alex bellos: alex im wunderland der zahlen leseprobe

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Leseprobe aus: Bellos, Alex: "Alex im Wunderland der Zahlen" Berlin Verlag 2011. ISBN 9783827008381

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Unverkäufliche, unkorrigierte Leseprobe

Ca. 512 Seiten, gebunden mit Schutzumschlagca. 25,00 [D] 25,70 [A]

Wir bitten Sie, Rezensionen nicht vor dem 10. September 2011zu veröffentlichen.

ISBN 978-3-8270-0838-1www.bloomsbury-verlag.de

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Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt

BERLIN VERLAG

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem TitelAlex’s Adventures in Numberland. Dispatches from the Wonderful World of Mathematics

bei Bloomsbury Publishing Plc, London© 2010 Alex Bellos

Für die deutsche Ausgabe© 2011 Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Florian Bayer, Berlin

Typographie: Birgit Thiel, BerlinGesetzt aus der Minion von Greiner & Reichel, Köln

Druck und Bindung: CPI Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany

ISBN 978–3–8270–0838–1

www.bloomsbury-verlag.de

Die vorliegende deutsche Übersetzung basiert mit Einverständnis des Autors auf der gekürzten amerikanischen Ausgabe. Diese erschien 2010 unter dem Titel Here’s Looking at Euclid: A Surprising Excursion Through the Astonishing World of Math bei Free Press, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York

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Für meine Mutter und meinen Vater

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Inhalt

Einleitung11

Ein Köpfchen für ZahlenNulltes Kapitel, in dem der Autor versucht

herauszufinden, woher die Zahlen kommen, da sie noch gar nicht so lange vorhanden sind. Er begegnet einem

Mann, der im Urwald gelebt hat, und einer Schimpansin, die ihr gesamtes Leben in der Zivilisation verbracht hat.

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Lust und Last des ZählensErstes Kapitel, in dem der Autor von der Tyrannei der

Zehn erfährt und von den Revolutionären, die sich zu deren Sturz ver schworen haben. In Tokio besucht er einen

Club, in dem Schüler nach der Schule rechnen lernen, indem sie Holzkugeln hin- und herschieben.

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Siehe da!Zweites Kapitel, in dem der Autor um ein Haar

seinen Namen ändert, weil ein Jünger eines griechischen Sektenführers behauptet, dass er das tun solle. Stattdessen

befolgt er die Anweisungen eines anderen griechischen Denkers, holt seinen Zirkel aus der Schublade und faltet

zwei Visitenkarten zu einem Tetraeder.

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Etwas über das NichtsDrittes Kapitel, in dem der Autor zu einer Audienz bei einem weisen Mann gen Indien reist. Dort entdeckt

er einige sehr langsame und einige sehr schnelle Methoden zu rechnen.

Das Ringen um PiViertes Kapitel, in dem der Autor sich nach

Deutschland begibt, um die schnellsten Kopfrechner der Welt zu beobachten. Dies dient ihm als Einstieg in

die Geschichte der Kreise, ein transzendentes Thema, das ihn bis zu einem Sofa in New York führt.

Der Faktor XFünftes Kapitel, in dem der Autor erklärt,

weshalb Zahlen gut, Buchstaben aber besser sind. In Braintree besucht er einen Mann, der Rechenschieber

sammelt, und vernimmt die tragische Geschichte von deren Verschwinden. Des Weiteren geht es um Logarithmen und Taschenrechner, und man lernt,

ein Superei zu machen.

Rätsel und ihre ErfinderSechstes Kapitel, in dem der Autor sich auf eine mathematische Rätselsuche begibt. Er erforscht das Vermächtnis verschiedener Chinesen – der eine war

ein tumber Einsiedler, die anderen fielen um ein Haar vom Erdball – und fliegt sodann nach Oklahoma,

um sich mit einem alten Magier zu treffen.

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Wer 1 sagt, muss auch 2 sagenSiebentes Kapitel, in dem der Autor mit der

Unendlichkeit konfrontiert wird. Er trifft auf eine unaufhaltsame Schnecke und auf eine wahrhaft

teuflische Ziffernfolge.

GoldfingerAchtes Kapitel, in dem der Autor einem Londoner mit einer Klaue begegnet, der behauptet, er habe das

Geheimnis schöner Zähne entdeckt.

Glück ist kein Zufall – oder doch?Neuntes Kapitel, in dem der Autor sein Glück

beim Schopfe packt und sich in Reno ins Kasino wagt. Er spaziert durch das Reich des Zufalls und landet in

einem kalifornischen Bürogebäude, von wo aus er über den Pazifik blickt, bis hin zu einer fernen Südseeinsel, auf der ein Lotteriegewinner sein sorgloses Dasein genießt.

Eine Frage der NormalitätZehntes Kapitel, in dem des Autors Hang zu leckeren Backwaren dazu dient, die Entstehung

der Statistik zu erforschen.

Kein Zimmer freiElftes Kapitel, in dem der Autor sich im

Häkeln versucht. Er beendet seine Reise in einem Hotel mit unendlich vielen Zimmern, wo man dennoch nicht mit einem plötzlichen Ansturm

von Gästen zurechtkommt.

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Glossar

Anhang

Anmerkungen und Literatur

Danksagung

Bildnachweis

Register

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Einleitung

Im Sommer 1992 arbeitete ich als aufstrebender Reporter beim Evening Argus in Brighton. Mein Job bestand hauptsächlich da-rin, jugendliche Wiederholungstäter beim Auftritt vor dem Amts-gericht zu beobachten, Ladenbesitzer zum Thema Konjunktur-schwäche zu interviewen und für die Infoseite der Zeitung zweimal wöchentlich die Betriebszeiten der Bluebell Railway, unserer ört-lichen Museumsbahn, zu aktualisieren. Es waren keine tollen Mo-nate, wenn man ein kleiner Dieb oder ein Ladenbesitzer war, aber für mich war es ein glücklicher Lebensabschnitt.

Kurz vorher war John Major als Premierminister wiedergewählt worden, und im Hochgefühl seines Sieges lancierte er eine seiner denkwürdigsten – und am meisten verspotteten – poli tischen Ini-tiativen. Mit präsidialem Ernst verkündete er die Einrichtung einer Telefonhotline für Informationen über Straßenabschnitte, auf de-nen man durch Verkehrskegel behindert wurde. Diese banale Idee wurde von Major verkündet, als hinge mindestens die Zukunft der Welt davon ab.

In Brighton allerdings waren solche Kegel tatsächlich ein bri-santes Thema. Man konnte nicht in die Stadt fahren, ohne wegen einer Baustelle im Stau stecken zu bleiben. Die Haupteinfallstraße von London her, die A23, war von Crawley bis Preston Park ein einziger Korridor aus orange-weiß gestreiften Kegeln. Mit deutlich ironischem Unterton forderte der Argus seine Leser auf, die Zahl der Kegel zu erraten, mit denen die A23 meilenweit gesäumt war. Die leitenden Redakteure waren ausgesprochen stolz auf diese phantastische Idee. Im Stil eines Ansagers auf der Kirmes präsen-tierten sie den Lesern die gestellte Aufgabe, nicht ohne der briti-

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schen Regierung den ein oder anderen Seitenhieb zu verpassen. Es war eine typische Lokalzeitungsaktion.

Wenige Stunden, nachdem der Wettbewerb ausgerufen worden war, meldete sich bereits der erste Teilnehmer. Dem Anrufer war es tatsächlich gelungen, die richtige Anzahl von Kegeln zu erraten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Kollegen betreten schweigend in der Nachrichtenredaktion saßen, als sei gerade ein bedeutender Lokalpolitiker gestorben. Da hatten sie versucht, den Premierminister zu veralbern, und nun waren sie selbst zum Nar-ren gemacht worden.

Meine Kollegen hatten angenommen, es sei unmöglich, zu er-raten, wie viele Verkehrskegel entlang einer Strecke von etwa 20 Meilen aufgestellt waren. Offenkundig war das nicht der Fall, und ich glaube, ich war der Einzige in der Redaktion, dem klar wurde, warum. Geht man davon aus, dass die Kegel in identischem Ab-stand voneinander stehen, muss man nur eine simple Rechnung durchführen:

Zahl an Kegeln = Länge der Strecke ÷ Abstand zwischen 2 Kegeln

Die Strecke kann man messen, indem man sie abfährt oder sich ei-ner Straßenkarte bedient. Um den Abstand zwischen zwei Kegeln zu berechnen, braucht man lediglich ein Maßband. Zwar wird der Abstand zwischen den Kegeln ein wenig variieren, und auch beim Schätzen der Strecke könnte man sich etwas vertun, aber wenn es sich um eine einigermaßen große Entfernung handelt, reicht die obige Rechnung in Normalfall aus, um einen Wettbewerb in der Lokalzeitung zu gewinnen. Und wahrscheinlich war genau so auch die Verkehrspolizei vorgegangen, als sie die Kegel gezählt hatte, um dem Argus die richtige Antwort mitzuteilen.

An diese Geschichte erinnere ich mich so gut, weil ich damals zum ersten Mal in meiner journalistischen Laufbahn erkannte, wie wertvoll es ist, einen Sinn für Mathematik zu besitzen. Außerdem fand ich es ziemlich beunruhigend, dass die meisten Journalisten offenbar nicht rechnen können. Eigentlich war es nicht sonder-

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lich kompliziert, herauszufinden, wie viele Verkehrskegel an einer Straße aufgereiht waren, doch für meine Kollegen stellte das eine unüberwindliche Hürde dar.

Zwei Jahre zuvor hatte ich mein Studium in Mathematik und Philosophie abgeschlossen, wodurch ich mit einem Bein in den Natur- und mit dem anderen in den Geisteswissenschaften stand. Journalist zu werden, war eine Entscheidung für das Letztere, zumindest oberflächlich gesehen. Kurz nach dem Kegeldesaster verließ ich den Argus, um für verschiedene Londoner Zeitungen zu arbeiten. Und schließlich ging ich als Auslandskorrespondent nach Rio de Janeiro. Meine Begabung für Zahlen war gelegentlich recht nützlich, zum Beispiel, wenn ich herausbekommen musste, welches europäische Land in etwa dieselbe Fläche hatte wie der im letzten Jahr abgeholzte Teil des brasilianischen Regenwalds, oder wenn es in irgendeiner Währungskrise darum ging, die neu-esten Wechselkurse zu berechen. Aber im Großen und Ganzen hatte ich den Eindruck, die Mathematik hinter mir gelassen zu haben.

Dann kam ich vor einigen Jahren nach Großbritannien zurück, ohne mir im Klaren darüber zu sein, was ich in Zukunft machen sollte. Ich verkaufte T-Shirts mit den Namen brasilianischer Fuß-baller, ich fing an einen Blog zu schreiben, ich spielte mit dem Gedanken, tropische Früchte zu importieren. Nichts davon funk-tionierte. Während dieser Phase der Neuorientierung kam ich auch wieder in Kontakt mit dem Fach, das mich so viele Jahre beschäftigt hatte, und plötzlich wollte ich unbedingt dieses Buch schreiben.

Im Erwachsenenalter die Welt der Mathematik zu betreten, war etwas ganz anderes als in der Kindheit. Damals hatte der leidige Notendruck oft dazu geführt, dass ich die wirklich faszinierenden Aspekte übersah. Nun stand es mir frei, mich mit Dingen nur des-halb zu beschäftigen, weil sie mich neugierig machten und mir interessant erschienen. Ich stieß auf eine Fachrichtung namens Ethnomathematik, die untersucht, wie unterschiedlich verschie-

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dene Kulturen mit Mathematik umgehen, und ich erfuhr, welchen Einfluss Religion auf die mathematische Forschung hatte. Neugie-rig machten mich auch neuere Studien der Verhaltenspsychologie und der Neurowissenschaft, in denen genau analysiert wird, wie und warum das Gehirn sich mit Zahlen beschäftigt.

Nach einer Weile merkte ich, dass ich mich genauso verhielt wie früher als Auslandskorrespondent, nur dass ich diesmal ein abstraktes Land aufsuchte – das Wunderland der Zahlen.

Aber meine Reise nahm bald auch konkrete Formen an, da ich erfahren wollte, wie die Mathematik in der realen Welt funk-tioniert. Ich flog nach Indien, um herauszubekommen, wie man dort die Zahl Null erfunden hat, denn das stellt einen der größ-ten intellektuellen Durchbrüche der Menschheitsgeschichte dar. Ich buchte ein Zimmer in einem der riesigen Casino-Hotels von Reno, um die Wahrscheinlichkeitstheorie am Roulettetisch in der Praxis zu erproben. Und in Japan lernte ich den rechenkundigsten Schimpansen der Welt kennen.

Im Lauf meiner Recherchen fand ich mich in der merkwürdi-gen Lage wieder, gleichzeitig Fachmann und Dilettant zu sein. Die Schulmathematik wiederzuerlernen war wie ein Wiedersehen mit alten Freunden, aber die hatten nun viele andere Freunde, denen ich nie zuvor begegnet war. Bevor ich dieses Buch schrieb, hatte ich zum Beispiel keine Ahnung, dass es jahrhundertelang Bestrebun-gen gab, zwei neue Zahlen in unser Zehnersystem einzubauen. Mir war nicht klar, dass Origami eine ernst zu nehmende Wissenschaft ist. Und über die mathematischen Grundlagen von Sudoku konnte ich schon deshalb nicht Bescheid wissen, weil es in meiner Kind-heit noch nicht erfunden worden war.

Mitunter gelangte ich an abseitige Orte – wie etwa Braintree in Essex und Scottsdale in Arizona – und stand in der Bibliothek vor abseitigen Regalen. Einen unvergesslichen Tag verbrachte ich damit, ein Buch über den rituellen Gebrauch von Pflanzen zu stu-dieren, um herauszufinden, weshalb Pythagoras ein derart heikler Esser war.

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Dieses Buch beginnt mit einem nullten Kapitel, was ausdrücken soll, dass es darin um ein prämathematisches Thema geht, näm-lich darum, wie die Zahlen entstanden sind. Am Anfang des ersten Kapitels können wir dann zur Sache kommen. Von da an bis zum Ende des elften Kapitels beschäftigt das Buch sich mit Arithmetik, Algebra, Geometrie, Statistik und allen weiteren Gebieten, die ich auf gut 500 Seiten unterbringen konnte. Ich habe versucht, die tech-nischen Aspekte auf ein Minimum zu beschränken, kam jedoch ge-legentlich nicht darum herum, ein paar Gleichungen und Beweise zu notieren. Falls Ihnen beim Lesen mal der Kopf schwirren sollte, lesen Sie einfach beim nächsten Abschnitt weiter, da wird es wieder leichter. Jedes Kapitel funktioniert eigenständig: Man muss die vor-hergehenden Kapitel also nicht gelesen haben, um es zu verstehen. Daher kann man sich die Kapitel in jeder beliebigen Reihenfolge zu Gemüte führen. Ich hoffe allerdings, dass Sie das Buch von vorne nach hinten lesen, da die darin enthaltenen Ideen einer gewissen Chronologie folgen und ich gelegentlich auf vorher erwähnte Punk-te zurückkomme. Ich habe auch allerhand historisches Material aufgenommen, da Mathematik ein ausgesprochen geschichtsträch-tiges Fach ist. Anders als die Geisteswissenschaften, die sich ständig neu erfinden, indem die nächste Idee oder Mode die alte ersetzt, und anders als die angewandten Wissenschaften, deren Theorien ständig verfeinert werden, altert die Mathematik nicht. Die Lehr-sätze von Pythagoras und Euklid sind heute so gültig wie eh und je, weshalb diese beiden Denker die ältesten sind, mit denen wir uns überhaupt in der Schule beschäftigen. Der Lehrplan für die mittlere Reife enthält praktisch keine mathematischen Aspekte, die nicht schon Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt gewesen wären, und bis zum Abitur dringt man nur bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts vor. Die fortgeschrittensten Theorien, mit denen man mich am Col-lege konfrontierte, stammten aus den 1920er Jahren.

Bei meiner Arbeit an diesem Buch war ich immer darauf bedacht, zu vermitteln, wie viel Spaß es machen kann, sich mit Mathematik zu beschäftigen und dabei immer wieder Neues zu entdecken. Nebenbei wollte ich auch demonstrieren, dass Mathe-

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matiker eine Menge Humor haben. Wir sind Meister der Logik, was uns einen sehr feinen Sinn für das Unlogische verleiht. Die Mathematik leidet an dem Ruf, sie sei trocken und schwierig. Das ist sie auch oft. Allerdings kann sie auch begeisternd, zugänglich und vor allem wundervoll kreativ sein. Das abstrakte mathemati-sche Denken ist eine der großen Errungenschaften der Mensch-heit und vielleicht sogar die Grundlage allen menschlichen Fort-schritts.

Das Wunderland der Zahlen ist ein bemerkenswerter Ort. Ich kann einen Besuch nur empfehlen.

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Nulltes Kapitel

Ein Köpfchen für Zahlen

Als ich die enge, vollgestellte Wohnung von Pierre Pica in Paris be-trat, stach mir der Gestank von Insektenschutzmittel in die Nase. Pica war gerade erst von einem fünfmonatigen Aufenthalt bei ei-nem Indianerstamm im Regenwald des Amazonas zurückgekehrt und damit beschäftigt, die Geschenke zu desinfizieren, die er mit-gebracht hatte. Die Wände seines Arbeitszimmers waren mit Holz-Masken, gefiedertem Kopfschmuck und geflochtenen Körben ge-schmückt. In den Bücherregalen stapelten sich wissenschaftliche Werke. Ein einsamer Zauberwürfel lag ungelöst auf dem Fenster-brett.

Ich fragte Pica, wie die Reise gewesen sei.»Schwierig«, antwortete er.Pica ist Linguist und vielleicht spricht er deshalb langsam und

achtet genau auf jedes einzelne Wort. Er ist bald sechzig Jahre alt, macht mit seinen strahlend blauen Augen, seinem rötlichen Teint und seinem zerzausten silbernen Haarschopf jedoch einen eher jungenhaften Eindruck. Seine Stimme klingt ruhig, und er wirkt stets äußerst konzentriert.

Früher ein Schüler des großen amerikanischen Linguisten Noam Chomsky, arbeitet Pica heute am Centre National de la Re-cherche Scientifique, einer dem französischen Forschungsministe-rium unterstellten Organisation. In den vergangenen zehn Jahren hat er sich hauptsächlich mit den Munduruku beschäftigt, einem indigenen Volk, dem etwa 7000 Menschen angehören. Sie leben als Jäger und Sammler im brasilianischen Amazonas-Gebiet, wobei

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ihre Dörfer über ein Areal verstreut sind, das etwa so groß ist wie die Toskana. Was Pica an ihnen interessiert, ist ihre Sprache, die keine Zeitformen, keinen Plural und keine Zahlwörter über fünf hinaus aufweist.

Um seine Feldforschung durchzuführen, begibt sich Pica auf Reisen, die denen der großen Abenteurer aus vergangenen Zei-ten in nichts nachstehen. Der nächste größere Flughafen befindet sich in Santarém, einer rund 800 Kilometer von der Mündung des Amazonas entfernten Stadt im Norden Brasiliens. Dort besteigt Pica ein Fährboot, das fünfzehn Stunden lang den Rio Tapajós entlang tuckert. Dann ist Itaituba erreicht, eine frühere Goldgrä-berstadt und die letzte Gelegenheit, sich mit Proviant und Brenn-stoff zu versorgen. Bei seiner letzten Reise hat Pica dort einen Jeep gemietet, um seine Ausrüstung zu transportieren, darunter meh-rere Computer, Solarkollektoren, Batterien, Bücher und 500 Liter Diesel. Damit ging es auf die Transamazônica, ein wahnwitziges nationalistisches Straßenbauprojekt aus den 1970er Jahren, dessen fertiggestellte Teile sich bereits wieder in eine holprige und oft un-befahrbare Lehmpiste verwandelt haben.

Picas Ziel war Jacareacanga, eine kleine Siedlung, weitere 300 Kilometer südwestlich von Itaituba gelegen. Ich fragte ihn, wie lange man dorthin brauche. »Kommt darauf an«, erwiderte er ach-selzuckend. »Manchmal eine halbe Ewigkeit und manchmal bloß zwei Tage.«

»Und diesmal?«, präzisierte ich.»Wissen Sie, man weiß nie, wie lange man brauchen wird, weil

die Fahrtzeit nie dieselbe ist. In der Regenzeit braucht man zehn bis zwölf Stunden – falls alles gut läuft.«

Jacareacanga liegt am Rand des Territoriums, das man den Munduruku zugestanden hat. Um in das Gebiet zu gelangen, musste Pica warten, bis irgendwann ein Kanu anlegte, mit dessen Besitzern er aushandeln konnte, ihn mitzunehmen.

»Wie lange haben Sie gewartet?«, erkundigte ich mich.»Ziemlich lange. Aber bitte fragen Sie mich nicht wieder, wie

viele Tage es waren.«

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»Das heißt, es waren mehrere?«, bohrte ich nach.Pica runzelte die Stirn. Einige Sekunden vergingen. »Es waren

etwa zwei Wochen«, sagte er schließlich.Über einen Monat, nachdem er Paris verlassen hatte, näherte

Pica sich endlich seinem Ziel. Natürlich wollte ich wieder wissen, wie lange man von Jacareacanga zu den Dörfern der Indianer brauchte.

Inzwischen reagierte mein Gesprächspartner ausgesprochen ungeduldig auf meine Interviewstrategie. »Die Antwort ist immer dieselbe – es kommt drauf an!«

Ich ließ nicht locker. Wie lange hatte es diesmal gedauert?»Weiß nicht mehr recht«, sagte Pica stockend. »Ich glaube …

so in etwa … zwei Tage … oder … einen Tag und eine Nacht …«Je mehr ich ihn drängte, Fakten und Zahlen herauszurücken,

desto zögerlicher reagierte er. Ich war allmählich selbst ganz ent-nervt. Mir war nicht klar, ob Picas Reaktion auf französische Reni-tenz, akademische Pedanterie oder einfach auf einen anständigen Dickschädel zurückzuführen war. Deshalb ließ ich es gut sein und kam auf andere Themen zu sprechen. Erst als wir einige Stunden später darüber sprachen, wie es war, nach so langer Zeit am Ende der Welt wieder nach Hause zurückzukehren, wurde Pica zugäng-licher. »Wenn ich vom Amazonas zurückkomme, habe ich mein Gefühl für Zeit und für Zahlen verloren«, sagte er. »Vielleicht so-gar mein Gefühl für Raum.« Er neige dazu, Termine zu vergessen, und reagiere selbst auf einfache Wegbeschreibungen desorien-tiert. »Ich habe extreme Schwierigkeiten, mich wieder an Paris zu gewöhnen, an diese ganzen rechten Winkel und geraden Linien.« Das hieß, seine Unfähigkeit, mir quantitative Daten zu nennen, war Ausdruck eines Kulturschocks. Er hatte so viel Zeit bei Men-schen verbracht, die kaum zählen können, dass er die Fähigkeit verloren hatte, die Welt verbal in Zahlen zu fassen.

Genau weiß man es nicht, aber Zahlen sind wahrscheinlich nicht älter als zehntausend Jahre. Mit »Zahlen« meine ich ein prakti-kables System aus Wörtern und Symbolen für Zahlen. Laut einer

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Theorie sind solche Systeme gemeinsam mit der Landwirtschaft und dem Handel entstanden, da Zahlen ein unerlässliches Mittel darstellten, um die Lagerbestände im Blick zu halten und dafür zu sorgen, dass man nicht übers Ohr gehauen wurde. Die Mundu-ruku hingegen betreiben nur Subsistenzlandwirtschaft, und Geld wird in ihren Dörfern erst seit Kurzem verwendet, weshalb sich die Fertigkeit zu zählen bei ihnen bis heute nicht herausgebildet hat. Die indigenen Völker von Papua-Neuguinea hingegen, so ver-mutet man, hatten Zahlen erfunden, als sich der Austausch von Geschenken zu einem komplexen Ritual entwickelte. Am Amazo-nas gibt es solche Bräuche nicht.

Vor Zehntausenden von Jahren, lange vor dem Auftreten von Zahlen, müssen unsere Vorfahren allerdings auch schon eine ge-wisse Vorstellung von Mengen gehabt haben. Zum Beispiel sind sie bestimmt in der Lage gewesen, ein Mammut von zwei Mammuts zu unterscheiden und zu erkennen, dass eine Nacht etwas anderes ist als zwei Nächte. Der intellektuelle Sprung von der konkreten Vorstellung zweier Dinge hin zur Erfindung eines Symbols oder Worts für das abstrakte Konstrukt »zwei« dürfte jedoch viele Zeit-alter gedauert haben. Genau ab diesem Punkt haben sich einige Völker am Amazonas nicht weiterentwickelt. Sie kennen bis heute nur die Zahlwörter »eins«, »zwei« und »viele«. Die Munduruku, die bis fünf zählen können, sind da schon relativ fortschrittlich.

In unserem Alltag spielen Zahlen eine so große Rolle, dass wir uns kaum vorstellen können, wie man ohne sie überleben kann. Dennoch fiel es Pierre Pica während seines Aufenthalts bei den Munduruku leicht, in eine zahlenlose Existenz hineinzugleiten. Er schlief in einer Hängematte; er ging auf die Jagd und aß Tapir, Gürteltier und Wildschwein. Die Zeit las er vom Stand der Sonne ab. Wenn es regnete, blieb er in seiner Hütte, schien die Sonne, ging er nach draußen. Es bestand nie irgendeine Notwendigkeit, etwas zu zählen.

Dennoch fand ich es merkwürdig, dass am Amazonas nie Zah-len auftauchten, die größer als fünf waren. Ich fragte Pica, wie sich seine Gastgeber ausdrückten, wenn sie »sechs Fische« sagen woll-

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ten, zum Beispiel, wenn sie für sechs Personen eine Mahlzeit zu-bereiteten und jeder einen Fisch bekommen sollte.

»Das ist unmöglich«, sagte Pica. »Der Satz ›Ich brauche Fisch für sechs Personen‹ existiert nicht.«

»Und wenn man einen Munduruku mit sechs Kindern fragt: ›Wie viele Kinder hast du?‹«

Pica schüttelte den Kopf. »Dann sagt er einfach: ›Das weiß ich nicht.‹ So etwas kann man dort nicht ausdrücken.«

Es handle sich allerdings nicht um ein intellektuelles, sondern ein kulturelles Problem, denn als Munduruku komme man nicht auf die Idee, sein erstes, zweites, drittes, viertes und fünftes Kind zu zählen, um sich anschließend am Kopf zu kratzen, weil man nicht weiter zählen kann. Aus Sicht der Munduruku sei allein schon die Vorstellung, Kinder zu zählen, einfach lächerlich. Genauer gesagt gelte das für die Vorstellung, überhaupt etwas zu zählen.

»Wieso sollte ein erwachsener Munduruku seine Kinder über-haupt zählen wollen?«, fragte Pica rhetorisch. Schließlich würden die Kinder von allen Erwachsenen im Dorf betreut, und niemand würde sich dafür interessieren, welche Kinder zu welchen Eltern gehörten. Vergleichbar sei diese Situation mit dem in Europa ge-bräuchlichen Satz: »Ich habe eine große Familie.« Damit drücke man aus: »Wenn ich von einer großen Familie spreche, so sage ich damit, dass ich nicht weiß, wie viele Mitglieder sie hat. Wo hört meine Familie auf und wo beginnt die Familie eines anderen? Das weiß ich nicht, weil mir das nie jemand gesagt hat.« Würde man also einen erwachsenen Munduruku fragen, für wie viele Kinder er verantwortlich sei, so gebe es keine korrekte Antwort. »Deshalb«, so Pica, »antwortet er: ›Ich weiß nicht‹, denn das entspricht den Tatsachen.«

Die Munduruku sind nicht das einzige bekannte Volk, das darauf verzichtet, seine Mitglieder zu zählen. Als der biblische König David eine Volkszählung anordnete, bestrafte Gott ihn mit drei Tagen Pestilenz und 70 000 Toten. Und noch heute sollen Juden andere Juden nur indirekt zählen, weshalb es in der Syna-goge eine spezielle Methode gibt, um sicherzustellen, dass zehn

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Personen – das für einen Gottesdienst nötige Quorum namens Minjan – anwesend sind. Dazu spricht man ein zehn Worte um-fassendes Gebet und zeigt bei jedem Wort auf eine andere Person. Denn werden Menschen mit Zahlen bezeichnet, werden sie aus der Gruppe herausgehoben, wodurch sie der jüdischen Überliefe-rung gemäß anfälliger für unheilvolle Einflüsse sind. Fordert man einen orthodoxen Rabbi auf, seine Kinder zu zählen, so wird man deshalb in den meisten Fällen genauso wenig Erfolg haben wie bei einem Munduruku.

Der erste schriftliche Bericht über die Munduruku stammt aus dem Jahr 1768, als ein Siedler einige von ihnen an einem Flussufer beobachtete. Ein Jahrhundert später errichteten die Franziskaner in der Region eine Missionsstation, und während des Kautschuk-booms im späten 19. Jahrhundert zogen scharenweise Kautschuk-sammler durch den Urwald. Die meisten Munduruku leben noch immer relativ isoliert, aber wie viele andere Indianervölker, die schon lange Kontakt mit der Außenwelt haben, tragen sie nor-malerweise westliche Kleidung wie T-Shirts und Shorts. Zwangs-läufig werden mit der Zeit auch andere Aspekte des modernen Lebens in ihre Welt gelangen, zum Beispiel Elektrizität und damit das Fernsehen. Und die Zahlen dann natürlich ebenfalls. Einige Munduruku, die am Rand ihres Gebiets leben, haben inzwischen bereits Portugiesisch gelernt und können in dieser Sprache auch zählen. »Sie zählen problemlos um, dois, três bis hundert und wei-ter«, sagte Pica. »Aber wenn man sie fragt: ›Übrigens, wie viel ist fünf minus drei?‹« Er zuckte theatralisch die Schultern. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung.

Um seine Forschungen im Regenwald durchführen zu können, verwendet Pica Laptops, deren Akkus mittels Solarkollektoren auf-geladen werden. Wegen der Hitze und der Feuchtigkeit ist es ein logistischer Albtraum, die Hardware in Schuss zu halten, aber noch schwieriger ist es oft, die Teilnehmer für seine Studien zu rekrutie-ren. So verlangte der Vorsteher eines Dorfes einmal, dass Pica eine große rote Blattschneiderameise verzehrte, bevor er die Erlaubnis

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erhielt, ein Kind zu befragen. Pflichtschuldig zog der Linguist eine Grimasse, biss auf das Insekt und schluckte es herunter.

Die mathematischen Fähigkeiten von Menschen zu studieren, die nur mit einer Hand zählen können, dient einem bestimmten Ziel. Es geht Pica darum, das Wesen unserer numerischen Intui-tion zu entdecken. Er will erfahren, was universell – also für alle Menschen – gültig und was durch kulturelle Einflüsse geprägt ist. Bei einem seiner faszinierendsten Experimente hat er das räum-liche Zahlenverständnis der Munduruku erforscht. Wie, lautete die Fragestellung, nehmen sie Zahlen visuell wahr, wenn diese entlang einer Linie angeordnet sind? In der modernen Welt sind wir an eine solche Reihung gewöhnt, sei es auf einem Maßband, einem Lineal, einer Graphik oder bei den Hausnummern einer Straße. Da die Munduruku keine Zahlen kennen, verwendete Pica Punkte. Die Teilnehmer bekamen auf einem Computerbild-schirm eine unmarkierte Linie gezeigt. Am linken Ende der Linie befand sich ein Punkt, am rechten Ende sah man zehn Punkte. Anschließend bekam der jeweilige Teilnehmer nach dem Zufalls-prinzip Karten mit ein bis zehn Punkten gezeigt und wurde auf-gefordert, auf die Stelle zu zeigen, wo auf der Linie die betreffende Anzahl von Punkten angeordnet werden sollte. Pica bewegte den Cursor an die genannte Stelle und klickte. Am Ende des Versuchs war genau erkennbar, wo die Munduruku die Zahlen von eins bis zehn platzierten.

Als eine Vergleichsgruppe aus amerikanischen Erwachsenen dieselbe Aufgabe erhielt, ordneten die Teilnehmer die Zahlen in gleichmäßigem Abstand entlang der Linie an. Damit folgten sie dem, was man bei uns in der Schule lernt, wo die benachbarten Zahlen auf dem Lineal immer gleich weit voneinander entfernt sind. Die Munduruku hingegen reagierten ganz anders. Sie mein-ten, die Abstände zwischen den niedrigeren Zahlen müssten grö-ßer sein als jene zwischen den höheren Zahlen. Zum Beispiel war die Distanz zwischen einem und zwei Punkten oder zwischen zwei und drei Punkten bei ihnen deutlich größer als jene zwischen acht und neun Punkten.

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Dieses Ergebnis ist verblüffend. Schließlich halten wir es für selbstverständlich, dass Zahlen in gleichmäßigem Abstand an-geordnet sind. Das bringt man uns in der Schule bei, und wir akzeptieren es ohne Widerspruch. Es bildet die Grundlage al-ler Messverfahren und damit der Naturwissenschaften. Dennoch sehen die Munduruku die Welt nicht auf diese Weise. Da ihre Sprache kein Zählen und nur eine kleine Menge an Zahlwörtern kennt, ist ihre visuelle Wahrnehmung von Mengen völlig anders als unsere.

Werden Zahlen gleichmäßig wie auf einem Lineal angeordnet, so spricht man von einer linearen Skala. Treten sie näher zusam-men, während sie größer werden, nennt man die Skala logarith-misch.* Es sind keineswegs nur Indianer am Amazonas, die ei-nen logarithmischen Ansatz verwenden, sondern alle Menschen nehmen Zahlen in der frühen Kindheit so wahr. Das haben Ro-bert Siegler und Julie Booth von der Carnegie Mellon University in Pennsylvania 2004 mit einem Versuch gezeigt, der ganz ähn-lich aufgebaut war wie jener von Pica. Ihre Probanden waren in drei Gruppen unterteilt: Kindergartenkinder mit einem Durch-schnittsalter von 5,8 Jahren sowie Erstklässler und Zweitklässler (Durchschnittsalter 6,9 beziehungsweise 7,8 Jahre). Die Ergeb-nisse demonstrierten, wie unsere Wahrnehmung geprägt wird, indem wir zählen lernen. Kindergartenkinder, die noch keinen Mathematikunterricht haben, ordnen Zahlen logarithmisch an. Im ersten Schuljahr, wenn die Schüler mit den Zahlwörtern und den damit verbundenen Symbolen vertraut gemacht werden, wird die Kurve bereits gerader. Im zweiten Schuljahr schließlich werden die Zahlen gleichmäßig entlang der Linie angeordnet.

Wieso meinen die Angehörigen mancher Indianervölker eben-so wie kleine Kinder, dass höhere Zahlen näher beieinander liegen als niedrigere Zahlen? Dafür gibt es eine einfache Erklärung. In den Experimenten wurden die Teilnehmer mit einer bestimmten

* Die Zahlen müssen sich sogar in einer bestimmten Weise aneinander annä-hern, damit die Skala logarithmisch ist. Siehe dazu Kapitel 5.

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Anzahl von Punkten konfrontiert und gefragt, wo die jeweilige Gruppe entlang einer Linie platziert werden sollte, an der sich links ein einzelner Punkt und rechts zehn – bei den Kindern hun-dert – Punkte befanden. Nehmen wir einmal an, ein Munduruku bekommt eine Karte mit fünf Punkten vorgelegt. Er betrachtet sie genau und sieht, dass fünf Punkte fünfmal größer sind als ein Punkt, während zehn Punkte nur zweimal größer als fünf Punkte sind. Offenbar treffen Munduruku (und Kinder) ihre Entschei-dung über die passende Einordnung einer Zahl, indem sie das Ver-hältnis zwischen den vorliegenden Mengen schätzen. Auf dieser Grundlage ist es völlig logisch, dass der Abstand zwischen fünf und eins größer ist als der Abstand zwischen zehn und fünf. Sobald man also Mengen mithilfe von Verhältnissen einschätzt, kann sich nur eine logarithmische Skala ergeben.

Pierre Pica ist der Meinung, dass es sich um eine universelle menschliche Intuition handelt, Mengen näherungsweise zu erfas-sen, indem man Verhältnisse schätzt. Menschen, die keine Zahlen kennen – wie Kinder und manche Indianer –, haben keine Alter-native dazu, die Welt auf diese Weise zu ordnen. Hingegen ist es offenbar keine universelle Intuition, sondern ein kulturelles Merk-mal, Mengen in exakte Zahlen zu fassen. Näherungswerte und Verhältnismäßigkeiten gehen laut Pica deshalb exakten Zahlen voraus, weil es für das Überleben in der Wildnis von wesentlich größerer Bedeutung ist, Verhältnisse zu erfassen, als etwas zählen zu können. Stand eine Gruppe Urmenschen einer Schar Keulen schwingender Gegner gegenüber, so mussten sie sofort erkennen, wer in der Mehrzahl war. Sahen sie zwei Bäume, mussten sie sofort beurteilen können, an welchem mehr Früchte hingen. In keinem der beiden Fälle bestand die Notwendigkeit, jeden einzelnen Feind oder jede einzelne Frucht zu zählen. Es ging ausschließlich darum, die relevanten Mengen rasch einzuschätzen und sie zu vergleichen. Anders gesagt, man bestimmte die jeweiligen Näherungswerte und beurteilte deren Verhältnis.

Die logarithmische Skala entspricht auch der Art und Weise, wie wir räumliche Entfernung wahrnehmen und vielleicht ist sie

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deshalb so intuitiv. Wenn wir zum Beispiel einen 100 Meter ent-fernten Baum sehen und weitere 100 Meter dahinter einen zweiten Baum, so sieht dieser kleiner aus. Für einen Munduruku passt die Vorstellung, dass 100 Meter immer denselben Abstand darstellen, einfach nicht zu dem, wie er seine Umwelt wahrnimmt. Die loga-rithmische Skala berücksichtig das perspektivische Sehen.

Exakte Zahlen verschaffen uns also ein lineares Gerüst, das unserer logarithmischen Intuition widerspricht. Unsere Beherr-schung dieser Zahlen bedeutet sogar, dass diese Intuition in den meisten Situationen zurückgestellt wird. Dennoch wird sie nie voll-ständig eliminiert, denn wir besitzen sowohl ein lineares als auch ein logarithmisches Verständnis von Mengen. Zum Beispiel emp-finden wir den Lauf der Zeit eher logarithmisch: wir haben oft das Gefühl, je älter wir werden, desto schneller vergehe die Zeit. Andersherum gilt das ebenso – der gestrige Tag erscheint uns we-sentlich länger als die gesamte letzte Woche. Am deutlichsten tritt unser tief sitzender logarithmischer Instinkt zutage, wenn es da-rum geht, uns sehr große Zahlen vorzustellen. Den Unterschied zwischen eins und zehn können wir alle problemlos begreifen. Es ist unwahrscheinlich, dass wir ein Glas Bier mit zehn Gläsern Bier verwechseln. Aber wie steht es mit dem Unterschied zwischen einer Milliarde Liter Wasser und zehn Milliarden Liter Wasser? Obwohl dieser Unterschied gewaltig ist, neigen wir dazu, die beiden Men-gen ziemlich ähnlich zu betrachten, nämlich als sehr große Mengen Wasser. Auch die Begriffe »Millionär« und »Milliardär« werden oft praktisch synonym verwendet, als machte es keinen großen Un-terschied, ob man einfach bloß reich oder unverschämt reich ist. Ein Milliardär ist zwar tausendmal reicher als ein Millionär, aber je größer Zahlen sind, desto näher liegen sie für uns beieinander.

Wenn Pierre Pica schon nach wenigen Monaten im Urwald vorübergehend vergaß, wie man Zahlen benutzt, so ist das ein Hinweis darauf, dass unser lineares Verständnis von Zahlen nicht so tief in unserem Gehirn verwurzelt ist wie das logarithmische. Unser Zahlenverständnis ist sogar erstaunlich anfällig. Verwenden wir es nicht regelmäßig, so verlieren wir die Fähigkeit, mit exakten

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Zahlen umzugehen, und kehren automatisch zu unserem intuiti-ven Verhalten zurück, Mengen mithilfe von Näherungswerten und Verhältnismäßigkeiten einzuschätzen.

Die Ergebnisse von Forschungen zur mathematischen Intuiti-on, wie Pierre Pica und andere sie durchführen, könnten nach Pi-cas Ansicht erhebliche Auswirkungen auf den Mathematikunter-richt haben, nicht nur am Amazonas, sondern auch bei uns. In der modernen Gesellschaft brauchen wir ein lineares Zahlenver-ständnis, um unseren Alltag zu meistern, denn mit diesem Ver-ständnis können wir Dinge messen und berechnen. Vielleicht sind wir in unserer Abhängigkeit von der Linearität jedoch ein wenig zu weit gegangen und haben unsere logarithmische Intuition zu kategorisch unterdrückt. Das könnte laut Pica ein Grund dafür sein, dass sich viele Menschen mit Mathematik so schwer tun. Sollten wir also möglicherweise mehr Aufmerksamkeit darauf ver-wenden, Verhältnisse einzuschätzen, als mit exakten Zahlen zu operieren? Und womöglich wäre es sogar falsch, den Munduruku beizubringen, so zu zählen, wie wir es tun, denn das könnte sie der mathematischen Intuition berauben, die sie zum Überleben in ihrer Umgebung brauchen.

Gemeinhin hat sich das Interesse an den mathematischen Fähig-keiten von Lebewesen, die keine Worte oder Symbole für Zahlen kennen, bisher auf Tiere gerichtet. Eines der bekanntesten For-schungsobjekte war ein deutscher Traberhengst, den man den »Klugen Hans« nannte. Er lebte Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin bei einem pensionierten Schulmeister und Mathematik-lehrer namens Wilhelm von Osten, in dessen Hof sich regelmäßig eine begeisterte Menschenmenge versammelte, um Hans beim Rechnen zuzusehen. Von Osten stellte dem Pferd einfache arith-metische Aufgaben, und Hans nannte die korrekte Zahl, indem er entsprechend oft mit dem Huf klopfte oder mit dem Kopf nick-te. Sein Repertoire umfasste nicht nur Addition und Subtraktion, sondern auch Bruchrechnen, Quadratwurzelziehen und Faktori-sierung. Die Faszination der Öffentlichkeit und der Verdacht, bei

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der angeblichen Intelligenz des Pferdes könne es sich um einen Trick handeln, führten dazu, dass eine wissenschaftliche Kommis-sion eingesetzt wurde, um den Fall zu untersuchen. Sie kam zu dem Schluss, Hans könne wirklich rechnen.

Mit diesem Ergebnis gab sich der Psychologe Oskar Pfungst al-lerdings nicht zufrieden. Er untersuchte Hans erneut und stellte fest, dass dieser auf die Körpersprache seines Besitzers reagierte. Stellte man ihm eine Aufgabe, so fing er an, mit dem Huf auf den Boden zu klopfen, und hörte erst auf, wenn er an von Osten einen Ausdruck der Erleichterung bemerkte, der auf das Erreichen der korrekten Antwort hinwies. Dabei war Hans empfänglich für die kleinsten visuellen Signale wie beispielsweise eine Neigung des Kopfes, ein Heben der Augenbrauen und sogar ein Weiten der Nasenlöcher. Wilhelm von Osten war sich gar nicht bewusst, dass er diese Gesten machte.

Am Fall des Klugen Hans hat man gelernt, dass man sorgfältig darauf achten muss, Tieren, denen man das Zählen beibringen will, keine unbeabsichtigten Hinweise zu geben. Beim Mathema-tikunterricht von Ai, einer Schimpansin, die Ende der 1970er Jahre aus Westafrika nach Japan kam, schloss man eine solche Einfluss-nahme aus, indem man einen Computer mit Touchscreen ein-setzte.

Inzwischen ist Ai 31 Jahre alt und lebt im Institut für Pri-matenforschung in Inuyama, einem kleinen Ausflugsort in Zen-traljapan. Ihre hohe Stirn wird langsam kahl, das Haar an ihrem Kinn ist weiß, und sie hat die dunklen, eingesunkenen Augen ei-nes Menschenaffen im mittleren Alter. Am Institut wird sie nicht als Forschungsobjekt, sondern als »Studentin« bezeichnet. Jeden Tag besucht Ai ihren Unterricht, bei dem sie verschiedene Auf-gaben erhält. Pünktlich um neun Uhr morgens taucht sie an ihrem Studienplatz auf, nachdem sie die Nacht draußen bei den ande-ren Schimpansen verbracht hat, in einer riesigen, baumähnlichen Konstruktion aus Holz, Stahl und Seilen. An dem Tag, an dem ich sie beobachten durfte, saß sie an ihrem Computer, den Kopf nah am Bildschirm, und tippte Zahlenfolgen so ein, wie sie auf dem

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Monitor erschienen. Hatte sie eine Aufgabe richtig gelöst, so fiel durch eine Röhre rechts von ihr ein winziges Apfelstückchen. Ai fing es mit der Hand auf und beförderte es augenblicklich in den Mund. Ihr gleichgültiger Blick, das lässige Tippen auf dem pie-penden, blinkenden Computer und die Banalität der ständigen Belohnung erinnerten mich an eine alte Dame, die am Spielauto-maten sitzt.

In ihrer Kindheit wurde Ai weltweit bekannt, weil sie das erste nichtmenschliche Lebewesen war, das mit arabischen Ziffern zäh-len konnte. Das sind die Symbole 1, 2, 3 und so weiter, die in fast allen Ländern verwendet werden, nur ausgerechnet in Teilen der arabischen Welt nicht. Damit Ai diese Fähigkeit erlangte, musste Tetsuro Matsuzawa, der Chef des Forschungsinstituts, ihr die bei-den Elemente beibringen, aus denen das menschliche Zahlenver-ständnis besteht: Menge und Ordnung.

Zahlen drücken eine bestimmte Menge aus und kennzeichnen außerdem eine Position innerhalb einer bestimmten Menge. Diese beiden Begriffe stehen zwar miteinander in Verbindung, unter-scheiden sich jedoch auch. Spricht man zum Beispiel von »fünf Möhren«, so meint man damit, dass die Menge an Möhren in der erfassten Gruppe fünf beträgt. In der Mathematik bezeichnet man diesen Aspekt der Zahlen als »Kardinalität« oder Anzahl. Zählt man hingegen von 1 bis 20, so bedient man sich der praktischen Tat-sache, dass Zahlen nacheinander angeordnet werden können. Das heißt, man bezieht sich nicht auf 20 Gegenstände, sondern sagt ein-fach eine Abfolge her. Diesen Aspekt von Zahlen bezeichnet man in der Mathematik als »Ordinalität« (und meint den Rangplatz einer Zahl in einer Abfolge). In der Schule lernen wir diese beiden Aspekte – Kardinalität und Ordinalität – gemeinsam und springen problemlos zwischen ihnen hin und her. Für Schimpansen hin-gegen ist der Zusammenhang überhaupt nicht offensichtlich.

Zuerst bekam Ai also beigebracht, dass ein roter Bleistift sich auf das Symbol »1« bezog und zwei rote Bleistifte auf »2«. Anschlie-ßend lernte sie die 3 und dann alle anderen Ziffern bis 9. Zeigte man ihr beispielsweise die Ziffer 5, so tippte sie auf ein Rechteck

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mit fünf Gegenständen, und wenn man ihr ein Rechteck mit fünf Gegenständen zeigte, tippte sie auf die Ziffer 5. Ihr Training war belohnungsorientiert – immer wenn sie eine Aufgabe korrekt lös-te, fiel ein Leckerbissen aus der Röhre neben dem Computer.

Sobald Ai die Kardinalität der Ziffern von 1 bis 9 begriffen hat-te, konfrontierte Matsuzawa sie mit Aufgaben, die ihr die richtige Anordnung vermitteln sollten. Dabei leuchteten auf dem Bild-schirm Ziffern auf, die Ai in aufsteigender Reihenfolge antippen sollte. Erschienen auf dem Bildschirm 4 und 2, so musste sie erst auf die 2 und dann auf die 4 tippen, um sich ihr Apfelstückchen zu verdienen. Das lernte sie ziemlich rasch. Da ihre Kompetenz nun Aufgaben umfasste, bei denen es sowohl um Kardinalität als auch um Ordinalität ging, konnte Matsuzawa mit Fug und Recht be-haupten, dass seine Schülerin zählen gelernt hatte. Das machte sie in Japan zu einer Nationalheldin, und Berichte über ihre Leistung gingen um die Welt.

Als Nächstes führte Matsuzawa das Konzept der Null ein. Die Kardinalität des betreffenden Symbols 0 begriff Ai ohne Probleme. Wenn auf dem Bildschirm ein Rechteck ohne Inhalt auftauchte, tippte sie auf die betreffende Ziffer. Nun wollte Matsuzawa fest-stellen, ob sie in der Lage war, ein Verständnis der Ordinalität von Null zu entwickeln. Auf dem Bildschirm erschienen in zufälliger Abfolge zwei Ziffern wie zu der Zeit, als Ai die Abfolge von 1 bis 9 gelernt hatte, doch diesmal befand sich gelegentlich eine 0 darun-ter. Wo würde Ai diese Ziffer einordnen?

Beim ersten Versuch platzierte die Schimpansin die 0 zwischen 6 und 7. Matsuzawa berechnete dies, indem er bestimmte, ob sie die Ziffer durchschnittlich eher vor oder nach einer bestimmten Zahl einordnete. An den folgenden Tagen ging Ai dazu über, die 0 unterhalb der 6, dann unterhalb der 5 und der 4 zu platzieren. Nach einigen hundert Sitzungen befand sich die 0 schließlich im Bereich der 1. Ob es sich um eine größere oder kleinere Zahl als 1 handelte, bekam Ai jedoch nicht endgültig heraus. Sie hatte zwar gelernt, perfekt mit Ziffern umzugehen, doch ihr fehlte die Tiefe des menschlichen Zahlenverständnisses.

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Stattdessen erwarb sie etwas anderes – die Fähigkeit, sich ef-fektvoll in Szene zu setzen. Als absoluter Profi löst sie die Aufgaben an ihrem Computer inzwischen besser, wenn Besucher zugegen sind, vor allem, wenn es sich dabei um ein Kamerateam handelt.

Auch bei so unterschiedlichen Lebewesen wie Salamandern, Rat-ten und Delphinen konnte man mit Experimenten eine unerwartet große Fähigkeit zur sogenannten Mengenunterscheidung nach-weisen. Zwar haben wir gelernt, dass Pferde nicht in der Lage sind, Quadratwurzeln zu ziehen, aber in wissenschaftlichen Kreisen ist man inzwischen der Ansicht, dass die numerische Begabung von Tieren wesentlich ausgeprägter ist, als man bisher dachte. Offen-bar sind nicht nur wir Menschen von Geburt an mit einem Gehirn ausgestattet, das für mathematische Operationen prädestiniert ist.

Das ist nicht weiter erstaunlich, denn eine numerische Kom-petenz ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, in der Wildnis zu überleben. Ein Schimpanse wird sich wahrscheinlich besser den Bauch voll schlagen können, wenn er beim Blick auf einen Baum in der Lage ist, die Menge der dort hängenden Früchte ein-zuschätzen. Karen McComb von der University of Sussex hat in der Serengeti ein Löwenrudel beobachtet, um herauszufinden, ob Löwen einen Sinn für Zahlen anwenden, wenn sie entscheiden, ob sie Artgenossen angreifen sollten oder nicht. Bei einem Experi-ment wurde im Gebüsch ein Lautsprecher versteckt. Als eine Lö-win in der Abenddämmerung daran vorbeikam, erscholl aus dem Lautsprecher das Gebrüll einer einzelnen Artgenossin. Die Löwin hörte es zwar, reagierte aber nicht weiter darauf und trottete un-gerührt zum Rudel zurück. Als wenige Tage eine Gruppe von fünf Löwinnen vorbeikam, ließ McComb aus dem verborgenen Laut-sprecher das Gebrüll von drei Tieren ertönen. Die fünf hörten das dreistimmige Brüllen und spähten in die Richtung, aus der es kam. Dann erwiderte eine der Löwinnen das Gebrüll, und wenig später stürmten alle fünf zum Angriff ins Gebüsch.

Aus diesem Verhalten zog McComb den Schluss, dass die Tie-re unwillkürlich einen Mengenvergleich anstellten. Stand es eins

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gegen eins, war ein Angriff wenig ratsam, aber mit einem zahlen-mäßigen Vorteil von fünf gegen drei konnte man ihn riskieren.

Nicht alle Forschungsprojekte sind so spektakulär wie ein Aus-flug in die Sahara und das Computertraining einer Promi-Schim-pansin. An der Universität Ulm setzten Wissenschaftler sahari-sche Wüstenameisen an den Anfang eines Tunnels, durch den die Tierchen krabbeln mussten, um Futter zu finden. Sobald sie beim Futter angelangt waren, bekam ein Teil der Ameisen die Beine ge-stutzt, während man die anderen mit Stelzen aus Schweineborsten ausstattete. So grausam, wie sich das anhört, war es offenbar nicht, da die Beine von Wüstenameisen ständig von der Sonne verkohlt werden. Auf dem Heimweg krochen die Tierchen mit den kürze-ren Beinen zu früh aus dem Tunnel, während die mit den verlän-gerten Beinen ein Stück zu weit liefen. Das ließ darauf schließen, dass die Ameisen sich nicht auf ihre Augen verließen, sondern die Entfernung mithilfe eines inneren Pedometers abschätzten. Wo-möglich ist die erstaunliche Fähigkeit der Ameisen, nach stunden-langen Wanderungen immer wieder zum Bau zurückzufinden, einfach darauf zurückzuführen, dass sie ihre Schritte zählen kön-nen.

Nicht selten ist man bei Experimenten dieser Art auf unerwartete Erkenntnisse gestoßen. Zum Beispiel haben Schimpansen zwar ein recht begrenztes mathematisches Verständnis, aber bei dessen Erforschung hat Tetsuro Matsuzawa entdeckt, dass sie andere ko-gnitive Fähigkeiten besitzen, die den unseren weit überlegen sind.

Im Jahr 2000 bekam Ai einen Sohn, dem man den Namen Ayu-mu gab. Bei meinem Besuch im Institut saß er direkt neben seiner Mutter. Er war kleiner, seine Gesichtshaut war rosa und seine Haa-re waren schwärzer als ihre. Vor ihm stand sein eigener Computer, auf dessen Bildschirm er tippte, wenn darauf Zahlen aufleuch-teten. Zwischendurch schob er sich eifrig die Apfelstückchen in den Mund, die er sich verdient hatte. Er war ein selbstbewusster Kerl – kein Wunder, denn als Sohn des dominanten Weibchens der Schimpansengruppe besaß er einen privilegierten Status.

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Niemand hat Ayumu je beigebracht, wie man mit einem Touch-screen umgeht, doch er hat schon als Baby bei seiner Mutter ge-sessen, wenn sie täglich zum Unterricht kam. Eines Tages öffnete Matsuzawa die Tür des Arbeitszimmers nur so weit, dass Ayu-mu hindurchschlüpfen konnte, während die größere Ai nicht hin-durchpasste. Ayumu ging direkt zum Computerbildschirm, wäh-rend das Forschungsteam gespannt darauf wartete, was er gelernt hatte. Sobald er den Bildschirm eingeschaltet hatte, tauchten die Ziffern 1 und 2 auf. Es handelte sich um eine einfache Ordnungs-aufgabe. Ayumu tippte auf die 2. Falsch. Er tippte noch einmal auf die 2. Wieder falsch. Dann versuchte er, gleichzeitig auf die 1 und die 2 zu tippen. Falsch. Schließlich jedoch hatte er verstanden und drückte die 1 und dann die 2, worauf ein Apfelstückchen in seine Hand sauste. Von da an dauerte es nicht lange, bis er sämtliche Computeraufgaben sogar besser erledigte als seine Mutter.

Vor einigen Jahren führte Matsuzawa einen neuen Aufgaben-typ ein. Wurde die Starttaste gedrückt, so erschienen auf dem Bild-schirm die Ziffern 1 bis 5 in zufälliger Anordnung. Nach 0,65 Se-kunden verwandelten sie sich dann in kleine weiße Quadrate. Die Aufgabe bestand darin, in der richtigen Reihenfolge auf diese Qua-drate zu tippen. Dazu musste man sich daran erinnern, welche Zif-fern sich vorher an den entsprechenden Stellen befunden hatten.

Ayumu erledigte diese Aufgabe zu etwa 80 Prozent erfolgreich, womit er dieselbe Leistung erbrachte wie eine Vergleichsgruppe japanischer Kinder. Anschließend reduzierte Matsuzawa den Zeit-raum, in dem die Ziffern sichtbar waren, auf 0,43 Sekunden. Wäh-rend Ayumu den Unterschied kaum wahrnahm, sank die Leistung der Kinder erheblich ab, auf eine Quote von etwa 60 Prozent. Als der Zeitraum erneut reduziert wurde, diesmal auf lediglich 0,21 Se-kunden, lag Ayumu weiterhin bei 80 Prozent, während die Kinder nur noch zu 40 Prozent erfolgreich waren.

Dieses Experiment ließ erkennen, dass Ayumu ein ausgezeich-netes photographisches Gedächtnis besitzt. Und das gilt auch für die anderen Schimpansen in Inuyama, wenngleich sie nicht ganz dieselben Leistungen erreichen. Inzwischen hat Matsuzawa das

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obige Experiment weiter verschärft. In einer Version kann Ayumu sich nun die Position von acht Ziffern merken, die für ganze 0,21 Sekunden sichtbar sind. Bei einer anderen Version wurde statt-dessen das Zeitintervall reduziert. Ayumu kann sich jetzt die Po-sition von fünf Ziffern merken, die lediglich 0,09 Sekunden sicht-bar sind. In diesem Zeitraum kann ein Mensch die Ziffern kaum wahrnehmen, geschweige denn sich einprägen. Diese erstaunliche Begabung zur unmittelbaren Merkfähigkeit könnte darauf zurück-zuführen sein, dass es in der Wildnis von entscheidender Bedeu-tung ist, blitzartig Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel, was die Zahl von überraschend aufgetauchten Feinden angeht.

Studien über die Grenzen der numerischen Fähigkeiten von Tieren führen zwangsläufig zu der Frage, welche numerischen Fähigkei-ten dem Menschen angeboren sind. Will man bei solchen Studien vermeiden, dass das Ergebnis durch erst nachträglich erworbenes Wissen verfälscht wird, so braucht man möglichst junge Proban-den. Deshalb werden inzwischen die mathematischen Fähigkeiten von gerade mal einige Monate alten Babys getestet. Da so kleine Kinder weder sprechen noch ihre Bewegungen richtig koordinie-ren können, verlässt man sich bei solchen Experimenten auf Re-aktionen, die im Blick der Kinder erkennbar sind. Man geht dabei von der Theorie aus, dass kleine Kinder Bilder, die sie interessant finden, länger anschauen als andere. 1980 hat Prentice Starkey von der University of Pennsylvania Babys im Alter von 15 bis 30 Wochen auf einem Bildschirm erst zwei Punkte und dann, nach einer Pau-se, erneut zwei Punkte gezeigt. Das zweite Bild betrachteten die Babys durchschnittlich 1,9 Sekunden lang. Wurde nach dem Bild mit den zwei Punkten jedoch eines mit drei Punkten gezeigt, so blickten die Babys es 2,5 Sekunden lang an, also fast ein Drittel län-ger. Starkey folgerte daraus, dass sie einen Unterschied zwischen zwei und drei Punkten wahrgenommen hatten und daher bereits über ein rudimentäres Zahlenverständnis verfügten. Inzwischen ist die Methode, die numerische Kognition durch die Länge der Aufmerksamkeitsspanne zu messen, als Standard akzeptiert. Zum

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Beispiel hat Elizabeth Spelke von der Harvard University im Jahr 2000 nachgewiesen, dass sechs Monate alte Babys den Unterschied zwischen 8 und 16 Punkten erkennen können. Fünf Jahre später demonstrierte Spelke sogar eine Unterscheidungsfähigkeit zwi-schen 15 und 32 Punkten.

Durch ein ähnliches Experiment wurde sogar nachgewiesen, dass kleine Kinder bereits ein arithmetisches Verständnis besit-zen. 1992 setzte Karen Wynn von der University of Arizona ein fünf Monate altes Baby vor eine kleine Bühne. Eine Helferin stellte eine Mickymauspuppe auf die Bühne und platzierte dann einen Stell-schirm als Sichtschutz davor, um sie zu verbergen. Anschließend sah das Kind, wie eine zweite Mickymauspuppe hinter den Schirm gestellt und dieser dann weggenommen wurde, so dass beide Pup-pen sichtbar waren. Dann wiederholte Wynn das Experiment, doch wenn der Stellschirm diesmal weggezogen wurde, war eine falsche Anzahl Mickymäuse sichtbar: entweder eine oder drei. Waren nur eine oder gleich drei Mäuse zu sehen, blickte das Kind länger auf die Bühne, als wenn zwei zu sehen waren. Offenbar war es dann erstaunt, dass seine Rechnung nicht stimmte. Die Folge-rung von Karen Wynn: Schon Babys begreifen, dass eine Puppe plus eine Puppe zwei Puppen ergeben.

Später wiederholte man das Mickymausexperiment mit Elmo und Ernie, zwei Puppen aus der Sesamstraße. Elmo wurde auf die Bühne gestellt, dann kam der Sichtschutz davor. Anschließend wurde ein weiterer Elmo hinter den Schirm gestellt, bevor dieser weggezogen wurde. Zu sehen waren nun manchmal zwei Elmos, manchmal ein Elmo und ein Ernie, und manchmal nur ein Elmo oder ein Ernie. Wenn lediglich eine Puppe erschien, blickten die Babys länger hin, als wenn zwei falsche Puppen auftauchten. An-ders gesagt, fanden sie die arithmetische Unmöglichkeit 1 + 1 = 1 auffälliger als die Metamorphose von Elmo in Ernie. Offenbar ist das kleinkindliche Wissen hinsichtlich mathematischer Gesetze tiefer verwurzelt als das physikalische Wissen.

Der Schweizer Psychologe Jean Piaget (1896–1980) vertrat die These, Babys würden ihr Zahlenverständnis erst nach und nach

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durch Erfahrung entwickeln, weshalb es sinnlos sei, Kindern vor dem Alter von sechs bis sieben Jahren das Rechnen beizubringen. Das hat Generationen von Pädagogen beeinflusst, die Erstklässer lieber mit Bauklötzen spielen ließen, statt sie in Mathematik zu unterrichten. Inzwischen gelten Piagets Ansichten als überholt. Kinder werden mit arabischen Ziffern und Rechenaufgaben kon-frontiert, sobald sie in die Schule kommen.

Auf Experimente mit Punkten stützen sich auch viele Forschungs-reihen, die sich mit der numerischen Kognition von Erwachsenen beschäftigen. Ein klassisches Experiment besteht darin, einer Per-son eine Anzahl von Punkten auf dem Bildschirm zu zeigen und zu fragen, wie viele Punkte zu sehen sind. Handelt es sich um ein, zwei oder drei Punkte, so kommt die Antwort fast augenblicklich. Sind es vier Punkte, ist die Reaktion erheblich verlangsamt, was sich bei fünf Punkten verschärft.

»Na und?«, könnte man fragen. Nun, dieses Ergebnis erklärt wahrscheinlich, warum die Symbole für eins, zwei und drei in mehreren Kulturen aus einer, zwei und drei Linien bestehen, wäh-rend das Symbol für vier nicht aus vier Linien besteht. Sehen wir drei oder weniger Linien, so können wir deren Anzahl sofort erfassen, aber wenn es sich um vier Linien handelt, muss unser Gehirn sich offenbar zu sehr anstrengen, weshalb ein anderes Sym-bol notwendig wird. Die chinesischen Schriftzeichen für eins bis vier sind 一, 二, 三 und 四; im alten Indien verwendete man die Symbole , , und . Bei Letzteren muss man nur die Linien miteinander verbinden, dann sieht man, wie daraus die modernen Ziffern 1, 2, 3 und 4 geworden sind.

Ob die Anzahl von Linien, die wir augenblicklich erfassen kön-nen, drei oder vier beträgt, ist allerdings umstritten. Zum Beispiel hatten die alten Römer zwei Alternativen zum Schreiben der Vier: IIII und IV. Das Symbol IV ist rascher erkennbar, aber für Uhren verwendete man normalerweise IIII, vielleicht aus ästhetischen Gründen. Definitiv aber ist die Zahl von Linien, Punkten oder Säbelzahntigern, die wir blitzschnell erfassen können, nicht höher

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als vier. Während wir einen exakten Sinn für die Zahlen Eins, Zwei und Drei haben, lässt dieser exakte Sinn jenseits der Vier nach, und unser Einschätzungsvermögen der Zahlen nimmt einen annähern-den Charakter an. Versuchen Sie zum Beispiel einmal, rasch zu raten, wie viele Punkte sich auf der folgenden Graphik befinden!

Das ist unmöglich – falls Sie kein Autist mit Inselbegabung wie die von Dustin Hoffman gespielte Hauptfigur des Films Rain Man sind. So jemand würde innerhalb eines Sekundenbruchteils »Fünf-undsiebzig!« rufen, aber uns bleibt nichts anderes übrig, als die Zahl zu schätzen, und wenn wir das tun, liegen wir wahrscheinlich total daneben.

Bei Experimenten hat man das intuitive Erfassen von Men-gen getestet, indem man Probanden Bilder mit unterschiedlichen Punktmengen zeigte und sie fragte, welche Menge größer sei. Da-bei hat sich herausgestellt, dass unsere Fähigkeit zur Unterschei-dung von Punktemengen bestimmte regelmäßige Muster aufweist. Zum Beispiel ist es einfacher, den Unterschied zwischen einer Gruppe von 80 und einer von 100 Punkten zu bestimmen als den Unterschied zwischen 81 und 82 Punkten. Es ist auch leichter, zwi-schen 20 und 40 Punkten zu unterscheiden als zwischen 80 und 100 Punkten.

Mit solchen Forschungen befasste Wissenschaftler waren über-rascht, wie genau unsere Fähigkeit zu vergleichen mit mathema-tischen Gesetzen einhergeht, wie etwa mit dem Multiplikations-

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prinzip. In seinem Buch Der Zahlensinn führt der französische Kognitionswissenschaftler Stanislas Dehaene folgenden Fall an: Eine Person ist in der Lage, mit einer Genauigkeit von 90 Prozent 10 von 13 Punkten zu unterscheiden. Wird die erste Menge auf 20 Punkte verdoppelt, wie viele Punkte muss dann die zweite Menge haben, damit weiterhin dieselbe Leistung von 90 Prozent erzielt wird? Die Antwort lautet 26. Auch die zweite Menge muss also genau verdoppelt werden.

Auch Tiere sind in der Lage, verschiedene Punktmengen zu vergleichen. Dabei erbringen sie zwar nicht dieselben Leistungen wie wir, aber ihre Fähigkeiten werden offenbar von denselben ma-thematischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Das ist recht bemer-kenswert, denn schließlich haben wir Menschen als einzige Lebe-wesen ein wundervoll komplexes Zählsystem entwickelt. Im Alltag haben wir es ständig mit Zahlen zu tun. Geht es jedoch darum, große Zahlen zu erfassen und zu schätzen, so funktioniert unser Gehirn trotz all unserer mathematischen Veranlagung ganz genau-so wie das unserer gefiederten oder behaarten Freunde.

Der intuitive Sinn für Mengen, über den der Mensch verfügt, hat im Lauf von Jahrmillionen zum Entstehen der Zahlen geführt. Wie sich das im Einzelnen abgespielt hat, wissen wir natürlich nicht, doch die Vermutung liegt nahe, dass es mit dem Wunsch zu tun hatte, die Dinge um uns herum genauer zu erfassen, zum Beispiel Bäume, Berge, Raubtiere und Trommelschläge. Zuerst haben wir wohl visuelle Symbole wie unsere Finger oder Kerben in einem Ast benutzt, und zwar in direktem Bezug zu dem Gegenstand, um den es ging. Das heißt, zwei Kerben oder zwei Finger bedeuteten zwei Mammuts, drei Kerben oder drei Finger drei Mammuts und so weiter. Später sind dann Worte entstanden, um die Begriffe »zwei Kerben« und »drei Finger« auszudrücken.

Während immer mehr Gegenstände auf diese Weise erfasst wurden, haben wir unser Vokabular und unser System aus Zahlen-symbolen ständig erweitert. Irgendwann hat dieser Vorgang sich beschleunigt, und heute verfügen wir über ein ausgereiftes System

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exakter Zahlen, mit dessen Hilfe wir so weit zählen können, wie wir wollen. Dabei steht unsere Fähigkeit, Zahlen exakt auszudrü-cken – also etwa zu sagen, dass sich auf der Abbildung auf Seite 37 in diesem Buch genau 75 Punkte befinden –, in ständigem Aus-tausch mit unserer älteren Fähigkeit, solche Mengen annähernd zu erfassen. Je nach den Umständen entscheiden wir, welche Me-thode wir anwenden. So kommt unser Verständnis exakter Zahlen zum Zug, wenn wir im Supermarkt die Preise von Produkten ver-gleichen. Geht es dann jedoch an der Kasse darum, uns an der kür-zesten Schlange anzustellen, verwenden wir unseren instinktiven Sinn für Näherungswerte. Wir zählen nicht jede einzelne Person in jeder Schlange, sondern werfen einen Blick auf alle Schlangen und schätzen ab, wo die wenigsten Leute stehen.

Dieser ungenauen Herangehensweise bedienen wir uns ständig, selbst wenn wir eine präzise Terminologie verwenden. Fragt man jemanden, wie lange er von zu Hause zur Arbeitsstelle braucht, erhält man als Antwort oft eine Zeitspanne wie »fünfunddreißig, vierzig Minuten«. Mir ist sogar aufgefallen, dass ich regelrecht un-fähig bin, präzise Zahlen zu nennen, wenn ich nach Mengen ge-fragt werde. Wie viele Gäste waren bei der Party gestern Abend? »So um die zwanzig, dreißig.« Wie lange bist du geblieben? »Drei-einhalb, vier Stunden …« Wie viele Gläser Wein hast du getrun-ken? »Vier, fünf … zehn …« Früher dachte ich, so etwas würde nur eine gewisse Ungenauigkeit ausdrücken, doch inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich habe vielmehr den Eindruck, ich bediene mich meines inneren Zahlengefühls, einer intuitiven, ani-malischen Neigung, in Näherungswerten zu denken.

Da dieser Sinn für Annäherungen überlebensnotwendig ist, sollte man annehmen können, dass alle Menschen vergleichbare Fähigkeiten besitzen. In einem 2008 erschienenen Aufsatz be-richtet ein Psychologenteam von der Johns Hopkins University und dem Kennedy Krieger Institute über den Versuch, das bei einer Gruppe von 14-Jährigen zu erforschen. Auf einem Bildschirm zeig-te man den Jugendlichen für die Dauer von 0,2 Sekunden unter-schiedliche Mengen an gelben und blauen Punkten. Anschließend

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stellte man die Frage, ob mehr blaue oder mehr gelbe Punkte zu sehen gewesen seien. Die Ergebnisse waren verblüffend, weil die Bandbreite an Antworten unerwart groß war. Manche der Teil-nehmer konnten problemlos einen Unterschied zwischen neun blauen und zehn gelben Punkten erkennen, die Fähigkeiten von anderen waren jedoch mit denen kleiner Kinder vergleichbar – sie konnten kaum einen Unterschied zwischen fünf gelben und drei blauen Punkten ausmachen.

Ein noch erstaunlicherer Befund ergab sich, als man die Test-ergebnisse der Jugendlichen mit deren mathematischen Leistun-gen seit der Grundschulzeit verglich. Man hatte vorher angenom-men, die intuitive Fähigkeit, zwischen Mengen zu unterscheiden, habe keinen großen Einfluss auf komplexere Aufgaben wie das Lösen von Gleichungen und das Zeichnen geometrischer Figuren. Bei der besagten Studie fand man jedoch einen deutlichen Zusam-menhang zwischen der Begabung zu schätzen und einem Erfolg im Mathematikunterricht. Je besser der Sinn für Näherungswerte, desto größer ist offenbar auch die Chance, in der Schule gute No-ten zu erzielen. Dieser Befund könnte erhebliche Auswirkungen auf die Unterrichtsmethodik haben. Wenn die Beschäftigung mit Schätzaufgaben unser mathematisches Talent fördert, sollte es im Mathematikunterricht vielleicht weniger um das Einmaleins gehen als um das Training der Fertigkeit, Punktmengen zu vergleichen.

Kurz nachdem Stanislas Dehaene sein Buch Der Zahlensinn ver-öffentlicht hatte, traf er Pierre Pica. Dieser berichtete ihm von seinen Erfahrungen bei den Munduruku, und nach einem äußerst angeregten Gespräch beschlossen die beiden, in Zukunft zusam-menzuarbeiten. Dehaene dachte sich eine Reihe von Experimen-ten aus, die Pica am Amazonas erproben konnte. Eines verfolgte die Frage, wie die Munduruku ihre Zahlwörter genau verwende-ten. Als Pica das nächste Mal im Regenwald war, versammelte er eine Gruppe von Freiwilligen, zeigte ihnen auf dem Bildschirm verschiedene Mengen an Punkten und bat sie, ihm die Zahl der Punkte zu nennen, die sie sahen.

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Die Zahlwörter der Munduruku lauten:

eins pũgzwei xep xepdrei ebapugvier ebadipdipfünf pũg pogbi

Befand sich nur ein Punkt auf dem Bildschirm, sagten die Mun-duruku pũg. Handelte es sich um zwei Punkte, sagten sie xep xep. Waren mehr als zwei Punkte zu sehen, so drückten sie sich jedoch nicht mehr so genau aus. Bei drei Punkten lautete die Antwort nur zu 80 Prozent ebapug, und bei vier Punkten hieß es nur zu 70 Pro-zent ebadipdip. Waren fünf Punkte zu sehen, so kam nur zu 28 Pro-zent die Antwort pũg pogbi, während 15 Prozent der Antworten ebadipdip lauteten. Anders gesagt, stellten die Benennungen der Munduruku für die Zahlen ab drei lediglich eine Schätzung dar. Gezählt wurde demnach »eins«, »zwei«, »etwa drei«, »etwa vier«, »etwa fünf«. Pierre Pica geriet ins Grübeln und fragte sich, ob pũg pogbi, was wörtlich »eine Hand voll« bedeutet, überhaupt als Zahl bezeichnet werden kann. Vielleicht konnten die Munduruku gar nicht bis fünf zählen, sondern sogar nur bis »etwa vier«?

In diesem Zusammenhang bemerkte Pica auch einen interes-santen linguistischen Aspekt dieser Zahlwörter. Er machte mich darauf aufmerksam, dass die Zahl der Silben bei den Wörtern für eins bis vier dem Wert der betreffenden Zahlen entspricht. Diese Beobachtung fand Pica ausgesprochen aufregend. »Das ist, als wä-ren die Silben eine orale Zählmethode«, sagte er. So, wie die alten Römer für eins bis vier I, II, III und IIII schrieben, bei fünf aber zu V überwechselten, beginnen die Munduruku mit einer Silbe für eins und fügen jeweils eine weitere für zwei, drei und vier hinzu. Für die Fünf verwenden sie jedoch keine fünf Silben mehr. Ob-gleich die Begriffe für drei und vier nicht exakt verwendet werden, enthalten sie doch genau die richtige Anzahl an Silben. Bei einem Zahlwort der Munduruku, bei dem die Silbenzahl nicht mehr

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stimmt, handelt es sich daher womöglich gar nicht um ein echtes Zahlwort. »So interessant ist das deshalb«, sagte Pica, »weil es mit der These übereinstimmt, unser Zahlensystem könne nur bis zu vier Gegenstände gleichzeitig exakt bezeichnen.«

Pica testete auch die Fähigkeit der Munduruku, große Zahlen zu schätzen. Bei einem Experiment zeigte er den Probanden eine Computeranimation, bei der zwei Punktemengen in eine Dose fie-len. Anschließend wurde die Frage gestellt, ob die nun nicht mehr sichtbare Gesamtmenge der Punkte in der Dose größer sei als eine dritte Menge an Punkten, die inzwischen daneben auf dem Bild-schirm erschienen war. Dieses Experiment testete die Fähigkeit der Munduruku, Mengen näherungsweise zu addieren. Das konnten die Munduruku, und zwar genauso gut wie eine Vergleichsgruppe von französischen Erwachsenen, denen dieselbe Aufgabe gestellt wurde.

Bei einem ähnlichen Experiment war auf Pierre Picas Compu-terbildschirm einen Animation zu sehen, bei der sechs Punkte in eine Dose fielen. Anschließend fielen vier Punkte unten heraus. Die Munduruku sollten nun unter drei Antworten auswählen, wie viele Punkte in der Dose verblieben waren. Mathematisch aus-gedrückt, lautete die Frage: Was ist 6 minus 4? Dieser Test sollte Auskunft geben, ob die Munduruku eine Vorstellung von exakten Zahlen hatten, für die sie keine Wörter kannten. Das war nicht der Fall. Egal, ob die Animation der Subtraktionsaufgabe sechs, sieben oder acht Punkte zeigte, die Lösung blieb den Probanden verborgen.

Als Ergebnis dieser Experimente hielt Pica fest, dass die Mun-duruku zwar sehr gut mit ungefähren Mengen umgehen können, aber wenn es um exakte Zahlen oberhalb von fünf geht, versagen sie kläglich. Faszinierend findet er die Ähnlichkeiten zwischen den Munduruku und uns Europäern, die sich dadurch offenbaren. Bei-de Gruppen verfügen über ein voll funktionsfähiges, exaktes Sys-tem zum Erfassen von kleinen Zahlen und ein Näherungssystem für große Zahlen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass es den Munduruku nicht gelungen ist, diese beiden voneinan-

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der unabhängigen Systeme so zu kombinieren, dass damit Zahlen erfasst werden, die größer als fünf sind. Nach Meinung Picas ist das so, weil es für das Leben am Amazonas nützlicher ist, diese Systeme getrennt zu halten. Im Interesse der kulturellen Vielfalt sei es deshalb wichtig, die Zählweise der Munduruku zu schützen, die durch den immer enger werdenden Kontakt zwischen dem In-dianervolk und brasilianischen Siedlern ohnehin stark bedroht sei.

Die Tatsache aber, dass manche Munduruku gelernt haben, auf Portugiesisch zu zählen, und dennoch nicht in der Lage sind, ein-fache arithmetische Gesetze zu begreifen, ist ein Hinweis darauf, wie machtvoll auch ihr eigenes mathematisches System ist und wie gut es ihren Bedürfnissen angepasst ist. Außerdem macht dies deutlich, welch ein gewaltiger gedanklicher Sprung es gewesen sein muss, ein funktionsfähiges Verständnis von exakten Zahlen zu entwickeln, die größer als fünf sind.

Ein weiterer Schwerpunkt der Forschung von Stanislas Dehaene ist die Dyskalkulie, die auch als Rechenschwäche bezeichnet wird. Sie drückt sich durch einen gestörten Sinn für Zahlen aus und tritt bei etwa drei bis sechs Prozent der Bevölkerung auf. Dyskalkuliker »kapieren« Zahlen nicht so, wie andere Menschen es tun. Ein Bei-spiel: Welche der folgenden zwei Zahlen ist die größere?

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Keine Frage, die 65. Die meisten von uns haben in weniger als einer halben Sekunde die richtige Antwort gefunden. Ist man jedoch von Dyskalkulie betroffen, so braucht man dazu bis zu drei Sekunden. Wie sich die Störung auswirkt, ist individuell ver-schieden, aber Menschen, bei denen sie diagnostiziert wird, haben oft Probleme, das Symbol für eine bestimmte Zahl – wie etwa 5 – mit der Zahl an Gegenständen in Beziehung zu setzen, die dieses Symbol repräsentiert. Mit dem einfachen Zählen haben sie eben-falls Schwierigkeiten, denn Betroffene können Zahlen meist nur schlecht intuitiv erfassen. Deshalb verlegen Dyskalkuliker sich auf

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alternative Strategien, um mit den im Alltag auftauchenden Zah-len zurechtzukommen, zum Beispiel, indem sie öfter mithilfe der Finger zählen. Bei schwerer Dyskalkulie ist man kaum in der Lage, die Uhr zu lesen.

Wenn Sie in der Schule in allen Fächern gute Noten hatten, in Mathematik jedoch ständig nahe am Abgrund standen, ist es gut möglich, dass Sie Dyskalkuliker sind. Allerdings wären Sie dann wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, dieses Buch zu lesen. Dyskalkulie gilt als eine der Hauptursachen von schlech-ten rechnerischen Fähigkeiten, und sie zu erforschen, wäre von großer gesellschaftlicher Bedeutung, denn Erwachsene, die unter dieser Störung leiden, sind statistisch häufiger arbeitslos oder de-pressiv. Dennoch weiß man bisher nur wenig über Dyskalkulie. In gewissem Grade ist sie vergleichbar mit Dyslexie, einer Störung, die sich durch Probleme beim Lesen und Verstehen von Wörtern manifestiert. In beiden Fällen ist etwa derselbe Prozentsatz der Bevölkerung betroffen, und beide Störungen haben offenbar kei-nen Zusammenhang mit der allgemeinen Intelligenz, dennoch weiß man wesentlich mehr über Dyslexie. So sind schätzungsweise zehnmal mehr wissenschaftliche Aufsätze darüber erschienen als über Dyskalkulie. Einer der Gründe, warum die Forschung in die-sem Bereich so stark hinterherhinkt, dürfte darin bestehen, dass es so viele andere Ursachen gibt, weshalb Schüler schlecht in Ma-thematik sind. Oft werden die Inhalte des Fachs nicht gut vermit-telt, und sobald ein Schüler ein paar Stunden versäumt, in denen wichtige Grundlagen behandelt werden, gerät er leicht ins Hinter-treffen. Außerdem gelten Probleme beim Rechnen in der Gesell-schaft nicht als so großes Handicap wie Probleme beim Lesen und Schreiben.

Neurowissenschaftler Brian Butterworth verfasst oft Gutachten für Personen, die er auf Dyskalkulie untersucht hat. Diese dienen dazu, möglichen Arbeitgebern zu erklären, dass ein Scheitern im Mathematikunterricht in solchen Fällen nichts mit Faulheit oder mangelnder Intelligenz zu tun hat. Auf allen Gebieten, in denen es nicht um Zahlen geht, können Dyskalkuliker ausgezeichnete Leis-

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tungen erbringen. Laut Butterworth ist es sogar möglich, an Dys-kalkulie zu leiden und trotzdem sehr gut in Mathematik zu sein. In mehreren Zweigen dieses Fachs, zum Beispiel in Logik und Geometrie, geht es eher um deduktives Denken oder räumliche Wahrnehmung als um den souveränen Umgang mit Zahlen und Gleichungen. Normalerweise sind Dyskalkuliker allerdings ganz und gar nicht gut in Mathematik.

Bei Studien zum Thema Dyskalkulie werden hauptsächlich verhaltenspsychologische Methoden angewendet. Zum Beispiel hat man Zehntausende Schulkinder mithilfe eines computer-gestützten Tests untersucht, bei dem abgefragt wurde, welche von zwei Zahlen größer sei. Teilweise werden aber auch mögliche neu-rologische Gründe für die Störung erforscht. Dabei studiert man Magnetresonanzaufnahmen dyskalkulischer und nicht dyskalku-lischer Gehirne, um festzustellen, inwiefern sich deren neuronale Schaltkreise unterscheiden. Wie häufig in der Kognitionswissen-schaft ergibt sich auch in diesem Fall ein allgemein besseres Ver-ständnis mentaler Fähigkeiten durch die Erforschung von Fällen, in denen die betreffende Fähigkeit gestört ist. So wird allmählich nicht nur klarer, was Dyskalkulie ist, sondern auch, wie die Ver-arbeitung von Zahlen im Gehirn funktioniert.

Überhaupt liefert die Neurowissenschaft einige der interes-santesten Neuentdeckungen auf dem Gebiet der numerischen Ko-gnition. Inzwischen hat man beispielsweise festgestellt, was mit einzelnen Neuronen im Gehirn eines Affen geschieht, wenn dieser an eine exakte Zahl von Punkten denkt.

Andreas Nieder, Professor für Tierphysiologie an der Univer-sität Tübingen, hat Rhesusaffen beigebracht, an eine Zahl zu den-ken. Zu diesem Zweck hat er ihnen auf dem Computerbildschirm erst eine Punktemenge gezeigt und nach einer Sekunde Pause eine zweite Punktemenge. Wenn die zweite Menge gleich groß wie die erste war und die Affen einen Hebel bewegten, bekamen sie zur Belohnung einen Schluck Apfelsaft. Drückten sie den Hebel, ob-wohl die beiden Mengen ungleich waren, so gab es keinen Saft. Nach etwa einem Jahr hatten die Affen gelernt, den Hebel nur

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dann zu betätigen, wenn die zwei Mengen übereinstimmten. Nie-der und sein Team schlossen daraus, dass die Affen in der einen Sekunde, in der sie darüber nachdachten, den Hebel zu betätigen oder nicht, an die Zahl der Punkte dachten, die sie gerade gesehen hatten.

Um herauszufinden, was sich im Gehirn der Affen abspielte, während sie diese Zahl im Kopf hatten, wurde ihnen durch ein winziges Loch in der Schädeldecke eine zwei Mikrometer dünne Elektrode ins Nervengewebe eingeführt. Die Tiere mussten dabei nicht leiden, denn eine so kleine Elektrode gleitet ins Gehirn, ohne Schäden oder Schmerzen zu verursachen. Das wird auch dadurch belegt, dass es zwar den ethischen Richtlinien widerspricht, Men-schen zu Forschungszwecken Elektroden ins Gehirn einzuführen, es zu therapeutischen Zwecken – wie etwa zur Behandlung von Epilepsie – jedoch erlaubt ist.

Bei dem Tübinger Experiment wurde die Elektrode an einem Teil des präfrontalen Kortex platziert. Sie war so empfindlich, dass sie die elektrische Entladung in einzelnen Neuronen registrieren konnte. Wenn die Affen an Zahlen dachten, sah man, wie be-stimmte Neuronen sehr aktiv wurden, und ein ganzer Bereich des Gehirns leuchtete auf dem angeschlossenen Bildschirm auf.

Bei der eingehenderen Analyse machten Nieder und sein Team eine faszinierende Entdeckung. Die zahlensensitiven Neuronen reagierten mit unterschiedlichen Ladungen je nachdem, an welche Zahl der Affe gerade dachte. Außerdem hatte jedes Neuron eine »Lieblingszahl«, also eine, von der es am stärksten stimuliert wur-de. Zum Beispiel war eine Population von mehreren tausend Neu-ronen erkennbar, die die Zahl Eins bevorzugten. Diese Neuronen »feuerten« – wie es in der Fachsprache heißt – besonders intensiv, wenn ein Affe an die Zahl Eins dachte, weniger intensiv, wenn er an die Zwei dachte, noch weniger, wenn er an die Drei dachte, und so weiter. Eine andere Gruppe von Neuronen bevorzugte die Zahl Zwei. Diese Neuronen feuerten am stärksten, wenn ein Affe an die Zwei dachte, weniger stark, wenn er an die Eins oder die Drei dachte, und noch weniger, wenn er an die Vier dachte. Andere

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Neuronengruppen hatten die Lieblingszahl Drei, wieder andere die Zahl Vier. Nieders Team führte dieses Experiment bis zur Zahl 30 durch und fand für jede dieser Zahlen Neuronen mit einer ent-sprechenden Vorliebe.

Diese Ergebnisse könnten eine Erklärung dafür sein, weshalb unsere Intuition zu einem ungefähren Zahlenverständnis tendiert. Denkt ein Affe »vier«, so sind natürlich jene Neuronen am aktivs-ten, von denen diese Zahl bevorzugt wird. Allerdings sind auch die Neuronen, die drei beziehungsweise fünf bevorzugen, aktiv, wenn auch in geringerem Maße. Das Gehirn denkt also auch an die Zahlen im Umfeld von vier. »Das Verständnis für Zahlen ist ungenau«, folgert Andreas Nieder. »Die Affen können Anzahlen nur ungefähr verarbeiten.«

Es kann als fast gesichert gelten, dass dasselbe auch im mensch-lichen Gehirn geschieht. Dadurch stellt sich eine interessante Fra-ge: Wenn unser Gehirn Zahlen nur ungefähr verarbeiten kann, wie haben wir es dann überhaupt geschafft, Zahlen zu »erfinden«? »Das ›exakte Zahlenverständnis‹ ist eine dem Menschen vorbehal-tene Fähigkeit, die wahrscheinlich auf unserem Vermögen beruht, Zahlen sehr präzise mit Symbolen auszudrücken zu können«, meint Nieder. Das aber ist ein weiteres Argument für die These, dass Zahlen ein kulturelles Artefakt sind, ein künstliches Kon-strukt und nicht etwas, das wir von Natur aus besitzen.

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Erstes Kapitel

Lust und Last des Zählens

In der ostenglischen Grafschaft Lincolnshire pflegte man im Mit-telalter eine äußerst merkwürdig klingende Zählweise. Verwendet wurde sie von den Schäfern der Region, um einen Überblick über ihre Herde zu behalten. Die gesamte Zahlenreihe lautete:

1. Yan 11. Yan-a-dik 2. Tan 12. Tan-a-dik 3. Tethera 13. Tethera-dik 4. Pethera 14. Pethera-dik 5. Pimp 15. Bumfit 6. Sethera 16. Yan-a-bumfit 7. Lethera 17. Tan-a-bumfit 8. Hovera 18. Tethera-bumfit 9. Covera 19. Pethera-bumfit 10. Dik 20. Figgit

So zählt man heute auch in Lincolnshire nicht mehr, und zwar nicht nur, weil sich die Wörter verändert haben, die die Ziffern be-zeichnen. Die damaligen Schäfer ordneten ihre Zahlen in Gruppen aus 20 Einheiten, von yan (unser eins) bis figgit (unser zwanzig). Besaß ein Schäfer mehr als 20 Schafe und schlief beim Zählen nicht vorzeitig ein, so machte er sich eine Notiz, sobald der erste Zyklus vollendet war. Zum Beispiel steckte er sich einen Kieselstein in die Tasche, zog im Boden eine Linie oder schnitzte eine Kerbe in seinen Stab. Anschließend fing er wieder von vorne zu zählen an:

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»Yan, tan, tethera …« Besaß er 80 Schafe, so hatte er sich am Ende vier Kiesel in die Tasche gesteckt oder vier Linien markiert.

In der modernen Welt ordnen wir unsere Zahlen bekanntlich in Zehnergruppen und unser Zahlensystem in zehn Ziffern: 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. Die Zahl der Gruppenelemente, der oft auch die Anzahl der verwendeten Symbole entspricht, wird als Grundzahl oder Basis eines Zahlensystems bezeichnet. Unser Dezimalsystem hat also die Basis 10, das der Schäfer aus Lincolnshire hatte die Basis 20.

Ohne eine vernünftige Basis sind Zahlen nicht zu handhaben. Man stelle sich einmal vor, unser Schäfer hätte ein System mit der Basis eins, das heißt lediglich ein einziges Zahlwort namens yan für die Eins. Die Zwei wäre dann yan yan, und die Drei wäre yan yan yan. Um 80 Schafe zu zählen, müsste man 80-mal yan sagen. Dieses System wäre also ziemlich nutzlos, sobald man etwas zählen wollte, das über drei hinausgeht. Im Gegensatz dazu könnte man sich vorstellen, dass jeder Zahl ein eigenes Zahlwort entspricht, aber um auf diese Weise bis 80 zu zählen, müsste man sich 80 ein-zelne Wörter merken. Versuchen Sie auf diese Weise mal bis 1000 zu kommen!

Eine ganze Reihe isoliert lebender Völker verwendet noch heu-te Systeme mit äußerst ungewöhnlichen Grundzahlen. Die im Amazonas-Gebiet lebenden Arara zum Beispiel zählen in Paaren. In ihrer Sprache lauten die Zahlen von eins bis acht: anane, adak, adak anane, adak adak, adak adak anane, adak adak adak, adak adak adak anane, adak adak adak adak. Derart in Zweiergruppen zu zählen, bietet gegenüber einem Einersystem keine großen Vor-teile. Um 100 auszudrücken, müsste man 50-mal hintereinander adak aufsagen, was das Feilschen auf dem Markt doch ziemlich zeitraubend machen würde. Auch Systeme, die auf Dreier- und Vierergruppen basieren, finden sich am Amazonas.

Der Trick eines guten Zahlensystems besteht darin, dass die Basis groß genug sein muss, um Zahlen wie 100 ausdrücken zu können, ohne außer Atem zu kommen, aber nicht zu groß, damit

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unser Gedächtnis nicht überstrapaziert wird. Die meisten Systeme im Lauf der Geschichte basierten auf fünf, zehn und zwanzig, und dafür gibt es einen naheliegenden Grund. Diese Zahlen sind vom menschlichen Körper abgeleitet. An einer Hand haben wir fünf Finger, weshalb sich bei fünf die erste offenkundige Gelegenheit ergibt, eine Pause zu machen, wenn man von eins aufwärts zählt. Die nächste natürliche Pause kommt bei zwei Händen oder zehn Fingern und die übernächste bei beiden Händen und Füßen, also zwanzig Fingern und Zehen. Manche Systeme kombinieren ver-schiedene Basen. So enthält die Methode der Schäfer von Lin-colnshire gleich drei Basen, nämlich fünf, zehn und zwanzig. Für eins bis zehn existieren jeweils eigene Zahlwörter, die nächsten zehn Einheiten werden zu Fünfergruppen zusammengefasst. Dass unsere Finger eine Rolle beim Zählen spielen, erkennt man auch an manchen Zahlwörtern. So heißt fünf auf Russisch pjat, während das Wort für die ausgestreckte Hand pjast lautet. Das deutsche fünf wiederum ist mit Finger verwandt.

Seit dem Augenblick, in dem der Mensch zu zählen begann, hat er seine Finger zu Hilfe genommen. Überhaupt ist ein Groß-teil unseres zivilisatorischen Fortschritts der Vielseitigkeit unserer Finger geschuldet. Würden wir mit Stümpfen am Ende unserer Arme und Beine geboren, so hätten wir uns intellektuell wohl kaum über die Steinzeit hinausentwickelt. Bevor Papier und Blei-stift so weit verbreitet waren, dass man Zahlen rasch niederschrei-ben konnte, wurden diese oft mithilfe komplexer Zeichensprachen übermittelt, bei denen die Finger eine entscheidende Rolle spiel-ten. Ein angelsäch sischer Benediktinermönch und Historiker, den man heute unter dem Namen Beda Venerabilis kennt, entwickelte im 8. Jahrhundert ein System, mit dem man bis zu einer Million zählen konnte. Einer und Zehner wurden dabei mit den Fingern der linken Hand dargestellt, Hunderter und Tausender mit den Fingern der rechten. Noch höhere Zahlen wurden ausgedrückt, indem die Hände vor dem Körper auf und ab bewegt wurden. Für 90 000 schlug Beda ein ziemlich zweideutige Geste vor: »Greif mit der linken Hand an deine Lenden und zeige mit dem Daumen auf

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das Geschlechtsteil«, schrieb er. Einleuchtender war das Symbol für eine Million, ein Ausdruck von Befriedigung und Genugtuung: die gefalteten Hände mit verschränkten Fingern.

Auf der Grundzahl Zehn basierende Systeme sind in Europa schon seit Tausenden von Jahren gebräuchlich. Aber trotz ihrer harmo-nischen Übereinstimmung mit der Anzahl unserer Finger und Zehen hat man im Lauf der Zeit ab und zu angezweifelt, das die Zehn wirklich die beste Grundlage fürs Zählen darstellt. Man hat sogar argumentiert, gerade ihr Bezug zum Körper mache sie zu einer schlechten Wahl. Der schwedische König Karl XII. etwa spottete, das Dezimalsystem sei entstanden, indem »ländliche Ein-faltspinsel« an ihren Fingern genestelt hätten. In einem modernen Staat brauche man eine Basis »mit mehr Zweckmäßigkeit und größerem Nutzen«. Deshalb beauftragte Karl den Wissenschaftler und Mystiker Emanuel Swedenborg im Jahr 1716 damit, ein neues System auf Basis der Zahl 64 zu ersinnen. Auf diese ungewöhn-lich hohe Zahl war er gekommen, indem er sie von den Kanten eines Würfels (4 × 4 × 4) abgeleitet hatte. Nachdem er den Großen Nordischen Krieg geführt – und verloren – hatte, hatte er in erster Linie militärische Zwecke im Sinn. Den Inhalt einer Kiste Schieß-pulver zum Beispiel könne man doch leichter berechnen, wenn man eine mit dem Würfel zusammenhängende Zahl als Basis habe. Sein Zeitgenosse Voltaire meinte allerdings, diese Idee beweise lediglich, dass Karl »eine Vorliebe für das Außergewöhnliche und Schwierige« habe.

Damit hatte er zweifellos recht, denn die Basis 64 würde ganze 64 Namen und Symbole erfordern. Deshalb entschloss sich Swe-denborg zu einer entscheidenden Vereinfachung. Er wählte die Grundzahl Acht und ersetzte 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 durch die Buch-staben o, l, s, n, m, t, f, ŭ. In diesem System galt also: l + l = s und m × m = so. Die Wörter für viele der neuen Zahlen waren recht merkwürdig. Zum Beispiel sollten die Potenzen von 8, die als lo, loo, looo, loooo und looooo geschrieben wurden, lu, lo, li, le und la ausgesprochen oder besser gejodelt werden. Kurz bevor Sweden-

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borg sein System im Jahr 1718 präsentieren wollte, wurde der König auf einem Feldzug von einer tödlichen Kugel getroffen – und sein Achtersystem damit zur Makulatur.

Absurd waren die Überlegungen Karls XII. jedoch keineswegs. Denn: Wieso sollten wir das Dezimalsystem nur deshalb beibe-halten, weil es von der Zahl unserer Finger und Zehen abgeleitet ist? Hätte der Mensch nur drei Finger und einen Daumen an jeder Hand wie die meisten Comicfiguren, wäre unsere Welt wahr-scheinlich von der Grundzahl Acht bestimmt. Wir würden die Zeit nicht in Jahrhunderte, sondern in Abschnitte von 80 Jahren einteilen, an der Spitze der Charts stünden die Top Eight, und ein Euro würde aus 80 Cent bestehen. Die Mathematik selbst würde sich nicht ändern, wenn wir eine alternative Methode hätten, die Zahlen zu gruppieren. Deshalb hatte der kriegerische Schweden-könig prinzipiell recht mit dem Vorschlag, nicht einfach ein Sys-tem zu verwenden, das zu unserer Anatomie passt, sondern eines zu wählen, dessen Grundzahl am besten den wissenschaftlichen Erfordernissen entspricht.

Ende der 1970er Jahre an einem Samstagmorgen in Chicago saß der kleine Michael de Vlieger vor dem Fernseher und sah sich Zeichentrickfilme an. Plötzlich lief etwas Außergewöhnliches. Die Titelmelodie bestand aus schrägen Klaviertönen, einer mit dem Wah-Wah-Pedal verzerrten Gitarre und einem bedrohlichen Bass. Unter dem Sternenhimmel, an dem der Vollmond stand, erschien ein merkwürdiges Männchen. Es trug einen blau-weiß gestreiften Zylinder und einen weißen Frack, es hatte halblange blonde Haare wie die Glam-Rock-Popstars zu der Zeit und eine äußerst spitze Nase. Vor allem aber hatte es an jeder Hand sechs Finger und an jedem Fuß sechs Zehen. »Das war irgendwie ziemlich unheim-lich«, erinnert sich de Vlieger heute. Der Clip trug den Titel Little Twelvetoes und war ein Unterrichtsfilmchen, mit dem die Idee des Zwölfersystems vermittelt werden sollte. »Ich glaube, die meisten Kinder hatten keine Ahnung, worum es da ging«, sagt de Vlieger. »Aber ich fand es unheimlich cool.«

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Inzwischen ist Michael de Vlieger 38 Jahre alt. Um ihn zu inter-viewen, besuchte ich ihn in seinem Büro in einer Wohngegend von St. Louis im US-Bundesstaat Missouri. Er hat dichtes schwarzes Haar mit ein paar weißen Strähnen, ein rundes Gesicht, dunkle Augen und einen blassen, leicht gelblichen Teint. Seine Mutter kommt von den Philippinen, sein Vater hat europäische Vorfah-ren. Aufgrund seiner ethnischen Herkunft wurde Michael in der Schule oft zum Ziel von Hänseleien. Als kluges, empfindsames Kind mit lebhafter Phantasie beschloss er, seine eigene Sprache zu erfinden, damit die anderen nicht sehen konnten, was er schrieb. Der Zeichentrickfilm mit dem merkwürdigen Zylindermännchen brachte ihn auf die Idee, dasselbe auch mit den Zahlen anzustellen, worauf er sich die Grundzahl zwölf zu eigen machte.

Ein Zwölfer- oder Duodezimalsystem besteht aus zwölf Zif-fern: 0 bis 9 und zwei zusätzliche Symbole für die Zehn und die Elf. F. Emerson Andrews, ein amerikanischer Pionier auf diesem Gebiet, verwendete für diese beiden »transdezimalen« Ziffern die Zeichen d beziehungsweise e. Bis zwölf zählt man dann folgender-maßen: 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, d, e.

Die neuen Ziffern erhalten eigene Namen, um Verwirrung zu vermeiden. Dabei nennt man d dek; e wird el ausgesprochen. Der für die Zwölf stehenden Ziffer 10 gibt man den Namen do (eine Abkürzung des englischen Worts dozen für Dutzend), um sie nicht mit der 10 des Dezimalsystems zu verwechseln. Zählt man von do aufwärts, ergeben sich do eins für 11, do zwei für 12, do drei für drei-zehn bis zweido für 20.

Mithilfe der Grundzahl zwölf bastelte Michael sich einen Pri-vatkalender. Jedes Datum darin besteht aus der im Zwölfersystem gezählten Anzahl der Tage seit seiner Geburt. Michael benutzt diesen Kalender noch heute und erklärte mir später beiläufig, ich würde ihn am 80e9ten Tag seines Lebens besuchen.

Michael de Vlieger hat sich das Zwölfersystem zunutze ge-macht, um sich zu schützen, aber er ist nicht der Einzige, den es überzeugt hat. Viele ernstzunehmende Denker vertraten die An-sicht, die Zwölf sei eine bessere Basis für ein Zahlensystem, weil sie

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vielseitiger sei als die Zehn. Daraus ist eine regelrechte Bewegung entstanden. Einer ihrer frühesten Vertreter war der Engländer Joshua Jordaine, der 1687 auf eigene Kosten ein Büchlein mit dem Titel Duodecimal Arithmetick drucken ließ. Darin behauptete er, nichts sei »natürlicher und wirklichkeitsnäher«, als in Zwölfern zu zählen. Zu den bekannten Duodeziphilen des 19. Jahrhunderts zählten Isaac Pitman, berühmt für die Erfindung einer damals weitverbreiteten Kurzschrift, und der Philosoph und Soziologe Herbert Spencer. Letzterer propagierte eine Reform des Zahlen-systems im Interesse der »arbeitenden Bevölkerung, also der Men-schen mit niedrigem Einkommen und der kleinen Ladenbesitzer, die sich um deren Bedürfnisse kümmern«. Auch der amerika-nische Erfinder und Ingenieur John W. Nystrom war ein Fan. Er verwendete für das Zwölfersystem den Begriff »duodenal«, was nicht ganz glücklich gewählt war, da Duodenum das medizinische Fachwort für den Zwölffingerdarm ist.

Der Grund, weshalb die Zwölf der Zehn überlegen sein könn-te, ist ihre Teilbarkeit. 12 kann durch 2, 3, 4 und 6 geteilt werden, 10 hingegen nur durch 2 und 5. Die Verfechter des Duodezimal-systems argumentieren, im Alltag hätten wir viel häufiger das Bedürfnis, etwas durch 3 oder 4 zu teilen als durch 5. Nehmen wir einmal an, wir besitzen einen Obst- und Gemüseladen. Haben wir 12 Äpfel, so können wir sie in zwei Beuteln mit je 6 Stück, drei Beu-teln mit je 4 Stück, vier Beuteln mit je 3 Stück oder sechs Beuteln mit je 2 Stück unterbringen. Das ist wesentlich benutzerfreundli-cher als 10 Äpfel, die man nur in zwei Beutel mit 5 Stück oder fünf Beutel mit je 2 Stück stecken kann. Nicht grundlos stammt das englische Wort »grocer« für Lebensmittelhändler von der Maß-einheit »Gros« ab, die früher gern von Händlern verwendet wurde. Sie bezeichnete zwölf Dutzend, also 12 × 12 oder 144. Die vielfältige Teilbarkeit der Zwölf kommt auch bei der englischen Maßeinheit »Fuß« zum Zuge, deren 12 Zoll durch 2, 3, und 4 geteilt werden können – ein deutlicher Vorteil für Schreiner und Schneider.

Von Bedeutung ist die Teilbarkeit auch bei Multiplikations-tafeln. Am leichtesten erlernt werden können in jedem beliebigen

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Zahlensystem immer jene Reihen des Einmaleins, deren Grund-zahl ein Teiler (oder Divisor) der Basiszahl des Systems ist. Des-halb hat man beim kleinen Einmaleins des Dezimalsystems auch keine Probleme, sich die Zweier- und die Fünferreihe einzuprägen. Im Duodezimalsystem sind die leichtesten Reihen ebenfalls jene mit den Divisoren von 12, nämlich 2, 3, 4 und 6.

2 × 1 = 2 3 × 1 = 3 4 × 1 = 4 6 × 1 = 62 × 2 = 4 3 × 2 = 6 4 × 2 = 8 6 × 2 = 102 × 3 = 6 3 × 3 = 9 4 × 3 = 10 6 × 3 = 162 × 4 = 8 3 × 4 = 10 4 × 4 = 14 6 × 4 = 202 × 5 = d 3 × 5 = 13 4 × 5 = 18 6 × 5 = 262 × 6 = 10 3 × 6 = 16 4 × 6 = 20 6 × 6 = 302 × 7 = 12 3 × 7 = 19 4 × 7 = 24 6 × 7 = 362 × 8 = 14 3 × 8 = 20 4 × 8 = 28 6 × 8 = 402 × 9 = 16 3 × 9 = 23 4 × 9 = 30 6 × 9 = 462 × d = 18 3 × d = 26 4 × d = 34 6 × d = 502 × e = 1d 3 × e = 29 4 × e = 38 6 × e = 562 × 10 = 20 3 × 10 = 30 4 × 10 = 40 6 × 10 = 60

Wirft man einen Blick auf die letzten Ziffern jeder Reihe, so ent-deckt man ein interessantes Muster. Bei der Zweierreihe ergeben sich wie im Dezimalsystem ausschließlich gerade Zahlen. Bei der Dreierreihe enden sämtliche Ziffern mit 3, 6, 9 oder 0. Die End-ziffern der Viererreihe sind 4, 8 und 0, und die Sechserreihe endet mit 6 oder 0. Anders gesagt, bekommen wir im Zwölfersystem die Zweier-, Dreier-, Vierer und Sechserreihe praktisch geschenkt. Da es vielen Kinder schwerfällt, Multiplikationstafeln auswendig zu lernen, wäre es ein Akt der Menschlichkeit, wenn wir auf die Grundzahl zwölf umstellen würden. Soweit jedenfalls die Lieb-haber dieses Systems.

Der bekannteste Schlachtruf der Zwölferanhänger ist jedoch ein von dem bereits erwähnten Amerikaner F. Emerson Andrews verfasster Aufsatz, der im Oktober 1934 in der Bostoner Zeit-schrift The Atlantic Monthly erschien. Er führte zur Gründung der

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»Duodecimal Society of America«, kurz DSA. Sie änderte ihren Namen später in »Dozenal Society of America«, weil das Wort »duodecimal« zu stark an das alte Dezimalsystem erinnerte, das man ersetzen wollte. In seinem Aufsatz polemisiert Andrews, die Grundzahl Zehn sei mit »unverzeihlicher Kurzsichtigkeit« gewählt worden, weshalb es doch auch kein »gar so gewaltiges Opfer« dar-stelle, sie aufzugeben. Wer der DSA beitreten wollte, musste an-fangs vier Tests in Zwölfer-Arithmetik über sich ergehen lassen, auf die jedoch bald verzichtet wurde. Das Organ der Vereinigung heißt Duodecimal Bulletin und existiert noch heute. Es ist eine hochinteressante Publikation und der einzige Ort außerhalb der medizinischen Fachliteratur, wo man sich über Hexadaktylie in-formieren kann, das Auftreten von sechs Fingern an einer Hand oder sechs Zehen an einem Fuß. Das kommt übrigens häufiger vor, als man meinen möchte: etwa einer von 500 Menschen wird mit mindestens einem zusätzlichen Finger oder Zeh geboren.

Michael de Vliegers jugendliche Faszination für die Grundzahl Zwölf war kein harmloser Flirt: er ist heute der Vorsitzende der DSA. Das Zwölfersystem liegt ihm so sehr am Herzen, das er es sogar in seinem Beruf als Designer von digitalen Architekturmo-dellen anwendet.

Die Zwölf als Basis erleichtert es nicht nur, die Multiplikations-tabellen auswendig zu lernen, ihr größter Vorteil besteht darin, dass es nicht so oft zu Brüchen kommt. Im Zehnersystem wird es rasch unübersichtlich, wenn man die Zahlen teilen will. Zum Bei-spiel erhält man bei einem Drittel von 10 eine unendliche Folge von Dreiern hinter dem Komma, nämlich 3,333… und so weiter. Ein Viertel von 10 ergibt 2,5, wofür man bereits eine Stelle hinter dem Komma braucht. Im Duodezimalsystem hingegen ist 4 ein Drittel und 3 ein Viertel von 10. Hübsch, nicht wahr? In Prozenten aus-gedrückt, wird ein Drittel zu 40 % und ein Viertel zu 30 %. Auch die Übersicht auf der folgenden Seite, wie die Zahl 100 durch die Zahlen 1 bis 12 geteilt wird, zeigt bei der Zwölferbasis wesentlich mehr ganze Zahlen als Ergebnis. Das Semikolon in der rechten Spalte entspricht dabei dem Komma im Dezimalsystem.

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Bruchteil von 100 Dezimalsystem DuodezimalsystemEins 100 100Halb 50 60Drittel 33,333… 40Viertel 25 30Fünftel 20 24;97…Sechstel 16,666… 20Siebentel 14,285 18;6d35…Achtel 12,5 16Neuntel 11,111… 14Zehntel 10 12;497Elftel 9,09… 11;11…Zwölftel 8,333… 10

Diese größere Genauigkeit kommt de Vliegers beruflichen Erfor-der nissen entgegen. Auch wenn seine Kunden ihm die Maße na-türlich im Dezimalsystem übermitteln, übersetzt er die Anga ben lieber ins Zwölfersystem. »Ich habe dann mehr Möglichkeiten, alles in einfache Quotienten zu teilen«, sagt er. »Vermeidet man umständliche Brüche, geht alles glatter. Aus Zeitdruck oder we-gen plötzlicher Änderungswünsche muss ich manchmal rasch unheimlich viel an einem Modell verändern, was nicht zu dem Schema passt, dass ich ursprünglich angewendet habe. Deshalb ist es wichtig, es mit möglichst einfachen Zahlenverhältnissen zu tun zu haben. Im Zwölfersystem habe ich mehr und klarere Optionen, und schneller geht es außerdem.« Das verschaffe ihm sogar einen Vorteil gegenüber Konkurrenten. Er vergleicht das mit einem Schwimmer, der sich die Beine rasiert, um schneller voran-zukommen.

Ein Nahziel der DSA ist es, die Symbole für dek und el im so-genannten Unicode zu verankern, dem internationalen Standard, nach dem Schriftzeichen von den meisten Computerprogrammen konvertiert werden. Allerdings ist man sich intern nicht einig, wel-che Symbole verwendet werden sollten. Die beiden Zeichen d und e, die von der DSA traditionell eingesetzt werden, hat William Ad-

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dison Dwiggins, einer der bedeutendsten amerikanischen Typo-grafen und Schöpfer der Schriften Caledonia und Electra, in den 1940er Jahren entworfen. Der bereits erwähnte Brite Isaac Pitman verwendete 2 und 3, der französische Zwölferenthusiast Jean Essig bevorzugte 7 und 2. Manche Mitglieder der Vereinigung würden aus praktischen Gründen lieber die Symbole * und # verwenden, da sie auf Telefontastaturen bereits vorhanden sind. Umstritten ist auch, wie die zusätzlichen Zahlwörter lauten sollten. Ein im Jahre 1960 – duodezimal 1174 – von der DSA publiziertes Handbuch empfiehlt die Begriffe dek, el und do (sowie gro für 100, mo für 1000, und do-mo, gro-mo, bi-mo und tri-mo für die nächsthöheren Potenzen von do). Ein anderer Vorschlag läuft darauf hinaus, zehn, elf und zwölf zu behalten, von da an jedoch mit zwölf-eins, zwölf-zwei, zwölf-drei und so weiter fortzufahren. Das Thema ist so um-stritten, dass die DSA sorgfältig darauf achtet, offiziell keinen der Vorschläge zu propagieren, um keinem ihrer Mitglieder auf den Schlips zu treten.

Michael de Vliegers Vorliebe für progressive Zahlenbasen wie-derum beschränkt sich nicht auf die Zwölf. Er hat sich auch mit der Grundzahl acht beschäftigt, derer er sich gelegentlich bedient, wenn er sich als Heimwerker betätigt. »Ich verwende Grundzahlen als Werkzeuge«, sagte er. Dabei ist er bis zur Basis 60 vorgestoßen. Zu diesem Zweck musste er sich zusätzlich zu unseren zehn ge-wohnten Ziffern 50 weitere Symbole ausdenken. An einen prak-tischen Nutzen hat er dabei nicht gedacht, vielmehr vergleicht er seine Gedankenspiele mit der Grundzahl 60 mit dem Erklimmen eines hohen Berges. »Da oben kann ich nicht leben, da ist mir zu viel los. Im Tal unten, wo es dezimal ist, kann ich durchatmen. Aber ich kann den Gipfel des Berges aufsuchen, um zu sehen, welchen Blick man von dort hat.« Michael hat Faktorentabellen in diesem Sexagesimalsystem ausgearbeitet und verwundert die Muster betrachtet, die zum Vorschein kamen. »Das Ganze hat eine besondere Schönheit«, versicherte er mir.

Ein System mit der Grundzahl 60 mag uns wie eine Spielerei für Leute mit einer außergewöhnlich lebhaften Phantasie vorkom-

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men, aber das Sexagesimalsystem hat historische Ursprünge. Tat-sächlich ist es sogar das älteste Stellenwertsystem, das wir kennen.

Die einfachste Form der numerischen Notation sind das sprich-wörtlich gewordene Kerbholz und seine Verwandten. Auf un-terschiedliche Weise existieren solche Zähllisten auf der ganzen Welt. Die Inkas führten Buch, indem sie Knoten in Stricke knüpf-ten, die Höhlenmenschen malten Markierungen an die Felswand. Seit der Erfindung hölzerner Möbel schnitzt man Kerben in den Bettpfosten, zumindest im übertragenen Sinne. Bei dem ältesten mathematischen Artefakt, das wir kennen, dürfte es sich um eine Art Kerbholz handeln. Es ist das 35 000 Jahre alte Wadenbein ei-nes Pavians, das in einer Höhle in Swasiland gefunden wurde. Auf dem nach seinem Fundort benannten »Lebombo-Knochen« sind 29 Linien eingekratzt, die möglicherweise einen Mondzyklus dar-stellen.

Wie wir im ersten Kapitel erfahren haben, kann der Mensch sofort problemlos den Unterschied zwischen einem und zwei Ge-genständen feststellen, und auch zwischen zwei und drei Dingen können wir sofort unterscheiden, aber jenseits von vier wird es schwierig. Dasselbe gilt für Kerben. Um eine überschaubare Zähl-liste herzustellen, müssen die Einträge gruppiert werden. Was die moderne Form des Kerbholzes – die Strichliste – angeht, zeichnet man in Europa und Nordamerika meist vier senkrechte Linien und bündelt sie dann mit einem Schrägstrich. In manchen Ländern Südamerikas zeichnet man aus den ersten vier Linien ein Qua-drat, durch das wiederum ein Schrägstrich gezogen wird. Kom-plexer geht man in China, Japan und Korea vor, wo man das aus fünf Strichen bestehende chinesische Schriftzeichen 正 verwendet, das »richtig« oder »vollständig« bedeutet. Fragen Sie doch beim nächsten Besuch im Sushi-Lokal den Koch mal, wie er Ihre Schäl-chen zählt.

Um 8000 v. Chr., also in vorgeschichtlicher Zeit, entstand in vielen Kulturen der Brauch, Ritzen in Tonscherben zu machen. Festgehalten wurde dabei meist die Anzahl bestimmter Dinge,

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zum Beispiel von Schafen, die gekauft oder verkauft wurden. Von diesem Augenblick an konnte man sein Vieh zählen, ohne dass man es vor Augen hatte, eine wesentliche Erleichterung für den Handel und die Inventur. Und zugleich die Geburt dessen, was wir heute als Zahlen bezeichnen.

Im 4. Jahrtausend v. Chr. entwickelten die Sumerer, die in Meso-potamien, also in der Region des heutigen Irak lebten, aus diesem Scherbensystem eine Schrift, die mit einem angespitzten Rohr-halm in weichen Ton geschrieben wurde. Zahlen wurden zuerst als Kreise oder in Form eines Fingernagels dargestellt. Um 2700 v. Chr. hatte der Schreibgriffel eine stumpfe Kante bekommen, und seine Eindrücke sahen ein wenig wie Vogelfüße aus. Nun gab es bereits verschiedene Symbole für einzelne Zahlen. Mit dieser nach ihrer Form benannten Keilschrift begann die lange Geschichte der europäischen und nahöstlichen Schriftsysteme. Irgendwie gefällt mir der Gedanke, sich die gesamte Weltliteratur als Nebenpro-dukt einer numerischen Notation vorzustellen, die von mesopota-mischen Buchhaltern erfunden wurde.

In der sumerischen Keilschrift gab es lediglich Symbole für die Zahlen 1, 10, 60 und 3600. Das verwendete System war also eine Mischung aus den Grundzahlen 60 und 10, da man die vorhan-denen Zahlen auch als 1, 10, 60 und 60 × 60 schreiben kann. Wes-halb die Sumerer ihre Nummern in Sechzigern gruppierten, gilt als eines der großen Geheimnisse in der Geschichte der Arithmetik.

Die unterschiedlichen Strichlisten-Systeme

Europa und Nordamerika

Südamerika

China und Japan

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Manche Forscher meinen, es handle sich um die Verschmelzung zweier älterer Systeme mit den Grundzahlen Fünf und Zwölf, wo-für man jedoch noch keine schlüssigen Beweise gefunden hat.

Die Babylonier, die große Fortschritte in der Mathematik und der Astronomie machten, übernahmen das Sexagesimalsystem der Sumerer. Später stützten die alten Ägypter und Griechen ihre Zeitberechnung auf die babylonische Zählweise, weshalb wir bis heute 60 Sekunden pro Minute und 60 Minuten pro Stunde haben. Wir sind so gewohnt daran, die Uhrzeit mit der Grundzahl 60 zu berechnen, dass wir nie darüber nachdenken, obwohl kaum je-mand die Erklärung dafür kennt. Nur während der französischen Revolution kam man auf die Idee, diese vermeintliche Ungereimt-heit innerhalb des Dezimalsystems auszubügeln. Als die National-versammlung 1793 das metrische System für Gewichte und Maße einführte, versuchte man, auch die Zeit zu dezimalisieren. Man verabschiedete ein Dekret, nach dem ein Tag in zehn Stunden mit jeweils 100 Minuten eingeteilt wurde. Eine Minute sollte wiederum 100 Sekunden enthalten. Das passte wunderbar zusammen, schon deshalb, weil ein Tag nun exakt 100 000 Sekunden hatte, verglichen mit den vorher üblichen 86 400 (60 × 60 × 24) Sekunden. Die revo-lutionäre Sekunde war also ein wenig kürzer als ihr traditionelles Gegenstück. Im Jahr 1794 wurde die Verwendung der Dezimalzeit zur Pflicht, worauf die Uhrmacher hektisch Uhren mit zehn Zif-fern herstellten. Leider empfand die Bevölkerung das neue System als derart verwirrend, dass es nach kaum mehr als sechs Monaten wieder abgeschafft wurde. Eine Stunde mit 100 Minuten ist in Wirklichkeit eben doch nicht so praktisch wie eine Stunde mit 60 Minuten, da 100 nicht so viele Divisoren besitzt wie 60. Man kann 100 durch 2, 4, 5, 10, 20, 25 und 50 teilen, während man 60 durch 2, 3, 4, 5, 6, 10, 12, 15, 20 und 30 teilen kann.

Auch ein jüngerer Versuch, die Zeit zu dezimalisieren, ist ge-scheitert. 1998 führte der Schweizer Uhrenkonzern Swatch die Swatch-Internetzeit ein, die den Tag in 1000 als »Beats« bezeich-nete Einheiten einteilte. Das heißt, jeder dieser Beats war 1 Minute und 26,4 Sekunden lang. Uhrenmodelle, die diese »revolutionäre

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Vision der Zeit« anzeigten, wurden etwa ein Jahr lang vermarktet, bis Swatch sie still und heimlich aus dem Angebot nahm.

Derart merkwürdige Zählmethoden hat man jedoch nicht nur in Frankreich und der Schweiz verwendet. Das Kerbholz, das ei-gentlich in dem Augenblick überholt war, als die Sumerer ihre Keilschrift-Scherben erfanden, wurde in Großbritannien noch bis 1826 als Währung verwendet. Die Bank of England gab moderni-sierte Kerbhölzer heraus, deren Wert dadurch angezeigt wurde, wie weit die Markierung vom Ende des Holzes entfernt war. Ein 1186 von Richard Fitzneal, dem Oberhaupt der Staatskasse, unter-zeichnetes Dokument legte dies folgendermaßen fest:

£ 1000 Breite einer Handfläche£ 100 Breite eines Daumens£ 20 Breite eines kleinen Fingers£ 1 Breite eines geschwollenen Gerstenkorns

Das von der Staatskasse verwendete Verfahren beruhte auf dem System eines »doppelten Kerbholzes«. Ein Holzstab wurde in der Mitte gespalten, wodurch zwei Hälften entstanden. Anschließend wurde der Wert auf beiden Hälften markiert: ein Original und eine Kopie. Lieh man der Bank von England Geld, so erhielt man einen Stab mit einer Kerbe, die den entsprechenden Betrag markierte, während die Bank die an derselben Stelle markierte Kopie behielt.

Vor knapp zwei Jahrhunderten wurde dieser Brauch endlich abgeschafft, wodurch eine riesige Menge Kerbhölzer entsorgt wer-den musste. 1834 beschloss man dann, die Hölzer in einem Ofen des Palace of Westminster, auch als Houses of Parliament bekannt, zu verbrennen. Dabei überhitzte sich der Ofen, und ein Brand brach aus, der rasch auf weitere Gebäude überging. Charles Di-ckens kommentierte: »Der im Übermaß mit diesen vermaledeiten Hölzern geschürte Ofen setzte die Wandtäfelung in Brand, und die Täfelung setzte das Unterhaus in Brand, worauf die beiden Häuser [des Parlaments] in Schutt und Asche versanken.« Im Lauf der Ge-schichte haben untaugliche Finanzinstrumente zwar oft die Regie-

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rungsarbeit erschwert, aber nur das Kerbholz kann sich rühmen, ein ganzes Parlament zerstört zu haben. Ein Gutes hatte das Ganze allerdings, denn als die Gebäude wiedererrichtet wurden, erhiel-ten sie einen repräsentativen Glockenturm, der unter dem Namen »Big Ben« bald zum Wahrzeichen Londons wurde.

Ein berühmter Fan des Dualsystems war der größte Mathematiker, der sich je in eine ungewöhnliche Grundzahl verliebt hat. Gemeint ist Gottfried Wilhelm Leibniz, einer der bedeutendsten Denker des späten 17.  Jahrhunderts, Wissenschaftler, Philosoph und Staats-mann. Eines der Ämter, das er innehatte, war das des Bibliothekars am Hof des Herzogs von Braunschweig in Hannover. Leibniz war so begeistert von der Grundzahl Zwei, dass er den Herzog in ei-nem Brief bat, ein silbernes Medaillon zu Ehren des Binärsystems prägen zu lassen. Es trug die Worte Imago Creationis (»Bild der Schöpfung«), da das Binärsystem für Leibniz nicht nur eine prak-tische, sondern auch eine spirituelle Bedeutung besaß. Er war der Meinung, die Möglichkeit, jede beliebige Zahl mit zwei Ziffern zu schreiben, würde die verschiedensten Rechenoperationen erleich-tern. »Dies gestattet es dem Waagmeister, alle möglichen Dinge mit weniger Gewichten zu wiegen, und bei der Münzprägung könn-te es dazu dienen, mehr Wert mit weniger Münzen zu schaffen«, schrieb er 1703. Dabei räumte er ein, dass das Dualsystem gewisse praktische Nachteile hat, da die ausgeschriebenen Zahlen wesent-lich länger als gewohnt sind. Die Zahl tausend zum Beispiel lau-tet im Dezimalsystem bekanntlich 1000, im Dualsystem hingegen 1 111 101 000. »Zum Ausgleich für seine Länge«, schrieb Leibniz, »ist das Dualsystem jedoch von größerer Bedeutung für die Wissen-schaft und führt zu neuen Entdeckungen.« Indem man sich mit den Symmetrien und Mustern der binären Notation auseinander-setze, könne man neue mathematische Einsichten gewinnen. Auch die Zahlentheorie werde dadurch reicher und vielseitiger.

Zudem war Leibniz begeistert davon, wie gut das Dualsystem zu seinen religiösen Überzeugungen passte. Er vertrat die An-sicht, der Kosmos sei aus »Sein« oder »Substanz« und aus »Nicht-

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sein« oder »Nichts« zusammengesetzt. Diese Dualität werde per-fekt durch die Ziffern 1 und 0 symbolisiert. So wie Gott alle Wesen aus dem Nichts erschaffen habe, so könnten alle Zahlen in Form von 1 und 0 geschrieben werden. Die Überzeugung, das Dual-system verdeutliche eine grundlegende metaphysische Wahrheit, sah Leibniz später zu seiner großen Freude bestätigt, als er sich mit dem I Ging beschäftigte. Dieser klassische chinesische Text ist eine Schrift der Weissagung. Er enthält 64 unterschiedliche Sym-bole, die jeweils mit einem Kommentar versehen sind. Der Leser wählt nach dem Zufallsprinzip – ursprünglich durch das Werfen getrockneter Schafgarbenstängel – eines dieser Symbole aus und interpretiert den dazugehörigen Text in etwa so, wie wir heute ein Horoskop deuten. Jedes Symbol im I Ging ist ein Hexagramm, das heißt, es ist aus sechs horizontalen Linien zusammengesetzt. Diese Linien sind entweder unterbrochen oder durchgehend, entspre-chen dadurch einem Yin oder einem Yang. Die 64 Hexagramme umfassen sämtliche Kombinationsmöglichkeiten der jeweils sechs Yin- und Yang-Linien.

Die Abbildung zeigt eine besonders elegante Methode, sie an-zuordnen. Wird jedes Yang als 0 und jedes Yin als 1 geschrieben, so entspricht die Sequenz exakt den Binärziffern von 0 bis 63.

000000 000001 000010 000011

000100 000101 000110 000111

001000 001001 001010 001011

Teil der Fu-Hsi-Folge im I Ging und ihre binäre Entsprechung.

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Diese Anordnung wird auch als Fu-Hsi-Folge bezeichnet (ge-nauer gesagt, handelt es sich um die Umkehrung dieser Folge, aber beide sind mathematisch gleichwertig). Als man Leibniz auf die binäre Natur der Fu-Hsi-Folge aufmerksam machte, drückte er seine »hohe Meinung für die Tiefgründigkeit« des I Ging aus. Da er das Dualsystem als Spiegelbild der Schöpfung ansah, konnte er eine Beziehung zwischen der taoistischen Weisheit des alten Ora-kels – und damit der asiatischen Mystik – und dem europäischen Denken herstellen. »Die Substanz der uralten chinesischen Theo-logie ist intakt«, schrieb er. »Gereinigt von zusätzlichen Irrtümern, kann man sie für die großen Wahrheiten des christlichen Glaubens nutzbar machen.«

Die Begeisterung, die Leibniz, der bedeutendste Universalge-lehrte seiner Zeit, für das Dualsystem aufbrachte, machte damals einen eher exzentrischen Eindruck. Indem er diesem System je-doch eine grundlegende Bedeutung zumaß, demonstrierte er mehr Voraussicht, als auch er selbst je hätte ahnen können. Schließlich bildet das Dualsystem die Grundlage des digitalen Zeitalters, da die Computertechnik sich auf ihrer einfachsten Ebene auf eine aus den Ziffern 0 und 1 bestehende Sprache stützt. »Was einst als Denkmal für den Monotheismus gepriesen wurde«, kommentiert der Mathematiker Tobias Dantzig, »ist damit leider in den Einge-weiden eines Roboters gelandet.«

»Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei und zwei vier ergibt«, meint Winston Smith, die Hauptfigur von George Orwells Roman 1984. Damit sagte Orwell nicht nur etwas über die mangelnde Re-defreiheit in der Sowjetunion, sondern auch über die Mathema-tik. Zwei plus zwei ergibt immer vier, komme, was wolle. Anders gesagt, können mathematische Wahrheiten nicht von kulturellen oder ideologischen Faktoren beeinflusst werden.

Wie wir mit der Mathematik umgehen, hängt hingegen sehr stark von unserer Kultur ab. So hat man die Grundzahl zehn of-fenbar nicht aus mathematischen, sondern aus physiologischen Gründen ausgewählt, denn sie entspricht der Zahl unserer Finger

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und Zehen. Und auch die Sprache beeinflusst unser mathemati-sches Verständnis auf überraschende Art und Weise. Zum Beispiel stellen die Wörter, mit denen man in Europa die Zahlen ausdrückt, im Grunde eine gedankliche Behinderung dar.

In den meisten europäischen Sprachen folgen die Zahlwörter keinem regelmäßigen Schema. So sagt man auf Englisch zwar twenty-one, twenty-two, twenty-three, aber nicht tenty-one, ten-ty-two, tenty-three, sondern eleven, twelve, thirteen. Eleven und twelve fallen völlig aus dem Schema heraus, und thirteen ist zwar eine Kombination aus three und ten, aber das Wort für 3 steht vor dem für 10, während es sich bei twenty-three andersherum verhält. Zwischen den Wörtern für ten und twenty herrscht im Englischen also eine heillose Unordnung.

Im Chinesischen, Japanischen und Koreanischen hingegen fol-gen die Zahlwörter einem regelmäßigen Schema. Elf wird als zehn-eins ausgesprochen, zwölf ist zehn-zwei, und so geht es weiter bis zehn-neun für neunzehn. Zwanzig ist zwei-zehn und einundzwan-zig zwei-zehn-eins. Man spricht die Zahlen also in allen Fällen so aus, wie man sie in Form von Ziffern niederschreibt. Wieso das von Bedeutung ist? Nun, im Kindesalter führt das zu dramatischen Unterschieden. Mehrere Experimente haben erwiesen, dass ost-asiatische Kinder leichter zählen lernen als ihre europäischen oder amerikanischen Altersgenossen. Bei einer Studie mit chinesischen und US-amerikanischen Kindern erbrachten beide Gruppen ähn-liche Leistungen, solange sie bis zwölf zählen lernten, bei höheren Zahlen aber waren die chinesischen Kinder den amerikanischen ein Jahr voraus. Das regelmäßige Schema der asiatischen Zähl-weise erleichtert es auch, arithmetische Operationen zu begrei-fen. Drückt man eine einfache Addition wie fünfundzwanzig plus zweiunddreißig als zwei-zehn-fünf plus drei-zehn-zwei aus, so ist man bereits einen Schritt näher an der Antwort: fünf-zehn-sieben.

Die deutsche Sprache verhält sich bekanntlich noch unregel-mäßiger als die englische. Statt zwanzig-eins und zwanzig-zwei heißt es einundzwanzig und zweiundzwanzig, was sich bei allen Zehner zahlen bis neunundneunzig fortsetzt. Ab hundert wird es

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dann erst recht chaotisch. So wird die Zahl 345 in der verqueren Reihenfolge 3–5–4 ausgesprochen. Um diesen verwirrenden Zu-stand zu beenden,  hat der emeritierte Bochumer Mathematik-professor Lothar Ger ritzen den Verein »Zwanzigeins« ins Leben gerufen, der für eine – wie es sein Gründer nennt – »unverdrehte Zahlensprechweise« eintritt.

Die Aussprache der Zahlwörter und die Unregelmäßigkei-ten zwischen elf und neunzehn sind allerdings nicht die einzigen Gründe, weshalb viele europäische Sprachen Nachteile gegenüber den ostasiatischen Sprachen haben. Erschwerend hinzu kommt, dass wir in Europa relativ lange brauchen, um Zahlen auszuspre-chen. In seinem Buch Der Zahlensinn präsentiert Stanislas Dehae-ne den folgenden Test: Der Leser soll versuchen, sich innerhalb von 20 Sekunden die Zahlen 4, 8, 5, 3, 9, 7, 6 einzuprägen. Englische Muttersprachler haben eine 50-prozentige Chance, sich korrekt an die sieben Zahlen zu erinnern. Wer Chinesisch spricht, kann sich bei solchen Tests jedoch neun Zahlen einprägen. Dehaene meint, das liege daran, dass die Menge der Zahlen, die wir auf einmal im Gedächtnis behalten können, davon abhängt, wie viele Zahlen wir innerhalb von zwei Sekunden aussprechen können. Die chinesi-schen Wörter für eins bis neun bestehen alle aus einzelnen Silben: yi, er, san, si, wu, liu, qi, ba, jiu. Jedes dieser Wörter kann man in weniger als einer Viertelsekunde aussprechen, weshalb man in-nerhalb von zwei Sekunden alle neun Zahlen schafft. Für die eng-lischen Zahlwörter braucht man hingegen durchschnittlich eine Drittelsekunde, da seven aus zwei unhandlichen Silben besteht und three eine sehr lange Silbe ist. Auf Englisch schafft man deshalb in zwei Sekunden höchstens sieben Zahlwörter. Den Rekord hält das Kantonesische, dessen Zahlwörter noch kürzer sind als im Hoch-chinesischen. Seine Sprecher können sich innerhalb von zwei Se-kunden ganze zehn Zahlen merken.

Während die europäischen Sprachen das mathematische Ver-ständnis also zu erschweren scheinen, macht man sich die Sprache in Japan geschickt zunutze. Dabei verändert man die Zahlwörter so, dass die Multiplikationstafel, Kuku genannt, leichter zu erler-

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nen ist. Diese Tafel stammt ursprünglich aus China und verbreitete sich ab dem 8. Jahrhundert auch in Japan. Ku ist das japanische Wort für neun, und die Bezeichnung Kuku stammt daher, dass die Multiplikationstafel früher am Ende begann, nämlich mit 9 × 9 = 81. Vor etwa 400 Jahren wurde das geändert, so dass die Kuku nun mit »eins eins ist eins« beginnt, und zwar folgendermaßen:

Eins eins ist einsEins zwei ist zweiEins drei ist drei …

So geht das weiter bis »Eins neun ist neun«, dann beginnt das Zweier-Einmaleins mit:

Zwei eins ist zweiZwei zwei ist vier

Und so geht es weiter bis »Neun neun ist achtzig-eins«.Bis auf das fehlende Wörtchen »mal« scheint sich das nicht

sehr von unserem Einmaleins zu unterscheiden. Die Kuku hat je-doch einen entscheidenden Vorteil, da man im Japanischen recht kreativ mit der Aussprache von Wörtern umgeht. Zum Beispiel lautet das Wort für eins normalerweise ichi, aber da ichi ichi sehr unhandlich klingt, verkürzt man das erste Wort einfach zu in und sagt für »ein mal eins« in ichi. Das Wort für acht lautet eigentlich hachi, wird jedoch zu ha verkürzt und nach den japanischen Aus-spracheregeln in der Verdoppelung zu happa. 8 × 8 geht so be-sonders flott von der Zunge. Dadurch klingt die Kuku fast wie ein Gedicht oder ein Kinderreim. Als ich in Tokyo eine Grundschule aufsuchte, um zuzuschauen, wie eine Klasse von Sieben- und Achtjährigen ihre Kuku übte, stellte ich überrascht fest, dass sich das anhörte wie ein Rap. Die einzelnen Elemente wurden rhyth-misch und mit großem Spaß von den Schülern »gesungen«. Das hatte mit meiner Erinnerung daran, wie zu meiner Schulzeit das Einmaleins gepaukt worden war, nichts zu tun. Damals war mir

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das eher vorgekommen wie eine Dampflok, die sich einen Hang hinaufmüht. Makiko Kondo, die Lehrerin, sagte mir, sie bringe ihren Schülern bei, die Kuku in einem flotten Rhythmus zu rezi-tieren, weil das Lernen so mehr Spaß mache. »Zuerst sollen sie ler-nen, alles aufzusagen«, meinte Kondo. »Die eigentliche Bedeutung begreifen sie erst eine Weile später.« Tatsächlich hilft die Poesie der Kuku offenbar dabei, die Tafel im Gedächtnis zu verankern. Erwachsene Japaner berichteten mir, dass sieben mal sieben 49 sei, wüssten sie nicht deshalb, weil sie es logisch nachvollzögen, sondern weil die Melodie von »sieben sieben vierzig-neun« ein-fach richtig klinge.

Für Schüler, die rechnen lernen sollen, sind die Unregelmäßig-keiten der europäischen Zahlwörter zwar eher hinderlich, für Ma-thematikhistoriker hingegen ausgesprochen interessant. Zum Bei-spiel lautet das französische Wort für 80 quatre-vingts, also »vier zwanzig«, was darauf hinweist, dass die Vorfahren der heutigen Franzosen einmal ein System mit der Grundzahl zwanzig ver-wendet haben. Dass die Wörter für »neun« und »neu« nicht nur im Deutschen, sondern auch in vielen anderen indoeuropäischen Sprachen ähnlich oder gar gleich sind – darunter im Französischen (neuf, neuf), im Spanischen (nueve, nuevo), und im Norwegischen (ni, ny), könnte das Vermächtnis eines längst vergessenen Systems mit der Grundzahl Acht sein, in dem die neunte Einheit die erste einer neuen Achtergruppe war. Ein solches Achtersystem könnte sich ähnlich wie unser heutiges Zehnersystem entwickelt haben: die Daumen ausgenommen, haben wir schließlich acht Finger. Vielleicht hat man aber auch die Zwischenräume der Finger ge-zählt. Manche Zahlwörter erinnern uns sogar daran, wie nah wir den zahlenlosen Naturvölkern am Amazonas und in Australien sind. Im Englischen bedeutet thrice sowohl dreimal als auch viele Male, im Französischen heißt trois »drei« und très heißt »sehr«. Womöglich sind das Nachklänge einer Vergangenheit, in der wir »eins, zwei, viele« gezählt haben.

Bestimmte Aspekte der Zahlen – die jeweilige Basis, die Gestalt der Ziffern und die Form der dafür verwendeten Wörter – haben

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sich je nach Kultur sehr unterschiedlich entwickelt, aber die frü-hen Kulturen ähnelten sich erstaunlich stark, wenn man ihre Me-chanismen des Zählens und Rechnens betrachtet. Die von ihnen im Allgemeinen verwendete Zählmethode wird als Stellenwert-system bezeichnet, weil die Position der Zahlen dazu verwendet wird, unterschiedliche Ordnungen darzustellen. Betrachten wir das einmal im Kontext des Verfahrens, mit dem die Schäfer von Lincolnshire im Mittelalter ihre Herden zählten. Zur Verfügung standen ihnen dabei bekanntlich 20 Zahlen von yan bis figgit. So-bald der Schäfer 20 Schafe gezählt hatte, legte er einen Kieselstein beiseite, um wieder von Neuem bei yan anzufangen. Besaß er 400 Schafe, so hatte er am Ende 20 Kiesel gesammelt, da 20 × 20 = 400. Nehmen wir nun an, ein Schäfer besaß tausend Schafe. Hatte er alle gezählt, so hatte er 50 Kiesel angehäuft, da 50 × 20 = 1000. Mit diesen 50 Kieseln hatte er nun jedoch ein Problem – sie waren mit der normalen Methode nicht zählbar, da er nicht höher als bis 20 zählen konnte!

Eine Möglichkeit, das zu lösen, bestand darin, auf dem Boden parallel laufende Furchen zu ziehen wie in der folgenden Abbil-dung. Sobald der Schäfer 20 Schafe gezählt hatte, legte er einen Kiesel in die erste Furche. Dort kamen auch die Kiesel für die nächsten und übernächsten 20 Schafe hin, wodurch sich die Fur-che allmählich mit Steinen füllte. Wäre es so weit gewesen, den zwanzigsten Kiesel in die Furche zu befördern, legte der Schäfer stattdessen einen einzelnen Kiesel in die zweite Furche und nahm sämtliche Kiesel aus der ersten Furche heraus. Anders gesagt, ent-sprach ein Kiesel in der zweiten Furche 20 Kieseln in der ersten, so

Furche 1 (1 Kiesel = 20 Schafe)

Gesamtzahl der Schafe = (10 × 20) + (2 × 400) = 1000

Furche 2 (1 Kiesel = 400 Schafe)

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wie ein Kiesel in der ersten Furche für 20 Schafe stand. Ein Kiesel in der zweiten Furche entsprach also 400 Schafen. Zählte ein Schäfer mit dieser Methode tausend Schafe, so hatte er zwei Kiesel in der zweiten und zehn Kiesel in der ersten liegen. Mithilfe eines solchen Stellenwertsystems, bei dem die Kiesel je nach der Furche, in der sie sich befanden, einen unterschiedlichen Wert hatten, brauchte der Schäfer nur 12 statt 50 Kiesel, um seine 1000 Schafe zu zählen.

Stellenwertsysteme hat man auf der ganzen Welt verwendet. Anstelle von Kieseln in Furchen nahmen die Inkas Bohnen oder Maiskörner in Holzschalen, und die nordamerikanischen Indianer flochten Perlen oder Muscheln in verschiedenfarbige Schnüre. Die alten Griechen und Römer benutzten Zählelemente aus Knochen, Elfenbein und Metall auf Tafeln, auf denen verschiedene Reihen markiert waren. In Indien zeichnete man Markierungen in den Sand.

Die Römer verwendeten zudem eine frühe Form des Abakus, das heißt ein mechanisches Zählsystem mit Kugeln, die in Rillen geführt wurden. Solche tragbaren Rechenschieber verbreiteten sich in der gesamten zivilisierten Welt, allerdings in unterschiedli-chen Versionen. So besitzt der russische Stschjoty je zehn Kugeln pro Stab – mit Ausnahme eines Stabes mit vier Kugeln, um Viertel-Rubel zu zählen. Der chinesische Suan Pan hat sieben Kugeln, der japanische Soroban hingegen arbeitet – genau wie der römische Abakus – mit lediglich fünf Kugeln pro Stab.

Auf dem Soroban gibt es genau zehn Positionen für die fünf Ku-geln auf einem Stab. Wie auf der folgenden Abbildung deutlich wird, entsprechen sie den Zahlen 0 bis 9.

Um eine mehrstellige Zahl auf dem Soroban darzustellen, wird jede ihrer Stellen auf einem separaten Stab angezeigt. Dabei be-dient man sich der zehn möglichen Kugelpositionen.

Erfunden wurde der Soroban zum Zählen, seine eigentliche Bedeutung gewann er jedoch als Recheninstrument. Das Kopf-rechnen wird wesentlich einfacher, wenn man dabei eine visuelle Unterstützung hat. Ein Beispiel: Um 3 plus 1 zu berechnen, beginnt

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man mit 3 Kugeln, nimmt dann eine hinzu und hat das Ergebnis direkt vor den Augen: 4 Kugeln. Berechnet man 31 plus 45, beginnt man mit zwei Stäben, auf denen man 3 und 1 markiert. Anschlie-ßend bewegt man die Kugeln auf dem linken Stab um 4 und die auf dem rechten Stab um 5 Positionen weiter. Nun zeigen die beiden Stäbe 7 und 6 an, was das Ergebnis ist, nämlich 76. Mit ein wenig Übung schafft man es leicht, Zahlen jeder Größe zu addieren, so-lange es genügend Stäbe gibt, um diese Zahlen darzustellen. Er-geben die beiden Zahlen auf einem Stab mehr als zehn, so muss man die Kugeln auf dem Stab links davon um eine Position wei-terbewegen. Bei 9 plus 2 ergibt sich auf dem Stab links ebenso eine 1 wie auf dem ursprünglichen Stab, wodurch das Ergebnis 11 dar-gestellt wird. Subtraktion, Multiplikation und Division sind etwas komplizierter, aber sobald man das Prinzip verstanden hat, kann man auch sie extrem schnell durchführen.

0 4321

5 9876

43 1 1 5 9

Zahlen auf dem Soroban.

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Das japanische Gegenstück zu »Lesen, Schreiben, Rechnen« lautet yomi, kaki, soroban oder Lesen, Schreiben, Abakus. Dieser Spruch stammt aus der Edo-Zeit (1603–1868), einer Epoche der japanischen Geschichte, in der das Land fast vollständig von der übrigen Welt isoliert war. Sie war geprägt vom Aufstieg der Kauf-leute, die andere Fähigkeiten benötigten als den Umgang mit dem Samurai-Schwert. Vermittelt wurden diese von Gemeindeschulen, in denen Schreiben und Rechnen gelehrt wurde, und in denen das Üben mit dem Soroban einen besonderen Stellenwert hatte . Noch heute lernen in Japan etwa eine Million Kinder den Umgang mit dem Rechenschieber, wozu sie nach der Schule einen von 20 000 Soroban-Clubs besuchen.

Ihren Höhepunkt erreichte die Verwendung des Soroban al-lerdings in den 1970er Jahren, als jährlich 3,2 Millionen Schüler ihr Können bei einem landesweiten Examen unter Beweis stellten. Während des Übergangs zur elektronischen Ära wurde in Japan sogar ein Produkt vertrieben, das aus einer Kombination aus Ta-schenrechner und Soroban bestand. Addieren kann man mit dem Soroban normalerweise schneller als mit dem Taschenrechner, da man das Ergebnis sieht, sobald man die Zahlen eingegeben hat. Bei der Multiplikation aber hat der Taschenrechner einen leichten Geschwindigkeitsvorteil. Mit dem Kombinationsprodukt konnten die der neuen Technologie skeptisch gegenüberstehenden Zeitge-nossen das Ergebnis des Taschenrechners auf die gewohnte Weise überprüfen.

Kombination aus Taschenrechner und Soroban von der Elektronikfirma Sharp.

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Der Umgang mit dem Soroban ist weiterhin eine wichtige außer schulische Aktivität, vergleichbar mit Dingen wie Schwim-men, Violinunterricht und Judo. Organisiert ist das Soroban-Trai-ning wie eine Kampfsportart. Wie dort werden für gute Leistungen Dan-Grade verliehen, und es gibt Wettbewerbe auf lokaler, regio-naler und nationaler Ebene. Einen regionalen Wettbewerb habe ich an einem Sonntag beobachtet. Knapp 300 Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren saßen in einer Tagungshalle an Tischen, vor sich ihren Soroban und allerhand Accessoires, darunter schicke Stoffbeutel. Vor ihnen hatte sich ein Ansager postiert, der im Ton-fall eines ungeduldigen Muezzins Zahlen vorlas, die addiert, sub-trahiert oder multipliziert werden mussten. Es handelte sich um einen Ausscheidungskampf, der mehrere Stunden dauerte. Als die Sieger ihre Preise erhielten, Statuen einer geflügelten Gestalt, die einen Soroban in die Höhe hielt, erklang militärische Blasmusik aus den Lautsprechern.

Nachdem man einige Jahre geübt und die Positionen der Holz-kugeln verinnerlicht hat, kann man Rechnungen durchführen, indem man sich das Hantieren mit dem Soroban einfach im Geiste vorstellt. Diese Methode wird als Anzan bezeichnet, und es war faszinierend, die Schüler eines Abakus-Clubs in Tokio bei dieser Praxis zu beobachten – obwohl es eigentlich nichts zu sehen gab. Der Lehrer Yuji Miyamoto las die Aufgaben in einem völlig stillen Klassenzimmer vor, und schon nach wenigen Sekunden hoben einige Schüler die Hand, weil sie das Ergebnis wussten. Einer der Schüler, Naoki Furuyama, erklärte mir, er würde sich einen Soro-ban mit acht Stäben vorstellen, was bedeutet, dass sein imaginärer Soroban jede beliebige Zahl von 0 bis 99 999 999 darstellen kann.

Der Soroban-Club von Yuji Miyamoto zählt zu den besten Ja-pans, was die Dan-Ränge seiner Mitglieder und deren Leistungen bei Landeswettbewerben angeht. Seine Spezialität ist jedoch die Anzan-Methode. Vor einigen Jahren hat Miyamoto sich einen Typus von Aufgaben ausgedacht, der nur mit dieser Methode ge-löst werden kann. Normalerweise kann eine Aufgabe, die vorgele-

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sen wird, auf unterschiedliche Weise berechnet werden: mit dem Taschenrechner, mit Bleistift und Papier, mit dem Soroban oder mittels Anzan. Miyamoto wollte demonstrieren, dass Anzan in einigen Fällen den einzigen Lösungsweg darstellt.

Zu diesem Zweck entwickelte er das Computerspiel Flash An-zan, das er mir bei meinem Besuch vorführte. Er wies die Klas-se an, sich bereit zu machen, drückte auf »Play«, und die Schü-ler starrten auf den Fernsehbildschirm, der vor ihnen stand. Der Computer piepte dreimal, um den Start anzuzeigen, und dann erschienen nacheinander die folgenden 15 Zahlen auf dem Bild-schirm. Jede Zahl war lediglich 0,2 Sekunden lang sichtbar, so dass das Ganze schon nach drei Sekunden vorüber war:

164597320872913450568370619482749123310809561

Die Zahlen wechselten sich so rasch ab, dass ich kaum Zeit hatte, sie wahrzunehmen. Doch sobald die letzte Zahl aufgeleuchtet war, grinste Naoki Furuyama und erklärte, die Summe betrage 7907.

Es ist unmöglich, eine solche Aufgabe mit dem Taschenrechner oder dem Soroban zu lösen, da man keine Zeit hat, sich die auf dem Bildschirm erscheinenden Zahlen zu merken, geschweige denn sie

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einzutippen oder mit irgendwelchen Holzkugeln zu hantieren. Bei Anzan ist es allerdings auch gar nicht nötig, sich die Zahlen ein-zuprägen: man muss nur die imaginären Kugeln im Gehirn ver-schieben, sobald man eine neue Zahl sieht. Man beginnt mit 0, und wenn man 164 sieht, stellt man sich augenblicklich einen Soroban mit der entsprechenden Kombination vor. Sieht man anschließend 597, stellt der imaginäre Soroban die Summe, also 761, her. Nach 15 Additionen kann man sich weder an die einzelnen Zahlen noch die Zwischensummen erinnern, doch die imaginäre Rechenmaschine im Kopf zeigt dennoch die Lösung an: 7907.

Der Wow-Effekt von Flash Anzan hat das Spiel in Japan un-geheuer populär gemacht. Nintendo hat sogar eine spezielle Ver-sion für seine Handheld-Konsole DS entwickelt. Miyamoto zeigte mir einige Ausschnitte aus einer Flash-Anzan-Show im Fernsehen, bei der jugendliche Anzan-Stars sich vor einem Publikum aus kreischenden Fans einen harten Kampf lieferten. Sein Computer-spiel habe den japanischen Soroban-Clubs viele neue Mitglieder beschert, sagte Miyamoto: »Früher hatten die Leute keine Ahnung, was man mit dem Soroban alles anfangen kann. Seit darüber so viel in den Medien berichtet wird, hat sich das geändert.«

Magnetresonanzaufnahmen zeigen, dass beim Gebrauch des Sorobans (und bei der Anzan-Praxis) andere Teile des Gehirns aktiviert werden als bei normalen Rechenoperationen und beim Sprechen. Die herkömmliche Rechenmethode mit Bleistift und Papier wird von neuronalen Netzwerken geleistet, die mit sprach-lichen Prozessen verknüpft sind. Beim Soroban dagegen kommen Netzwerke zum Zug, die auch beim räumlichen Vorstellungsver-mögen gefragt sind. Vereinfacht bedeutet das laut Yuji Miyamoto: »Der Soroban verwendet die rechte Gehirnhälfte, das normale Rechnen die linke.« Bisher wurden noch nicht genügend wissen-schaftliche Untersuchungen durchgeführt, um festzustellen, wel-che Vorteile diese Trennung hat und was sie für die allgemeine Intelligenz, die Konzentrationsfähigkeit und Ähnliches bedeutet. In jedem Fall aber erklärt sie die erstaunlichen Multitasking-Fä-higkeiten von Soroban-Experten.

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Miyamoto hat seine Frau, eine ehemalige Soroban-Landes-meisterin, schon in seiner Jugend kennengelernt, als beide densel-ben Soroban-Club besuchten. Rikako, die Tochter der beiden, ist ein wahres Soroban-Wunderkind – zu ihrem Glück, sonst hätte sie es bei solchen Eltern wohl schwer. Im Alter von acht Jahren hat sie bereits den höchsten Dan-Grad errungen und damit ein Niveau, das nur einer von 100 000 Übenden im Leben erreicht. Auch sie nahm an dem Unterricht teil, den ich besuchte. Sie war inzwischen neun Jahre alt, trug ein hellblaues T-Shirt und hatte einen Pony, der bis zu ihrer Brille reichte. Sie machte einen hellwachen Eindruck, und an ihren gespitzten Lippen konnte ich ablesen, wie konzen-triert sie war.

Shiritori heißt ein japanisches Sprachspiel, bei dem der erste Spieler »Shiritori« sagt. Anschließend muss jeder ein Wort sagen, das mit der letzten Silbe des vorhergehenden Worts anfängt. Ein mögliches zweites Wort wäre also ringo (Apfel). Yuji Miyamoto forderte Rikako und das neben ihr sitzende Mädchen auf, mit-einander Shiritori zu spielen, während gleichzeitig auf dem Bild-schirm Flash Anzan lief, und zwar eine Aufgabe, bei der innerhalb von 20 Sekunden insgesamt 30 dreistellige Zahlen gezeigt wurden. Sobald der Computer gepiept hatte, begannen die beiden Mädchen mit ihrem Dialog:

Ringo (Apfel)Gorira (Gorilla)Rappa (Trompete)Panda (Panda)Dachou (Vogel Strauß)Ushi (Kuh)Shika (Hirsch)Karasu (Krähe)Suzume (Sperling)Medaka (Reisfisch)Kame (Schildkröte)Medama-yaki (Spiegelei)

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Als die 20 Sekunden abgelaufen waren, sagte Rikako: »17 602.« Sie hatte es geschafft, gleichzeitig korrekt die 30 Zahlen zu addieren und Shiritori zu spielen.

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Erinnern wir uns nicht alle mit Schrecken an die ratlosen Momen-te vor der Tafel im Matheunterricht? Mit so etwas wie Kurvendis-kussionen und Dreisatz dürften jedenfalls nur wenige Spaß und Spannung verbinden. Bis jetzt! Denn nun wagt sich Alex Bellos ge-wissermaßen in den Kaninchenbau der Mathematik: in das Reich von Geometrie und Algebra, von Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und logischen Paradoxa.Auf der anderen Seite des Erdballs, am Amazonas, zählen die Mit-glieder des Indianerstammes der Munduruku nur bis fünf und hal-ten die Vorstellung, dass dies nicht genügen solle, für lächerlich. Bei uns in Deutschland dagegen finden jährlich die Meisterschaften der besten Kopfrechner der Welt statt – 2010 wurde in Magdeburg eine elfjährige Inderin zur Nummer Eins unter den »Mathleten« gekürt. Die Mathe-Weltmeisterin unter den Tieren ist hingegen die Schimpansin Ai, die Alex Bellos im japanischen Inuyama aufspürt und über deren Rechenkünste er nur staunen kann.Auch wenn Bellos von den bahnbrechenden Überlegungen Eu-klids erzählt und erklärt, warum man in Japan seine Visitenkarten manchmal zu Dodekaedern faltet: er blickt auf die Mathematik, wie wir sie noch nie gesehen haben und bringt uns eine komplexe Wissenschaft spielerisch nahe. Mit seiner Mischung aus spannen-der Reportage, Wissenschaftsgeschichte und mathematischen Ka-binettstückchen führt er souverän den Beweis, dass die Gleichung Mathematik = Langeweile eindeutig nicht wahr ist. Quod erat de-monstrandum.

ALEX BELLOS studierte Mathematik und Philosophie, ehe er als Journalist in London und Rio de Janeiro arbeitete. Sein Buch Futebol. Fußball – Die brasilianische Kunst des Lebens wurde auch in Deutschland hochgelobt. Als Ghostwriter schrieb er die Autobio-graphie Mein Leben von Pelé (2006). Alex im Wunderland der Zah-len war in Großbritannien ein Bestseller und für den renommier-ten Samuel Johnson Prize nominiert. Alex Bellos lebt in London.www.alexbellos.com