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PD Dr. Oliver Hidalgo Vertretungsprofessor für Politische Theorie (Universität Münster)
Graduate School of Law, Economics, and Society 31. Januar 2017 18.15-19.45 Uhr Alumni Hörsaal II, Alte Uni Universität Würzburg
Antinomien der Demokratie
Einführung: Das sozialwissenschaftliche Konzept der Demokratie
► Sammelbegriff für unterschiedliche oder sogar widersprüchliche Ideen und sozialhistorische Realitäten
► Synonym für Beliebigkeit? Vergleichbarkeit? ►Tragfähigkeit von im Westen generierten
Maßstäben? → Interkultureller Konsens über Minimalkonzept der
Demokratie als Problemlösung? → Statt „essentially contested concept“ (Gallie 1956)
„boundary contested concept“ (Lord 2004)? ⇔ Alternativer Ansatz der demokratischen
Antinomien: umstrittene „Essenzen“, jedoch klare Konturen des demokratischen Diskursrahmens
Argumentationsschritte
1. Sprachanalytische Indizien für Antinomien in der Demokratietheorie und empirischen Demokratieforschung
2. Rekonstruktion der sechs demokratischen Grundantinomien aus der Ideen- und Begriffsgeschichte der Demokratie
3. Ausgewählte Beispiele für die theoretische und empirische Arbeit mit demokratischen Antinomien
Der Begriff der „Antinomie“ Die semantischen Bedeutungszuschreibungen, die im
Rahmen der Begriffs-, Ideen- und Theoriegeschichte der Demokratie nachweisbar sind, bilden ein Netz aus unlösbaren Widersprüchen, die den Demokratiebegriff insgesamt als Konzept ausweisen, das Unvereinbares vereinbaren will
→ Über die generelle Umstrittenheit politischer Begriffe (Göhler/Iser/Kerner 2006) hinaus verlängern sich dadurch gegensätzliche normative Ansprüche in das Demokratiekonzept hinein und sind unter diesem folgerichtig in völlig legitimer Weise subsumierbar.
1a „Demokratie mit Adjektiven“ als Identifikationsschlüssel
Drei Kategorien:
► Reduktion → z.B. „autoritär“, „gelenkt“, „guided“, „embedded“
► Präzision → z.B. „präsidentiell“, „parlamentarisch“, „föderal“
► Kontroverse Begriffspaare jenseits einer eindeutigen Zuordnung
1b Demokratie mit Adjektiven der 3. Kategorie
► liberal vs. republikanisch ► repräsentativ vs. direkt ► elitär vs. partizipatorisch ► majorativ vs. konsensuell ► antik vs. modern ► westlich vs. nicht-westlich
Die Konkurrenz dieser gegensätzlichen Demokratie-typen weist darauf hin, dass sich das ,root concept‘ der Demokratie im Laufe seiner Geschichte mit gegensätzlichen Legitimitätschiffren amalgamierte
2a Sechs Grundantinomien in der Ideengeschichte der Demokratie
liberal republikanisch → Freiheit vs. Gleichheit (1)
repräsentativ direkt → Repräsentation vs. Volkssouveränität (2)
elitär partizipatorisch → Qualität vs. Quantität (3)
mehrheitlich konsensuell → Vielheit vs. Einheit (4)
antik modern → Gemeinschaft vs. Individuum (5)
westlich nicht-westlich → Universalität vs. Partikularität (6)
Exkurs: Sonderfall agonale vs. deliberative Demokratie
2b Unlösbare Widersprüche in der Ideen-, Begriffs- und Theoriegeschichte der Demokratie
1. Freiheit vs. Gleichheit → blinde Flecken des antiken Diskurses; Autorität vs. Freiheit
(Rousseau); Freiheit + soziale Ungleichheit vs. staatliche Redistribution; ökonomische Aspekte der Gleichheit (Rawls)
2. Repräsentation vs. Volkssouveränität → Oxymoron der ,repräsentativen Demokratie‘; pragmatische
Anpassung der Demokratie an die ,Systemzwänge‘ der Moderne (Federalists, Sieyès, Paine); Koexistenz selbst in Minimalkonzepten (Schumpeter vs. Barber)
3. Qualität vs. Quantität → frühe Fundamentalkritiken an der Demokratie vs.
aristotelische Summationstheorie; rechtsstaatliche Grenzen demokratischer Verfügungsgewalt; freies Mandat und Expertise vs. Beteiligung der Bürger/Massen durch Wahlen, Referenden, öffentliche Diskurse; wehrhafte Demokratie
2c Unlösbare Widersprüche in der Ideen-, Begriffs- und Theoriegeschichte der Demokratie
4. Einheit/Homogenität vs. Pluralismus/Heterogenität → Platon vs. Aristoteles; Politische Theologie des MA vs. Machiavelli;
Carl Schmitt vs. H. Heller/Kelsen; Pluralismus, Konkurrenz und soziale Ausdifferenzierung vs. Kräfte des sozialen Zusammenhalts und konsensuelle, wertbasierte Grundlage der Demokratie (Wollheim-Paradox)
5. Individuum vs. Gemeinschaft → Moderne Individualisierungs- und Säkularisierungsprozesse;
Kontraktualismus; harscher Gegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus im 19. Jh; Spieltheoretische Grenzen der ,unsichtbaren Hand‘; Hirschmanzyklen; Unentschiedenheit des Kommunitarismusstreits
6. Universalität vs. Partikularität → Notwendige Orientierung der Demokratie an universalen ethischen
Maximen und normativer Selbstanspruch vs. konkrete partikulare Ausgestaltungen des Demokratischen; Kritiken der Postmoderne/des Postkolonialismus vs. ,Resttelos‘ der Demokratie und ,Horizont‘ des Universalen (Laclau)
2d) Demokratie als Nebeneinander gegensätzlicher Merkmale
1. freier Markt und Sozialstaatlichkeit 2. Einfluss von Verbänden/Lobbygruppen und
Prinzip One man, one vote; Legislativgewalt des Parlaments und öffentliche Debatten, Wahlen und Referenden
3. Rechtsstaatlichkeit und Mehrheitsprinzip 4. Pluralismus und kollektive Identität 5. Individuelle Bürgerrechte und Solidarität/
Verantwortung für die Gemeinschaft 6. Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen
allen Demokratien
Zwischenfazit
►Die evidente Kompatibilität der ,Demokratie‘ mit den skizzierten widersprüchlichen Prinzipien belegt, dass der Begriff sie im Laufe seiner Geschichte als Antinomien inkorporiert hat
→Mit dem Begriff ,Demokratie‘ ist daher in erster Linie der diskursive Austragungsort für die dahinter stehenden politischen Konflikte zu konzeptionalisieren
→Die Antinomien geben zugleich einen Diskursrahmen an, mit dem sich sowohl normativ (gleich-)berechtigte Gegenpole als auch neuralgischen Punkte und Bruchstellen der Demokratie identifizieren lassen
Exkurs: Erläuterung der Entartungsmöglichkeiten bzw. des ,Selbstzerstörungsmechanismus‘ der Demokratie
3a Beispiel 1: Der demokratische Frieden
Statistischer Doppelbefund
Antinomien des demokratischen
Friedens?
Antinomien der Demokratie
Vgl. Harald Müller 2002
u. 2004
Quasi-Auslagerung der Demokratie als kausaler Faktor für ambivalentes Verhalten in der Außenpolitik
Demokratie als Erklärungsvariable (Individuum vs. Kollektiv; Quantität vs. Qualität; Universalität vs. Partikularität)
3b Beispiel 2: Non Western-Democracies ► Konzept der Non-Western-Democracy einerseits als evidente
Emanzipation von Genese und Geltung der Demokratie im abendländischen Kontext
→ Kritik an (klassischen) Modernisierungstheorien und dem Clash of Civilizations-Szenario
→ Postmoderne und postkoloniale Infragestellung westlicher Universalansprüche
► Demokratie dadurch andererseits ein Synonym für Beliebigkeit? → ,Demokratisierung‘ jenseits von Konvergenzbewegungen zu
einer gemeinsamen Idee des politischen Zusammenlebens? ► Gewisse Fortsetzung bzw. Potenzierung traditioneller Probleme
der Begriffs- und Theoriegeschichte der Demokratie ► Interkultureller Konsens über Minimalkonzept der Demokratie
als Problemlösung? ⇔ Alternativer Ansatz der demokratischen Antinomien: umstrittene „Essenzen“, jedoch klare Konturen des demokratischen Diskursrahmens
Non-Western Democracies im
Spiegel der Antinomien ► Gegensatz Western/Non-Western Democracies als logische
Folge der demokratischen Antinomien (6. Antinomie) ► Antinomien zeigen Spielräume und Grenzen der Demokratie an ► Vermeidung von exklusiv westlichen Maßstäben zur Bewertung
nicht-westlicher Demokratien → Mangelnder Konsens innerhalb des Westens selbst → grundsätzliche Gleichberechtigung von (legitimen) westlichen
und nicht-westlichen Antinomien-Arrangements → Gebrochene Universalansprüche ► Operationalisierung der Messung demokratischer Defekte
anhand des Kriteriums der „Aufhebung“/Absorbierung von Antinomien
► „Gesamtraster“ zur Untersuchung demokratischer Qualitäten ► Temporärer, nicht absoluter Vorrang antinomischer Pole
Beispiel 3b1: Die Legitimität islamischer Demokratiemodelle
► Integration islamischer Glaubensinhalte als vorpolitische Grundlage des Gemeinwesens iS der Antinomien zunächst unproblematisch (z. B. Sachedina 2006: ,Guidance‘ statt ,Governance‘)
► Voraussetzungen: keine Vorentscheidung demokratischer Prozeduren (2. Antinomie); Koexistenz/Arrangement mit existenten nicht-muslimischen Überzeugungen (4.) bzw. Möglichkeit zu deren Repräsentation (2.); keine Verabsolutierung von Gemeinschaftsansprüchen (5.)
► Mehrheitsprinzip keine hinreichende Bedingung für Legitimität von ,islamischen‘ Demokratiemodellen (3.)
► Allgemeine Anforderung an den demokratischen Diskurs: legitimes Engagement für den realpolitischen Vorrang eines antinomischen Pols muss immer temporär und umkehrbar sein (↔ Ghannouchi 1993)
► Fixierte Verfassungsnormen haben antinomische Spielräume zu generieren, nicht zu kappen
► Keine Reduktion der Demokratie auf eine bloße Herrschaftstechnik (vgl. al-Qaradawi)
Beispiel 3b2: Die ,konfuzianische‘ Demokratie bei Daniel Bell
► Beyond Liberal Democracy (2006): konfuzianische Demokratie-, Menschenrechts- und Marktwirtschaftsvorstellungen als legitime Alternative zum westlichen Modell
► Ablehnung des westlichen Universalanspruchs, Berücksichtung des politisch-kulturellen Kontexts in Ostasien und wechselseitiges Lernen der politischen Theorie in West und Ost iS der Antinomien
► Problem: Worin besteht das ,gemeinsam‘ Demokratische von westlichen und östlich-konfuzianischen Demokratieideen?
→ Non-liberal/Illiberal Democracies mit unvermeidlich Demokratie reduzierendem Charakter (wdh. Adjektive 1. Kategorie)
→ letztlich Bedienen eines divergenten Diskurses: nicht Legitimität von Non-Western Democracies steht zur Debatte, sondern die Frage einer generellen Alternative zur Demokratie (vgl. Dichotomie West/Ost statt unterschiedliche Schwerpunktsetzungen im Rahmen der demokratischen Antinomien)
Exkurs: konfuzianische Werte als einheitlich angenommene normative Basis vs. empirische Vielfalt (4. Antinomie) und autoritärer Zwang (2.)
Exkurs: Religion in der Demokratie
Konsequenz des Mehrheitsprinzips
Garantie von Minoritätenrechten
Qualität vs. Quantität (3)
Pluralität der Religionen als Ausdruck demokratischer Heterogenität
Bedrohung der sozialen Harmonie durch öffentliche Rolle der Religionen?
Pluralität vs. kollektive Identität (4)
Religionsfreiheit Bollwerk gegen Individualismus, Bereitstellung von Sozialkapital
Individuelle Rechte vs. Gemeinschaftsverantwortung (5)
→ Trennung von Politik und Religion in der Demokratie bedeutet sowohl eine Grundbedingung als auch eine Fiktion
3c Beispiel 3: Postdemokratie Ansatz von Crouch, Mouffe etc.: • Wiederholung klassischer Kritiken am liberalen Demokratie-modell • Polemik gegen „Fassade“ der liberalen Komponenten der Demokratie • Inszenierung eines Widerspruchs zwischen Liberalismus und Demokratie
Ansatz der demokratischen Antinomien: • Versachlichung der Debatte • Überprüfung empirischer Schieflagen in Richtung liberaler und linker, republi-kanischer oder radikaler Demokratien • Spuren der Demokratie in der Postdemokratie und umgekehrt • Postdemokratie ggf. als neues Stadium demokratischer Selbstzerstörung
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