Sinne des naturalistischen Realismus eines Emile Zola. Bei Cortázar ist
Realität etwas, was geschaffen wird, etwas, das man erfindet, etwas, das vorher nicht
existierte. ... Er schuf eine Welt einer freieren Wirklichkeit, einer Realität, die vom Leser
abhing, von der Fähigkeit des Lesers, sie fortzuschreiben, neu zu schaffen, zurück zu
blicken und vorwegzunehmen, sie über das Werk hinauszutragen.“
Sprecher:
1950, im gleichen Jahr, in dem auch Bestiarium erschien, bekam Julio Cortázar ein
Studien-Stipendium der französischen Regierung und zog nach Paris. Argentinien war
ihm unter Präsident Perón zu engstirnig geworden.
Autorin:
Bald bekam er in Paris eine Stelle als Übersetzer bei der UNESCO, für die er fast bis zu
seinem Tod immer wieder arbeitete. Und er lernte einige Zeit später seine erste Frau
kennen. Die heute 94-jährige Übersetzerin und Lektorin Aurora Bernárdez stammt wie
8
Cortázar aus Buenos Aires. „Das besetzte Haus“ war schuld daran, dass sich die beiden
über den Weg liefen.
10. O-Ton: Aurora Bernárdez: Le conocí a raíz .. fui.
Overvoice 4:
„Ich lernte ihn aufgrund dieser Erzählung kennen. Durch eine Freundin, die sagte, hör mal,
es gibt da einen Schriftsteller, von dem war eine sehr gute Erzählung in der Tageszeitung
La Nación, sie heißt „Das besetzte Haus“. Kennst du ihn? Ich kannte ihn nicht. Mir scheint,
er ist Argentinier, sagte sie. Spanier ist er jedenfalls nicht. Er ist sehr groß, mit einem
jungenhaften Gesicht. Ich sehe ihn nächsten Freitag. Warum kommst du nicht mit? Ich ging
mit.“
Zitatsprecher 2:
„Ich hatte die beiden vor einem Vierteljahrhundert bei einem gemeinsamen Freund in Paris
kennengelernt, und seitdem und bis zu jenem letzten Mal, dass ich sie beide zusammen sah,
1967 in Griechenland – wo wir drei auf einer internationalen Konferenz über Baumwolle
als Übersetzer tätig waren - , hatte ich immer wieder über das Schauspiel gestaunt, das
einem geboten wurde, wenn man Aurora und Julio im Tandem sprechen sah und hörte. Wir
übrigen schienen alle überflüssig zu sein. Alles, was sie sagten, war intelligent, kultiviert,
lebendig. ... Sie spielten sich gegenseitig die Themen zu wie zwei vollendete Jongleure.“
Sprecher:
Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa schrieb dies im Vorwort zur deutschen
Ausgabe der Erzählungen von Cortázar, und er widmete es Aurora Bernárdez. Die
beiden hatten 1953 geheiratet und waren im gleichen Jahr für eine Weile nach Italien
gegangen. Dort entstand Cortázars kleine Geschichte „Unterweisung im
Treppensteigen“.
11. O-Ton: Aurora Bernárdez: Eso fue en la Villa Medici... muy divertida.
Overvoice 4:
Das war in der Villa Medici, ein wunderbares Renaissance-Gebäude, das eine
außergewöhnliche, spektakuläre Treppe hat, die eine Kurve macht. Ein bisschen wie diese
Schleppen der Kleider der Flamenco-Sängerinnen. Und ich dachte, dass ich auf dieser
Treppe eine schöne Frau sehe, hochelegant, mit einem wunderbaren Kleid, die hinaufgeht.
9
Und ich sehe, wie sich die Schleppe ausbreitet. Und ich sage, wie zu mir selbst: Diese Treppe
muss man raufgehen. Und Julio sagt: Glaubst Du? Und ich sage ihm, aber das sieht man
doch: Da muss man raufgehen. Und danach entstand die kleine Erzählung. Wirklich sehr
lustig.“
Zitatsprecher 1:
„... Um eine Treppe zu steigen, beginnt man damit, dass man jenen Teil des Körpers hebt,
der rechts unten gelegen, fast immer in Schweins- oder Sämischleder gehüllt ist und, außer
in Ausnahmefällen, genau auf die Stufe paßt. Hat man besagten Teil, den wir der Kürze
halber Fuß nennen wollen, auf die erste Stufe gesetzt, zieht man den entsprechenden Teil
zur Linken (ebenfalls Fuß genannt, darf aber nicht mit dem vorhergenannten verwechselt
werden) nach, hebt ihn in Höhe des Fußes und weiter, bis er sich auf der zweiten Stufe
befindet. ...
Ist man auf diese Weise zur zweiten Stufe gelangt, genügt es, die Bewegungen in ständigem
Wechsel zu widerholen, bis man das Ende der Treppe vor sich hat. Mühelos bringt man sie
hinter sich, indem man ihr mit dem Absatz einen leichten Tritt versetzt, der sie an ihren
Platz fesselt, von dem sie sich nicht bewegen wird, bis man wieder hinabsteigt.“
12. O-Ton: Aurora Bernárdez: Pero hay otra historia ... // Cortázar era... // era muy
cómico.
Overvoice 4:
„Es gibt noch eine Geschichte, sie ist in dem Band Ein gewisser Lukas veröffentlicht, die mir
auch außergewöhnlich erscheint. Sie heißt „Lukas und seine Kämpfe mit der Hydra“.
Cortázar war hochgradig frei, in seinem Kopf und in seinem Leben. Er machte, was ihm
richtig erschien. In allem. Persönlich und politisch. Und er lehnte es ab, dass man ihm
Gewohnheiten oder Routinen aufzwang. Die gefielen ihm gar nicht. Sogar manchmal
ungerechterweise. So mochte er nicht, wenn Frauen strickten. Denn bei ihm zuhause in der
Familie wurde gestrickt. Sehr gut sogar. Gleichzeitig hatte er selbst jede Menge Manien,
Routinen und Gewohnheiten. Man glaubt zunächst, sein Werk beinhalte die große Freiheit
und die große Strenge. Doch es ist nicht alles erlaubt, die Vorstellungskraft geht nicht in
alle Richtungen, sondern nur in die Richtung, die er vorgibt. Es geht um seine Freiheit. Aber
seine Freiheit geht auf Kosten seines Kampfes gegen die eigenen Routinen: Die Pfeife muss
links liegen, der Bleistift rechts, das Papier in einer Schublade. Das war sehr komisch.“
10
Zitatsprecher 1:
„Es ist eine Sache, die Hydra zu töten, und eine andere, diese Hydra zu sein, die einmal nur
Lukas war und jetzt wieder nur Lukas sein möchte. Du schlägst ihr zum Beispiel den Kopf
ab, der Schallplatten sammelt, und den anderen, der die Pfeife immer links auf den
Schreibtisch legt und den Becher mit den Filzstiften rechts hinstellt. Etwas nach hinten.
Hm, etwas hat man erreicht, zwei Köpfe weniger bringen die restlichen etwas in
Schwierigkeiten, so daß sie angesichts der traurigen Tatsache denken und denken. Das
heißt: Für eine Weile wenigstens ist dieser Drang, die Serie der Madrigale von Gesualdo,
Fürst von Venosa, zu komplettieren, nicht mehr so obsessiv. ... Außerdem ist es
beunruhigend neu, wenn man zur Pfeife greift, feststellen zu müssen, daß sie nicht an
ihrem Platz ist.“
2. Musik: Charlie Parker: Ornithology, drübersprechen
Autorin:
Julio Cortázar hatte eine Schwäche für den Boxsport, für Dinosaurier, für Kaleidoskope,
und er liebte Musik. Nicht nur argentinischen Tango, sondern fast jede Art von Musik. Er
ging leidenschaftlich gern in die Oper, und der Jazz hatte es ihm angetan. Was sein
mexikanischer Schriftsteller-Kollege und Freund Carlos Fuentes eine ganz Nacht lang zu
spüren bekam, als er 1968 mit Cortázar und dem kolumbianischen Literatur-
Nobelpreisträger Gabriel García Márquez auf Einladung des tschechischen Schriftstellers
Milan Kundera auf dem Weg nach Prag war, um den Prager Frühling zu unterstützen.
13. O-Ton: Carlos Fuentes: Fuimos en el mes ... de no mostrarlo.
Overvoice 3:
„Wir fuhren im Dezember. In einem Nachtzug von Paris nach Prag. Wir schliefen nicht,
denn wir verbrachten die Nacht im Speisesaal mit Julio Cortázar, der sich der Geschichte
des Jazz widmete. Cortázar wusste sehr viel über Jazz. Also erzählte er uns zwischen dem
Pariser Gare de Lyon und dem Prager Bahnhof die Geschichte des Jazz, beginnend mit ihren
Anfängen, Kapitel für Kapitel, Trompeter für Trompeter. Und Sänger für Sänger. Er wusste
absolut alles. Das ist das Geheimnis von Cortázar: Er wusste immer viel mehr als alle
anderen. Und er hatte den Takt, das nicht zu zeigen.“
Sprecher:
11
Dem dritten Prag-Reisenden, Gabriel García Márquez, ist diese Zugfahrt ebenfalls im
Gedächtnis haften geblieben.
Zitatsprecher 3:
„Als es Schlafenszeit war, kam es Carlos Fuentes in den Sinn, Cortázar zu fragen, wie, wann
und durch wen das Klavier in den Jazz gekommen sei. Die Frage war eine rein zufällige und
verlangte nichts weiter zu wissen als ein Datum und einen Namen, die Antwort indes war
ein brillanter Vortrag, der unter gewaltigen Mengen von Bier und elenden Würstchen mit
kalten Kartoffeln bis zum Morgengrauen dauerte. Cortázar, der seine Worte sehr gut
abzumessen wusste, ließ mit einer kaum zu glaubenden Versiertheit und Klarheit eine
geschichtliche und ästhetische Lektion abrollen, die beim ersten Tageslicht in einer
homerischen Apologie von Thelonius Monk gipfelte. Er sprach nicht nur mit einer tiefen,
dröhnenden Stimme, das „r“ in die Länge ziehend, sondern auch mit seinen großknochigen
Händen, wie ich sie ausdrucksstärker bei keinem anderen Menschen je gesehen habe.“
Autorin:
Literarisch hat Cortázar dem 1955 verstorbenen und von ihm sehr verehrten Jazz-
Saxophonisten Charlie Parker vier Jahre später ein Denkmal gesetzt, mit seiner
Erzählung „Der Verfolger“. Zwar gibt er seinem Protagonisten den Namen Johnny, doch
er widmet die Geschichte Charlie Parker. Johnny ist drogenabhängig wie Parker und
stirbt an seiner Abhängigkeit. Cortázars Erzähler ist ein Jazzkritiker.
Zitatsprecher 1:
„Da ich Johnnys Halluzinationen schon lange kenne, wie die von denen, die ein ähnliches
Leben führen, höre ich zwar aufmerksam zu, doch messe ich dem, was er sagt, nicht viel
Bedeutung bei. Hingegen frage ich mich, wie er in Paris wohl an die Drogen kommt. Ich
werde Dédée ins Gebet nehmen müssen, ihr verbieten, Beihilfe zu leisten. In diesem Zustand
wird Johnny nicht mehr lange durchhalten können. Drogen und Elend vertragen sich nicht.
Ich denke an all die Musik, die uns verlorengeht, an die Dutzende von
Schallplattenaufnahmen, bei denen Johnny diese erstaunliche Überlegenheit, die er allen
anderen Musikern gegenüber hat, weiterhin zeigen könnte. Dies >>Das bin ich morgen am
Spielen<< war mir auf einmal völlig klar, denn Johnny ist immer dabei morgen zu spielen,
und alle anderen bleiben hinter ihm zurück, in diesem Heute, das er mit den ersten Noten
seiner Musik mühelos überspringt.“
12
Sprecher:
Der Nicaraguaner Sergio Ramírez lernte Cortázar 1976 kennen. Ramírez zählt heute
selbst zu den anerkannten Schriftstellern Lateinamerikas und mehrere seine Romane
wurden auch ins Deutsche übersetzt. Er glaubt, Cortázar liebte Jazz, weil er seiner
Melancholie entsprach.
14. O-Ton: Sergio Ramírez: Yo creo que la melancolía ... instrumentos muy
melancholicos.
Overvoice 5:
„Ich glaube, Cortázars Melancholie drückte sich in seiner Liebe zum Saxophon aus. Das
Saxophon ist ein sehr melancholisches Instrument. Ich weiß nicht, wie gut er als
Saxophonist war, aber er übte Sax. Es hat diese afroamerikanische Melancholie.
Trompeten, Saxophone sind für mich sehr melancholische Instrumente.“
Autorin:
Auf etlichen Fotos ist Cortázar auch abgebildet, wie er Trompete spielte.
5. Musik: Herbie Hancock: „Blow up. Thomas studies photos“, drübersprechen
Sprecher:
1959 veröffentlichte Julio Cortázar neben der kurzen Erzählung „Das besetzte Haus“ mit
„Teufelsgeifer“ eine Kurzgeschichte, die fast siebzehn Jahre später Michelangelo
Antonioni zu seinem Kultfilm „Blow up“ animieren sollte.
Autorin:
Zwar spielt der Film des italienischen Regisseurs nicht in Paris, sondern im Swinging
London der Sechzigerjahre, doch er dreht sich wie Cortázars Geschichte darum, dass ein
Fotograf beim Vergrößern eines Fotos von einem Liebespaar einem Verbrechen auf die
Spur kommt – einem Mord bei Antonioni, einer Entführung bei Cortázar.
Musik kurz hochziehen, dann abrupt enden.
Sprecher:
13
Zwar nicht in Deutschland, aber in Lateinamerika und in etlichen anderen Ländern der
Welt war Julio Cortázar, als „Blow up“ in die Kinos kam, bereits ein Kultautor. Denn
1963 war Rayuela Himmel und Hölle, sein zweiter Roman, erschienen. Dem ersten
Roman, Die Gewinner aus dem Jahr 1960, war nicht viel Erfolg beschieden.
15. O-Ton: Aurora Bernárdez: Cortázar es un gran cuentista ... los chicos de 20.
Overvoice 4:
„Cortázar ist ein großartiger Geschichten-Erzähler. Und dann kam Rayuela. Das Problem
war, dass ein Autor, der Geschichten geschrieben hat, aus Sicht der Leser seiner Generation
auch dabei hätte bleiben sollen. Aber es gab auch andere Leser, die jungen Leser jener Zeit.
Bei denen war die Reaktion einmütig. Bei den Zwanzigjährigen. Dabei hat Julio Rayuela für
die 40jährigen geschrieben, aber nein, es waren die Zwanzigjährigen, die ihn annahmen.
Und bis heute lesen ihn die Zwanzigjährigen.“
Autorin:
Sergio Ramírez war 21 Jahre alt, als Rayuela auf den Markt kam. Der spätere
sandinistische Revolutionär und Vizepräsident Nicaraguas war damals Student.
16. O-Ton: Sergio Ramírez: Para mí generación ... una reconstrucción.
Overvoice 5:
„Für meine Generation war Rayuela eine Bibel, was das Verhalten anbelangt. Rayuela war
kein politischer Roman, aber ein Roman, der vorschlug, eine Ladung Dynamit an die
bürgerliche Welt zu legen, an die Welt, wie sie damals war, an die althergebrachten Werte.
Und aus dieser Perspektive war es ein sehr lehrreiches Buch. Es stand für
Nonkonformismus. Es ging darum, wie wir Sandinisten es ja auch gemacht haben, die alten
Formen aufzubrechen. Sich anders zu verhalten. Ich glaube, in diesem Sinne war Rayuela,
von den literarischen Werten abgesehen, eine generationenspezifische Lektüre der
Rebellion, ein Buch von anarchischen Vorschlägen, würde ich sagen. Denn Rayuela schlägt
nur eine De-Konstruktion der Welt vor, nicht deren Neuaufbau.“
Zitatsprecher 1:
„Reinheit wie die eines Koitus zwischen Kaimanen, nicht die Reinheit von o Maria Mutter
mein mit schmutzigen Füßen; Reinheit eines Schieferdaches mit Tauben, die
14
selbstverständlich auf die Köpfe der Wut und Radieschenbüschel schnaubenden Señoras
scheißen.“
Sprecher:
Die Vulgärsprache, das Veralbern des Marienkultes – das waren die
lateinamerikanischen Leser damals nicht gewöhnt.
17. O-Ton Sergio Ramírez: Rayuela pone en cuestion ... valores tradicionales./ Aun las
partes ... el gato se llama Adorno.
Overvoice 5:
„Rayuela stellt alles in Frage und macht sich über das Establishment lustig. Rayuela ist ein
sehr komisches Buch. Man kann es lesen wie eine Nacht in der Oper mit den Marx Brothers.
Es ist Nonkonformismus, der sich konstant über die traditionellen Werte lustig macht.
Sogar die Teile, in denen Cortázar seine philosophischen Reflexionen unternimmt, durch
Morelli, diesen alten Mann, der die Rolle des Philosophen hat, stellen alles sehr
humoristisch in Frage. Das heißt, Rayuela ist ein humoristisches Buch, es ist, genau
genommen, eine Verschwörung gegen Gleichmut und Förmlichkeiten. Morelli ist
schlussendlich eine komische Figur, obwohl er ernsthaft philosophiert und über Theodor
Adorno nachdenkt. Die Katze in Rayuela heißt ja auch Adorno.“
18. O-Ton: Michi Strausfeld:
„Rayuela hat eine ganze Generation von Lesern und Autoren verändert. Es hat den größten
Einfluss ausgeübt, den man sich von einem Buch nur vorstellen kann, weil es die
Lesegewohnheiten eines Kontinents plus Spanien verändert hat.“
Autorin:
Die 155 Kapitel von Rayuela müssen nicht in chronologischer Reihenfolge gelesen
werden. Der Autor hat eine weitere Lesefolge vorgeschlagen, lässt dem Leser aber auch
die Freiheit, die Lektüre an beliebiger Stelle im Buch zu beginnen und an beliebiger
Stelle fortzusetzen. Der Roman fordert also den aktiven Leser.
Sprecher:
15
Eine chronologische Fortschreibung einer Handlung gibt es nicht, vielmehr werden
Episoden erzählt, die man auch jede für sich wie eine Kurzgeschichte lesen kann, ohne
das sie ihren Sinn verlören.
19. O-Ton: Sergio Ramírez: Es un libro de gente ... bien reflejada en Rayuela.
Overvoice 5:
„Es ist ein Buch über Randexistenzen. Mir scheint, dass es sehr gut die schwierige
Beziehung widerspiegelt, die die Lateinamerikaner immer schon zu Paris hatten. Nur
schwer fanden die lateinamerikanischen Schriftsteller, die später berühmt wurden, in ihrer
Zeit dort eine Beziehung zu französischen Intellektuellen, sie blieben in ihrer eigenen Welt.
Von César Vallejo bis Rubén Darío waren die lateinamerikanischen Schriftsteller in Paris
immer Randexistenzen. Paris ist bis heute eine Sinnestäuschung. Ich glaube, das spiegelt
sich sehr gut in Rayuela wieder.“
Autorin:
Die Protagonisten von Rayuela, ein junger Argentinier aus bürgerlichem Haus namens
Horacio Oliveira und seine uruguayische Freundin Lucía, genannt La Maga, schlagen sich
im ersten Teil des Romans mit Gelegenheitsjobs und Geld-Überweisungen von Oliveiras
Bruder in Paris durch.
Zitatsprecher 1:
„So hatten sie angefangen, durch ein märchenhaftes Paris zu wandern, sich leiten zu lassen
von den Zeichen der Nacht, Wege einzuschlagen, die aus dem Satz eines Clochards
entstanden waren, aus einer beleuchteten Dachkammer in der Tiefe einer schwarzen
Straße. Auf den kleinen intimen Plätzen hielten sie an, küßten sich auf den Bänken und
betrachteten die Kreidestriche von Himmel-und-Hölle, die kindlichen Riten mit dem Kiesel,
das Hüpfen auf einem Bein, um in den Himmel zu gelangen.“
Sprecher:
Und sie reden und reden, zu zweit oder mit ihren Freunden des sogenannten „Clubs der
Schlange“. Über den Sinn des Lebens, über dessen absurde Seiten, über den Tod, über
Literatur, Malerei, über Musik. Während sie argentinischen Mate trinken und Jazz hören.
16
4. Musik: Bix Beiderbecke: Jazz me blues, drübersprechen
Zitatsprecher 1:
„Oliveira dachte, wo Bix wohl begraben sein mochte und wo Eddie Lang, wie viele Meilen
voneinander ihre beiden Nichtse, die sich eines künftigen Abends in Paris schlagen sollten,
Gitarre gegen Kornett, Gin gegen Unglück. Der Jazz.
- Man fühlt sich wohl hier. Es ist warm, es ist dunkel.
- Ein grandioser Irrer, dieser Bix. Leg mal „Jazz me blues“ auf.
- Der Einfluss der Technik auf die Kunst, sagte Ronald und griff in einen Plattenstapel,
wobei er flüchtig auf die Etiketten sah. Diese Burschen aus der Zeit vor dem long play
hatten für ihr Spiel nicht mal drei Minuten. Jetzt kommt so ein Schlaukopf wie Stan Getz,
pflanzt sich fünfundzwanzig Minuten lang vor dem Mikrophon auf und kann loslegen nach
belieben und das Beste aus sich herausholen. Der arme Bix musste mit einem Chorus
zurechtkommen und danke. Kaum wurden sie warm, zack, aus.“
Musik Ende.
20. O-Ton: Michi Strausfeld:
Natürlich ist es heute nicht mehr so interessant. Die existentialistischen Diskussionen mit
Musik und Tabak sind heute eigentlich ein bisschen passé, aber es werden Dinge von
Rayuela immer in Erinnerung bleiben. Es ist ein Roman der Großstadt, es spielt in Paris,
und nachher auf der anderen Seite des Ozeans, im zweiten Teil, kommt ja dann
Lateinamerika hinzu, all die Themen, die für Cortázar wichtig waren, die Verbindung
seiner beiden Welten. Aber es waren die intellektuellen Diskussionen, die man in den
Sechzigerjahren geführt hat.“
Autorin:
Für Cortázars peruanischen Kollegen und Freund Mario Vargas Llosa macht sein Stil den
besonderen Reiz seiner Werke aus.
Zitatsprecher 2:
„Ein Stil, der in wunderbarer Weise Oralität vorspiegelt, die zwanglose Flüssigkeit der
täglichen Sprache, den spontanen ungeschminkten, unverstiegenen Ausdruck des ganz
gewöhnlichen Menschen. Es handelt sich natürlich um eine Illusion, denn in Wirklichkeit
17
drückt der gewöhnliche Mensch sich kompliziert, konfus und voller Weiderholungen aus,
was, in die Literatur übertragen, unerträglich wäre. Cortázars Sprache ist ebenfalls eine
Fiktion, eine vorzüglich fabrizierte Fiktion: der Kunstgriff ist so wirksam, dass sie natürlich
wirkt, eine dem Leben abgeschaute Sprache, die dem Leser direkt aus den lebhaften
Mündern, von den munteren Zungen der Männer und Frauen aus Fleisch und Blut
entgegenkommt, eine Sprache, die so transparent und einfach ist, daß sie mit dem
verschmilzt, was sie benennt.“
Sprecher:
Zurück in Buenos Aires, arbeitet Oliveira als Gehilfe im Zirkus der Familie Traveler.
Zirkusmann Traveler spielt Tango auf der Gitarre und singt dazu. Der Tango löst den
Jazz als Hintergrundmusik für die Gespräche Horacios mit seinen Freunden ab.
Zitatsprecher 1:
„>>Musik, schwermütige Nahrung für uns verliebtes Volk<<, hatte Traveler zum vierten
Mal zitiert, während er die Gitarre stimmte, um den Tango Kleiner Papagei des Glücks zu
Gehör zu bringen. ...“
Autorin:
Unter Literaturwissenschaftlern entstand die Theorie, dass der Jazz in Rayuela die Tür
zum Surrealismus öffnet, während der Tango in Opposition dazu steht.
Zitatsprecher 1
„Der kleine Papagei des Glücks hatte inzwischen ein rosa Papier gezogen: Ein Bräutigam,
langes Leben. Was nicht hinderte, daß Traveler mit hohler Stimme die galoppierende
Krankheit der Heldin beschrieb, und am Abend, da sie starb so traurig / frage sie die
Mutter: >Ist er nicht gekommen?>. Rrrrrums.
-Wie gefühlvoll, sagte die Guttusso. Man macht den Tango schlecht, aber nie werde ich ihn
mit den Kalypsos und ähnlichen Schweinerein, die im Radio kommen, auf eine Stufe stellen.
Reichen Sie mir doch die Bohnen, Don Horacio.“
5. Musik: Carlos Gardel: Mano a mano, drübersprechen
Sprecher:
18
Wie bei so vielen argentinischen Autoren, die im Ausland leben, begann auch Cortázars
enge Beziehung zum Tango in Paris. Er flocht ihn nicht nur in seine literarischen Texte
ein, er schrieb auch Essays darüber. In der berühmten argentinischen Kulturzeitschrift
Sur huldigte er 1953 Carlos Gardel, der Nachtigall der Pampa.
Zitatsprecher 1:
„Ich höre einmal mehr Mano a mano, (Von Hand zu Hand), den ich jedem anderen Tango
und allen anderen Aufnahmen Gardels vorziehe. Der Text, die unbarmherzige Bilanz einer
Frau, einer Prostituierten, enthält in wenigen Strophen eine ganze Lebensgeschichte und
die unfehlbare Vorhersage des Niedergangs. Sich vor diesem Schicksal verbeugend, das er
für einen Moment teilte, drückt der Sänger weder Wut noch Groll aus. Verbiestert in seiner
Traurigkeit, denkt er an sie zurück und stellt fest, dass sie in ihrem Paria-Leben nur eine
gute Frau gewesen ist. Vielleicht mag ich diesen Tango besonders, weil er das genaue Maß
ist für das, was Gardel repräsentiert.“
Autorin:
Und die argentinische Tangowelt erwiderte die Liebe Cortázars. Susana Rinaldi, eine der
größten Sängerinnen der Tango-Geschichte, deren Konzerte der Schriftsteller im
Übrigen gern besuchte, huldigt ihm bei ihren Auftritten, wenn sie Fragmente aus
Rayuela rezitiert.
6. Musik: Susana Rinaldi, Fragmento de Rayuela/ Sexto Piso: Decia Cortázar ...
Overvoice Zitatsprecher 1:
„Nichts ist verloren, wenn man nur endlich den Mut hat, zu verkünden, dass alles verloren
ist und man von neuem anfangen muss.“
Sprecher: (über Musik drübersprechen)
Dieses Zitat aus Rayuela ist in Argentinien inzwischen zu einem geflügelten Wort
geworden. Nach jeder Diktatur musste sich das Land neu aufstellen, nach jeder
Wirtschaftskrise trifft der Satz Cortázars für die meisten seiner Mitbürger zu: Sie
müssen neu beginnen.
Musik nach einigen Akkorden des Gesangs der Rinaldi ausblenden.
19
Autorin:
1979 erschien in Frankreich eine Tango-Langspielplatte, deren Texte von Julio Cortázar
stammen. Die Musik schrieb sein Landsmann Edgar Cantón.
Zitatsprecher 3:
„Ich hatte zusammen mit Julio Cortázar die Idee, Tangos zu schreiben. Er hatte Gedichte,
die wie Tangos klangen. Wir machten uns an die Arbeit und schrieben die Stücke, die dann
von Juan Cedrón gesungen wurden. Das 1979 erschienene Album war so erfolgreich, dass
wir fanden, wir müssten einen Ort finden, wo wir den Tango der großen Orchester der
vierziger Jahre präsentieren könnten, den damals niemand in Frankreich kannte. Einige
bekannte Persönlichkeiten und Freunde, darunter Susana Rinaldi ... halfen uns. Als Namen
wählten wir den Titel eines Tangos, den wir komponiert hatten, „Les trottroirs de Buenos
Aires“, Die Bürgersteige von Buenos Aires.“
7. Musik: Juan Cedrón: Las veredas de Buenos Aires (drübersprechen)
Zitatsprecher 1:
Als Jungs nannten wir ihn den „Bürgerstieg“
Und es gefiel ihm, dass wir ihn mochten,
Auf seine leidgeprüften Huckel zeichneten wir
So viele Rayuelas.
Später, schon mehr Raufbolde, bewegten wir uns
tanzend ums Eck mit der Gruppe,
Laut pfeifend, damit die Blonde
Aus dem Laden mit ihren schönen Zöpfen
Ans Fenster käme.
Eines Tages musste ich sehr weit fortgehen
Aber nie vergas ich die „Bürgerstiege“
Hier oder dort, ich spüre sie
Wie die treue Umarmung meiner Heimat.
Wie viel würde ich gehen, bis ich
sie wiedersehen könnte.
Sprecher:
20
Das Lokal „Les trottoirs“ öffnete im November 1981 seine Pforten, und in den zwölf
Jahren seiner Existenz traten dort sämtliche Tango-Größen auf. Und es gibt
Buchautoren, die behaupten, es habe zu einer Renaissance des Tangos in Frankreich und
sogar in Argentinien selbst beigetragen.
Autorin:
Julio Cortázar hat einmal geäußert, er sei in einer Tango-Atmosphäre aufgewachsen.
Zitatsprecher 1:
„Wir hörten ihn im Radio, denn das Radio fing an, als ich klein war. Und danach gab es
einen Tango nach dem anderen. Und in meiner Familie gab es Leute, meine Mutter und
eine Tante, die Tangos auf dem Klavier spielten und sangen. Der Tango wurde ein Teil
meines Bewusstseins und ist die Musik, die mir meine Jugend und Buenos Aires zurückgibt.“
Sprecher:
Vor allem während der letzten argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 gab der
Tango Julio Cortázar einen Hauch von Buenos Aires zurück. Die Militärs hatten den
Schriftsteller gemeinsam mit vielen anderen Intellektuellen und Künstlern auf eine
schwarze Liste gesetzt. Seine Tangos wurden verboten und er durfte nicht mehr
einreisen, war plötzlich ein Exilant. Doch er haderte nicht nur damit.
Zitatsprecher 1:
„So grausam meine Worte auch erscheinen mögen, ich sage nochmals, daß das Exil den
bereichert, der die Augen offenhält und wachsam bleibt. Wir werden weniger
provinzlerisch, weniger nationalistisch, weniger egoistisch in unsere Heimat
zurückkehren.“
Autorin:
Nicht Cortázars Romane und Kurzgeschichten waren der Grund für die drastischen
Maßnahmen der Militärs. Den antikommunistischen Diktatoren missfielen dessen
politische Aktivitäten. Mario Vargas Losa hat diese politischen Aktivitäten noch in
seinem Nachruf auf den Kollegen bedauert.
Zitatsprecher 2:
21
„Cortázars Wandel, der außergewöhnlichste, den ich je bei einem Menschen erleben durfte,
eine Mutation, die ich oft mit der verglichen habe, die der Erzähler von Axolotl erfährt,
geschah der offiziellen, von ihm selbst sanktionierten Version zufolge im französischen Mai
1968. Damals, in diesen turbulenten Tagen, konnte man ihn auf den Pariser Barrikaden
sehen, wo er selbstverfaßte Flugblätter verteilte, mitten unter den Studenten, welche >>die
Phantasie an die Macht<< wünschten. Er war vierundfünfzig Jahre alt. Fortan, in den
sechzehn Jahren bis zu seinem Tod, sollte er der Schriftsteller sein, der sich für den
Sozialismus engagierte, der Verteidiger von Kuba und Nikaragua, der Unterzeichner von
Manifesten und der habitué von revolutionären Kongressen.
Sprecher:
Vargas Llosa glaubt, der Wandel habe mit der Trennung von seiner ersten Frau Aurora
Bernárdez zu tun. Cortázar wandte sich zunächst der litauischen Übersetzerin und
Schriftstellerin Ugnè Karvelis zu, um dann die kanadische Fotografin Carol Dunlop zu
heiraten. Sein Freund und Kollege fand ihn ohne Aurora vollständig verändert.
Autorin:
In Nicaragua war man froh über seine Wandlung.
21. O-Ton: Sergio Ramírez: Para nosotros era importante ... dar declaraciones.
Overvoice 5:
Für uns Sandinisten war es wichtig, den internationalen Rückhalt zu haben, in einer so
harten Auseinandersetzung, wie wir sie damals führten. Die Polarisierung zwischen der
US-Regierung unter Ronald Reagan und der sandinistischen Revolution war groß. Es war
wichtig, jemanden wie Julio Cortázar als Verteidiger der Revolution zu haben. Er hatte sich
der Solidarität mit Nicaragua verschrieben, er war in der Lage, nach Barcelona zu fahren
und an einer Fernsehsendung teilzunehmen, Briefe zu schreiben, sich für uns zu bewegen,
Erklärungen abzugeben.“
Sprecher:
Die Revolution in Nicaragua hatte Cortázar vor allem begeistert, weil sie auf
Alphabetisierung, Bildung und auf nicht kommerzielle Kultur setzte, auf ihre eigene
22
Literatur und Musik. Und ihn faszinierte, dass mit Sergio Ramírez, Ernesto Cardenal,
Tomás Borge und anderen Schriftsteller und Dichter in die Politik einbezogen waren.
8. Musik: Luis Enrique Mejía Godoy: Soy de un pueblo pequeño, drüber sprechen
Zitatsprecher 1:
„Kaum ist man in Nikaragua angekommen, ... hallt einem das Wort >>Kultur<< in den
Ohren, es ist Teil einer äußerst vielfältigen Thematik und Programmatik, und schon nach
ganz kurzer Zeit merkt man, daß dieses Wort hier einen anderen Stellenwert hat, wo es in
einem Bereich benutzt wird, den manche privilegiert nennen könnten, den ich aber lieber
als elitär bezeichne.“
Autorin:
Salman Rushdie unterstützte wie Cortázar die Sandinistische Revolution. Cortázar
veröffentlichte 1983 sein Buch Nikaragua so gewaltsam sanft. Rushdie brachte seine
Nicaragua-Erinnerungen 1987 in Das Lächeln des Jaguar zu Papier.
Zitatsprecher 3:
„Wenn er in Nicaragua war, suchte er am liebsten die Märkte auf. Zusammen mit Tomás
Borge wanderte er dann über den alten >>orientalischen<< Markt, der in den Ruinen der
Innenstadt entstanden war. ... Nicaragua erwiderte Cortázars Zuneigung, und seine
Menschen liebten ihn. Der Autor des teuflisch esoterischen und schwierigen Werkes
Rayuela ... hatte mit vielen Marktleuten auf Duzfuß gestanden.“
Musik hochziehen, sodass man noch „juntos somos un volcán“ hört, danach weg.
Sprecher:
Mario Vargas Llosa fand Cortázar auch äußerlich verändert.
Zitatsprecher 2:
„Er hatte sich das Haar wachsen lassen und trug einen rötlichen, beeindruckenden Bart,
wie ein biblischer Prophet. Er brachte mich dazu, mit ihm zusammen erotsiche
23
Zeitschriften kaufen zu gehen, und redete von Marihuana, von Frauen von der Revolution
wie früher von Jazz und von Phantasmen. Nach wie vor besaß er diese warmherzige
Freundlichkeit. Dieser andere Julio Cortázar war als Schriftsteller, so scheint mir, weniger
er selbst und weniger schöpferisch als der ursprüngliche. Aber ich glaube, daß er zum
Ausgleich ein intensiveres und womöglich glücklicheres Leben führte als zuvor.“
Autorin:
In dem Poem „Nachricht für Reisende“, das er Nicaragua widmete, findet sich nicht der
tiefgründige, dem Surrealismus zugewandte Tango-Dichter wieder, sondern der
sentimentale Junge von einst.
Zitatsprecher 1:
„Läßt man dem vollen Herzen die Zügel schießen,
liegt über allen Gesichtern des Mittags Glück,
spielen Kinder arglos im Wald mit Waffen,
gewann sich das Leben jede Straße zurück,
Der Wind der Freiheit ist dein Pilot gewesen,
des Volkes Kompaß war der Wegweiser dir,
wie viele Hände strecken sich dir entgegen,
wie viele Frauen, Kinder und Männer sind hier!
Reisender, siehst du, seine Tür ist offen,
das ganze Land scheint ein riesiges Haus zu sein.
Nein, der Flugplatz ist auch kein Irrtum gewesen,
Nikaragua ist es, bitte, tritt ein.“
Sprecher:
Cortázar nahm von 1974 bis 1976 am zweiten Russell-Tribunal teil, dessen Ziel es war,
aufzuzeigen, dass in vielen Ländern Lateinamerikas die Menschenrechte systematisch
verletzt wurden.
Autorin:
24
Weil er wohl zu Recht befürchtete, dass vor allem in Lateinamerika niemand von den
Enthüllungen des Tribunals erfahren würde, schrieb er eine Kurzgeschichte, deren
Hauptfigur die mexikanische Comic-Figur Fantomas war und in die er die Ergebnisse
des Tribunals einbaute und auf die unrühmliche Rolle multinationaler Konzerne in der
Welt hinwies.
Sprecher:
Sujet der durchaus witzigen Propaganda-Geschichte ist die Vernichtung sämtlicher
Bücher dieser Welt durch einen Konzernchef namens Steiner. Schriftsteller wie Susan
Sontag, Alberto Moravio, Octavio Paz und natürlich Cortázar selbst tun sich mit
Fantomas zusammen, um das zu verhindern.
Zitatsprecher 1:
„Und obwohl der Erzähler die sehr fragwürdige Gewohnheit hatte, in Paris zu wohnen,
meldete er sich aus Barcelona, was ihn äußerst erfreute, weil diese Gabe der Allgegenwart
als Erklärung für viele eher ungewöhnliche Dinge, die sich gerade ereigneten, reichen
musste.
- Herr Julio Cortázar in Barcelona mein Herr.
- Es freut mich, dass du anrufst, Fantomas.
- Was sagt man in Barcelona zu dieser Büchervernichtungswelle?
- Anfangs tanzten die Verleger vor Freude. Sie witterten schon ein großes Geschäft durch
Millionen von Neuauflagen. Das Jubeln verging ihnen, als sie anonyme Drohungen
erhielten: Sie würden sterben, falls sie die verbrannten Ausgaben ersetzen wollten.
- Abzocker, interessant.
- Und du, Julio? Hat man dir nicht gedroht?
- Noch ein Roman und die köpfen mich.
22. O-Ton: Michi Strausfeld:
„Die späteren Erzählbände sind vielleicht nicht mehr durchgängig so toll, aber in jedem
Buch gibt es drei, vier von acht Erzählungen, die einfach wunderbar sind, und andere, die
vielleicht nicht ganz so perfekt sind.“
Autorin:
25
In Deutschland kam Julio Cortázar erst sehr spät an. Sein erster Erzählband Bestiarium
kam 1979 mit 29jähriger Verspätung hier auf den Markt. Rayuela erschien achtzehn
Jahre nach Erscheinen des Romans auf Spanisch. Es war Michi Strausfeld, die schließlich
für den Suhrkamp Verlag die Rechte für Cortázars Werke erwerben konnte.
23. O-Ton Michi Strausfeld:
„Es gab in Deutschland nur diesen Erzählband von Edith Aron, und dann gab es noch in der
Übersetzung von Wolfgang Promies Geschichten der Cronopien. Sonst gab es nichts.“
Sprecher:
In einem Brief an seinen spanischen Verleger hatte Cortázar 1964 geschrieben, er könne
sich Edith Aron, mit der er vor seiner Ehe mit Aurora Bernárdez liiert war, nicht als
Übersetzerin von Rayuela vorstellen. Er konnte sich deshalb wohl lange nicht
durchringen, die deutschen Übersetzungsrechte an seinen Werken zu verkaufen, weil er
Aron nicht vor den Kopf stoßen wollte.
24. O-Ton: Michi Strausfeld:
„Julio sagte dann auch, das ist sehr schwierig mit Rayuela.“
Autorin:
Seit einigen Jahren weiß man, das sich Edith Aron hinter der Maga verbirgt. Noch 2005
warf sie Cortázar in einem Interview vor, mit seinem Brief an seinen spanischen
Verleger, der zwischen den Zeilen ihre intellektuellen Fähigkeiten angezweifelt habe,
ihre Karriere als Übersetzerin zerstört zu haben.
Sprecher:
Als Rayuela Himmel und Hölle dann 1981 endlich in einer glänzenden Übersetzung von
Fritz Rudolf Fries auf Deutsch erschien, wurde der Roman auch hier ein Erfolg.
9. Musik: Los Brujos: Canción del Cronopio, drübersprechen
Autorin:
26
Die Rockgruppe Los Brujos, zu deutsch Die Hexer, mischten in den Neunzigerjahren die
argentinische Musik-Szene auf, unter anderem mit ihrem Lied vom guten Cronopium,
der wohl bekanntesten Schöpfung von Julio Cortázar. Vielen Lesern fallen beim Namen
Cortázar zuerst die Geschichten der Cronopien und Famen ein.
Zitatsprecher 1:
„Wenn die Cronopien auf Reisen gehen, finden sie die Hotels besetzt, die Züge sind schon
fort, es regnet lautstark, und die Taxis wollen sie nicht mitnehmen oder verlangen
gesalzene Preise. Die Cronopien lassen sich davon nicht entmutigen, denn sie sind des
festen Glaubens, daß solche Dinge jedermann erlebt, und zur Schlafenszeit sagen sie
zueinander: >>Die schöne Stadt, die wunderschöne Stadt<<. Und träumen die ganze Nacht,
daß in der Stadt große Feste gefeiert und sie dazu eingeladen werden. Anderntags stehen
sie auf und sind von Herzen froh: auf diese Weise reisen die Cronopien.“
25. O-Ton: Michi Strausfeld:
„Diese Cronopien, diese kleinen grünen feuchten Dingerchen, die sind natürlich so was von
poetisch und wunderbar, dass man immer sagt, ja, er ist das Cronopium par excellence.“
Sprecher:
Mario Vargas Llosa glaubt, dass in Cortázars Welt, und besonders in den Cronopien, das
Spiel zu einer ernsten Tätigkeit wird.
Zitatsprecher 2:
„Wahrscheinlich hat kein anderer Schriftsteller dem Spiel so sehr zu literarischen Würden
verholfen wie Cortázar es getan hat. Und niemand hat, wie er, aus dem Spiel ein derart
geschmeidiges, nützliches Element der künstlerischen Schöpfung und Erkundung gemacht.
... Julio spielte nicht, um Literatur zu machen. Für ihn war das Schreiben selbst spielen, sich
amüsieren, das Leben.“
26. O-Ton: Michi Strausfeld:
„Er hat mit Judith, die damals fünf war, unter dem Tisch gespielt. Er war so ein
zugewandter, unglaublich höflicher, aufmerksamer Mensch, der mit seinem jugendlichen
Aussehen und seiner kindlichen Weisheit – das ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber er
hatte etwas Kindliches immer an sich, und er war ein weiser Mann, das will ich damit
27
sagen, ein ganz kluger, aber auch ein weiser Mann, was viele Dinge anbetraf, in anderen
war er ein Enthusiast.“
Autorin:
Während eines Strandaufenthaltes in Nicaragua erfahren Julio Cortázar und seine
zweite Ehefrau, die kanadische Fotografin und Schriftstellerin Carol Dunlop, dass Carol
an Krebs erkrankt ist. Wenig später bekommt er die gleiche Diagnose. Beide schon
todkrank, gehen sie noch mit einem VW-Bus auf eine letzte gemeinsame Reise von Paris
nach Marseille.
Sprecher:
Aus den Reiseerlebnissen wird ein gemeinsames Buch, Die Autonauten auf der
Kosmobahn.
Zitatsprecher 1:
„Leser, vielleicht weißt du es schon: Dieses Buch, das von Bärchen und dem Wolf gelebt und
geschrieben wurde, so wie ein Pianist eine Sonate spielt und dabei die Hände in einer
einzigen Suche nach Rhythmus und Melodie vereint sind, beendet und ordnet Julio, der
Wolf, allein.“
Autorin:
Carol Dunlop verstarb am 2. November 1982. Julio Cortázar überlebte seine 32 Jahre
jüngere Frau nur um gut zwei Jahre. Er starb am 12. Februar 1984. Seine erste Frau,
Aurora Bernárdez, hat ihn bis zuletzt gepflegt.
Sprecher:
Lange glaubte man, er sei einer Leukämie zum Opfer gefallen. Seine Freundin Cristina
Peri Rossi fand jedoch heraus, dass er an AIDS erkrankt war, in Folge einer
Bluttransfusion, die er einige Jahre zuvor während einer Magenblutung erhalten hatte.
Er hatte Carol Dunlop mit AIDS infiziert, und weil sie jünger war, entwickelte sich die
Krankheit bei ihr schneller.
Zitatsprecherin 1:
28
„Vor seiner Krankheit, eine der wenigen, die er im Laufe seines Lebens hatte, pflegte Julio
mir lächelnd zu sagen: „Ich bin unsterblich“. ... Er war ein optimistischer Mensch, der nie
zusammenbrach, weder bei Carols Tod, noch angesichts seiner eigenen Krankheit.“
27. O-Ton Michi Strausfeld:
„Auf seinem Grabstein steht ein Cronopium, das sein Freund Julio Silva für ihn gemacht hat,
aus Marmor.“
Autorin:
Julio Cortázar wurde auf dem Pariser Friedhof Montparnasse begraben. Am 26. August
2014 wäre er 100 Jahre alt geworden.
28. O-Ton: Sergio Ramírez: Ahora que se cumplen ... su resurreción.
Overvoice 5:
„Und jetzt, anlässlich seines 100sten Geburtstags, werden wir seine Auferstehung erleben.“
10. Musik: Gardel: Mi noche triste
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