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Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 3. September 2011, 11.05 – 12.00 Uhr
900 Tage, eine Ewigkeit: Russland und die Blockade Leningrads
Eine Sendung von Gesine Dornblüth Redaktion: Thilo Kößler
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© - unkorrigiertes Exemplar –
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Sprecher:
Eine Überlebende der Leningrader Blockade:
O-Ton:
Wir haben damals gedacht, dass es nichts Schlimmeres auf der Welt gibt als
Deutsche.
Sprecher:
Und ihr Mann:
O-Ton:
Jetzt haben wir gute Bekannte in Deutschland. Sie laden uns ein, und wir laden sie
ein.
Sprecher:
Gesichter Europas. 900 Tage, eine Ewigkeit - Russland und die Blockade
Leningrads. Eine Sendung von Gesine Dornblüth.
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1. 500.000 Tote in Massengräbern: Der Piskarjovskoe -Gedenkfriedhof
Atmo
Autorin:
Birken. Es regnet. Zwei graue, schmucklose Bauten. Eine Inschrift: „Unseren
selbstlosen Verteidigern – den Opfern der Blockade des großen Krieges“.
Grasbewachsene Hügel: Massengräber. 1941. 1942. 1943. 1944. Eine ewige
Flamme brennt. Die Musik kommt aus Lautsprechern.
Atmo hoch
Autorin:
Ein Außenbezirk von St. Petersburg. Jevgenija Mjakischewa hat sich ein wenig
verspätet. Sie wohnt um die Ecke und ist Fremdenführerin.
O-Ton:
Der Piskarjovskoe-Gedenkfriedhof ist der größte Friedhof aus dem II. Weltkrieg. Hier
liegen etwa 500.000 Tote. In der Stadt lebten 1940/41 dreieinhalb Millionen
Menschen. Als die Blockade aufgehoben wurde, waren es noch eine halbe Million.
Viele sind dann später aus der Evakuierung zurückgekommen. Aber die Stadt hat
damals jeden zweiten Bewohner verloren.
Autorin:
Die Leningrader Blockade zählt zu den schlimmsten Ereignissen des Zweiten
Weltkriegs. Fast 900 Tage belagerte die Deutsche Wehrmacht das heutige St.
Petersburg: Vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Hitler wollte die
Metropole aushungern. Gleichzeitig bombardierte die Wehrmacht die Stadt. Die
meisten Opfer waren Zivilisten. Jevgenija Mjakischewa zeigt auf eine riesige Frauen-
Statue am Ende des Gräberfeldes. Zu ihren Füßen liegen frische Nelken.
O-Ton:
Das ist die Mutter Heimat. Sie trägt eine Girlande aus Eichenlaub in den Händen. Die
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Eiche symbolisiert ja Mut und Standhaftigkeit. Die Figur ist leicht nach vorn geneigt,
in Bewegung, so, als gehe sie zu den Massengräbern, um die Trauergirlande dort
niederzulegen.
Literatur-Sprecherin:
Aus den Tagebüchern und Erinnerungen der Philologin und Hochschulprofessorin
Olga Freudenberg:
Der Wirbelsturm kam näher. Am Mittag des 8. September war in der Luft plötzlich ein
ohrenbetäubendes Schnellfeuer zu hören. Es klang wie ein Hagel von Detonationen,
wie eine ungestüme Rotte dumpf tosender Geschützsalven, ein endloser, alles
verschlingender Donnerstrom, ein Strudel von Gekrache, Geprassel und
Katastrophen.
Oh, diese Berge von Holzsplittern, die Eisenbett-Teile, diese Behausungen der
Armen, der kärgliche Hausrat zwischen Ziegelsteinen und Balken. Wie alle
Menschen, wenn sie nackt sind, den gleichen Rang haben, so sahen auch alle
Wohnungen inmitten von Dreck und Trümmern einander gleich. Von manchen
Häusern ragte nur noch das Skelett, bei anderen stand, verblüffenderweise, noch
eine Tür, ein Stück Flur oder eine einzelne Mauer.
Die Deutschen griffen Leningrad täglich an, und jeden Tag mehrere Male, im Abstand
von ein oder zwei Stunden, fünf- bis sechsmal am Tag, sogar neun- oder elfmal.
Atmo
Autorin:
Jevgenija Mjakischewa ist mit 25 Jahren mit Abstand die jüngste Fremdenführerin auf
dem Piskarjovskoe-Gedenkfriedhof. Sie setzt Teewasser auf.
Atmo hoch
Autorin:
Ein alter Mann betritt das Büro, auf der Brust zahlreiche Orden. Die Frauen bieten
ihm einen Stuhl an.
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Atmo hoch
Autorin:
Grigorij Jurkin ist oft hier. Er wird in diesem Jahr 95 Jahre alt. Sein ganzes
Berufsleben war er Soldat. Er hat während der Leningrader Blockade Leichen auf
dem Piskarjovskoe-Friedhof bestattet.
O-Ton:
Ich habe damals in der Rotbannerkompanie in Leningrad gedient. Unsere Kompanie
hatte den Auftrag, die Folgen feindlicher Luftangriffe zu beseitigen. Ich war
Hauptfeldwebel.
Im Winter 1941/42 waren die Fröste streng wie lange nicht. Es gab keine
Lebensmittel, keinen Strom, kein Wasser. Die Leute starben, und niemand hatte die
Kraft, sie zu begraben.
Da bekam unsere Kompanie den Befehl, die Leichen auf dem Piskarjovskoe-Friedhof
zu bestatten. Das Ingenieurbataillon sprengte nachts Gruben in den gefrorenen
Boden. Das Pionierbataillon grub tagsüber mit der Hand weiter.
Unser Bataillon musste die Leichen in die Gruben legen. Das war eine sehr schwere
Arbeit. Unsere Kaserne war am anderen Ende der Stadt. Wir wurden morgens mit
Autos her gebracht, aber zurück mussten wir wegen Benzinmangels oft zu Fuß
gehen. Meine Leute sind unterwegs gestorben. Uns standen 300 Gramm Brot zu,
aber wir bekamen nur 150 Gramm und 70 Gramm Zwieback. Niemand wusste,
woraus der bestand. Der wurde nicht mal im Wasser weich.
Autorin:
25 Jahre war er damals alt.
O-Ton:
Ich kann mir heute selbst nicht mehr vorstellen, in welchem Zustand ich damals war.
Ich habe an nichts anderes gedacht als daran, Befehle auszuführen.
Ich hatte ungefähr 140 Leute in der Kompanie, und am Ende des Winters waren wir
noch 45. Alle anderen sind umgekommen.
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Atmo
Autorin:
Der alte Mann lässt zwei Stück Zucker in den Tee fallen. Im Januar 1942 gelang es
den Russen endlich, Lebensmittel in die Stadt zu bringen: Über den zugefrorenen
Ladogasee. Auf dem Eis wurden Schienen verlegt: Die „Straße des Lebens“. Von nun
an konnten auch wieder Menschen die eingeschlossene Stadt verlassen.
Hauptfeldwebel Jurkin erhielt eine neue Aufgabe.
O-Ton:
Ich war Scharfschütze, und ich habe andere Scharfschützen ausgebildet. 1942 lagen
wir mit zwölf Mann im Süden an der Front. In drei Wochen haben wir mehr als
sechzig Deutsche außer Gefecht gesetzt. Ich persönlich habe elf Deutsche
vernichtet.
Autorin:
Später entschuldigt er sich. Ihm sei nicht klar gewesen, dass er mit einer deutschen
Journalistin spricht. Dann hätte er das so nicht gesagt.
Jurkin engagiert sich noch heute im Sportklub Dynamo. Der Klub war in der
Sowjetunion dem Geheimdienst unterstellt.
Atmo
Autorin:
Jevgenija Mjakischewa, die Fremdenführerin, geht hinüber in die Ausstellung.
Gerade führt eine Kollegin eine Gruppe Erstklässler herum, zeigt Fotos aus der
besetzten Stadt: Leere verschneite Straßen, kraftlose Gestalten, die Leichname auf
Schlitten hinter sich her ziehen, Menschen, die mit Eimern vor einem Wasserloch in
der zugefrorenen Newa Schlange stehen. Ein Film läuft. Die Kinder stehen gedrängt,
schauen gebannt auf die Leinwand.
O-Ton:
Besonders die kleinen Kinder, Erst- und Zweitklässler, hören meist sehr gut zu. Viele
wissen auch schon selbst viel und erzählen von ihren Urgroßeltern, die die Blockade
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erlebt haben. Mit kleinen Kindern macht es am meisten Spaß.
Zu uns kommen auch viele offizielle Delegationen. Kürzlich war der Präsident von Sri
Lanka hier, eine Delegation aus China, und im Dezember 2010 der deutsche
Bundespräsident.
Es ist wichtig, dass offizielle Vertreter anderer Länder in Dankbarkeit jener gedenken,
die Leningrad verteidigt haben und die so geholfen haben, den Tag des Sieges im
Kampf gegen den Faschismus herbeizuführen. Das ist wichtig und nötig, auch heute
noch.
Literatur-Sprecherin:
Ab Dezember wurde alles doppelt so schlimm:
Der größte Teil der Bevölkerung erhielt pro Tag 125 Gramm Brot. Im übrigen war das
schon längst kein Brot mehr, sondern ein fragwürdiges, näßliches Gemengsel aus
allen möglichen Ersatzstoffen mit einem Beigeschmack von Petroleum. Bei 25-30
Grad unter Null standen die ausgezehrten Menschen stundenlang an, um ihre
kümmerliche Ration zu bekommen.
In Apotheken, unter Torbögen, in Hauseingängen, auf Treppenstufen und
Türschwellen – überall lagen Leichen. Die Hausmeister schafften sie morgens
beiseite, als wäre es Müll.
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2. Nur die Liebe hat sie gerettet: Das Ehepaar Kryl enkow
Atmo
Autorin:
Die Elektritschka, der Vorortzug, verlässt St. Petersburg in Richtung Norden. In den
Waggons sitzen vor allem alte Leute. Eine Frau trägt eine Katze im Arm. Eine andere
löst Kreuzworträtsel. Eine dritte blättert im „Fröhlichen Kleingärtner“. Verkäufer gehen
durch den Zug. Ein Mann preist Luftballons an.
Atmo hoch
Autorin:
Im Zug sitzt Lev Krylenkov, 35 Jahre alt, Computerhändler. Er ist auf dem Weg zu
seinen Großeltern. Sie verbringen den Sommer auf der Datscha, wie jedes Jahr.
O-Ton:
Meine Oma und mein Opa haben viel von der Blockade erzählt. Aber sie haben
vermieden, allzu konkret zu werden. Sie wollten uns Kinder wohl nicht
traumatisieren. Jetzt erzählen sie mehr. Aber meist müssen sie weinen.
Autorin:
Die Elektritschka fährt durch Wälder. Frisches Grün schlägt an die Fenster des
Zuges. Seen, badende Kinder.
O-Ton:
Wir alle hatten Bücher in den Regalen mit Titeln wie „Die Blockade Tag für Tag“ und
ähnlich. Der Tag der Aufhebung der Blockade wurde in der Schule immer begangen.
Wir haben dann mit den Großeltern telefoniert und ihnen gratuliert.
Autorin:
Leningrad erhielt später den sowjetischen Ehrentitel einer Heldenstadt.
Atmo
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Autorin:
Levs Großeltern, Galina und Alexander Krylenkow, wohnen in einem einfachen
Holzhaus. Die beiden sitzen nebeneinander im Garten in der Sonne. Besonders
Galina Krylenkowa wirkt mit ihren kurzen blonden Haaren und dem T-Shirt mit
Schmetterlingen nahezu jugendlich. Sie ist 90. Sie hilft ihrem Mann auf. Er ist 92 und
stützt sich auf einen Gehstock.
Atmo
Autorin:
Im Haus ist es kühl. Auf dem Tisch ein Marmeladeglas mit Blumen, an der Wand ein
Porträt Puschkins. Die beiden Alten setzen sich auf die Couch. Galina Krylenkowa
rutscht weit nach hinten, so dass ihre Füße den Boden nicht mehr berühren, und hält
den Unterarm ihres Mannes. Er sitzt aufrecht. In diesem Sommer haben sie ihren
siebzigsten Hochzeitstag gefeiert. Sie haben im August 1941 geheiratet. Da war die
Wehrmacht bereits im Anmarsch.
O-Ton:
Die Evakuierungen hatten schon begonnen. Mein Vater fuhr mit der ganzen Familie
aus der Stadt. Ich durfte nur bleiben, weil ich gesagt hatte, dass ich heirate. Mein
Mann war damals im dritten Studienjahr, ich im zweiten.
Wir waren zu dem Zeitpunkt schon acht oder neun Monate verliebt. Also gingen wir
zum Standesamt. Nur wir beide. Alle anderen waren ja schon weg.
O-Ton:
Sie war einfach eine interessante Frau. Sie hat mir gefallen. Bei den
Studentenabenden haben wir getanzt. Später stand uns danach nicht mehr der Sinn.
O-Ton:
Er war groß, erst jetzt ist er geschrumpft. Ich war immer so stolz. Er war ein schöner
Mann. Ich war sehr verliebt. Er auch in mich. Ich war keine Schönheit. Aber er fand
mich wohl schön genug.
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O-Ton:
Der Standesbeamte, der uns vermählt hat, sagte...
O-Ton:
Was tut ihr nur? Er wird doch einberufen. Sie werden ihn umbringen. Aber wir waren
verliebt.
Wir haben das alles erst auch gar nicht begriffen. Wir alle dachten, wenn wir
kämpfen, dann höchstens drei, vier Monate. Dann siegen wir, und alles wird gut.
Autorin:
Es kam anders. Anfang September 1941 zog das Militär Studentinnen und Studenten
ein. Sie mussten vor den Toren Leningrads Panzerabwehrgräben ausheben. Danach
wurden die jungen Frauen im Schnellverfahren zu Krankenschwestern ausgebildet.
Ende November 1941 wurden die Lebensmittelkarten nutzlos, denn es gab so gut
wie nichts mehr zu essen. Die Uni-Mensa hatte längst geschlossen.
O-Ton:
Wir waren ja an der Geografischen Fakultät. An der Naturwissenschaftlichen gab es
Tiere. Die haben sie alle aufgegessen. Vielleicht stimmt das nicht, aber das wurde
erzählt. Ich kann es mir vorstellen. Alle Katzen und Hunde sind doch auch aus der
Stadt verschwunden.
Autorin:
Nicht nur die Haustiere waren aufgegessen. Es gab in der Stadt auch keine Ratten
und keine Vögel mehr.
Das junge Paar hatte eine Bekannte, die in der Landwirtschaft arbeitete. Sie gab
ihnen ab und zu Gemüseabfälle, halb verwestes Zeug.
O-Ton:
Und im Buffet waren noch ein paar Lebensmittel von meiner Mutter. Ein halbes Kilo
hier von, ein halbes davon... Wir hatten einen großen Topf, darin haben wir Wasser
gekocht und täglich einen Löffel von den Vorräten hineingetan. Es war so wenig zu
essen.
Trotzdem haben wir nie die Beherrschung verloren und uns mit dem vollgestopft, was
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dem anderen zustand.
Autorin:
Ende Dezember wurde Alexander Krylenkow so schwach, dass er nicht mehr
aufstehen konnte.
Zum Hunger kamen die Bombenangriffe. Das Haus gegenüber bekam einen
Volltreffer.
O-Ton:
Wir wohnten am Fluss, an der Newa. Dort lagen Schiffe. Die wurden beschossen.
Wir mussten Wasser vom Fluss holen. Das war schrecklich. Und die Eimer waren so
schwer.
Bomben machen solche Angst. Und die Granaten. Wie sie heulen. Als würden sie auf
dich zielen.
Autorin:
Schließlich hatte auch Galina Krylenkowa keine Kraft mehr, um Wasser zu holen.
Aber sie und ihr Mann hielten durch bis Ende Januar. Endlich kamen über den
vereisten Ladogasee Lebensmittel in die Stadt. Und Alexander Krylenkow und seine
Frau wurden über die „Straße des Lebens“ evakuiert. Der einst so kräftige Student
wog noch 35 Kilo.
Alexander Krylenkow hatte vier Brüder und eine Schwester. Er war der jüngste.
Seine gesamte Familie kam im Krieg ums Leben. Die Geschwister starben an der
Front. Die Eltern sind in Leningrad verhungert.
O-Ton:
Sie haben nicht mal ein Grab bekommen. Sie wurden in Laken gewickelt, auf dem
Schlitten ins Krankenhaus gebracht und dort auf einen Haufen geworfen.
O-Ton:
Das war im Januar. Da waren wir selbst schon halbtot.
Autorin:
Er tupft sich mit einem zusammen geknüllten Taschentuch das Auge trocken. Seine
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Frau greift nach seinem Unterarm.
O-Ton:
Wir haben damals gedacht, dass es nichts Schlimmeres auf der Welt gibt als
Deutsche.
O-Ton:
Ich persönlich verspüre jetzt keinen Hass auf die Deutschen. Das ist erstaunlich,
aber eine Tatsache: Wir sind bereit, mit den Deutschen in Freundschaft zu leben.
O-Ton:
Weil sie um Verzeihung gebeten haben.
O-Ton:
Nicht nur deshalb.
O-Ton:
Das ist aber wichtig. Die Deutschen haben anerkannt, dass sie schuld waren.
Öffentlich.
O-Ton:
Jetzt haben wir gute Bekannte in Deutschland. Sie laden uns ein, und wir laden sie
ein.
Autorin:
Ihr Sohn ist vor ein paar Jahren mit seiner Familie nach München gezogen.
Regelmäßig verbringen Galina und Alexander Krylenkow den Winter bei ihm in
Deutschland. Oft gehen sie dann im Park spazieren, ruhen sich auf einer Bank aus.
Die Nachbarn kennen sie schon.
O-Ton:
Ich hoffe, wenn die Deutschen uns hören, verstehen sie, wie wir zu ihnen stehen –
trotz der Verbrechen, die sie uns angetan haben.
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Autorin:
Galina Krylenkowa reicht ihrem Mann ein Stück Schokolade.
O-Ton:
Ich kann nicht sagen, dass ich ein rosiges Leben hatte. Die Zeit, in die wir
hineingeraten sind, war mit nichts zu vergleichen. Ich denke, nur die Liebe hat uns
geholfen, nicht zu verbittern. Wir waren immer freundlich zueinander.
Literatur-Sprecherin:
In der Wohnung hatten wir drei Grad unter Null.
Abflüsse und Kanalisation funktionierten nicht mehr. Von der Treppe her zog ein
scharfer, widerwärtiger Geruch aus der öffentlichen Toilette. Hof, Fußboden, Straße,
Schnee – alles war von einer stinkigen gelben Brühe bedeckt.
Wir litten unsäglich am Erfrieren der Hände. Oh, dieser stechende, unerträgliche
Schmerz in den Fingern! Tränen traten einem in die Augen, die Leute schrien
herzzerreißend.
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3. Mut, Standhaftigkeit, Verteidigung des Vaterland es. Was russische Schüler
von der Blockade lernen sollen.
Atmo
Autorin:
Die Hochhäuser im Südwesten von St. Petersburg sind sechs bis zwanzig
Stockwerke hoch. Gestrüpp überwuchert verrostete Spielgeräte und Reste von
Sitzbänken. Zwischen den Wohnblöcken matschige Trampelpfade und
Mittelklassewagen aus russischer Produktion: Schigulis, alte Ladas. Eine Frau
schiebt einen Kinderwagen.
Atmo hoch
Autorin:
Im Zweiten Weltkrieg war hier der Stadtrand – und die Front. Zahlreiche
Straßennamen erinnern daran: Die Partisan-German-Straße, der Prospekt der
Veteranen, der Marschall-Schukow-Prospekt, der Prospekt der Volkswehr.
Atmo hoch
Autorin:
In der Straße der Standhaftigkeit steht eine Schule. Es sind Ferien, aber einige
Schüler sind trotzdem da. Sie nehmen an einem Sommerlager teil. Die Lehrer gehen
mit ihnen ins Theater, ins Schwimmbad, organisieren Sportwettkämpfe oder Ausflüge
ins Umland. An diesem Tag führen die älteren Schüler im Schulmuseum ein Konzert
auf.
Atmo: „Rjabina“
Autorin:
Auf Podesten liegen Granatsplitter, durchschossene Helme, Minen, Gasmasken,
Feldflaschen, Armeemäntel. An den Wänden rote Tafeln, Fotos ordensgeschmückter
Generäle und Plakate mit patriotischen Parolen.
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Das Museum ist dem Zweiten Weltkrieg gewidmet, dem Großen Vaterländischen
Krieg, wie er in Russland heißt.
Vorn steht eine Schülerin aus der elften Klasse in Rock und weißer Bluse. Sie singt
von einem Soldaten, der in den Krieg zieht. Bevor er das Haus verlässt, pflanzt er
eine Eberesche am Gartentor. Er sagt zu dem Baum: „Wart' auf mich“. Als der Soldat
an der Front fällt, wirft die Eberesche aus Kummer die Blätter ab.
Etwa zwanzig Erst- und Zweitklässler sitzen auf Stühlen, aufrecht, still, einige mit
offenem Mund.
Atmo
Autorin:
Nach dem Lied sagen die älteren Schüler für die jüngeren Gedichte auf. Im
Mittelpunkt steht die Blockade. Zwei Jungs halten einen Powerpoint-Vortrag über die
Ration von 125 Gramm Brot und dessen chemische Zusammensetzung. Ein
Mädchen referiert den Lebenslauf von General Nikolaj Simonjak. Nach ihm ist das
Schulmuseum benannt. Er leitete 1944 den Durchbruch der Blockade. Dann ein Film
über den Alltag im belagerten Leningrad. Er lief im russischen Fernsehen. Immer
wieder ist vom ungebrochenen Durchhaltewillen der Leningrader die Rede.
Atmo
Autorin:
In der ersten Reihe sitzt die Direktorin des Schulmuseums, Lilija Poljanskaja. Von der
Blockade können die Kinder viel lernen, sagt sie.
O-Ton:
Es geht um Mut, Standhaftigkeit und die Verteidigung des Vaterlandes. Diese
Qualitäten sind für das Land wichtig und auch für die persönliche Entwicklung jedes
einzelnen. Der Veteran Nikolaj Simonjak ist ein gutes Vorbild. Er kam aus einer
armen, kinderreichen Familie, aber er hatte Charakterstärke und brachte es dank
seiner Willenskraft bis zum General. Auch heute kann ein Kind diese Qualitäten
entwickeln. Vielleicht wird nach ihm dann auch irgendwann eine Straße benannt.
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Autorin:
Lilija Poljanskaja leitet das Museum seit sieben Jahren. Sie zeigt auf einen Zettel an
der Wand. Darauf steht: „Ehre, Heimat, Ruhm“. Das ist die Devise der Schüler in der
Museums-AG. Sie nennen sich Gardisten. Gemeinsam besuchen sie
Kriegsschauplätze und treffen Veteranen.
O-Ton:
Das Schulmuseum ist ein Zentrum der patriotischen Erziehung.
Ich persönlich finde, jeder Mensch muss physisch stark sein. Er muss sich
verteidigen können. Ein schwacher Mensch ist eben schwach, ein starker ist stark.
Und genauso verhält es sich mit dem Staat.
Atmo
Autorin:
Die zwölfjährige Ksenia führt die Besucher herum. Sie betritt eine Holzhütte.
Atmo
Autorin:
Die Wände sind aus armdicken Baumstämmen gezimmert. Das Licht ist schummrig.
An einem Haken hängt eine Militärmütze.
O-Ton:
In solchen Erdhöhlen haben sich die Soldaten im Krieg vor den feindlichen Granaten
geschützt. Die Kommandeure konnten auf der schmalen Liege ausruhen.
In unseren Erdhöhlen gab es auch immer eine Harmonika. Während der Kämpfe
konnte sie verloren gehen, deshalb wurde sie hier aufbewahrt.
Auf Zetteln wurden die Heldentaten der Soldaten gemeldet:
„Während der Nachtwache nahm der Ordensträger Ivan Smirnov persönlich zwei
deutsche Funker fest und übergab sie uns zusammen mit Waffen und der Spule
Draht. Ruhm dem tapferen Kämpfer und Gardisten.“
Autorin:
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Der handgeschriebene Zettel hängt etwas schief an der Wand. Ksenija löst die
Reißzwecke und fixiert ihn. Dann zeigt sie auf ein Stalinporträt über der Pritsche.
O-Ton:
Er war der Führer des Volkes, und sein Porträt hat den Kampfgeist der Menschen
gestärkt. Unter Stalin war das Land stark, es hat den Angreifern widerstanden.
Autorin:
Stalin zählt in Russland zu den beliebtesten Figuren der Geschichte. Dabei sind sich
viele Historiker einig, dass Josif Wissarionowitsch Dschugaschwili zwar ein
skrupelloser Diktator, aber keinesfalls ein begnadeter Kriegsstratege war. Viele
Soldaten schickte er mit unsinnigen Befehlen in den Tod. Dokumente, die erst jetzt
zugänglich sind, belegen, dass Stalin auch an dem Massensterben im belagerten
Leningrad erheblichen Anteil hatte. Demnach herrschten dort Inkompetenz und
Korruption. Stalin hatte mit seiner Politik der Säuberungen viele fähige Offiziere und
Beamte bereits vor dem Krieg umbringen oder in Schauprozessen zu langer
Lagerhaft verurteilt lassen. Doch diese Fragen werden im Schulmuseum nicht
diskutiert. Die Leningrader Blockade steht hier, wie fast überall in Russland, für das
Heldentum des Sowjetbürgers, der den Faschismus besiegte.
Atmo:
Vens'kij Vals
Literatur-Sprecherin:
Am Morgen des 24. Februar konnte ich schließlich vor Schmerzen weder stehen
noch hüpfen noch mich durchs Zimmer bewegen.
Ich lag gelähmt im Bett.
Erst nach drei Wochen konnte ich unseren alten Hausarzt konsultieren. Als er mich
abgehört und untersucht hatte, sagte er: „Sie haben Skorbut!“
Tamara Nikolajewna Petuchowa trieb Vitamin C für mich auf, und das war meine
Rettung. Durch die glatten Straßen, die frostige Finsternis der Winterabende und
über das Eis der zugefrorenen Newa brachte sie mir Dosen mit „Glukose“. Das war
ein widerlich süßer Sirup mit scharfer Aroma-Essenz, ein gräßliches Dreckszeug, das
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in der Akademie der Wissenschaften zum Wucherpreis von 150 Rubel pro Kilo
verkauft wurde.
Das Vitamin C half verblüffend! Nach sechs bis sieben Tagen waren meine Beine
leicht und beweglich, die Schmerzen verschwunden.
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4. Wiedergutmachung: Freiwilligendienst in St. Pete rsburg
Atmo
O-Ton:
Das ist ein Erdbeer-Vanille-Tee. Den hab ich meinen Babuschkas geschenkt und
auch einen hab ich hier zu Memorial gebracht. Die freuen sich hier immer, weil... Hier
wird morgens, mittags und abends Tee getrunken.
Autorin:
Sorgsam stellt Benjamin Schreiber den Wasserkocher zurück auf den Tisch. Es ist
Mittag. Der 21-Jährige sitzt im Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial in St.
Petersburg. Er absolviert einen Freiwilligendienst und kümmert sich ein Jahr lang um
alte Menschen. Meist sind es alleinstehende Frauen.
O-Ton:
Immer wenn ich ne Babuschka besuche, es gehört immer das Teetrinken dazu.
Ältere Leute trinken eigentlich schwarzen Tee mit Zucker, ich trinke immer Tee ohne
Zucker. Und dann kommt's dadurch immer schon zu dem ersten Gesprächsstoff, ach
ja, warum denn ohne Zucker, ja, machen wir so in Deutschland, Tradition, und kann
man immer gleich weiter ins Gespräch finden, ist ganz interessant.
Autorin:
Eine Frau kommt dazu. Galina Schkolnik ist Benjamins Ansprechpartnerin bei
Memorial. Sie lächelt ihn an.
O-Ton:
Es kommt immer mal wieder vor, dass alte Leute sich von einem Deutschen nicht
helfen lassen wollen. Weil sie im Krieg unter dem deutschen Angriff gelitten haben.
Wir versuchen, ihnen klar zu machen, dass die jungen Deutschen das als Zeichen
der Sühne machen, und dass das eine ganz neue Generation ist.
Autorin:
Memorial setzt sich seit mehr als zwanzig Jahren für die Aufarbeitung der
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sowjetischen Verbrechen ein. Die meisten Alten, um die sich die Freiwilligen
kümmern, sind Opfer der stalinistischen Repressionen. Aber viele haben auch die
Blockade erlebt. Galina Schkolnik findet, dass die Leningrader Blockade zu sehr
verklärt wird.
O-Ton:
Was hat es mit Heldentum zu tun, wenn die Menschen verhungern? Wo ist da das
Heldentum? Das ist eine Tragödie.
Man muss die Blockade als ein Glied in der Kette der Repressionen gegen das
eigene Volk sehen.
Zur Blockade kam es nicht nur wegen des blitzartigen Überfalls, sondern auch
wegen der Zustände hier bei uns. Warum zum Beispiel wurde unsere Volkswehr
praktisch unbewaffnet losgeschickt? Und warum mussten so viele Menschen
verhungern?
Wir müssen auch über die eigenen Fehler reden, aber das ist bei uns irgendwie nicht
üblich.
Atmo:
Do svidanija – do svidanija
Autorin:
Benjamin hat den Tee ausgetrunken, zieht seine Wetterjacke an und bricht zu einem
Hausbesuch auf.
Atmo
Autorin:
Er ist gleich nach dem Abitur in Kassel nach St. Petersburg gegangen. Später
möchte er Psychologie studieren. Er kam, ohne Russisch zu können.
O-Ton:
Für mich war Russland schon immer interessant, es kommt viel in den Nachrichten,
viele reden schlecht über Russland, manche reden ganz gut über Russland, und ich
wollte da schon immer gern mal hin.
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Atmo: Allo, izvinite...
Autorin:
Sicherheitshalber kündigt Benjamin sich bei der alten Dame noch einmal an. Dann
geht es in die Metro. Station Dostojevskaja. Die Rolltreppe fährt schnell abwärts.
O-Ton:
Also am Anfang hat mich am meisten überrascht, dass man als Deutscher so positiv
überall aufgenommen wird, und dass sich viele so freuen, sich mit 'nem Deutschen
zu unterhalten, auch so auf dem Markt und so: Ja, woher bist du denn – Deutscher –
ach, wie toll, und dann legen sie eher noch ne Mandarine mehr rein als bezahlt.
Literatur-Sprecherin:
Ich lebte von einem Tag zum anderen, in monotonem Kampf mit der alltäglichen Not.
Der sowjetische Mensch verfügte über unermessliche Kapazitäten, er konnte sich
dehnen wie ein Hosenträger, beliebig lang und in jede Richtung. Hinzu kam noch die
Anämie und Zermürbung durch die letzten Jahrzehnte. Es war völlig unerheblich, ob
man hier starb oder dort. Niemand hatte auch nur die geringste Wahl oder Aussicht
auf Freiheit und Erlösung.
Sich zu beklagen oder um Hilfe zu rufen war unmöglich. Zeitungen und Rundfunk
tönten laut, wie furchtlos und tapfer die Belagerten seien. Früher einmal wurden
Festungen ausgeliefert, wenn die Lebensmittelvorräte erschöpft waren. Oft ging
einem durch den Sinn: Wer war erbarmungsloser – diejenigen, die lebendige
Menschen in die Todesfalle sperrten, oder diejenigen, die schossen und mordeten?
Hier herrschte das übliche Gesetz – auf dem Menschen wurde herumgetrampelt.
Und das nannte sich dann Tapferkeit, Heroismus der Belagerten, die angeblich
freiwillig ihr Leben fürs Vaterland hingaben.
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5. Soldat ist Soldat – oder nicht? Ein deutscher Fr eiwilliger diskutiert mit einer
Überlebenden
Atmo: vor Wohnhaus
Autorin:
Eine knappe Stunde später steht Benjamin Schreiber vor einem Plattenbau aus den
60er Jahren.
O-Ton:
Ich geh natürlich zu allen Babuschkas gern, aber natürlich gibt’s da schon welche,
die ich favorisiere: Zum Beispiel bei einer Babuschka koch ich immer, jeden
Donnerstag lern ich eine neue russische Suppe, wir haben schon Borschtsch
gekocht, Schtschi haben wir schon gekocht, und Pilzsuppe und Boullion und all so
Sachen, da geh ich natürlich sehr gern hin, und jetzt zu der Babuschka, zu der wir
jetzt gehen, geh ich auch gern, weil die ist ne sehr nette Frau, und die ärgert mich
zwar manchmal, aber trotzdem, das macht's sehr lustig.
Atmo: Türklingeln. Benjamin?
Autorin:
Irina Motytschko geht am Stock. Sie ist 85 Jahre alt, hat das Haar karottenrot gefärbt
und trägt eine Trainingshose. Benjamin tauscht seine Turnschuhe gegen Pantoffeln.
Heute soll er nicht putzen, sondern sich als Gast fühlen. Es gibt auch keinen Tee,
sondern Amaretto und Konfekt. Die alte Dame lehnt sich in einem Sessel zurück und
legt das kranke Bein hoch.
Atmo: Gesundschaft? - Gesundheit...
Autorin:
Wie viele alte Leute in Russland, hat Irina Motytschko ein doppelt schweres
Schicksal hinter sich. Sie war Opfer des Krieges und Opfer des eigenen Regimes.
Ihre Eltern wurden in den 30er Jahren als vermeintliche Staatsfeinde verhaftet. Der
Vater starb noch vor dem Krieg an den Folgen der Lagerhaft. Die Blockade überlebte
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das Mädchen allein mit der Mutter.
O-Ton:
Die Menschen waren – das kann man nicht mit Worten ausdrücken. Sie wissen
wahrscheinlich, wie sich Mangelernährung auswirken kann. Die Knochen traten
hervor. Den Frauen wuchsen aus irgendeinem Grund Haare auf den Wangen. Mir hat
das richtig Angst gemacht.
Über die Blockade wurde so viel geschrieben. Was soll man noch sagen. Ich will
über all das nicht reden.
Autorin:
Sie zeigt auf das Foto einer jungen Frau. Eine Vorgängerin von Benjamin. Irina
Motytschko wird seit vielen Jahren von deutschen Freiwilligen betreut.
O-Ton:
Die Mädchen waren alle zauberhaft. Dorothea hat mich immer ihre zweite Oma
genannt. Und ich hab ihr gesagt: Du wirst mal Angela Merkel. Denn sie studiert
Politik und Wirtschaft.
Ich finde es edel vom heutigen Deutschland, dass es anderen Ländern hilft. Hier
kauft eine Frau für mich ein. Ansonsten hilft mir niemand. Sowieso mag ich die
Deutschen.
O-Ton:
Das verstehen viele Leute nicht so ganz, dass ich hier her komme wegen des
Krieges, um symbolisch zu helfen, weil so groß unterschieden wird zwischen dem
faschistischen Deutschland und ich als ein deutscher Normaler.
Was wir ja nicht so viel in unserer Geschichte machen. Wir sehen uns immer noch
als Deutsche, und dass wir da ja immer noch 'ne Verantwortung haben dafür.
O-Ton:
Krieg führen Politiker. Nicht die Menschen. Und Soldaten erfüllen nur ihre Pflicht.
Darauf haben sie den Fahneneid geleistet, unsere Soldaten und Ihre auch. Am Krieg
sind Politiker schuld.
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Autorin:
Benjamin hat dieses Argument schon oft gehört. Das sei zu einfach.
Ohne Soldaten gäbe es keinen Krieg, argumentiert der Deutsche. Und auch Soldaten
könnten sich weigern. Die alte Dame widerspricht.
O-Ton:
Soldat ist Soldat, er muss Befehle ausführen.
O-Ton:
Ich denke, so ganz richtig ist das auf jeden Fall nicht, es kann ja gar keine
Versöhnung geben, zwischen den Ländern,wenn man alles nur auf die Politik schiebt
und nicht auch die Menschen betrachtet, die nicht nur blind gehandelt haben. Daher
ist es auf jeden Fall schon schwierig.
Atmo
Autorin:
Benjamin nimmt die Likörgläser, wäscht ab, stellt sie in den Schrank. Irina
Motytschko protestiert. Er solle lieber noch ein Stück Konfekt nehmen.
Literatur-Sprecherin:
Ich sitze in der leeren Wohnung. Schreibe. Mein Gesicht hat sich verändert. Es ist
aufgedunsen, tendiert zum Quadratischen.
Mein Herz ist kalt und leer. Für Freude nicht empfänglich. Nur ein Gedanke lässt
mich aufleben – der Gedanke an den Tod.
Vor meinen Augen ist das Leben geschmäht und geschändet worden. Alles
Abscheuliche habe ich durchschritten, es reicht nun. Der Geist ist erloschen.
Er hat das Schlimmste, was es auf Erden gibt, nicht ertragen – menschliche
Erniedrigung und Nichtswürdigkeit. Ich habe der Biologie ins Angesicht geblickt. Ich
habe unter Stalin gelebt. Zwei solcher Schrecken kann der Mensch nicht überleben.
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6. Der Blick nach vorn: Deutsch-russischer Jugendau stausch
Atmo:
Sorry, please put the umbrella down...
Autorin:
Ein Spielplatz in einer Hochhaussiedlung am Südrand von St. Petersburg. Zwei
Mädchen stehen untergehakt unter einem Regenschirm. Vor ihnen zwei Jungs mit
Kamera und Mikro. Der Ton macht Probleme.
Atmo: Record - and action!
Autorin:
Langsam setzt sich die Gruppe in Bewegung. Die Schüler kommen von der Willy
Brandt Oberschule in Norderstedt bei Hamburg und der Schule Nr. 383 in St.
Petersburg. Drei Generationen nach der Blockade nehmen sie an einem deutsch-
russischen Austauschprojekt teil. Sie drehen einen Spielfilm. Es geht um
Jugendliche, die von zu Hause weggehen. Einige Szenen haben sie bereits in
Deutschland gedreht. Dazu waren die Russen zwei Wochen in Norderstedt. Dies ist
der Gegenbesuch.
Atmo: Küche
Autorin:
Zum Mittagessen treffen sich alle in der Schulküche. Die ist ziemlich herunter
gekommen, wie das gesamte Gebäude. Auf dem Herd brutzeln panierte
Hühnerstücke. Außerdem gibt es Suppe, Gurken-Tomaten-Salat, Brot. Zum
Nachtisch Bonbons.
Auch nach zwei Wochen gemeinsamer Arbeit sitzen Russen und Deutsche getrennt.
Laura ist mit 19 Jahren die Älteste.
O-Ton:
Die Jungs sind schon eher so wie wir, und die Mädchen sind eher n bisschen anders:
Die haben nicht so den Draht zu Jungs, in Deutschland ist das ganz normal, dass
26
auch die Mädchen mit den Jungs was unternehmen, und so ne enge Bindung haben,
auch nur als Freunde, und das ist hier nicht so.
Autorin:
Die Schule liegt unmittelbar an der ehemaligen Frontlinie des Zweiten Weltkriegs, an
der „Straße der Tapferen“. Doch über den Zweiten Weltkrieg, die vielen Millionen
Opfer auf sowjetischer Seite, die Blockade Leningrads wissen die deutschen Schüler
so gut wie nichts. Sie gucken verlegen zur Seite.
Die russischen Schüler kommen an dem Thema nicht vorbei. Aber es ist ihnen nicht
wichtig, sagt der 16-Jährige Denis.
O-Ton:
Wir leben im Heute. Uns ist nicht wichtig, was vor so langer Zeit war. Mir jedenfalls
nicht. Wir haben doch jetzt gute Beziehungen.
Autorin:
Sie haben die Geschichte bewusst nicht zum Thema ihres Films gemacht, erzählt der
Lehrer Andreas Wessling.
O-Ton:
Wir versuchen, zeitgenössische Themen zu entwickeln und zu bearbeiten, weil wir
die Erfahrung gemacht haben, dass die Schüler interessierter sind und mit mehr
Spaß bei der Sache sind, wenn es Themen sind, die aus ihrem
Erfahrungshintergrund kommen.
Atmo: Klavierimprovisation
Autorin:
Sonja komponiert die Filmmusik. Sie verfolgt eine fertig geschnittene Episode auf
einem Laptop. Ein Mädchen betritt eine Wohnung.
O-Ton:
Das Mädchen kommt in die Wohnung des Jungen, der ihr gefällt, und sieht dort eine
andere. Sie läuft weg. Da der Junge für sie aber auch etwas empfindet, läuft er ihr
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hinterher. Er will reden, aber sie macht Schluss und geht. Und dann sehen wir, wie
der Junge zurück nach Hause kommt und das andere Mädchen wegschickt, weil sie
sein Leben zerstört hat; und dieses Mädchen sitzt dann im Bus, traurig, und weiß
nicht, wohin. Das ist das Ende.
Das ist eine Geschichte von Jugendlichen auf der ganzen Welt. So was ist jedem
schon mal passiert, und wenn nicht, dann kommt das noch.
Autorin:
Wie fast alle jungen Leute in St. Petersburg, hat auch Sonja Vorfahren, die die
Blockade miterlebt haben. Dass sie an einem Austausch mit gleichaltrigen Deutschen
teilnimmt, sorgt in ihrer Familie für heftige Diskussionen.
O-Ton:
Meine Eltern haben gut reagiert, aber meine Oma und mein Opa waren natürlich
dagegen. Die beiden können das nicht verstehen. Damals war so ein harter Krieg,
und wir fahren jetzt freiwillig nach Deutschland...
Aber wir wollen ja die Beziehungen verbessern, wir wollen die andere Mentalität
verstehen, wollen Frieden schaffen. Und wir schaffen das.
Sprecher:
Das waren Gesichter Europas. 900 Tage, eine Ewigkeit - Russland und die Blockade
Leningrads.
Eine Sendung von Gesine Dornblüth.
Die Tagebuchnotizen und Erinnerungen von Olga Freudenberg las Ines Burdow.
Die Redaktion der Sendung hatte Thilo Kössler.