abstinenz und kontrollierter konsum – die breite palette ... · 1. abstinenz 2....
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© Körkel (2016)
Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)102. Wissenschaftliche Jahrestagung:
„Viel hilft viel – ist Abstinenz noch wichtig?
Berlin, 16. März 2016
Abstinenz und kontrollierter Konsum – die breite Palette der
Suchtbehandlung
Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)102. Wissenschaftliche Jahrestagung:
„Viel hilft viel – ist Abstinenz noch wichtig?
Berlin, 16. März 2016
Abstinenz und kontrollierter Konsum – die breite Palette der
Suchtbehandlung
Joachim Körkel Joachim Körkel
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1. Abstinenz
2. Kontrolliert-reduzierter Konsum
3. Schadensminderung (harm reduction)
4. Vorteile von Zieloffenheit
5. Zieloffene Suchtbehandlung
6. Fazit
ÜbersichtÜbersicht
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1. Abstinenz
ÜbersichtÜbersicht
© Körkel (2016)
� Abstinenz ist eine wertvolle Lebensoption.
� Abstinenz ist eine wertvolle Behandlungsoption:
- ↑ Gesundheitliche Genesung, Führerscheinwiederer-
langung, Lebenszufriedenheit ... (Maffli et al. 1995)
- ↓ Arbeitsunfähigkeits- und Krankenhaustage (Klein et al.
1998), innerfamiliäre Gewalt (O‘Farrell et al. 2003) …
� Ergo: Das Ziel der Abstinenz steht überhaupt nicht in Frage. Es sollte in derBehandlungspalette (und Selbsthilfe) stets enthalten sein.
a) Suchtmittelabstinenz als Ziela) Suchtmittelabstinenz als Ziel
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Vier grundlegende Annahmen:
1. Entweder man ist abhängig oder nicht = andere Wesenheiten (wie schwanger oder nicht)
2. Die wahren Ursachen sind biologischer Natur (nicht psychologischer oder sozialer Natur)
3. Das Kernmerkmal ist „der Kontrollverlust“ (Alkoholabhängige haben ihn, Nicht-Abhängige nicht)
4. Alkoholismus ist irreversibel (wg seiner biolog. Wurzeln)
„Alcoholics can never safely return to drinking“(Milam & Ketcham, 1983, p. 14)
Diese Überzeugung dominiert die Suchtbehandlung westlicher Länder wie ein Naturgesetz.
b) Abstinenzparadigma/-dogma(= klassisches Krankheitsmodell)
(Anonyme Alkoholiker, 1939; Jellinek, 1960)
b) Abstinenzparadigma/-dogma(= klassisches Krankheitsmodell)
(Anonyme Alkoholiker, 1939; Jellinek, 1960)
© Körkel (2016)
Alle vier Annahmen des Krankheitsmodells sind empirisch widerlegt oder unbestätigt (e.g. Heather & Robertson, 1981; Körkel, 2015;
Miller, 1993):
1. Alkoholkonsummengen, -probleme und -abhängigkeits-kriterien variieren kontinuierlich: Es gibt empirisch keinen Schnitt von der Nichtabhängigkeit zur Abhängigkeit.
2. Es gibt keine Belege für die ätiologische Dominanz oder gar Ausschließlichkeit biologischer Faktoren.
3. Übermäßiger Alkoholkonsum lässt sich besser als Kontrollminderung („impaired control“) denn als „Kontrollverlust“ („loss of control“) erklären.
4. Ein Teil der Alkoholabhängigen kann zu einem gemäßigten, nicht symptombelasteten Alkoholkonsum zurückfinden.
Die empirischen FaktenDie empirischen Fakten
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„Ich weiß: Es ist schwer, sich von Meinungen zu verabschieden,
bloß weil die Fakten nicht dazu stimmen“
(Claus von Wagner, in „Die Anstalt“, 11.3.2014)
„Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen:
Umso schlimmer für die Tatsachen“
(Hegel)
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c) Abstinenzfundamentalismusc) Abstinenzfundamentalismus
• Der Glaube, man verfüge über die einzig richtige, für immer wahre, über jeden Zweifel und Irrtum erhabene Erkenntnis, was Alkoholismus/ Drogenabhängigkeit … „wirklich“ sei: „Genau so, wie wir es sagen, ist das Wesen der Sucht beschaffen und wird es immer sein“ (Letztbegründungs-Geltungsanspruch) = Ideologie
• Die eigene Ideologie wird mit Machtmitteln durchzusetzen versucht:
– Finanzierung nur von Behandlungen mit Abstinenzziel.
– Abschottung Gegen Hinterfragungen.
– Intoleranz gegenüber Vertretern anderer Meinungen.
– Zweifler werden ausgegrenzt und kommen ggf. „auf den Index “.© Körkel (2016)
ZwischenfazitZwischenfazit
Der Abstinenzmonopolismus ist bis heute für die Mehrzahl suchtbelasteter Menschen (und ihr soziales Umfeld) von Schaden, denn er behindert alternative Behandlungen und verschlechtert somit die Lage der Menschen (und ihres sozialen Umfelds), die zu Abstinenz nicht bereit oder nicht in der Lage sind.
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1. Abstinenz
2. Kontrolliert-reduzierter Konsum
ÜbersichtÜbersicht
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Verhaltenstherapeu-
tische Programme zum (selbst-)
kontrollierten
Trinken
(Behavioral Self-
Control Trainings)
Art der BehandlungArt der Behandlung
Selbsthilfegruppen
- z.B. „Moderation
Management“
Pharmakologische
Behandlungen
- z.B. Naltrexon
- z.B. Nalmefen (Selincro®)
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Ziel der Behandlung:Trinkmengenreduktion
Ziel der Behandlung:Trinkmengenreduktion
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Behandlungen mit Ziel Konsumreduktion
(Beispiele)
Behandlungen mit Ziel Konsumreduktion
(Beispiele)
Kurz-interventionen
Selbsthilfemanuale(autodidaktisch)
Ambulante Einzelbehandlung
Ambulante Gruppen-
behandlung
Stationäre Behandlung
Alkohol Trinktagebuch + Erläuterungsblatt + Strategietipps
„10-Schritte-Programm zum Kontrollierten Trinken“
www.selbsthilfealkohol.de
www.drink-less-schweiz.ch
„EkT – Ambulantes Einzelprogramm zum kontrollierten Trinken“
kT-WALK – Programm für Wohnungslose
Pharmakotherapie (Naltrexon, Nalmefen)
„AkT – Ambulantes Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken“
kT-WALK – Programm für Wohnungslose
Selbsthilfegruppen(Moderation Manage-ment, Post-AkT-Gr. etc.)
KT-stationär –Erlernen des Kontrollierten Trinkens im stationären Rahmen
Tabak Rauchtagebuch+ Erläuterungsblatt + Strategietipps
„12+-Programm“ „Change YourSmoking“ (Rauchreduktion oder Rauchstopp)
Pharmakotherapie (NRT)
„Change YourSmoking“ (Rauchreduktion oder Rauchstopp)
„Smoke_less“
„Change YourSmoking“ (Rauchreduktion oder Rauchstopp)
Illegale Drogen
Konsumtagebuch+ Erläuterungsblatt + Strategietipps
„KISS-Einzel –Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“
„Contraddict“
„KISS-Gruppe –Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“
KISS-stationär –Erlernen des Kontrollierten Konsums im stationären Rahmen
Selbstkontrollierter Substanzkonsum liegt vor, wenn eine Person (sie selbst!) ihren Konsum an einem zuvorfestgelegten Plan bzw. an Regeln ausrichtet.
Das bedeutet de facto, jeweils für eine Woche voraus zu planen:
1. Anzahl konsumfreier Tage
2. maximale Konsummenge an Konsumtagen
3. maximaler Gesamtkonsum in der ganzen Woche
und ggf. den Kontext festzulegen: Wann, wo und mit wem soll konsumiert werden?
Definition „Selbstkontrollierter Substanzkonsum“
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Autodidaktisches „10-Schritte-Programm“(Körkel, 2001/2004/2008/2014)
Autodidaktisches „10-Schritte-Programm“(Körkel, 2001/2004/2008/2014)
Ambulantes Einzelprogramm zum kontroll. Trinken (EkT)
(Gehring & Projektgruppe kT, 2003)
Ambulantes Einzelprogramm zum kontroll. Trinken (EkT)
(Gehring & Projektgruppe kT, 2003)
Ambulantes Gruppenprogramm zum kontroll. Trinken (AkT)
(Körkel & Projektgruppe kT, 2001)
Ambulantes Gruppenprogramm zum kontroll. Trinken (AkT)
(Körkel & Projektgruppe kT, 2001)
© Körkel (2016)
Autodidaktisches „12+Programm“ zum
kontrollierten Rauchen –mit der Option des
Übergangs zur Abstinenz (Drinkmann & Quest Akademie, 2007)
Autodidaktisches „12+Programm“ zum
kontrollierten Rauchen –mit der Option des
Übergangs zur Abstinenz (Drinkmann & Quest Akademie, 2007)
„Change Your Smoking“ -Einzel-/ Gruppenprogramm
zur Reduktion oder Beendigung des Tabakkonsums
(Körkel & Nanz, 2015)
„Change Your Smoking“ -Einzel-/ Gruppenprogramm
zur Reduktion oder Beendigung des Tabakkonsums
(Körkel & Nanz, 2015)
© Körkel (2016)
„Change YourSmoking“
Trainermanual
Körkel & Nanz
(2015)
Manual für TrainerInnen
CD-ROM mit Arbeits- und Info-Blättern
Handbuch für TN
„KISS –Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“
(v.a. für KonsumentInnen illegaler Drogen) (Körkel & GK Quest Akademie, 20073)
Komponenten aller Programme –am Beispiel des Kontrollierten Trinkens
Komponenten aller Programme –am Beispiel des Kontrollierten Trinkens
- Wissen über Alkohol aneignen
- Registrieren des Konsums in einem Trinktagebuch
- Festlegung der Konsum-Zähleinheit (z.B. 0,5l Bier = 1 SE)
- Bilanzierung des Alkoholkonsums
- Wöchentliche Festlegung von drei Obergrenzen/Zielen (Höchstkonsum pro Tag und Woche; Anzahl alkoholfreier Tage)
- Strategien zur Konsumbegrenzung und Risikobewältigung
- Zielüberprüfung und ggf. Wechsel zur Abstinenz
- Freizeitgestaltung, Bewältigung von Belastungen, Umgang mit Ausrutschern und Rückfällen, Nein-Sagen lernen
© Körkel (2016)
© Körkel (2016)
Pocket-Trinktagebuch (Baseline)(Körkel 2004)
Pocket-Trinktagebuch (Baseline)(Körkel 2004)
6 Bier (0,5l, 5 %)6 Bier (0,5l, 5 %)6 Bier (0,5l, 5 %)6 Bier (0,5l, 5 %)17.0017.0017.0017.003333
Stammkneipe, KumpelsStammkneipe, KumpelsStammkneipe, KumpelsStammkneipe, Kumpels alle trinken; alle trinken; alle trinken; alle trinken; relaxenrelaxenrelaxenrelaxen ××××????
2 Whisky (2cl, 40 %)2 Whisky (2cl, 40 %)2 Whisky (2cl, 40 %)2 Whisky (2cl, 40 %) ????
© Körkel (2016)
© Körkel (2016)
Einwöchige Zielfestlegung(Quelle: Programm „AkT“; Körkel et al. 2001)
Einwöchige Zielfestlegung(Quelle: Programm „AkT“; Körkel et al. 2001)
1111
3333
15151515
××××
zuvor: 0
zuvor: 7
zuvor: 35
Pocket-TrinktagebuchPocket-Trinktagebuch
2 Bier (0,5l, 5 %)2 Bier (0,5l, 5 %)2 Bier (0,5l, 5 %)2 Bier (0,5l, 5 %)18.0018.0018.0018.00 2222 2222zu Hausezu Hausezu Hausezu Hause relaxenrelaxenrelaxenrelaxen
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111115151515
2 2 2 2
0 0 0 0
2222
3333
3333
3 3 3 3
kTkTkTkT----Gespräch/ Gespräch/ Gespräch/ Gespräch/ ArztterminArztterminArztterminArzttermin
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� (1). Self-change“-Studien („untreated remission“)Alkoholabhängigkeit wird häufiger durch moderates/ kontrolliertes Trinken als durch Abstinenz überwunden - auch langfristig (Dawson et al. 2005)
� (2). Katamnesestudien nach AbstinenztherapieBis zu 27% (Alkohol; Sieber 2000) bzw. 39% (Tabak; Hughes 2000) gehen zu reduziertem Konsum über - auch langfristig (Nordström, Berglund & Frank 2004; Bjornsen et al. 1999)
� (3). Katamnesestudien nach ReduktionsbehandlungWirksam bei Abhängigkeit von Alkohol, Tabak, illegalen Drogen, Glücksspiel (u.a. Hughes 2000; Hughes & Carpenter2005; Körkel 2015; Körkel et al. 2011; Ladouceur et al. 2009).
Mindestens so wirksam wie Abstinenzbehandlung (Alkohol; Körkel 2015; Walters 2000), höherer „consumer appeal“ (Batra2005), bei 10-30% Abstinenzübergang (Hughes & Carpenter 2005)
Konsumreduktion ist eineErfolg versprechende Zieloption
Konsumreduktion ist eineErfolg versprechende Zieloption
© Körkel (2015)
„Wir wissen, dass kein Alkoholiker jemals wieder kontrolliert trinken kann“(Anonyme Alkoholiker 1992 [Blaues Buch], S. 35)
„Es gibt Wahrheiten, die gelten weder für alle Menschen noch für alle Zeiten“(Voltaire)
© Körkel (2015)
Verbreitung von Programmen zum kontr. Trinken in
verschiedenen Ländern (% Einrichtungen mit kT-Angebot)
Verbreitung von Programmen zum kontr. Trinken in
verschiedenen Ländern (% Einrichtungen mit kT-Angebot)
1. Abstinenz
2. Kontrolliert-reduzierter Konsum
3. Schadensminderung (harm reduction)
ÜbersichtÜbersicht
© Körkel (2016)
Definition: Schadensminderung = gleiche Konsummenge, aber unschädliche(re) Substanz/Konsumform/-umstände (Heather 2006)
� Spritzentauschprogramme:Wiederverwendung gebrauchter Spritzen �, Infektions-übertragungen durch Blut � , Anzahl Injektionen �, Bereitschaft Konsum zu reduzieren �, Übertrittsrate in Methadon- oder Abstinenzbehandlung �, „herumliegende“ Spritzen im öffentlichen Raum �; kein Anstieg des iv-Konsums
� Injektions-/Konsum-/Gesundheitsräume: Risikobewußtsein und Risikoverhalten �, Spritzeninfektionen �, Todesfälle durch Überdosierungen in den Standortstädten � , freiwillige Serotests � , Übertritte in Abstinenztherapie � , Konsum in der Öffentlichkeit �, Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Hilfen � © Körkel (2016)
Schadensminderung ist eineErfolg versprechende Zieloption
(vgl. u.a. Uchtenhagen 2005)
Schadensminderung ist eineErfolg versprechende Zieloption
(vgl. u.a. Uchtenhagen 2005)
1. Abstinenz
2. Kontrolliert-reduzierter Konsum
3. Schadensminderung (harm reduction)
4. Vorteile von Zieloffenheit
ÜbersichtÜbersicht
© Körkel (2016)
Fünfzehn Vorteile von Zieloffenheit (aus Körkel 2015, Sucht, 61, 147-174)
Fünfzehn Vorteile von Zieloffenheit (aus Körkel 2015, Sucht, 61, 147-174)
© Körkel (2016)
Vorteile von Zieloffenheit (I):Höhere und frühere Erreichungsquote
Vorteile von Zieloffenheit (I):Höhere und frühere Erreichungsquote
© Körkel (2016)
© Körkel (2016)
Vorteile von Zieloffenheit (II):Die normative Kraft des Faktischen
Vorteile von Zieloffenheit (II):Die normative Kraft des Faktischen
Menschen wirken in einer Behandlung nur mit, wenn sie ihr zustimmen. Zielverfolgung ohne Zustimmung des Patienten funktioniert schlichtweg nicht!
• 47% der in deutschen Suchtberatungsstellen vorstellig werdenden hochgradig Cannabis-Abhängigen wollen „weniger konsumieren“ – nicht aufhören (Simon & Sonntag 2004)
• Vgl. die desaströsen Ergebnisse zu Medikamenten-Compliance (z.B. Julius et al. 2009, J Psychiatric Practice, 15, 34-44)
Vorteile von Zieloffenheit (III):Einhaltung ethischer Standards +
normative Kraft des Faktischen
Vorteile von Zieloffenheit (III):Einhaltung ethischer Standards +
normative Kraft des Faktischen
a) Selbstbestimmungsrecht (Autonomie)
a) Selbstbestimmungsrecht (Autonomie)
b) Sollen setzt können voraus
b) Sollen setzt können voraus
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dancing wrestling
Vorteile von Zieloffenheit (IV):„Geschmeidigere“ BehandlungVorteile von Zieloffenheit (IV):„Geschmeidigere“ Behandlung
Vorteile
der
Abstinenz
Nachteile
der
Abstinenz
Vorteile von Zieloffenheit (V):Abstinenz „im Spiel halten“
Vorteile von Zieloffenheit (V):Abstinenz „im Spiel halten“
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Ergebnis:
Abstinenz
Start:
Reduktion/
Harm
Reduction
Vorteile von Zieloffenheit (VI):Reduktion/ HR als Brücke zur Abstinenz
Vorteile von Zieloffenheit (VI):Reduktion/ HR als Brücke zur Abstinenz
© Körkel (2016)
© Körkel (2016)
Vorteile von Zieloffenheit (VII):Vermeidung von Fehlplatzierungen
Vorteile von Zieloffenheit (VII):Vermeidung von Fehlplatzierungen
Anteil der PatientInnen in stationärer Alkohol-Entwöhnungsbehandlung, die nicht das Ziel der Abstinenz anstreben
© Körkel (2016)
Vorteile von Zieloffenheit (VIII):Optimierung von
Behandlungsergebnissen
Vorteile von Zieloffenheit (VIII):Optimierung von
Behandlungsergebnissen
Abstinenzbehandlung ist keineswegs „das Erfolgsmodell“ schlechthin:
• (Nur) 35% der Patienten bleiben nach 4-monatiger stationärer Alkoholtherapie (Entwöhnungsbehandlung) durchgängig 1 Jahr abstinent (Missel et al., 2012).
• Schweizer Bundesamt für Gesundheit:1 % Langzeitabstinenz von allen „harten illegalen Drogen“ bei Personen der offenen Drogenszene (Kormann 2012).
• PREMOS-Studie: Ca. 50% der Substituierten haben auch noch nach einem Jahr Substitution „Beikonsum“ – Alkohol und Cannabis nicht mitgerechnet! (Wittchen et al. 2008, 2011)
IndikationIndikation
• Abstinenz bleibt Ziel für alle, die bei einer SubstanzAbstinenz anstreben oder bereits erreicht haben.
• Reduktion ist sinnvolles Ziel für diejenigen, die bei einerSubstanz keine Abstinenz anstreben oder diese (derzeit) nicht erreichen können.
• Zentral für die Indikationsstellung ist die Zielwahl der betroffenen Person (nicht aber Schwere der Abhängigkeit, Geschlecht etc.; vgl. Körkel 2015)
– aus ethischen Gründen (Selbstbestimmungsrecht)
– aus Gründen der Wirksamkeit bzgl.- Behandlungsaufnahme- Verbleib in der Behandlung- Erfolg der Behandlung
© Körkel (2016)
1. Abstinenz
2. Kontrolliert-reduzierter Konsum
3. Schadensminderung (harm reduction)
4. Vorteile von Zieloffenheit
5. Zieloffene Suchtbehandlung
ÜbersichtÜbersicht
© Körkel (2016)
„Zieloffene Suchtarbeit“ bedeutet, mit Menschen (Patienten, Klienten, Betreuten, Bewohnern etc.) an einer Veränderung ihres problematischen Suchtmittelkonsums zu arbeiten, und zwar auf das Ziel hin, das sie sich selbst setzen.
Definition„Zieloffene Suchtarbeit“ (ZOS)
Definition„Zieloffene Suchtarbeit“ (ZOS)
© Körkel (2016)
ZOS bezeichnet eine Art und Weise, als BehandlerIn und Behandlungseinrichtung Suchtarbeit „zu betreiben“.
ZOS
• setzt konsequent an den Zielvorsätzen des Pat. an
• vereinigt Abstinenz-, Reduktions- und schadensminimierende Interventionen
• berücksichtigt alle Substanzen
• manifestiert sich durchgängig in der täglichen Arbeit – vom Aufnahmegespräch bis zur zieldiversifizierten Behandlung
„Zieloffene Suchtbehandlung“ (ZOS)
„Zieloffene Suchtbehandlung“ (ZOS)
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1. Eine innere Haltung der Zieloffenheit
2. State-of-the-Art-Wissen über Abstinenz-, Reduktions- und schadensmindernde Interv.- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
3. Fähigkeit, sanktionsfrei und „auf Augenhöhe“ mit dem Pat. für jede konsumierte Substanz seine Zielvorstellungen zu erkunden und zwischen Zielen abzuwägen
4. Vorhalten eines passgenauen Angebots zum Erreichen des substanzspezifischen Ziels (oder Erfolg versprechende Überweisung).
Vier Voraussetzungen zieloffenen ArbeitensVier Voraussetzungen zieloffenen Arbeitens
© Körkel (2016)
Mot
ivat
iona
l Int
ervi
ewin
g
←
←
←
←
←
Zu 1: Zieloffene innere HaltungZu 1: Zieloffene innere Haltung
• „Menschen verfolgen ihre eigenen Ziele – ob ich will oder nicht.“
• „Es steht jedem Menschen zu, gemäß seinen eigenen Lebensvorstellungen zu leben – auch im Hinblick auf den Suchtmittelkonsum (sofern er andere nicht schädigt).“
• „In Respekt vor diesem ethischen Grundsatz schreibe ich Pat. nicht vor, welches Ziel sie einzuschlagen haben.“
• „Trotzdem bringe ich, wenn es für den therapeutischen Prozess sinnvoll erscheint, dialogisch-partnerschaftlich eigene Zielüberlegungen ein (im Sinne des Motivational Interviewing).“
© Körkel (2016)
© Körkel (2016)
Zu 2: State-of-the-Art-WissenZu 2: State-of-the-Art-Wissen
Behandlungen mit Ziel Tabakabstinenz(Beispiele)
Behandlungen mit Ziel Tabakabstinenz(Beispiele)
© Körkel (2016)
Kurzinter-ventionen
Selbsthilfe-manuale(autodi-
daktisch)
Einzel-programme
Gruppen-programme
Stationäre Programme
Tabak KI bei Raucherinnen und Rauchern(Lindinger, Batra & Pötschke-Langer, 2006)
Frei von Tabak (Bundesärztekammer, Batra et al., 2001)
Ja, ich werde rauchfrei -Selbsthilfemanual (Lindinger & Batra, 2010)
Nichtrauchen! Erfolgreich aussteigen in sechs Schritten(Batra & Buchkremer, 2013)
Tabakentwöhnung Gruppen- oder Einzel-Therapiemanual (Batra & Buchkremer, 2004)
Change YourSmoking Einzelprogramm zur Reduktion oder Beendigung des Tabakkonsums(Körkel & Nanz, 2015)
Rauchfrei-programm –Gruppenprogramm zum Rauchstopp(Kröger & Felten, 2015)
Change YourSmoking Gruppenprogramm zur Reduktion oder Beendigung des Tabakkonsums(Körkel & Nanz, 2015)
Rauchfrei –Ich?! Stationäre Raucher-entwöhnung(Bühler, Metz & Kröger, 2002)
Rauchfrei nachHause –KlinikversionMetz, Bühler & Kröger, 2002)
© Körkel (2016)
Behandlungen mit Ziel Konsumreduktion
(Beispiele)
Behandlungen mit Ziel Konsumreduktion
(Beispiele)
Kurz-interventionen
Selbsthilfemanuale(autodidaktisch)
Ambulante Einzelbehandlung
Ambulante Gruppen-
behandlung
Stationäre Behandlung
Alkohol Trinktagebuch + Erläuterungsblatt + Strategietipps
„10-Schritte-Programm zum Kontrollierten Trinken“
www.selbsthilfealkohol.de
www.drink-less-schweiz.ch
„EkT – Ambulantes Einzelprogramm zum kontrollierten Trinken“
kT-WALK – Programm für Wohnungslose
Pharmakotherapie (Naltrexon, Nalmefen)
„AkT – Ambulantes Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken“
kT-WALK – Programm für Wohnungslose
Selbsthilfegruppen(Moderation Manage-ment, Post-AkT-Gr. etc.)
KT-stationär –Erlernen des Kontrollierten Trinkens im stationären Rahmen
Tabak Rauchtagebuch+ Erläuterungsblatt + Strategietipps
„12+-Programm“ „Change YourSmoking“ (Rauchreduktion oder Rauchstopp)
Pharmakotherapie (NRT)
„Change YourSmoking“ (Rauchreduktion oder Rauchstopp)
„Smoke_less“
„Change YourSmoking“ (Rauchreduktion oder Rauchstopp)
Illegale Drogen
Konsumtagebuch+ Erläuterungsblatt + Strategietipps
„KISS-Einzel –Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“
„Contraddict“
„KISS-Gruppe –Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“
KISS-stationär –Erlernen des Kontrollierten Konsums im stationären Rahmen
© Körkel (2016)
Interventionen mit Ziel Schadensminderung
(Beispiele)
Interventionen mit Ziel Schadensminderung
(Beispiele)
Interventionsausrichtung
Alkohol - Konsum von Trinkalkohol (Ethanol) statt „gepanschtem“ Alkohol (Methanol)- Trinken von angewärmtem statt kühlem Bier- Heimfahrt nach Alkoholgenuss in Taxis statt eigenem Auto
Tabak - Rauchen von E-Zigarette statt Tabakzigarette
Illegale Drogen
- Injektion von unbenutzten statt benutzten Spritzen- Injektion in einem Konsumraum statt zuhause/ im öffentlichen Bereich- Injektion von ärztlich verschriebenem Diamorphin statt Straßenheroin- Einnahme von Methadon oder Buprenorphin statt Straßenheroin
Zu 3: Systematische Konsum- und Zielabklärung
Zu 3: Systematische Konsum- und Zielabklärung
© ISS (2016)
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© Körkel (2016)
Zu 4: Passgenaue AngeboteZu 4: Passgenaue Angebote
1. Systematische Zielabklärung für alle Substanzen
2. Vorhalten von Behandlungen mit Ziel Abstinenz, Reduktion oder Schadensminderung
Behandlungen mit Ziel Abstinenz
Behandlungen mit Ziel Reduktion
Behandlungen mit Ziel Schadensmind.
• Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung zu Zieloffenheit
• Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse („state-of-the-art“) zu Konsumreduktion/ -sbehandlung
Herausforderungen für die Suchthilfe allgemein
Herausforderungen für die Suchthilfe allgemein
• Systematische Zielabklärung für alle Substanzen
• Vorhalten von Abstinenz-, Reduktions- und schadensmindernden Behandlungen für alle Substanzen
• V.a. in der „niedrigschwelligen Arbeit“: Kontext-fragen klären (wo – wann – was)
• Neue öffentliche Platzierung der Einrichtung © Körkel (2016)
Ergänzende Herausforderungen für die stationäre Suchthilfe
Ergänzende Herausforderungen für die stationäre Suchthilfe
• Sanktionsfreies Klima, das zu Zieloffenheit einlädt
• Vorhalten von Reduktions- und schadensmindernden Behandlungen für Tabak
• Z.B. „KT-/KISS-stationär“ zum Heranführen an Konsumreduktion (→ „Übungssubstanzen“)
• Alkoholkonsum bei Heimfahrten/ an Wochenenden
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Bei Schulungen/Fortbildungen/Ausbildungen ist das Ziel die individuelle Kompetenzsteigerung.
Implementierung zielt dagegen auf strukturellen Wandel der Einrichtung(en) ab.
© Körkel (2016)
Von der Schulung zur Implementierung
Von der Schulung zur Implementierung
Implementierung von Zieloffener Sucht-arbeit beim Caritasverband für StuttgartImplementierung von Zieloffener Sucht-arbeit beim Caritasverband für Stuttgart
© ISS (2016)
1. Gesamtleiter für Sucht + Sozialpsychiatrie (28 Einricht.) stößt Implementierungsprozess an (2013)
2. Steuergruppe mit allen Leitungen aus Sucht + Sozialpsychiatrie + BWL wird eingerichtet (1/2014)
3. Kick-Off mit Mitarbeiterschaft (ca. 150 MA) (6/2014)
4. 5 Diagnose-Workshops mit je 10-16 MA aus den Einrichtungen (7/2014 – 12/2014)
5. Steuergruppe beschließt Einrichtung von drei strategischen Gruppen (Konzeptgruppe „Stuttgarter Modell“, Öffentlichkeitgruppe, Personalentwick-lungsgruppe) und 7 Umsetzungsworkshops (4/2015)
6. Konzeptgruppentreffen und Durchführung der 7 Umsetzungsworkshops → Arbeitsaufträge an die Einrichtungen (6/2015 – 1/2016)
7. Fachgespräch mit Kooperationspartnern (1/2016)8. Einführung der Veränderungen (3/2016).9. Prozessevaluation und Adaption (2017).
1. Abstinenz
2. Kontrolliert-reduzierter Konsum
3. Schadensminderung (harm reduction)
4. Vorteile von Zieloffenheit
5. Zieloffene Suchtbehandlung
6. Fazit
ÜbersichtÜbersicht
© Körkel (2016)
„Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin,
und keiner ginge, um zu sehen, wohin er käme, wenn er ginge?“
Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827)
© Körkel (2016)
„Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es“
(Erich Kästner)
© Körkel (2016)
© Körkel (2016)
Körkel, J. (2014a). Alkoholtherapie: Vom starren Abstinenz-dogma zu einer patientengerechten Zielbestimmung. Suchtmedizin, 16, 211-222.
Körkel, J. (2014b). Das Paradigma Zieloffener Suchtarbeit: Jenseits von Entweder – Oder. Suchttherapie, 15, 165-173.
Körkel, J. (2014c). Kontrolliertes Trinken. So reduzieren Sie
Ihren Alkoholkonsum. Stuttgart: Trias-Verlag.
Körkel, J. (2015a). Kontrolliertes Trinken bei Alkoholkonsum-störungen: Eine systematische Übersicht. Sucht, 61, 147-174.
Körkel, J. (2015b). Das Menschenbild als Dreh- und Angel-punkt des Umgangs mit Suchtkranken (auch) in der recht-lichen Betreuung. Betreuungsrechtliche Praxis, 24, 9-14.
Vertiefende Literatur zum Vortrag
© Körkel (2016)
© Körkel (2016)
Weiterführende Webseiten
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Anschrift
Prof. Dr. Joachim Körkel
Institut für innovative Suchtbehandlung und Suchtforschung (ISS)
c/o Evangelische Hochschule NürnbergBärenschanzstr. 4 90429 Nürnberg
Email: [email protected]