1/11 | 3,50 eur praxis perspektiven sozio kultur ·  · 2012-01-04und improvisation, wo naivität...

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AKTIONSRAUM KUNST Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V. PRINZIPIEN PRAXIS PERSPEKTIVEN 1/11 | 3,50 EUR sozio kultur vernetzt TAG DER SOZIOKULTUR | 13.10.2011 READER ZUM THEMA AKTIONSRAUM KUNST

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AKTIONSRAUM KUNST

Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V.

P R I N Z I P I E N

P R A X I S

P E R S P E K T I V E N

1/11 | 3,50 EURsoziokulturvernetztTAG DER SOZIOKULTUR | 13.10.2011

READER ZUM THEMA

AKTIONSRAUM KUNST

AKTIONSRAUM KUNST

soziokultur 1|11 READER 3AKTIONSRAUM KUNST

Titel: GrashalmProjekt des Künstlers Thomas May. Siehe S. 18. Foto: May | www.grashalminstitut.de

Verantwortliche Redakteu rinnen: BETTINA RÖSSGER, Ge-schäftsführerin des Landesverbandes Soziokultur Thüringen, und MAXI KRETZSCHMAR, Kunst- und Kulturmanagerin.

vernetztTAG DER SOZIOKULTUR | 13.10.2011

B E I T R Ä G E A U S D E R Z E I T S C H R I F T

Aktionsraum Kunst* 6H A N S - J Ö R G S I E W E RT

Terra incognita! 10Zwischen New Genre Public Art und SoziokulturM AT T H I A S A . J . D A C H W A L D

Globale Soziale Plastik 14Hermann Josef Hack im Interview

Participate & innovate 16Ariane Jedlitschka im Interview

I N AC T I O

Das gewisse Geheimnis der Insel ... 18Thüringische SommerakademieM A RT I N A Z S C H O C K E

I N P E R S O N A

Neue Formen der Erinnerung 19Jens HuckeriedeG R I E T G ÄT H K E

Die Welt verändern** 20W E R N E R P R E G L E R

W E I T E R E B E I T R Ä G E

Rein oder raus? 21 WIND – eine Installation der Gruppe D.N.K./FILOART B A R B A R A R Ü T H , G R I T B E N AT H

„Er schnitzet, hauet, gräbt und schneidet” – Bildhauerei in Bremen und anderswo 22

Veronika Wiegartz im Interview J E N S U T H O F F

* Langfassung des Beitrags der Print-Ausgabe** Der Beitrag erschien in der Print-Ausgabe in der Rubrik KONTINENT KULTUR.

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AKTIONSRAUM KUNSTBildende Kunst heute kann überall stattfinden. Oft arbeiten die ProtagonistInnen nach soziokulturellen Prinzipien. Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen Kunst und Soziokultur?

Kinder bei der LeoPART-Performance „Schatten: Schau! Spiel!“ 2009 (siehe Beitrag S. 10). Foto: Stefan Hippel

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H A N S - J Ö R G S I E W E RT

Die Beziehungen zwischen bildender Kunst und Soziokultur gelten als span-nungsgeladen. Das muss verwundern, gibt es doch grundlegende Denkfigu-

ren, die beiden gemein sind: Entgrenzung und Verflüssigung, Flexibilität und Partizipation, Durchlässigkeit und Offenheit. Hier geht es um die strukturellen Gemeinsamkeiten. Dass Kunst auch völlig anders gefasst werden kann, muss nicht irritieren. Es geht nicht um eine kunstge-schichtliche Abhandlung.

Soziokultur hatte in den 70er Jahren die Schranken zwischen professioneller Kunst und selbst organisiertem künstlerischen Schaffen durchbrochen. Entgegen wohlfeiler Ideologie war Soziokultur nicht gedacht als Gegenbegriff zur Kunst und Ästhetik. Sie war Aufforderung, deren Bedeutung ernst zu nehmen: als Medium für Kommunikation, Reflektion und Partizipa­tion. Dennoch unterstellte eine heftige Polemik der Neuen Kulturpolitik „Kunstfeindschaft“.

Der Konflikt ist ein (gepflegter) Scheinkon-flikt. Soziokultur wie aktuelle Kunst haben ähn-liche Denkmuster: Der erweiterte Kulturbegriff trifft auf den erweiterten Kunstbegriff. So ein-fach könnte es sein?

Qualität durch Offenheit

Ihre Qualität bezieht Soziokultur durch Offen-heit, durch positives Grenzgängertum und ris kiert dabei den Anwurf der Profillosigkeit: „Kultur für alles und jedes“. Ihre Professiona-lisierung, die Förderung durch Kulturpolitik und ihre innovative Kraft und Offenheit gegenüber neuen kulturellen Bedürfnissen, ihre unkonven-tionelle sparten- und ressortübergreifende Ori-entierung, auch ihre Angebotsvielfalt haben sie zu einem wichtigen Faktor der kommunalen Kul-tur wachsen lassen. Allenfalls eine erfolgreiche Normalität (und strukturelle Unterfinanzierung) machen ihr zu schaffen.

Soziokultur ist kein Gegensatz zur Kunst. Sie akzentuiert vielmehr die Bedeutung von Kunst und Kultur für das Leben der Einzelnen und den politisch-kulturellen Zustand der Gesellschaft. Kreativität, künstlerische Ausdrucks- und Ge-nussfähigkeit, kommunikative Kompetenzen sind Voraussetzungen für die Souveränität der Menschen im Umgang mit ihrem Leben und für die demokratische Gestaltung der gesellschaft-lichen Zukunft, so die Wiepersdorfer Erklärung.

Prozesse wechselseitigen Lernens„Entgrenzung“ ist für beide Bereiche grundle-gend. Die Einheit der Kunst bricht auf. Perfor-

mance Art überschreitet seit den 60er Jahren die Grenzen tradierter Kunstgattungen und ihre ästhetischen Systematiken. Künstlern stehen unbegrenzte Kombinationsmöglichkeiten offen.

Kunst wie Soziokultur offerieren den „draußen Gebliebenen“ die Mög-lichkeit zur Teilhabe.

Kunst wie Soziokultur verweigern eine klare Trennung zwischen den „zum Feld gehörigen“ Diskursen, Produktionen und Menschen. Bei-de offerieren den „draußen Gebliebenen“ die Möglichkeit zur Teilhabe. Es geht nicht um ein-seitige Vermittlung, Belehrung oder Anleitung, sondern um Prozesse wechselseitigen Lernens, um gleichberechtigten Austausch von Partnern: Kunstverhandlung statt Kunstvermittlung. Kunst ist keine elitäre Denkschablone; Kunst ist längst entinstituionalisiert und „vergesellschaftet“. Freie Kunst, die etwas anderes tut, als in einem Museum „auf ihrem Arsch“ zu sitzen (Claes Ol-denburg), hinterläßt keine elitären Duftmarken. Künstlerische Setzungen ignorieren nicht länger ihr Umfeld. Kunst manifestiert sich nicht mehr allein in spezifisch dafür konzipierten Räumen. Und – der Prozess ist umkehrbar. Die Graffiti sind im Museum angekommen.

Kein Ort bleibt „unbekunstet“

Ging es in den 80er Jahren um die Auswei-tung der Orte der Kunst, geht es heute um die Ausweitung des Publikums der Kunst – für die Soziokultur ein vertrautes Thema. Jenseits der von Aura und Weihe umgebenen Institution des traditionellen Kunstbetriebes gedeihen ganze Kunstsparten, Stilistiken und kulturelle Perspek-tiven auf der Suche nach neuen Räumen: ortsbe-zogene Kunst. Insbesondere an den Bruchlinien des gesellschaftlichen Wandels suhlen sich in den Brachen der umbrechenden Systeme gleich-sam die „Trüffel schweine des Transfers“ und erobern „Räume der Freiheit”. Vorübergehen-de Zwischennutzung. Ein transitorischer Raum, mit der Folge: „flüchtige Kunst“. Industriebra-chen werden „Brutplatz“ für eine neue kreative Klasse. „Kultur aktiv in alten Gebäuden“, hieß das weit vor Richard Florida. Angesichts der Entwicklung der europäischen Stadt und des öffentlichen Raumes bietet sich deren systema-tische künstlerische Erforschung an. Gerade das paradoxe Faktum der Enteignung des öffentli-chen Raumes in Gestalt seiner Reinszenierung verlohnt sich. Es handelt sich um die Kulissen des Glücks, um eine zunehmende Trivialisierung

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der urbanen Stadtkultur, allerdings auch um den „verhafteten Raum”, in dem Allianzen aus Geschäftsleuten und Behörden non-konforme Gruppen aus den Stadtzentren drängen.

Hausbesetzungen, Um- und Ausbau der ma-roden Hinterlassenschaften einer Industriekultur prägen das Verhältnis von soziokulturellen Zen-tren zu Prozessen der Stadtentwicklung in den 70er Jahren. Später organisieren sie kritische Öffentlichkeiten bis hin zur Vermittlung unter-schiedlicher Partner.

Bildende Kunst als moderne Hobbykultur?

Kunst im öffentlichen Raum überschwemmt derweil Straßen und Plätze. Keine Nische bleibt „unbekunstet“. Das wird von Friedrich Heuband als „Kunst in Laufnähe“ verspottet. Die Kurzsich-tigkeit des Projektes Kunst im öffentlichen Raum liegt darin, dass lediglich neue Räume erschlos-sen werden, wo eigentlich eine andere Form der Kunst gefragt ist. Eine neue Künstlergeneration spielt heute mit allem, was der urbane Raum her-gibt. Irritationen erzeugen, mit temporären Instal-lationen Widersprüche aufzeigen sind die Inhalte

des „Playing the City“, eines Projektes in Frank-furt am Main. Die „Formen des Verschwindens“ stehen im Vordergrund. Lothar Romain grandelt: „Möblierung von Mal zu Mal.“ Kunst taucht auf, interveniert und verschwindet. Sozialkitsch, Trash-Ästhetik? Wer weiß schon, wo Selbstwitz und Improvisation, wo Naivität und Chuzpe be-ginnen. Zumindest ist die Verhübschung der Stadt nicht Ziel. Im kontrollierten und überwachten Raum wird vielmehr mit kreativer Unterwande-rung für das Moment der Freiheit gestritten.

Eine Ästhetik subjektiver ErfahrungSeit den 80er Jahren setzt sich Kunst mit öffent-lichen Kommunikationsprozessen und gesell-schaftlichen Organisationsformen auseinander. Als Eingriff in Gesellschaft. Die Grenze zwischen „freier” und „angewandter” Kunst bzw. „Nicht-kunst” wird aufgeweicht. Kunst wird Dienst-leistung und gestaltet Kommunikationsräume. Das künstlerische Engagement ist prozesshaft, vorübergehend, in direkter Interaktion mit dem Alltagsgeschehen. Die Ästhetik des Objekts wandelt sich zudem zur Ästhetik der subjektiven Erfahrung. Eine neue Generation von KünstlerIn-nen geht, Ethnologen ähnlich, in das (urbane) Umfeld. Dabei sind sie keine Forscher im aka-

demischen Sinn. Sie bleiben Kunstproduzenten.Ähnlich wie Soziokultur den Kulturbegriff

radikal erweitert hat, haben KünstlerInnen den Kunstbegriff gesprengt. Immer mehr KünstlerIn-nen verweigern die Herstellung von Bildern und Objekten, beleben die aktuelle Kunstszene mit „Dienstleistungen“. Kochen Gerichte, erstellen eine Theke oder kommen ihren Mitmenschen als Massagesalon näher. Das autonome Kunst-werk ist dieser Szene gründlich suspekt. Nicht nur die documenta-Macherin Catherine Da-vid verdammte es maliziös als „Fetisch“. Weg vom Fetisch, weg vom Werk und damit auch weg vom Kunstmarkt. Diese Kunstwerke erwei-sen sich isoliert betrachtet als funktionierende Handlungsmodelle im sozialen, ökonomischen oder politischen Kontext. Erst durch die Defini-tion des Künstlers erhalten sie ihren Kunststa-tus. Es ist dies die „ästhetische Inwertsetzung” alltäglicher Problembewältigung. Der Künstler ermöglicht über die Verschränkung bislang klar getrennter Zeichen und Handlungsräume einen irritierend neuen Blick auf Überkommenes. Die-ses Auf brechen fest betonierter Verhältnisse und Abläufe geschieht weniger in Form von spekta-kulären Provokationen, eher als konkrete Einmi-schung in bislang kunstfremde Arbeitsfelder.

soziokultur 1|11 READER 7AKTIONSRAUM KUNST

Ein exzellentes Beispiel ist die Dresdener Künst-lergruppe Reinigungsgesellschaft. Sie versteht sich als „Labor im Denkraum Kunst an der Schnittstelle zu anderen gesellschaftlichen Be-reichen“. Demokratieentwicklung, Zukunft der Arbeit, Migration und Fragen nach alternativen Ökonomien sind ihre Themen. Im mecklenbur-gischen Grambow setzt sie sich mit der Bevöl-kerung über die Zukunft ihres „Schlafdorfes“ auseinander. An alle Haushalte wurde ein Fra-gebogen verteilt, der Zukunftswünsche erfassen soll. Der Schein trügt: Es wird keine sozialwis-senschaftliche Studie betrieben. Martin Keil und Henrik Mayer bleiben Künstler. Indem „wir die Dinge reflektieren, wirken sie wie die Störung einer Alltagswahrnehmung.“ Diese Irritation weckt auf, reizt zum Nachdenken.

Ähnlich wie in der Soziokultur provoziert dieses Vorgehen heftige bis polemische Kritik. Es bleibt die Frage nach einer Allgemeinver-bindlichkeit der so vielseitigen wie vielschichti-gen, bisweilen aber auch flachen und banalen Dienstleister-Kunst. Hat sich die bildende Kunst in eine privilegierte Spielwiese moderner Hobby-kultur verwandelt, an keine Grenzen gebunden? Ein Schelm, der hier keine Parallele zur Sozio-kultur mit einem bis zur Beliebigkeit gedehnten Kulturbegriff sieht! Soziokultur und aktuelle Kunst, beide evozieren durch ihre Offenheit letztlich eine stete Qualitätsdiskussion – und sie stellen sich ihr auch selbstbewusst.

Die Schnittstellen von Soziokultur und ak-tueller Kunst beschränken sich keineswegs auf urbane Szenen. In enger Zusammenarbeit mit dem Landschaftsarchitekten Udo Weilacher hat sich der Verein Kunst und Begegnung Her-mannshof in Völksen nahe Hannover zum Eck-punkt der Begegnung von Kunst und Soziokultur im ländlichen Raum entwickelt. Die Installation des Künstlerkollektivs Indoor Landart Program (ILAP), Amsterdam, in den Bäumen des Parks rief Irritationen hervor. Soundskulpturen der Berline-rinnen Andrea Neumann und Sabine Ercklentz provozierten Neugier und Fragen. Hier werden erfolgreich offene Geschichten erzählt. Und – es werden nicht nur unterschiedliche Genres verknüpft, sondern auch unterschiedliche Pub-likumssegmente. KunstgängerInnen und boden-ständige Dorfbevölkerung treffen aufeinander. Im fruchtbaren Verschränken soziokultureller und künstlerischer Ansätze ließ „Landarbeit 07“ „kunstferne“ Dorfbewohner mit aktuellen Kunstkonzepten zusammentreffen. KünstlerIn-nen regten die Gründung eines Beschwerdecho-res an, forderten mit einer Tischtransaktion Fa-milien in Heinde auf, ihren Esstisch für mehrere Wochen gegen den Tisch anderer zu tauschen. Das Projekt „Landart 07“ intervenierte um Kom-munikation und Gemeinschaft zu stimulieren,

um gewohnte Wahrnehmungsmuster aufzu-brechen, aber auch, um die Welten der Künst-ler mit den Alltagswelten der Dorfbewohner zu konfrontieren. Das funktionierte auf gleicher Augenhöhe und respektvoll: Die KünstlerInnen waren die Experten für Kunst, die Heinder für dörfliche Kommunika tionsstrukturen und tech-nische Infrastruktur.

Soziokultur ist – entgegen wohlfeiler Vor ur-tei le – keine Spielwiese für betuliche, kulturpä-dagogische Arbeit, in der ein „Gut gemeint!“ dominiert. Norbert Sievers stellt bei einer Ana-lyse der Projekte des Fonds Soziokultur eine Zunahme von KünstlerInnen als „die treibenden Kräfte“ heraus. Sie sind, wie Leonie Baumann am Beispiel des Vernetzungsprojektes „Der Friesische Teppich“ betont, eigenständiger ge-worden. Sie verorten sich selbstbewusst im Betriebssystem Kunst und nicht in dem diffusen Bereich der Kultur- oder Sozialarbeit. Sie sind mehr denn je die Bestimmenden und UrheberIn-nen von Prozessen. Sie entwickeln die Konzepte, anstatt die Ideen anderer umzusetzen oder gar zu „illustrieren“.

Soziokulturelle Zentren verstehen sich (zu-mindest in Teilen) als Kultur- und Kunstlabor. KünstlerInnen finden dort eine Bühne und probieren ungewöhnliche Formate aus. Das Düsseldorfer zakk mit seinen „Werkstätten“, FAUST e.V. in Hannover mit seiner „Kunsthalle“ und Künstler ateliers sowie das Bürgerzentrum Schuhfabrik Ahlen mit seinem jüngsten Projekt „Wir in der Stadtgalerie“ sind gute Beispiele, die erfolgreiche Alltagsarbeit, aber auch fruchtbares Reiben mit den aktuellen Künsten belegen.Soziokultur wie aktuelle Kunst können die sozi-alen Fragen unserer Gesellschaft nicht lösen. Sie können sie aber – gemeinsam – thematisieren,

Denkräume anbieten, die zeigen, dass Alternati-ven möglich sind. Eine verwandte Sicht der Dinge schafft Verständnis und erleichtert Kooperation zwischen Soziokultur und aktueller Kunst (gele-gentliche Denkblockaden einbezogen).

HANS-JÖRG SIEWERT ist Mitarbeiter im niedersäch si-schen Ministerium für Wissenschaft und Kunst.

LITERATUR Bundesarbeitsgemeinschaft der Kultur kooperativen und freien Gruppen u.a. (Hg.): Forderungen und Empfehlungen für eine Strukturhilfe Soziokultur in den neuen und alten Bundesländern (Wiepersdorfer Erklärung). Dortmund u.a. 1992 |L. Baumann: … und das soll Kunst sein?! … Kunstaktionen und Öffentlichkeit – ein Einblick in 40 Jahre Praxis. In: Arbeitgemeinschaft Deutscher Kunstvereine e.V. (Hg.): Der Friesische Teppich. Ein Gewebe aus Kunst, Kirche & Kommunikation. Berlin 2004 | C. Biehler, J. Fritz (Hg.): Landarbeit 07. Leipzig 2010 | S. Binas: Flexibilität – die Kunst, in Bewegung bleiben zu müssen! In: Räume der Freiheit. Hamburg 2001, S. 36–39 | C. Demand: Wie kommt die Ordnung in die Kunst? Springe 2010 | H. Glaser: Deutsche Kultur. Bonn 1997 | T. Kaestle: Wie funktioniert demokratische Kunst? In: W. Schnei-der (Hg.): Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik. Hildesheim 2010, S. 145–158 | Kulturpolitische Mitteilungen II/2008 | B. Mandel: Von der Vermittlung des Nutzens der Nutzlosigkeit. In: B. Mandel (Hg.): Audience Development. München 2008, S. 173–177 | S. Neuenhausen: Die Hainholz-Stele. Hannover 2005 | S. Schmidt-Wulffen: Perfekt imperfekt. Freiburg 2001 | S. Sembill: Ausweitung der Forscherzone. Das Reale als Areal künstlerischer Recherchen. In: Orientale 1, Weimar 2001, S. 28–35 | H.-J. Siewert: Kunstvereine im Wandel. In: T. Kaestle (Hg.): Wo ist die Kunst? Hildesheim 2004 | Stadt Nürnberg (Hg.): Perspektive Soziokultur. Nürnberg 2007 | N. Team (Hg.): SPROUTBAU. Ein Sommer im Beton. Wohnen und Kunst im Abrisshaus. Bremen 2009

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Terra incognita! Zwischen New Genre Public Art (NGPA) und Soziokultur

M AT T H I A S A . J . DAC H WA L D

Ein Pferd trabt durch den Stadtteil einer deutschen Großstadt. Blätter, Plastikbecher, Papierfetzen und bunte Tüten tanzen, vom

Wind dirigiert, über einen sonnenfleckigen Platz, unter aufgehängten Bettlaken hindurch, gen Os-ten. Auf seinem Weg nimmt der Wind auf dem Platz erklingende Gesänge in fremden Sprachen mit sich. Das Pferd biegt um die Ecke ...

Kunst im öffentlichen Raum kann temporär und lebendig sein oder auch stumm, skulptural an einem Ort über Jahre hinweg verweilen. Sie be-rührt viele andere Bereiche – Architektur, Stadt-planung, Kunst am Bau ... Im Folgenden geht es um ihre Beziehung zu Sozialer Arbeit und Soziokultur.

Öffentlicher RaumDem öffentlichen Raum haben sich in den letz-ten Jahrzehnten verschiedene TheoretikerInnen genähert. Hannah Arendt kehrte in ihrem Werk „The Human Condition“ von 1958 zu den Ur-sprüngen der Theorien zurück – dem klassischen Altertum in Griechenland. Nach Arendt bezeich-net öffentlich „zwei eng miteinander verbunde-ne, aber doch keineswegs identische Phänome-ne: Es bedeutet erstens, daß alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklich-keit zukommt. [...] Der Begriff des Öffentlichen bezeichnet zweitens die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich

von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also den Ort, den wir unser Privateigentum nennen.“1

Das heißt, wir brauchen den öffentlichen Raum, um uns uns Selbst und um uns die Anderen zu vergegenwärtigen. Nur im Gemeinsamen und Trennenden des öffentlichen Raumes sind wir in der Wirklichkeit. Und dieser Raum ist gleichzeitig das uns Gemeinsame, was uns also von unserer Privatheit unterscheidet. Ein im arendtschen Sin-ne gedachter öffentlicher Raum ist für Künstler, Kulturschaffende, Soziologen und jeden politisch denkenden Menschen interessant. Der Raum gehört uns allen und in ihm begegnen wir uns, in ihm teilen wir uns mit, in ihm entwerfen wir unser Lebensmodell für den Alltag. Damit ist der öffentliche Raum der Ort der (politischen) Kom-munikation. Hier treffen wir durch Worte und Taten mit unseresgleichen zusammen. Hier teilen wir uns mit.

Existiert kein Raum mehr, in dem wir in Erschei-nung treten können, wie wir sind, mit Worten und Taten, im Handeln, dann sind wir in die Pri-vatheit zurückgedrängt. In dieser aber sind wir keine politischen, also handelnden Menschen mehr, sondern nur mehr biologisch funktionie-rende Geschöpfe. Wie Hannah Arendt über uns

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in der Moderne sagt: „animales labores“ – ar-beitende Tiere. (Für Arendt stellen die Erwerbs-arbeit ebenso wie Finanzgeschäfte eine private Angelegenheit dar, da sie der antiken Logik zwi-schen privat und öffentlich folgt.)

Für die so verstandene künstlerische Arbeit stellt der öffentliche Raum einen Ort dar, in dem wir durch Handlung politisch tätig werden können. In diesem Sinne ist Ziel der partizipatorischen Intervention, den Menschen ihre politischen Grundrechte in der demokratisch-kapitalisti-schen Gesellschaft durch Einmischung aufzuzei-gen und somit die offene Verortung des Indivi-duums2 als Selbstverständlichkeit einzufordern. Es geht also in erster Linie darum, die Handlung im öffentlichen Raum wieder als politischen Akt ins Bewusstsein zu heben. Die Handlung in unserem Sinne wird dabei durch künstlerisch-gestalterische Aktion vorgenommen.

NGPADie Ursprünge der Kunst im öffentlichen Raum sind im Dadaismus und im russischen Produkti-vismus und Konstruktivismus zu suchen. In der jüngeren Vergangenheit beruft man sich vor al-lem auf Joseph Beuys und die Idee der Sozia len Plastik3, wenn es um NGPA4 geht. Nicht mehr das Kunstwerk als fertiges Produkt eines Künstlers

steht im Fokus, sondern der Entstehungsprozess und seine kommunikativen Beziehungen. So stellen sich VertreterInnen des NGPA in gewis-ser Weise gegen die klassische Auffassung von Kunst. Kommunikation, Intervention, Beteiligung werden zur Maxime des Genres. Die Vollendung des Kunstwerks ist somit nicht mehr zwingend. Der Prozess steht im Zentrum und dadurch ist ein Scheitern des Kunstwerks möglich.

Konsequent gedacht kann NGPA ebenso schei-tern wie gelingen, nur dass das Scheitern nicht ein Versagen im klassischen Gepräge darstellt, sondern durch die Offenheit des Prozesses systemimmanent mitgedacht wird und inso-fern ein reguläres Ergebnis eines prozessorien-tierten Kunstwerkes ist. Durch die Möglichkeit des Scheiterns wird auch deutlich, dass klas-sische künstlerische Herangehensweisen von der Konzentra tion bis hin zur Kontemplation in NGPA-Prozessen weniger relevant sind als beispielsweise Fähigkeiten des Projektma-nagements wie Vorstudien, Empowerment, Herstellen von Helferstrukturen, Finanzaquise, Controlling und – zwingend – Evaluation und Reflexion. Grundfähigkeit des NGPA­Prozesses ist und bleibt die Kommunikation. Nur wer es schafft, mittels Kommunikation sein unbekann-tes Gegenüber zu erreichen, darf hoffen, mit ihm

einen Teil des Weges gemeinsam zu gehen und so der Möglichkeit Raum gewähren, aus einem Unbekannten einen Bekannten zu machen.

Diese Herangehensweise unterscheidet sich vom individuell inspirierten und geplanten Vor-gehen anderer künstlerischer Arbeitsweisen. Es steht die Nähe zu soziokulturellen und sozial-arbeiterischen Aktivitäten einerseits (manchmal kann man einen Unterschied nicht mehr erken-nen) und die Nähe zum (Kultur-) Management andererseits auffallend deutlich im Raum. Nicht zwangsläufig muss diese Nähe negativ sein, resp. muss sie überhaupt sein. Allerdings ist sie meist so evident, dass sie entweder ignoriert wird oder man ihr mit heftiger Abgrenzung be-gegnet. Die faktische Gegebenheit dieser Nähe liegt wesentlich am gemeinsamen Objekt des Interesses von Sozialer Arbeit, Soziokultur und NGPA: der Mensch in seiner sozialen Umge-bung.

Soziale ArbeitSoziale Arbeit in ihrem Ursprung hat neben den vielfach gern zitierten karitativen durchaus ei-nen revolutionären Charakter. Da, wo es nicht um einen gesellschaftlichen Reparaturbetrieb geht, will Soziale Arbeit – also Arbeit an der Ge-sellschaft – Emanzipation und Freiheit.

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Das Geheimnis von NGPA – wenn man über-haupt von einem solchen sprechen will – liegt darin begründet, dass soziale interaktive Pro-zesse auf spielerische, irritierende und den All-tag unterbrechende (künstlerische) Methoden in Gang kommen. Warum schreibe ich „künst-lerisch“ in Klammern? Weil die TeilnehmerInnen oft während des Prozesses oder im Nachhinein überhaupt erst die Methode als solche erkennen (ebenso ergeht es oft genug auch den Rezipien-tInnen). Es ist jedoch die künstlerische Methode, die den Prozess im Idealfall mächtig werden lässt. Sie unterscheidet sich diametral von sons-tigen Ansätzen sozialer Arbeit: Kunst schafft es, automatisierte und von subjektiven Katego-riesystemen gesteuerte sensorische Wahrneh-mungsprozesse zu unterbrechen. Dadurch ist sie prädestiniert, vorhandene Verkrustungen aufzu-brechen. Es unterscheiden sich beide Ansätze durch die handelnden Personen und die ihnen zugrunde liegenden Berufsbilder. KünstlerInnen werden per se darauf vorbereitet, sich allein durch die Welt zu schlagen. Ihr kreatives Poten-zial soll sie allein ernähren. Der/die Sozialarbei-terIn dagegen wird darauf vorbereitet, innerhalb eines Systems (Verwaltung, Institution) zu agie-ren. Prinzipiell ist der Berufsstand eingebunden und damit kontrolliert, so dass er nicht oder nur selten unabhängig und frei agieren kann.

Unterschiedliche Ziele spielen ebenfalls eine Rol-le. Die Soziale Arbeit will, bzw. muss durch ihre Auftraggeber – seien dies die Kommunen oder die paritätischen Wohlfahrtsverbände – eine Ver-besserung der Lebensbedingungen ihrer Klientel erreichen. Die Klientel wird resozialisiert, wie es so schön heißt. KünstlerInnen dagegen wollen primär erst einmal nichts für den Menschen, sondern vielmehr etwas mit ihm erreichen, in-dem sie ein gemeinsames Projekt angehen und sich idealerweise auf eine Ebene mit den Teil-nehmerInnen stellen. Das Gelingen des Projekts ist – wie bereits gesehen – offen. KünstlerInnen sind frei, nach einer Kunstaktion wieder zu ge-hen. Die künstlerische Methode wird nicht per Auftrag innerhalb eines Gesetzes an die Klientel herangebracht, sondern scheint in Form eines spielerischen und freiwilligen Ausprobierens auf. Man muss nicht mitmachen, aber man kann. Schließlich kann man vielleicht sogar als Künst-lerIn an einem Kunstwerk beteiligt gewesen sein. Es handelt sich um niedrigschwellige Anreize, die einen anderen Zugang zum Menschen als die klassische Soziale Arbeit ermöglichen.

SoziokulturEine besondere Rolle kommt zwischen diesen beiden Polen – der sozialen Arbeit und der NGPA – der Soziokultur zu. Sie agiert ebenfalls

– wie die Kunst – in einem eher freiwilligen Rahmen und muss keine dauerhafte Beziehung zu ihrer Klientel eingehen. Wie Soziale Arbeit ist sie über soziokulturelle Zentren oder Stadtteil-läden langfristig in den Stadtteilen angesiedelt. Durch sie entstehen Kontakte zu Menschen, die im Stadtteil leben. Multiplikatoren können gefunden und künstlerische Prozesse ebenso initiiert wie versorgungsrelevante Basisbedürf-nisse der StadtteilbewohnerInnen organisiert werden. Soziokultur – möglicherweise der „Missing Link“ zwischen den beiden Polen – ist dennoch kein Fortsatz von beiden Theorien, sondern vertritt eigene Interessen. „Soziokultur ist der Versuch, [...] Kunst als Kommunikations-medium zu begreifen – als eine und zwar sehr gewichtige Möglichkeit, die plurale (und damit auch in vielfältige Einzelinteressen, Interessens-konflikte, Verständigungsbarrieren) zerklüftete Gesellschaft auf der – kommunikativen – Ebene zusammenzubringen.“5

NGPA und Soziokultur gemeinsam ist der parti-zipative Grundton. Die Menschen sollen selbst zu Handelnden werden, sollen ihre Potenziale freilegen, die bereits vorhanden, aber noch nicht aktiviert sind. Wichtig ist, mit den Menschen, nicht für sie aktiv zu werden. Kommunikation als zentraler Aspekt ist sowohl in der Theorie

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der Soziokultur wie in der des NGPA maßgeb-lich, wobei in der Regel soziokulturelle Aktivität langfristig geplant wird, während NGPA tempo-rär bleibt.

Kunst schafft es, auto matisierte Wahr-nehmungsprozesse zu unterbrechen.

Wofür NGPA immer und Soziokultur manch-mal steht, ist die Intervention in den Alltag, in den öffentlichen Raum. Dabei ist diese Art der Intervention mit dem brechtschen V-Effekt6 zu vergleichen, im Gegensatz zu der Vorstellung der Intervention, wie sie Soziale Arbeit häu-fig versteht. Intervention soll von der Irritation her verstanden werden. Soziokultur und NGPA ähneln sich also in Herangehensweise und Wirkung stark und unterscheiden sich in ihrer Projekt-Orientiertheit oft kaum voneinander. Die Unterschiede zwischen ihnen liegen meist im ästhetischen Charakter wie auch in der Prozessorientierung, sie können synergetisch optimal genutzt werden, wenn beide Ansät-ze miteinander im Kontext erscheinen. Für die NGPA ist vieles leichter, wenn sie auf vorberei-tete Strukturen trifft. KünstlerInnen können die Recherche abkürzen und Erfahrung und Wissen soziokultureller Strukturen nutzen. Andererseits initiieren AktivistInnen der Soziokultur oft selbst NGPA-Prozesse.

NGPA, Soziale Arbeit und Soziokultur eint der Ge-danke der Veränderung mittels Eingriff in den be-stehenden Alltag. Während Soziale Arbeit vielfach zum Reparaturbetrieb degradiert wurde und im arendtschen Sinne meist in der Privatheit agiert, können NGPA und Soziokultur tendenziell frei(er) und partizipativ arbeiten und in den öffentlichen Raum gehen. Damit besteht die Möglichkeit, ei-nen unmittelbaren, ergebnisoffenen Zugang zu den Menschen zu erhalten.

1 Hannah Arendt: Vita Activa. Mün-chen: Piper Verlag 62007, S. 62 ff.

2 Mit der offenen Verortung des Individuums meine ich, dass jede Person durch eigenes Aktivwerden den ursprünglich verorteten gesellschaft lichen Bereich verlassen und in einen neuen Bereich wechseln kann.

3 Der Begriff Soziale Plastik wurde durch Jo-seph Beuys in die Kunst eingeführt. Er sah zudem erstmals die Kunstvermittlung gleich-wertig neben dem Kunstwerk verortet.

4 Der Begriff New Genre Public Art (selten New Public Art oder Performance Art in Public Spaces) kommt aus den USA und

wird vielfach auch in Europa benutzt, um sich von der klassischen objektbezogenen Kunst im öffentlichen Raum abzusetzen. Siehe hierzu auch Suzanne Lacy: Mapping the Terrain: New Gen-re Public Art. Seattle, Washington: Bay Press 1995.

5 Hermann Glaser/Karl-Heinz Stahl: Die Wieder-gewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur. München: Juventa 1974, S. 25 f., zitiert nach Norbert Sievers, Reinhold Knopp, Jochen Molck: Kultur nicht für alle? Kulturpolitik und gesellschaftliche Teilhabe. In: Kulturpolitische Mitteilungen IV/2009, S. 34.

6 „Brecht setzt in seinen Dramen planmäßig Mittel ein, die zwischen Bühnengeschehen und Publikum Distanz schaffen sollen. Eines der wirkungsvollsten ist der Verfremdungseffekt (V-Effekt): Er besteht darin, daß sich ein Darsteller aus der gespielten Szene heraus plötzlich ans Publikum wendet und es als solches anspricht. So wird der Spielcharakter […] deutlich gemacht, der Bühnenraum öffnet sich zum Zuschauer hin.“ Die Neue Herder Bibliothek, Bd. 13, Literatur. Freiburg i. Brsg. 1973, S. 241.

Gekürzte Fassung des Textes aus: Weg entsteht im Gehen, Schritte im Prozess. LeoPART – Kunst-

projekte in St. Leonhard. Katalog LeoPART, Nürnberg 2009. Langfassung unter www.liter-art.de. Das Projekt LeoPART unter www.leopart.eu.

Abb.: Projekt „Kunst & Logis Frei“, Zwischen-bericht, Kerstin Polzin und Anja Schoeller, Stadtteil St. Leonhard, Nürnberg 2009/10 (S. 6); Projekt „Liebevolles St. Leonhard … oder die Ware Liebe im Stadtteil/Standortfaktor Prostitution“, Michael Aue, Stadtteil St. Leonhard, Nürnberg 2009 (S. 7); Projekt „Rosi, Ross und Reiter – ein Denkmal für St. Leonhard“, Stadtteil St. Leonhard, Nürnberg 2009 (S. 8–9); Regina Pemsl und Wolfgang Weber beim Projekt „Schatten: Schau! Spiel!“, Nürnberg 2009 (S. 10), Projekt „Geschäftig unterwegs – Frieda geht einkaufen“, Stadtteil St. Leonhard, Nürnberg 2009 (S. 11), Fotos: Stefan Hippel

MATTHIAS A. J. DACHWALD ist Kurator und Aus-stellungsmacher im K4 Nürnberg und Mitbegründer der Kunst- und Forschungsgruppe für den öffent-lichen Raum LeoPART. Von 1996 bis 2009 war er Vorstandsmitglied der LAG Soziokultur Bayern e.V.

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Hermann Josef Hack, bitte sagen Sie einige Worte zu Ihrer Person.Als Künstler fühle ich mich, solange ich denken kann. Erfahren habe ich das Wichtigste, was mit Kunst machen zu tun hat, nicht an einer Aka-demie, obwohl bzw. weil mir Joseph Beuys im Nachhinein sicher viele Anregungen gegeben hat. Als ich mir bewusst die Frage gestellt habe, welche Form von Kunst ich machen will, war so-fort klar: Es kann nicht so weiter gehen, es kann nicht das sein, was alle anderen machen. Nicht den Kunstmarkt beliefern, damit elitäre Samm-ler bedient und starre Strukturen, die uns die heutigen Missstände eingebrockt haben, noch mehr gefestigt werden.

Mich hat interessiert, wie ich möglichst vie-le Menschen teilhaben lassen kann an einer Lösungsfindung für die vielen Probleme und Herausforderungen unserer Zeit. Damals, in den 1970er Jahren, hat mich fasziniert, was man erst viele Jahre später mit Vernetzung bezeichnet hat: mit vielen anderen gleichzeitig verbunden sein und sein kulturelles Umfeld gestalten. Da-her rührt auch mein Interesse an Kommunika-tion und Medien. Ich wollte lernen, wie man in einem funktionierenden, möglichst flächende-ckenden System operiert, um Veränderungen herbeizuführen. Das ist der Grund, weshalb ich 1979 bei der Deutschen Bundesbahn als Künst-ler eine Ausbildung zum Manager gemacht habe, was meine damaligen Künstlerkollegen nicht verstehen konnten.

Globale Soziale PlastikHermann Josef Hack

Von welchem Kunstbegriff gehen Sie aus?Mein Kunstbegriff ist ein sehr weit reichender, basierend auf dem von Beuys geprägten Begriff der Sozialen Plastik. Ich gehe noch einen Schritt weiter zur Globalen Sozialen Plastik. Weil alles, was wir heute tun oder nicht tun, weltweite Aus-wirkungen hat. Hinzu kommt der von mir gepräg-te Begriff der Ästhetik des globalen Überlebens. Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Wenn ich heute vor meiner Haustür entscheide, ob ich mit dem Rad in die Stadt fahre oder das Auto nehme, ob ich Fleisch esse oder Gemüse, dann ist das zugleich eine konkrete Entscheidung, welche die Klimakatastrophe anheizt oder bremst.

Mich treibt einerseits ungeheure Wut, anderer-seits Befriedigung, mich einzumischen.

Was inspiriert Sie? Was macht Sie verrückt?Mich treibt einerseits eine ungeheure Wut, dass weltweit alle 6 Sekunden ein Kind verhungert, während wir vor lauter Diäten nicht wissen, wie

wir unser Übergewicht wegkriegen. Dass wir zuse-hen, wie jeden Tag zig Fußballfelder betoniert wer-den, Regenwälder aus Habgier abgeholzt werden und die Ärmsten als Sklaven unter schlimmsten Bedingungen dafür schuften, damit wir uns güns-tig Dinge kaufen, die die meisten gar nicht brau-chen. Andererseits treibt mich die Hoffnung und eine Befriedigung, als Künstler die Dinge auf den Kopf zu stellen, mich einzumischen und Chancen zu ermöglichen, damit mehr Menschen ihre Rechte wahrnehmen und sich nicht alles gefallen lassen. Die Vision, das Erfinden und Vorwegnehmen von Möglichkeiten, finde ich spannend.

Wie arbeiten Sie? In welchem größeren persönlichen Zusammenhang stehen Ihre Projekte? Wie ist Ihr Credo?Meine Aktionen, Bilder und Objekte stehen in ei-nem persönlichen Zusammenhang, der von einem christlich humanitären Weltbild geprägt ist. Für mich ist die Freiheit des Andersdenkenden wich-tig, Gleichheit ohne Ansehen der Person, egal ob Penner oder Prokurist, Nutte oder Nobelpreisträ-gerin. So habe ich als Erster Internetprojekte für Obdachlose mit kostenlosen Internet-Zugängen Mitte der Neunzigerjahre realisiert (www.hack-

KünstlerInnen heute sind oft Allrounder. Mit Kunstaktionen reisen sie um die ganze Welt oder be spie len kontinuierlich Orte mit vielen Beteiligten. Sie sind Experten für Konzept und Design, Management und Marketing, für strategische Planung und Krisenbewältigung. Sie sind Sozialarbeiter und Handwerker, Chef und Hilfsarbeiter. Wir fragen zwei nach den Hintergründen ihres Tuns.

Klimaflüchtlingscamp Weimar Foto: H. J. Hack

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roof.de). Als ich mit der Künstlergruppe Ponton 1992 als documenta-Projekt das weltweit erste interaktive Fernsehformat „Van Gogh TV“ umge-setzt habe, war das eine Form von kreativer An-archie, der passive Empfänger wurde zum Sender, Jahre bevor es das Internet gab.

Was sind die Ziele Ihrer Projekte? Wofür bzw. wogegen richten sie sich?Derzeitig wichtigste Ziele meiner Projekte sind die Bekämpfung der Klimakatastrophe mit ih-ren jetzt schon verheerenden Folgen für die Schwächsten und Ärmsten auf der Welt sowie der wachsenden Ungerechtigkeit. Das Fatale ist, dass wir in einer Person Täter und Opfer sind und nur gemeinsam mit größten Anstren-gungen eine soziale Katastrophe verhindern können. Um es positiv zu sagen: Wir stehen vor einer großen kulturellen Revolution, die wir ge-meisam gestalten können. Dies zeige ich auch in meinen Bildern auf Zeltplane, die u. a. im öf-fentlichen Raum ungefragt präsentiert werden, Thema: die Brote Armee Fraktion, Botschaft der Klimaflüchtlingsrepublik usw.

Welche Rolle spielt der Ort in Ihren Arbei-ten (Transfer, lokaler Bezug, …)?Mein Atelier ist die Welt. Ich brauche eigentlich kein Studio. Das heißt aber, überall, wo ich bin, fängt die Arbeit an. Es nützt nichts, über globa-le Herausforderungen zu schwafeln, wenn es beim Abladen der Verantwortung auf die ande-ren bleibt. Der erste Schritt beginnt immer bei mir vor Ort. So versuche ich in meinen Projek-ten, die Leute selbst erleben zu lassen, was die global sichtbaren Veränderungen z. B. mit per-sönlichem und lokalem Handeln zu tun haben. Beispiel: Mit meinem Klimaflüchtlingslager aus Hunderten von Mini-Flüchtlingszelten gehe ich in die Fußgängerzonen und Marktplätze unserer Großstädte, dorthin, wo die Menschen konsu-

mieren und dadurch entscheiden, ob sie nach-haltiges Wirtschaften unterstützen oder nicht. Ich bringe die durch den Klimawandel heimatlos Gewordenen dorthin, wo die Ursachen liegen, wenn auch nur symbolisch, aber sehr präsent.

Welche Rolle spielen Sie in Ihren Projek-ten? Welche Rolle spielt das Publikum? In allen Aktionen und Projekten ist mir Partizipa-tion wichtig, d.h. dass sich die BetrachterInnen selbst einbringen, sei es, dass sie selbst zum Akteur werden wie beim Virtuellen Dach für Ob-dachlose oder beim Arme-Socken-Teppich, den ich aus den Strümpfen von Erwerbslosen aus ganz Deutschland gefertigt und dann vor dem Kanzleramt ausgelegt habe, um zu zeigen, dass die Betroffenen an den Spitzengesprächen für das Bündnis für Arbeit nicht teilnehmen durften. Beim Klimaflüchtlingslager sind immer Vertrete-rInnen von Organisationen dabei, welche kon-krete Tipps geben, was jeder Einzelne tun kann. Zum Beispiel habe ich mit der Nichtregierungs-organisation Oxfam International zeitgleich in fünf europäischen Hauptstädten ein Klima-flüchtlingslager mit je 200 Zelten errichtet, um bei den EU-Staatsoberhäuptern Gerechtigkeit im Klimawandel einzufordern. Ich sehe mich eher als Stifter von Kommunikation und Anre-ger, bin mir aber nicht zu schade, auch mit den Passanten zu diskutieren und mich meiner Ar-beit zu stellen.

Wie viel Planung ist notwendig? Wie offen ist der Prozess? Kann er scheitern?Alle Aktionen wollen geplant und organisiert sein. Bei ca. 1.000 Zelten, die z. B. vor dem Brandenburger Tor aufgestellt werden sollen, braucht man eine Genehmigung, ebenso wenn man – wie ich es häufig gemacht habe – vor dem Bundeskanzleramt oder dem Reichstag ar-beitet. Da ich alles selbst mache, vom Konzept

bis zur Pressemitteilung, ist dies schon eine um-fangreiche Arbeit, gehört aber zum Projekt. Ich kommuniziere diesen Prozess ganz offen. Bei-spielsweise als das Ordnungsamt von Erfurt mir verbieten wollte, mit Kreide auf dem teuren Gra-nitpflaster zu zeichnen, um die Klima­Fußspuren von Menschen festzuhalten, habe ich dies gleich publik gemacht. Allein die Drohung, die Presse zu informieren, führte zu einem Gesinnungs-wandel, so dass ich dann die Genehmigung erhielt. Oder als die Berliner Stadtverwaltung mir keine Genehmigung für mein Camp vor dem Brandenburger Tor geben wollte, habe ich dies öffentlich gemacht und mich bei einzelnen Po-litikern gemeldet, bis ich schließlich die Geneh-migung erhielt. Aber auch Scheitern gehört zum Versuch und bringt neue Erkenntnisse.

Woran messen Sie den Erfolg? Wann ist ein Projekt erfolgreich?Den Erfolg meiner Arbeit sollen andere beurtei-len. Hier geht es nicht um Noten wie beim Eu-ropean Song Contest oder um Verkaufsrekorde bei Sotheby‘s. Manchmal stellen sich Erfolge erst langfristig ein. Hauptsache, meine Arbeit bewirkt etwas in den Köpfen, das dann zu Taten führt. Wenn ich sehe, wie z. B. die Kinder in mei-nem Projekt „Malbuch für Flüchtlingskinder“, das ich mit aktion-deutschland-hilft e.V. und Flüchtlingskindern in Sri Lanka im Februar 2010 gestartet und dann mit Dresdner und Berliner Schulklassen weitergeführt habe, sich ernst ge-nommen fühlen und mir offen ihre Umgebung zeichnerisch darstellen, dann ist das eine schö-ne Bestätigung für die mühevolle Vorbereitung. Oder wenn mir Passanten zurufen, dass sie das Camp super finden und meine Installation sie angeregt hat, jetzt was Konkretes zu tun, weiß ich, dass meine Kunst wirkt.

www.hermann-josef-hack.de

P R O J E K T

KlimaflüchtlingscampIm September 2008 errich-tete Hermann Josef Hack auf dem Theatervorplatz des Deutschen Nationaltheaters Weimar, in dem 1919 die Verfassung der Weimarer Republik angenommen wurde, ein Lager mit über 300 Miniaturzelten als Klimaflüchtlings­Camp. Er erklärte damit diesen Ort zum Klimaflüchtlings­lager. Mitveranstalter der Aktion war die LAG Sozio kultur Thüringen e.V.

Foto: Bettina Rößger

soziokultur 1|11 READER14 AKTIONSRAUM KUNST

Ariane, sagst du bitte einige Worte zu dei-ner Person?Ich bin „Pop”: diplomierte Immobilienwirt-schafterin, freischaffende Künstlerin, Projekt-organisatorin, Galeriebetreiberin, Regisseurin, Mitbegründerin der Vereine Westbesuch und Helden wider Willen.

Ich stehe auf Kunst. Das ist mein Lebenssinn. Seit 2008 betreibe ich im Westwerk Leipzig ge-meinsam mit Matthias Petzold den Kunstraum essential existence gallery (EEG). Dieser Raum ist meine Hommage an diese Stadt und ihre Be-wohner (www.eexistence.de). Hier lebe ich mit meinem Sohn und zwei Katzen. Von hier aus arbeite ich an meinem europäischen Kurzfilm-projekt „Supermom Kick-Off“, dass seit 2010 in fünf Ländern stattfindet. Ich setze mich da-rin mit dem Alltag alleinerziehender Eltern und ihrer Kinder auseinander. Deren Geschichten will ich nicht bloß dokumentieren, sondern mit ihnen gemeinsam einen fantastischen Spielfilm mit europäischer Tragweite produzieren (www.supermom.eu).

Participate & innovateAriane Jedlitschka

P R O J E K T

JahrtausendfeldDas Projekt „Dein Feld“ setzt sich seit 2010 für den Erhalt der Freifläche „Jahrtausendfeld“, einer 24.000 qm großen Brache im Stadtgebiet Leipziger Westen, ein. Nach dem Motto „Kauf ein Stück Stadt“ soll es in den Besitz der Bürger schaft über-gehen und so als Freiraum inmitten der funktio-nalisierten und zunehmend privatisierten Stadt er-halten bleiben. Jeder Interessierte könnte so schon mit kleinen Beiträgen zum Anteilseigner werden. Wie das Feld zukünftig genutzt wird, entscheiden die 24.000 AnteilseignerInnen über eine eigens be-schlossene Verwaltungsinstanz – eine 24.000-Qua-dratmeter-Gemeinschaft – unter Einbeziehung der AnwohnerInnen öffentlich. Bis 2014 sollte der modellhafte Eigentumserwerb abgeschlossen sein. Bis dahin werden regelmäßig Informationsver-anstaltungen und Gespräche mit der Stadt-verwaltung Leipzig und interessierten Bürgern stattfinden. 2011 wird das Projekt im Rahmen von UTOPIA ATTRAKTOR 2011 thematisiert und weiter-entwickelt. UTOPIA ATTRAKTOR 2011 ist Feldfor-schung auf partizipativer Basis. Das offene Format soll als ein jährlicher Festivalkongress entwickelt werden, um gemeinschaftlich selbstorganisierte Modellprojekte in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen.www.deinfeld.de, www.utopiaattraktor.org

Wie arbeitest du? In welchem größeren per-sönlichen Zusammenhang stehen deine Pro-jekte? Wie ist dein Credo?Ich arbeite frei, so weit es mir möglich ist. Das heißt, ich bestimme, was ich mir zutrauen und schaffen kann. Allerdings möchte ich nicht allein arbeiten. Allein arbeiten ist einsam, der Weitblick geht verloren, man kann sich in Details verlieren. Die Gruppe ist wichtig, um Schwerpunkte immer wieder neu zu denken, andere Ansätze zu finden und komplexe Konstruktionen zu erfinden. Wir ar-beiten daran, subtile Vorgänge in der Gesellschaft

Ariane Jedlitschka

Von welchem Kunstbegriff gehst Du aus?Für mich ist es von Bedeutung, mit Menschen zu arbeiten. Ich arbeite prozessorientiert an soge-nannten sozialen Plastiken. Für mich ist es von Bedeutung, wenn ohne ökonomischen Zwang das Zusammenkommen von Menschen, Ideen und Orten ermöglicht wird.

Was inspiriert dich? Was macht dich verrückt?Mich motiviert es immer wieder, dass wir einen Raum schaffen, in dem Zeit, Ruhe und Momente entstehen, die anderen Menschen die Möglich-keit geben, über ihre Interessen zu reden, ihre Gedanken zu äußern, so dass sie einen Widerhall finden. Sei das eine Installation, die beispielswei-se auf Sprache reagiert, oder ein Film, der Ereig-nisse reflektiert und bewahrt … Wichtig ist die Reaktion. Mich inspirieren Menschen, wie sie sich im Alltag bewegen, sich in ihren Familien verhal-ten, wie sie ihre sozialen Beziehungen gestalten. Hinzu kommt die mediale Unterstützung, die Pro-these, die diese Prozesse hervorhebt. „Wir sind verrückt nach dieser Welt!“

AKTIONSRAUM KUNST

Und Du so? | Fotos: EEG

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K O L U M N E

Wunderland ...

... ist ein geheimnisvoller Ort. Man kann ihn schaffen aus allem, was Weisheit, Wissen und Fantasie hergeben. Dann schickt man Alice dort hin. Mit verrückten Begleitern in bizarre Spiegelsäle. Wenn viele diese Reise miterle-ben möchten, ist ein Kunststück gelungen, das sein Publikum gefunden hat.

Man kann aber den Vorgang auch ganz an-dersherum sehen. Wer sich aufmerksam um-guckt sieht ja: Wunderland ist überall. Es lässt sich buchstäblich anfassen. Denn täglich tun Menschen die rätselhaftesten Dinge, folgen verschlüsselten Absichten und führen in ih-ren Begegnungen immer neuartige Tänze auf. Kunst ist nötig, um dieses reale Wunderland sichtbar zu machen – und um es zu begrei-fen. Sie ist der komplexeste, der intelligen-teste und gleichzeitig emotionalste Code, der Menschen zur Verfügung steht.

Wenn man so will, ist jeder von Geburt an ein kleiner Künstler. Wohin er es bringt, hängt auch davon ab, ob dieser kleine Künstler im Alltag am Leben bleibt. Zu oft wird er ja blind, taub, stumm und starr über den Zumutungen des Realen. Als zuschauendes Publikum des Alice-Wunderlands schwebt er hin und wie-der zwischen Traum und Droge.

Im Prinzip ist es Aufgabe der Soziokultur, dauernd Herz-Kreislauf-Rettung zu betreiben, damit die Grenze zwischen beiden Wunder-ländern flüssig bleibt oder wird. Was für ein Kampf! Wo doch die einen von Bourdieu ge-lernt haben, dass sie die Grenzen dicht ma-chen müssen, um sich von den anderen zu unterscheiden. Die nur als schauendes zah-lendes Publikum an den äußersten Rand des wunderbaren Reiches gelockt werden.

Kunst jedoch entfaltet ihren magischen, le-bendigen Atem dort, wo beide Wunderländer sich selbstverständlich ineinander verweben. Der Seele nach braucht sie mehr öffentliche Gefährten als private Geldbeutel. Doch weil eine gesunde Seele eben einen gesunden Leib braucht, haben wir sie mal wieder: die Quadratur des Kreises oder die Krux mit dem Publikum.

Wie immer wünsche ich mir: Machen Sie trotz-dem weiter! Ihre Friede Nierbei

mit Hilfe medialer Werkzeuge anschaulicher dar-zustellen und zu transportieren. Schwer fassbare Zusammenhänge werden somit auch für Außen-stehende erfahrbar und vermittelbar und damit diskutabel. Das geht nicht allein.

Was ist das Ziel deiner Projekte? Wofür bzw. wogegen richten sie sich?Sie richten sich g e g e n nichts und sind auch f ü r nichts. Sie versuchen Möglichkeiten zu er-forschen, wie Menschen ihr Umfeld, ihr Leben umdeuten und reflektieren können. Die Prozesse, die hinter den Dingen liegen, können sichtbar ge-macht werden, so dass Menschen angeregt wer-den und ihren eigenen Zugang schaffen können. Aktiv am Leben teilzunehmen, das ist ein Ziel.

Im aktuellen Projekt „Utopia Attraktor“ stellen wir vor allem die Alternativen ins Zen-trum unserer Arbeit. Wir können durch unsere künstlerische und kuratorische Arbeit besonders glaubhaft darauf hinweisen, dass zu unserer an-geblich so alternativlosen Lebensform unzählige Möglichkeiten des Andersseins, -handelns und -denkens möglich sind. Daneben sind subversive Strukturen interessant, da sie unsichtbar Wege beschreiten, die öffentlich wirken, ohne selbst im Fokus der Öffentlichkeit zu stehen. Mit Hilfe subversiver Denkansätze und unseres Spezial-gebietes in der essential existence gallery, der Vermittlung der Idee der freien Bildung und des Wissensaustausches, wollen wir einen Prototyp der Zukunft entwickeln, der die vielen Utopien der Menschen sichtbar macht und im Internet offen zugänglich zusammenführt.

Welche Rolle spielt der Ort in deinen Arbei-ten (Transfer, lokaler Bezug ...)?Der Ort spielt eine große Rolle, auch wenn man mit der ganzen Welt kommunizieren kann. Uns ist aber der Transfer in die reale Welt, ins Räumliche und damit zeitlich Fühlbare wichtig. Die Identifi-kation mit dem Raum ist wichtig, sowohl für den Besucher als auch für den Veranstalter, um vor Ort sinnvoll wirken zu können und Ideen greif-bar zu machen. Unsere international agierenden Künstler brauchen Verortung, damit sie ihre Ideen vermitteln können, so dass sie beim Publikum ein Feedback erzeugen.

Welche Rolle spielst du in deinen Projek-ten? Welche Rolle spielt das Publikum?Ich verstehe mich als Projektorga nisator, als Netzwerker, als Öffent lichkeitsarbeiter. Ich ver-suche, aus dem Publikum neue Leute zu gewin-nen, die neue Projekte entwickeln. Daher ist das Publikum das Wichtigste. Ohne das Publikum können wir uns als Galerie nicht weiterentwi-ckeln. Das Schönste ist, wenn das Publikum inspiriert wird, Neues zu schaffen, eine Person aufgrund eines Projektes, einer Veranstaltung oder Ausstellung mit einer neuen Idee auf uns zukommt.

Wie viel Planung ist notwendig? Wie offen ist der Prozess? Kann er scheitern?Es ist immer mehr Planung notwendig, als uns Zeit, Geld oder Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Prozesse scheitern regelmäßig, täglich. Andere sind erfolgreich. Das Wechselspiel ist notwendig für unser Lernen und eröffnet neue Wege. Scheitern ist in unserem offenen Arbeits-prozess nur das Indiz, die Idee aus einer anderen Perspektive noch einmal neu zu denken.

Woran misst du den Erfolg? Wann ist ein Projekt erfolgreich?Ein Projekt ist dann erfolgreich, wenn es durchge-führt ist, wenn es in seiner Form, wie es erdacht ist und sich entwickelt hat, funktioniert. Egal ob es gescheitert ist oder nicht. Die Hauptsache ist, dass der Prozess offen liegt und die Menschen sich damit auseinandersetzen. Wenn das Publi-kum versteht, warum etwas so stattgefunden hat bzw. das Publikum nach dem Sinn der Unterneh-mung forscht, ist das unser Erfolg.

Die Fragen stellten BETTINA RÖSSGER und MAXI KRETZSCHMAR.

soziokultur 1|11 READER16 AKTIONSRAUM KUNST

I m 19. Jahrhundert eine Färberei, später Holz-drahtrollos, Thermometer, Sanduhren … Eine alte Fabrik im kleinen Thüringer-Wald-Dorf Böhlen. Bis 1990, dann war Schluss.

Im Jahr darauf treffen sich hier etliche bildende KünstlerInnen, um eine Zeit lang gemeinsam zu arbeiten. Ein buntes Völkchen, die Böhlener schauen skeptisch, manche sagen: „Hauptsa-che, es passiert was“. Wenig später Gründung eines Vereins, in der Mehrzahl Dorfbewohner, die gefangen sind von dieser fremdartigen Idee, eine vernachlässigte Industriebrache als Arbeitsort anderer Art wiederzubeleben. Auch im neu etablierten Kunstministerium des jungen Landes Thüringen verhaltene Skepsis, aber man fördert das Projekt, und seitdem kontinuierlich, bis heute. Einige der Akteure der ersten Stunde sind immer noch dabei, ob in Küche, Büro, als Künstler oder Hausmeister. So auch Christoph Goelitz, Mitbegründer und künstlerischer Lei-ter: „Im Dorf hielt man sich bedeckt, aber ließ uns in Ruhe. 1993 dann zwei Wochen lang uner-hörte Klänge von früh bis spät, 36 ausgewählte Musikstudierende aus aller Welt, ein babyloni-sches Sprachgewirr wie nie zuvor an diesem abgelegenen Ort. Eine Mischung aus jugendli-chem Kräftemessen, virtuoser Leichtigkeit und berührender Tiefe, Musik als das Verbindende schlechthin. Jetzt war die Neugier nicht mehr zu bändigen: Öffentliche Proben, umjubelte Konzerte in der alten Fabrik, der Dorfkirche und umliegenden Orten. Das war der Durchbruch, und dieses ambitionierte internationale Pro-

jekt jedes Jahr aufs Neue ein Höhepunkt. 1997 fühlte sich schließlich das ganze Dorf geehrt, als die Sommerakademie den Thüringer Kultur-preis bekam.“ Etliche kommen auch zu anderen Veranstaltungen, um über ungewohnt schräge Klänge, Tanzskulpturen, Limericks oder Ober-tongesang zu staunen, die meisten der Dorfbe-wohner aber kommen am liebsten zum Irischen Abend im Winter.

Das ganze Dorf fühlt sich geehrt.

Ja, die Sommerakademie ist auch im Winter schön. Zeit für freie Arbeitsaufenthalte, ein Kon-trastprogramm zu Sommertrubel und Baden im Waldsee. Der Tag wird angenehm strukturiert vom traumhaften Essen der Küchenfeen, ar-beitslose Frauen aus dem Dorf. Alles wird frisch gekocht und gebacken, jeden Tag ein neuer, sehnsüchtig erwarteter Kuchen.

„Das Beste ist die Verbindung von leckerem Essen, frischer Luft und guten Ideen“, sagt Jana Gunstheimer, die gerade erst von einem Stipen-dium für bildende Kunst in der Villa Massimo aus Rom zurückgekehrt ist und sich sofort wie-der heimisch fühlt im Thüringer Wald. „Weil man hier rund um die Uhr arbeiten kann und trotzdem noch ein Weinchen am Kamin schafft und weil es im Wald so riecht, wie man es aus der Kindheit kennt. Weil man Glücksgefühle hat, wenn einem auf dem Berg der Wind um die Ohren weht und

weil die Küchenfrauen so schöne Schürzen anha-ben … Man muss den Computer aus dem Fenster halten, wenn man ins Internet will“, setzt sie mit einem Lächeln hinzu. Die schlechte Erreichbarkeit verstärkt das Inselgefühl. Die Bühnenbildnerin Helke Hasse geht noch einen Schritt weiter: „Wenn ich im Winter hierher komme, habe ich immer die Hoffnung, dass wir eingeschneit werden und ich nicht mehr nach Hause fahren kann.“ – „Es ist fast wie ein drittes Zuhause … Einfach wunderbar, dass es solche Orte gibt“, sagt die Leipziger Fotografin Claudia Lindner.

Viele, die einmal da waren, kehren wieder. Wie auch ich, seit etwa zehn Jahren schon. Und war überrascht, dass man nach so langer Zeit noch neue Räume entdecken kann, die sich verwinkelt verwunschen hinter einer Abstellkammer mit Staf-feleien und Pinseln verstecken, obwohl man dach-te, die Gebäude bereits wie die eigene Westenta-sche zu kennen. Mit einem geradezu kindlichen Starrsinn hatte ich mich immer nach einem sol-chen Ort gesehnt, mit vielfältigsten Möglichkeiten und wundervollen Ausblicken, an dem gleicherma-ßen Ruhe und kreatives Chaos herrscht.

Die Wiesen vor dem Haus sind bereift und über dem Wald liegt der Morgennebel, eine gute Atmosphäre, um weiterzuarbeiten.

www.sommer-akademie.com | Fotos: Brigitte Romann

MARTINA ZSCHOCKE, freie Autorin, lebt in Görlitz. Sie war Stipendiatin der Thüringischen Sommerakademie und ist häufig Gast in Böhlen.

I N A C T I O

T H Ü R I N G I S C H E S O M M E R A K A D E M I E

Das gewisse Geheimnis der Insel ...

AKTIONSRAUM KUNST 17soziokultur 1|11 READER

I N P E R S O N A

J E N S H U C K E R I E D E Künstler und Filmemacher

Neue Formen der Erinnerung

Eine Filmszene führt in einen kleinen Laden, der vollgestopft ist mit Gram-mophonen und alten Platten. Zu hören ist ein knisternder Sprechgesang, der

von einer Schelllackplatte kommt. Drei junge Männer hören intensiv hin und grooven im Rap-Rhythmus mit den Köpfen vor und zurück. Mit dieser Szene fängt der Hamburger Künstler und Filmemacher Jens Huckeriede in wenigen Minu-ten ein, wie der Brückenschlag von der Volks-musik zum Hip-Hop gelingt. Der Film trägt den Titel „Return of the Tüdelband“. Autor und Re-gisseur ist Jens Huckeriede, 1949 geboren und in St. Pauli aufgewachsen. Nach langjähriger kaufmännischer Tätigkeit engagiert er sich u. a. in freien Theatergruppen und arbeitet geschäfts-führend im SterniPark e.V. mit. Seine Filme reali-siert er als Mitglied in der thede filmproduktion.

Seit Anfang der 90er Jahre sucht Jens Hucke-riede Spuren jüdischen Lebens in Hamburg. Sei-ne künstlerischen Projekte erforschen Familien-geschichten, die von der Vergangenheit zur Gegenwart führen und in die Zukunft verweisen. Im Film „Return of the Tüdelband“ geht es um die Geschichte der Gebrüder Wolf – Hamburger Künstler, die in ihrer Zeit sehr populär und erfolg-reich waren, bis sie vor den Nationalsozialisten fliehen mussten und über Shanghai in die USA emigrierten. Einer der jungen Rapper ist Dan Wolf, Urenkel von Leopold Wolf und wie dieser der Welt der Musik und des Theaters mit Haut und Haar verschrieben. Er ist der Protagonist des Films. Erst durch Jens Huckeriedes Recherchen

lernt er die Geschichte seiner Familie kennen. Der Film begleitet ihn durch Hamburg und zeigt in real time, wie er „seine Geschichte erfährt“.

Mit der Vergangenheit in die Zukunft.

Das Tüdelband-Lied der Gebrüder Wolf wird in Hamburg immer noch gesungen – die Geschich-te der Familie Wolf musste erst wieder in das Gedächtnis zurückgeholt werden. Ein Schlüssel-erlebnis auch für Jens Huckeriede, der wie die meisten Hamburger das Lied von Kind auf sin-gen kann, aber auf die Geschichte der Familie Wolf erst mit über vierzig Jahren gestoßen ist. Jens Huckeriede ist überzeugt: Das Wissen um die eigene Vergangenheit ist der Schlüssel für die Gestaltung der eigenen Zukunft. Seine Erleb-nisse bestätigen ihn darin. Seine Begegnung mit Dan Wolf führte zu einer intensiven Zusammen-arbeit. Gemeinsam initiieren sie künstlerische Projekte mit jungen Menschen zu den Themen Rassismus, Vertreibung und Migration. Hip-Hop, Rap, Beatbox, Theater sind ihre künstlerischen Ausdrucksmittel – für viele unvorstellbar, wie das in Verbindung mit Holocaust, Zeitzeugenbe-fragung und Gedenkstättenarbeit funktionieren soll. „Mit der Vergangenheit in die Zukunft“ ist ihr Motto. Sie wollen die Frage beantworten, wie Geschichte nicht vergessen wird, wenn Zeit-zeugen nicht mehr berichten können.

Mit seinem letzten Film „Ab nach Rio – die Akte Guggenheim“ erzählt Jens Huckeriede die Geschichte der Familie Guggenheim. Ausgangs-punkt ist die Villa Guggenheim in Hamburg. Der Verkauf des Hauses an einen Verein, der hier eine Kita betreibt, legte ihre Geschichte offen. Auch hier entsteht eine komplexe Projektarbeit. Im Haus wurde ein Archiv eingerichtet und ein Veranstaltungsraum, um die Geschichte der Fa-milie Guggenheim gegenwärtig zu halten. Eine

erste Installation von SchülerInnen ist bereits zur Eröffnung zu sehen und zu begehen.

Jens Huckeriede produziert Filme, interveniert im öffentlichen Raum mit Installationen und Aktionen, schafft Raum für Begegnungen unter-schiedlichster Menschen, organisiert Ausstellun-gen und Workshops. Diese komplexe Form der Projektarbeit, die sich im Prozess stetig weiter-entwickelt, versteht er als soziokulturelle Praxis, in die er alle künstlerischen Mittel einbringt, auf die er sich versteht.

Mit dem Film über das Tüdelband-Lied begann die Zusammenarbeit zwischen Jens Huckeriede und dem Hamburger Stadtteil&Kulturzentrum MOTTE. Im September wird die MOTTE direkt mit Dan Wolf kooperieren. Polnische Jugendliche und Hamburger SchülerInnen werden mit ihm in der Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg Musik und Texte produzieren. Die Ergebnisse dieser Workshops werden an unterschiedlichs-ten Orten aufgeführt werden.

Ebenfalls im September wird ein Projekt fortgeführt, das Jens Huckeriede und die MOT-TE zum 700-jährigen Stadtteiljubiläum von Ottensen initiiert haben. Sieben Protagonisten erzählen über ihre Biografie Geschichte und Ge-schichten dieses Stadtteils, der so aus den un-terschiedlichsten Perspektiven beleuchtet wird. Sieben filmische Installationen, die „endlos“ aus Ottenser Schaufenstern auf den Gehweg projiziert werden, laden ein zu individuellem Verweilen, treffen auf zufällige Passanten oder auf ein Publikum, das gezielt die Filme im Fens-ter ansteuert. Geplant ist ein Zusammenschnitt der sieben Porträts zu einem Film.

www.diethede.de, www.gebruederwolf.dewww.plattmaster.de/andeeck.htm (Lied vom Tüdelband)

GRIET GÄTHKE ist Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit im Stadtteil&Kulturzentrum MOTTE in Hamburg-Altona.

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W E R N E R P R E G L E R

Seit etwa 20 Jahren ziehen aktivis tische KünstlerInnen und KünstlerInnengrup-pen aus den Mu seen und Galerien aus, um im Stadtraum mit der Bevölkerung

zusammen neue Projekte zu entwickeln. Drei Kriterien sind dabei häufig erfüllt: Prozessorientiertheit Im Gegensatz zur klas-

sischen „Kunst im öffentlichen Raum“ setzen die KünstlerInnen nicht einfach Objekte in den Stadtraum, sondern versuchen Räume für die freie Entfaltung der Kreativität zu schaffen. Häu-fig ist der Prozess der Entstehung interessanter als das dabei entstehende Objekt. Partizipation Die KünstlerInnen kehren sich

ab vom Geniekult der Romantik und beteiligen aktiv die BürgerInnen, die nicht mehr nur als Pu-blikum oder RezipientInnen verstanden werden. Ortsbezug Die KünstlerInnen beziehen nicht

nur architektonische Elemente ein, sondern auch den spezifischen sozialen und politischen Cha-rakter eines Ortes.

Zwischen Agitation und ÄsthetikInternational maßstabsetzend war der Sammel-band „Mapping the Terrain: New Genre Public Art“ von Suzanne Lacy, der mit einem Manifest beginnt („To search for the good and make it matter: This is the real challenge for the artist” – Nach dem Guten zu suchen und ihm in der Welt Bedeutung zu verschaffen: Dies ist die wahre Herausforderung für den Künstler) und so ziem-lich alles enthält, was man tradi tionellerweise mit Kunst eben nicht meint! Diese weltverbes-sernde Haltung wird verständlich, wenn man

die Ursprünge dieses Manifestes in der ameri-kanischen Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre kennt. Und so durchziehen feministische, öko-aktivistische und anti-rassistische Motive die Aktionen der Künstlerinnen (Männer sind hier deutlich in der Minderheit) und führen zu einer Gratwanderung zwischen den Polen Ästhetik und Politik einerseits und Ästhetik und Sozialarbeit andererseits. Während manche Ausstellungen von einem Soziologieseminar kaum mehr zu unterscheiden sind, gibt es auch Beispiele, wo die Kritik an den entfremdeten Umständen sich gerade der sensiblen Annäherung an einen Ort (seinem spezifischen Klang, Geruch, Aussehen, seinen Menschen) verdankt und damit doch wie-der dem traditionellen Feld der Ästhetik in seiner ursprünglichen Bedeutung – also der Kunst der Wahrnehmung – zugehört. Und lange vor der Diskussion in Deutschland wurden hier die span-nenden Debatten der Interkulturalität (Identität/Fremdheit) und Interdisziplinarität geführt.

Neue Organe der WahrnehmungDie von Shelley Sacks gegründete Forschungsein-richtung zur Sozialen Plastik widmet sich eben-falls dem Zusammenhang zwischen Ästhetik und gesellschaftlicher Transformation. Ökologische und politische Fragen spielen auch hier eine wich-tige Rolle. An die Ideen Joseph Beuys´ anknüp-fend, geht es zuallererst darum, „Imagination und Intuition als neue Organe der Wahrnehmung, Strategien des Hörens und Zuhörens“ zu entwi-ckeln (Shelley Sacks). Die Verbindung zwischen Ästhetik und Ethik wird an dem Wortspiel „res-ponsiblity as an ability to respond“ erläutert, das auch im Deutschen funktioniert: Die Verantwor-tung (= das verantwortliche Handeln in der Welt)

entspringt nicht, wie traditionell oft argumentiert wird, moralischen Überzeugungen, sondern der Fähigkeit zu antworten, also etwas zunächst sen-sibel zu bemerken und darauf einzugehen. Dieses Vermögen des Künstlers – eine im Grunde nie zu beendende Schulung der Aufmerksamkeit – ist der Anknüpfungspunkt für eine wirkliche „parti-zipative“ Kunst, also eine Kunst, die an die Kre-ativität des Mitmenschen anschließt und diesen nicht – wie so oft – lediglich als Hilfspersonal für die Aktionen des Künstlers missbraucht.

Und so ziehen die KünstlerInnen und KünstlerIn-nengruppen weiter in den Stadtraum hinaus, in den letzten Jahren immer mehr in der Gewiss-heit, dass eine angemessene Annäherung an einen Ort und seine BewohnerInnen nicht nur mit allen Sinnen (Aufgabe der Kunst), sondern auch mit der menschlichen Intelligenz geführt werden muss, und verbünden sich dabei mit Soziologen, Stadtethnologen und Architekten, denen bewusst ist, dass die Annäherung nicht nur mit der menschlichen Intelligenz (Aufgabe der Wissenschaft), sondern auch mit allen Sin-nen geführt werden muss.

LITERATUR Lucy R. Lippard: The Lure of the Local: Senses of Place in a Multicentered Society.New York 1997 | Suzanne Lacy (Hg.): Mapping the Terrain: New Genre Public Art. Seattle 1995 | Stella Rollig / Eva Sturm (Hg.): Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum. Wien 2002 | Shelley Sacks: Exchange Values. Bilder unsichtbarer Leben / Images of Invis-ible Lives. Fiu-Verlag, Wangen im Allgäu 2007

WERNER PREGLER ist Mitglied der Kunst- und Forschungsgruppe LeoPART. www.leopart.eu

Die Welt verändern

P R O J E K T

GrashalmProjekt In dem Kunstprojekt von Thomas May werden seit 2001 rund um die Welt von unterschied-lichen Menschen Grashalme aus Balsaholz geschnitzt. Die Halme dieser Sammlung werden nummeriert und katalogisiert und in Ausstel-lungen immer wieder chronologisch in echten Rollrasen aufgesteckt. May unternahm seine sogenannten Schnitztouren – hauptsächlich ab-seits der gängigen „Kunst-Orte“ – bisher durch Finnland, Schweden, Tschechien, Makedonien, Italien, Polen, Süd-China, Österreich, Ukraine, Japan und Deutschland. Sammlungsstand am 9. März 2011: 10.789 Halme. www.grashalminstitut.de | Foto: Thomas May

soziokultur 1|11 READER 19AKTIONSRAUM KUNST

Rein oder raus? „WIND“ – eine Installation der Gruppe D.N.K./FILOART im Gleimtunnel Berlin

BA R BA R A R Ü T H , G R I T B E N AT H

Der Wind bewegt seit dem 2. Oktober 2010 die zwei Worte rein/raus in fünf Metern Höhe über den Fußwegen im

Gleimtunnel zwischen Berlin-Wedding (Bezirk Mitte) und Prenzlauer Berg (Bezirk Pankow).

Unbeeinflusst von Menschenhand, treibt der Zufall oder die allgemeine Wetterlage sein Spiel mit den Bedeutungen. In den Stadtraum gesetzt, verwirrt die Schilderanordnung, die weder Hin-weis, Verbot noch Werbung ist. Die Zweckfrei-heit der Anordnung hinterlässt den Betrachter nachdenklich, vielleicht auch ärgerlich. Wer soll sich angesprochen fühlen? Von welcher imagi-

nären Grenzziehung ist hier die Rede? Wer ist drinnen, wer ist draußen und wer bestimmt das?

Die Installation der zwei „Windspiele“ ist am Ein- und Ausgang des Gleimtunnels auf der Fußgängerseite montiert worden. Ganz in der Nähe des Mauerparks, einer ehemaligen Gren-ze, an der es darum ging, dass DDR-Bürger nicht raus und Bundesbürger nicht rein sollten. Allerdings vermischen sich hier nicht nur alte Ost-West-Animositäten. Der Gleimtunnel ver-bindet/trennt zwei Stadtteile, die unterschied-licher nicht sein könnten und bietet aktuell Gesprächsstoff sowohl für Pankow als auch für Mitte im Rahmen der geplanten Bebauung des Mauerparks.

Die ersten Durchquerenden waren die Gäste ei-nes inzwischen über den Kiez hinaus bekannten Events, der Gleimtunnelparty. Sie wurden be-fragt, was sie mit den beiden Worten assoziieren, ihre Antworten wurden über die Schaufenster des „KulturvorRat“ – eines Projekts des Vereins Förderband e.V., der auch das „WIND“-Projekt begleitete – öffentlich sichtbar und auf der Internetseite www.kulturvorrat.foerderband.org auch hörbar.

Umgesetzt werden konnte diese Installation über Mittel aus dem Fonds Soziale Stadt.

BARBARA RÜTH, Kuratorin GRIT BENATH, Projektmanagerin

REIN

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„Er schnitzet, hauet, gräbt und schneidet“Bildhauerei in Bremen und anderswo

Mit dem Gerhard-Marcks-Haus ist in Bremen nicht ein,

son dern laut Eigenbeschreibung d a s Bildhauermuseum

des Nordens beheimatet. Zwischen Kunsthalle und Goethe-

Theater gelegen, behütet es in erster Linie das Werk seines

Namensgebers, zeigt aber auch immer wieder Ausstellun-

gen Artverwandter. Für viele bleibt Bildhauerei allerdings

eine eher leidenschaftslose Angelegenheit. Man mag da-

mit Reiterstatuen und Herrscherdarstellungen, biblische

und antike Skulpturen verbinden. Zwar setzt Bildhauerei

das Puzzle Stadt genauso mit zusammen wie Karstadt und

Kirche, aber wie moderne, aktuelle Bildhauerei funktio-

niert, erfährt keine große Aufmerksamkeit. „Der Bildhauer

schnitzet, hauet, gräbt und schneidet“, heißt es in der Oeco-

nomischen Enzyklopädie von Johann Georg Krünitz aus dem

Jahre 1858. Was damit alles noch nicht gesagt ist, erzählt

Veronika Wiegartz, Kustodin im Gerhard-Marcks-Haus.

Zett: Mit der bekanntesten Bremer Skulptur würde ich gerne beginnen: Zuletzt wurde ge-sagt, die Stadtmusikanten seien zu klein – was halten Sie denn von einer Vergrößerung?Veronika Wiegartz: Hier im Hause halten wir von der Debatte gar nichts, weil Gerhard Marcks, der sie ja geschaffen hat, sich sehr klar für diesen Standort entschieden hat, sich auch sehr viele Gedanken um den Sockel der Stadt-musikanten gemacht hat und darüber hinaus die Größe der Skulptur genau so wollte. Gerhard Marcks war kein Gigantomane, er hat immer das Maß gesucht im Verhältnis zum Menschen. Ich glaube, für auswärtige Besucher ist dieser Über-raschungseffekt durchaus auch ein Teil der Figur, wenn sie dann entdecken: „Oh, da sind sie ja!“

Zett: Okay, die Stadtmusikanten sind noch recht gängig, aber Sie wollen uns ja über Bildhauerei generell aufklären. Welche Art von Kunst fällt denn überhaupt alles unter Bildhauerei?Wiegartz: Streng genommen sind das alle künst-lerisch gestalteten dreidimensionalen Objekte. Das ist jegliche Kunst, bei der man etwas model-liert oder zusammenfügt. Und an Material kann das alles sein: Holz, Plastik, Metall, Gips … Und

dann gibt es natürlich die Unterscheidung zwi-schen abstrakter, häufig als modern bezeichneter Skulpturkunst, und eben figürlicher Darstellung.

Zett: Und in Bremen bleibt man der Figur treu?Wiegartz: Ja, das ist richtig, das liegt natürlich daran, dass unser Haus hier das Werk Gerhard Marcks’ bewahrt – und der war eben ein figürli-cher Bildhauer. In Bremen gibt es durch Personen wie Bernd Altenstein, der derzeit noch den Lehr-stuhl für figürliche Bildhauerei an der Hochschule innehat, eine starke Lobby dafür. Das ist schon auch ein eigenes Profil, das sich Bremen da mit dem figürlichen Schwerpunkt erarbeitet hat.

Zett: Bei figürlicher Bildhauerei denken viele wahrscheinlich noch an Statuen, repräsentati ve, vielleicht biblische Skulpturen – sind Sie be-strebt, so einen alten Staub da abzuwischen?Wiegartz: Tatsächlich ist es so, dass Bildhauerei in der Vergangenheit für sehr stark repräsenta-tive Aufgaben bestimmt war, etwa Herrscher-darstellungen, Denkmäler, Erinnerungsmale. In der jüngeren Kunstgeschichte seit dem 19. Jahr-hundert setzt aber eine Tendenz ein, dass Kunst generell sich von offiziellen Aufträgen löst. Diese

Entwicklung hat Malerei wie auch Bildhauerei beeinflusst.

Zett: Moderne und postmoderne Positionen ha-ben also auch die Bildhauerei erreicht?Wiegartz: Ja, sicher, auch wenn es im Moment sogar eine Renaissance der figürlichen Bildhau-erei gibt und sie wie alle anderen Künste auch immer von Aufs und Abs gekennzeichnet ist. Aber wenn Sie sich Figuren aus den 1910er, 20er oder 50er Jahren angucken, dann werden Sie immer einen großen Anteil an Abstraktion entdecken. Zett: Wie sieht’s denn allgemein mit politischer Bildhauerei aus? Auch hier waren ja Skulpturen ausgestellt, die zu Themen wie dem Irak-Krieg Stellung nahmen.Wiegartz: Die Bildhauerei ist da mittlerweile genauso pluralistisch wie alle anderen Kunst-richtungen auch.

Zett: Gibt es denn in der Bildhauerei auch Ab-grenzungen zu Kitsch und Trivialität?Wiegartz: Bildhauerei kann sich da gar nicht großartig abgrenzen, die Windspiele am Tiefer hier in Bremen zählen natürlich auch zu Bildhau-

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erei. Es gibt auch strengere Definitionen, die die Auseinandersetzung mit Raum und Betrachter immer mit einbeziehen. Aber diese Übergänge zu Kitsch sind in der Bildhauerei selbstverständlich fließend, man denke an Porzellanfigürchen oder Gartenzwerge. Aber letztendlich hat das auch immer etwas mit Zeitgeist und Bewertungspro-zessen zu tun – ein Gartenzwerg im Schreber-garten kann Kitsch sein, in einer Installation eines jungen Künstlers kann das durchaus Kunst sein.

Zett: Was kann denn Bildhauerei an Auseinan-dersetzung leisten in Bezug auf Gedächtnis- und Erinnerungskultur?Wiegartz: Erstmal verfolgt sie ästhetische Ide-ale und transportiert Inhalte wie andere Künste auch. Dieses Erinnern an Dinge spielt eher auf einen repräsentativen Anspruch an, den sie heu-te gar nicht mehr haben will oder kann. Bildhau-erei ist aber etwa überlebensfähiger als andere Kunsterzeugnisse, dadurch, dass sie aus so ro-busten Materialien gefertigt ist. Ansonsten wür-de ich sagen, die Bildhauerei hat es im Vergleich

zu anderen Künsten seit jeher schwer gehabt, weil ihr dieses Klischee der Repräsentativität immer noch anhaftet.

Zett: Und im Moment haben Sie mit Waldemar Otto einen der Bremer Bildhauer im Hause …Wiegartz: Ja, wir betonen immer, dass Waldemar Otto zufällig in Worpswede lebt und wir deshalb in den Genuss eines sehr qualitätsvollen Bildhau-ers hier in Bremen kommen. Wir haben sechzig Skulpturen von Otto hier, aus allen Schaffenspe-rioden. Wir haben viele Torso-Varianten aus den unterschiedlichsten Phasen von ihm, und anhand dessen kann man gut seine Entwicklung und die der figürlichen Bildhauerei nachvollziehen. Es sind sogar schon Werke von 2009 zu sehen!

Zett: Was verbindet man in der Stadt denn mit dem Namen Otto?Wiegartz: Am bekanntesten von ihm ist sicher der Neptunbrunnen auf dem Domshof. Der war sehr umstritten, weil die Figur für viele zu abstrakt war. Für Otto ging das so weit, dass er Figur nur noch

als Schale aufgefasst hat. Der Brunnen erschließt sich eigentlich nur in Vorderansicht, und er hat ge-rade den Neptun hinten offen gelassen.

Zett: Braucht man denn heute immer noch grie-chische Götter?Wiegartz: Ich denke, die Zeitlosigkeit der Ge-schichten ist es, die dafür sorgt, dass sie immer wieder verwendet werden.

Abb.: S. 20: Veronika Wiegartz mit der Skulptur von Gerhard Marcks´ „Bremer Stadtmusikanten“ (klein), 1951/71 Bronze, Höhe 35,5 cm | S. 21: Waldemar Otto, „Das Fenster“, Sockeltorso V und VI, 1984, Bronze, Höhe 43 cm (links); „Mann mit Flasche“, 2006, Bronze, Höhe 45 cm (rechts oben); „Mann aus der Enge heraustretend II“, 1971–72, Bronze, Höhe 300 cm (rechts unten).Fotos: Kai-Erik von Ahn

Das Interview führte JENS UTHOFF. Es erschien in der ZETT, Zeitung für Stadtkultur, herausgegeben vom Kulturzentrum Schlachthof, Bremen, Ausgabe 4/2009.

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S O Z I O K U LT U R | Prinzipien – Praxis – PerspektivenInformationsdienst der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V.Soziokultur Nr. 83 | 21. Jahrgang | 1/2011 | ISSN 0946-2074

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