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2 Zahlen und Vektoren In diesem Kapitel beschreiben wir die verschiedenen Zahlensysteme: Wir behandeln ihre Grundeigenschaften und zeigen, wie sie durch stufenweise Erweiterung auseinander hervorgehen. Im ganzen erh¨ alt man einen “Turm” N Z D Q R C mit den nat¨ urlichen Zahlen als Fundament und den komplexen Zahlen als oberstem Stockwerk. Am meisten Arbeit macht der Schritt Q (bzw. D) R, die sogenannte Vervollst¨ andigung der rationalen Zahlen. — Der Leser wird wohl gewisse Vorstellungen von den Eigenschaften der Zahlensysteme N : nat¨ urliche Zahlen 0, 1, 2, ... , Z : (positive und negative) ganze Zahlen, D : (endliche) Dualbr¨ uche, Bsp: 11010.1001101, Q : rationale Zahlen, R : reelle Zahlen, C : komplexe Zahlen besitzen, und wir d¨ urfen in den Beispielen darauf Bezug nehmen. 2.1 Die nat¨ urlichen Zahlen Die Peano-Axiome Die nat¨ urlichen Zahlen kommen vom Z¨ ahlen her: Mit 0 beginnend folgt auf jede Zahl n eine neue Zahl ν (n), der Nachfolger von n. In den sogenannten Peano-Axiomen wird dieser Z¨ ahlprozess formalisiert: (N0) Die nat¨ urlichen Zahlen bilden eine Menge N mit einem ausgezeichneten Element 0.

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2Zahlen und Vektoren

In diesem Kapitel beschreiben wir die verschiedenen Zahlensysteme: Wirbehandeln ihre Grundeigenschaften und zeigen, wie sie durch stufenweiseErweiterung auseinander hervorgehen. Im ganzen erhalt man einen “Turm”

N ⊂ Z ⊂ D ⊂ Q ⊂ R ⊂ C

mit den naturlichen Zahlen als Fundament und den komplexen Zahlen alsoberstem Stockwerk. Am meisten Arbeit macht der Schritt Q (bzw. D)√ R,die sogenannte Vervollstandigung der rationalen Zahlen. — Der Leser wirdwohl gewisse Vorstellungen von den Eigenschaften der Zahlensysteme

N : naturliche Zahlen 0, 1, 2, . . . ,Z : (positive und negative) ganze Zahlen,D : (endliche) Dualbruche, Bsp: −11010.1001101,Q : rationale Zahlen,R : reelle Zahlen,C : komplexe Zahlenbesitzen, und wir durfen in den Beispielen darauf Bezug nehmen.

2.1 Die naturlichen Zahlen

Die Peano-Axiome

Die naturlichen Zahlen kommen vom Zahlen her: Mit 0 beginnend folgt aufjede Zahl n eine neue Zahl ν(n), der Nachfolger von n. In den sogenanntenPeano-Axiomen wird dieser Zahlprozess formalisiert:

(N0) Die naturlichen Zahlen bilden eine Menge N mit einem ausgezeichnetenElement 0.

2.1 Die naturlichen Zahlen 37

(N1) Auf N ist eine Abbildung ν : N → N \ {0} erklart.

(N2) n1 6= n2 =⇒ ν(n1) 6= ν(n2) ; das heisst: ν ist injektiv.

(N3) (Prinzip der vollstandigen Induktion) Enthalt eine Teilmenge A ⊂ Ndie Zahl 0 und gilt fur alle n ∈ N:

n ∈ A =⇒ ν(n) ∈ A ,

so ist A = N.

Anstelle von

0, ν(0), ν°ν(0)

¢, ν

°ν°ν(0)

¢¢, ν

°ν

°ν°ν(0)

¢¢¢, . . .

schreibt man ublicherweise

0, 1, 2, 3, 4, . . . bzw. 0, 1, 10, 11, 100, . . . .

Alle ubrigen Eigenschaften der naturlichen Zahlen lassen sich “rein logisch”aus den Peano-Axiomen herleiten. Wir wollen das nicht im einzelnen durch-fuhren und verweisen den interessierten Leser auf das klassische Werk vonLandau: Grundlagen der Analysis (1930). Jedenfalls gelingt es, auf N eineAddition, eine Multiplikation und eine Ordnung einzurichten, so dass insge-samt die ublichen Rechenregeln (s.u.) gelten. Mit der Nachfolgeoperation νsind diese Dinge verknupft durch ν(n) = n + 1, so dass wir fortan auf das νverzichten konnen.Bevor wir die Diskussion der verschiedenen Zahlensysteme fortsetzen, ver-weilen wir noch einen Moment bei den naturlichen Zahlen. Dabei geht esweniger ums Rechnen mit diesen Zahlen als um ihre fundamentalere Natur,die eben beim Zahlen zum Ausdruck kommt.

Ein wichtiges Beweismittel und letzten Endes aquivalent mit dem Induktion-saxiom ist der Satz

(2.1) Jede nichtleere Menge B ⊂ N besitzt ein kleinstes Element.

Nach Voraussetzung gibt es ein n0 ∈ B. Die Menge

A :=©n ∈ N

ØØ n ≤ k ∀ k ∈ B™

der unteren Schranken von B enthalt jedenfalls die Zahl 0, aber nicht dieZahl n0 + 1, folglich ist A 6= N. Nach dem Induktionsaxiom muss es daherein n geben mit n ∈ A, aber n + 1 /∈ A, und somit weiter ein k ∈ B mitn ≤ k < n + 1. Hiernach ist k = n das kleinste Element von B.

©1 Um zu beweisen, dass jede naturliche Zahl ≥ 1 eine Zerlegung in endlichviele Primfaktoren besitzt, konnen wir nicht den “Schluss von n auf n + 1”

38 2 Zahlen und Vektoren

anwenden, denn n und n + 1 (zum Beispiel 20 und 21) haben ganz ver-schiedene Zerlegungen. Wir schliessen stattdessen mit Hilfe von (2.1): Istdie Behauptung falsch, so gibt es eine kleinste Zahl, die sich nicht in Prim-faktoren zerlegen lasst. Diese Zahl n0 ist dann sicher keine Primzahl, besitztalso eine Zerlegung in zwei von 1 verschiedene Faktoren: n0 = pq. Hier sind pund q beide kleiner als n0 und besitzen daher eine Zerlegung in endlich vielePrimfaktoren. Somit besitzt auch n0 eine solche Zerlegung, im Widerspruchzur Definition von n0. ©

Induktionsbeweise

Eine sehr verbreitete Fassung des Induktionsaxioms handelt von Aussagefor-men uber naturliche Zahlen n. Wie in Abschnitt 1.1 angedeutet, verstehtman darunter eine Formel (oder einen Text) A(n) mit einer freien Variablenn, die fur jede an Stelle von n eingesetzte naturliche Zahl entweder in einerichtige oder in eine falsche Aussage ubergeht. — Hier also die angekundigteVersion des Induktionsaxioms:

(N30) Es sei A(n) eine Aussageform uber naturliche Zahlen n. Trifft A(0)zu und gilt fur alle n ≥ 0 die Implikation

A(n) =⇒ A(n + 1) ,

so trifft A(n) fur alle n ∈ N zu.

(Zum “Beweis” betrachte man die Menge A derjenigen n, fur die A(n)zutrifft.)

Um mit Hilfe dieses Prinzips nachzuweisen, dass eine vorgelegte AussageformA(n) fur alle naturlichen n zutrifft, hat man hiernach folgende Leistungen zuerbringen:

1. Verifikation, dass A(0) zutrifft. (Verankerung)

2. Beweis, dass fur jedes n unter Voraussetzung von A(n) auch die AussageA(n + 1) zutrifft. (Induktionsschritt)

Wir geben einige Beispiele.

©2 Fur jedes n ≥ 0 gilt die Formel

A(n) :nX

k=1

k = 1 + 2 + 3 + . . . + n =n(n + 1)

2.

A(n) ist richtig fur n = 0 (die Summe linker Hand ist dann “leer”) und treffezu fur ein beliebiges n ≥ 0. Dann gilt

n+1X

k=1

k =nX

k=1

k + (n + 1) =n(n + 1)

2+ (n + 1) =

(n + 1)°(n + 1) + 1

¢

2,

und dies ist A(n + 1).

2.1 Die naturlichen Zahlen 39

Der Induktionsschritt lasst sich auch fur die Aussageform

B(n) :nX

k=1

k =(n + 1

2 )2

2

durchfuhren: Wird B(n) als richtig angenommen, so ergibt sich

n+1X

k=1

k =(n + 1

2 )2

2+ (n + 1) =

°(n + 1) + 1

2

¢2

2,

also B(n + 1). Trotzdem ist B(n) fur alle n ≥ 0 falsch. ©

©3 Wir beweisen die sogenannte Bernoullische Ungleichung°fur eine allge-

meinere Fassung siehe Satz (7.27)¢:

(2.2) Fur alle reellen t > −1 und alle n ∈ N gilt

(1 + t)n ≥ 1 + nt . (1)

Ist dabei t 6= 0 und n > 1, so hat man sogar (1 + t)n > 1 + nt.

Der Fall t = 0 sowie die Falle n = 0 und n = 1 sind trivial. Es genugtdaher, folgendes zu zeigen: Ist t > −1, t 6= 0 und n ≥ 1, so folgt aus derUngleichung (1) die (strenge) Ungleichung

(1 + t)n+1 > 1 + (n + 1)t .

Wegen 1 + t > 0 und nt2 > 0 erhalt man aber sofort:

(1 + t)n+1 = (1 + t)(1 + t)n ≥ (1 + t)(1 + nt) = 1 + (n + 1)t + nt2

> 1 + (n + 1)t .

©

Rekursion

Zur allgemeinen Theorie der naturlichen Zahlen gehort auch das “Prinzipder rekursiven Definition”. Eine Folge x. : N → X wird rekursiv definiertdurch die Vorgabe von x0 ∈ X und eine Vorschrift, die fur jedes n ≥ 0den Wert xn+1 zu berechnen gestattet, wenn alle vorangehenden Werte x0,x1, . . ., xn bekannt sind. Steht nur ein beschrankter Arbeitsspeicher zurVerfugung, so ist man darauf angewiesen, dass xn+1 nur von den N (zumBeispiel N = 2) zuletzt gefundenen Werten xk abhangt. — Wir verzichten

40 2 Zahlen und Vektoren

auf eine formale Beschreibung des Rekursionsprinzips und beschranken unsauf einige Beispiele.

©4 Die Rekursionsvorschrift

x0 := 0 , xn+1 := 2xn (n ≥ 0)

generiert die Folge

(0, 1, 2, 4, 16, 65536, 2.0035 . . . · 1019728, . . . ) .

— Die beruhmte Fibonacci-Folge

(0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, . . . )

wird rekursiv definiert durch

a0 := 0 , a1 := 1 , an+1 := an + an−1 (n ≥ 1) .

— Fur festes a ∈ K, K ein beliebiger Korper (s.u.), werden die Potenzen an,n ∈ N, rekursiv definiert durch

a0 := 1 an+1 := a · an (n ≥ 0)

(auch 00 := 1!). Hieraus folgen (“mit vollstandiger Induktion”) die ublichenRegeln uber das Rechnen mit Potenzen, zum Beispiel

(a · b)n = an · bn .

— Die Fakultat(funktion)

n! :=nY

k=1

k = 1 · 2 · 3 · . . . · n

(gelesen: “n-Fakultat”) wird rekursiv definiert durch

0! := 1 , (n + 1)! := (n + 1)n! (n ≥ 0) .

Bekanntlich gibt es genau n! verschiedene bijektive Abbildungen einer n-ele-mentigen Menge A, zum Beispiel A := {1, 2, . . . , n}, auf eine n-elementigeMenge B. Im Gegensatz zur Summe 1 + 2 + 3 + . . . + n lasst sich n! nichtmuhelos berechnen. Fur grosse n gilt die Stirlingsche Naherungsformel

n! .=√

2πn≥n

e

¥n.

Fur Details und einen Beweis dieser Formel verweisen wir auf Abschnitt 10.2.

Bsp: 10! = 3 628 800; die Stirlingsche Formel liefert 10! .= 3598 695.622 .©

2.1 Die naturlichen Zahlen 41

©5 Auf wieviele verschiedene Arten lassen sich n ≥ 1 nicht unterscheidbareErbsen in nichtleere Haufchen aufteilen? Es bezeichne p(n) die Anzahl dieserPartitionen von n. Durch systematisches Auflisten der Falle findet man furkleine n die folgenden Werte:

n 1 2 3 4 5 6 7 8 . . .

p(n) 1 2 3 5 7 11 15 22 . . .,

und es bewahrt sich, auch p(0) := 1 zu setzen. Fur die Partitionsfunktionn 7→ p(n) gilt nun die folgende auf Euler zuruckgehende (und schwierig zubeweisende) Rekursionsformel:

p(n) =X

k≥1

(−1)k−1≥p°n− 1

2k(3k − 1)¢

+ p°n− 1

2k(3k + 1)¢¥

= p(n− 1) + p(n− 2)− p(n− 5)− p(n− 7) + p(n− 12) + . . . ,

wobei die Summation abzubrechen ist, sobald negative Argumente n − rauftreten. ©

Anzahlen

Fur Mengen von aufeinanderfolgenden ganzen Zahlen verwenden wir die fol-genden Notationen:

[ p. . q ] :=©k ∈ Z

ØØ p ≤ k ≤ q™

, [n] := [ 1. . n ] (n ≥ 0) .

Eine beliebige Menge A heisst endlich, wenn es eine naturliche Zahl n gibtund eine bijektive Abbildung

φ : [n] → A .

Dieses n ist dann eindeutig bestimmt (lassen wir den Beweis!) und heisstAnzahl der Elemente oder auch Kardinalitat von A. Man verwendet dafurBezeichnungen wie |A| oder #A.

Die Anzahl der k-elementigen Teilmengen der Menge [n] bezeichnet man mitµ

n

k

∂(0 ≤ k ≤ n) .

Um diese Anzahl zu berechnen, betrachten wir die Anzahl Arten, aus n Per-sonen eine Arbeitsgruppe mit k Mitgliedern auszuwahlen, wobei ein Mitglieddie Gruppe leiten soll. Man kann entweder zuerst aus den n Personen diek Mitglieder auswahlen und anschliessend eines von ihnen zur Vorsitzendenmachen oder zuerst aus den n Personen die Vorsitzende und anschliessendaus den restlichen n − 1 Personen die ubrigen k − 1 Mitglieder auswahlen.

42 2 Zahlen und Vektoren

Damit kommen wir zweimal auf dieselbe Anzahl von Moglichkeiten — dasheisst, es gilt:

k ·µ

n

k

∂= n ·

µn− 1k − 1

und folglich µn

k

∂=

n

k·µ

n− 1k − 1

∂.

Aus dieser Rekursionsformel ergibt sich mit vollstandiger Induktion (wiruberlassen die Details dem Leser):

µn

k

∂=

n(n− 1) · · · (n− k + 1)k(k − 1) · · · 1 =

n!k!(n− k)!

.

Diese auch Binomialkoeffizienten (s.u.) genannten Anzahlen genugen ver-schiedenen Identitaten, so zum Beispiel der folgenden, die dem sogenanntenPascalschen Dreieck (Tabelle der Binomialkoeffizienten) zugrundeliegt:

µn + 1

k

∂=

µn

k − 1

∂+

µn

k

∂.

Man erhalt samtliche k-elementigen Teilmengen der Menge [n + 1], undzwar jede genau einmal, indem man entweder beliebige k − 1 Elemente aus[n] wahlt und das Element n + 1 hinzunimmt oder beliebige k Elemente aus[n] wahlt.

Es seien (a1, . . . , an) und (b1, . . . , bn) gegebene reelle (oder komplexe) n-Tupel. Wird das Produkt

nY

j=1

(aj + bj) = (a1 + b1) · (a2 + b2) · . . . · (an + bn)

distributiv ausmultipliziert, so entsteht eine Summe von insgesamt 2n Ter-men, jeder ein Produkt von n Faktoren aj bzw. bj . Diese 2n Terme entspre-chen den 2n Moglichkeiten, unabhangig voneinander bei jedem der n Binome

aj + bj das ‘ aj ’ oder das ‘ bj ’ zu wahlen. Dabei kann man aufµ

n

r

∂Arten

in r Binomen das ‘ bj ’ und in den restlichen n− r Binomen das ‘ aj ’ wahlen.Haben alle aj denselben Wert a und alle bj denselben Wert b, so liefern alle

dieseµ

n

r

∂Auswahlen einen Term vom Wert an−rbr. Damit haben wir schon

den Binomischen Lehrsatz bewiesen; er lautet:

(2.3) (a + b)n =nX

r=0

µn

r

∂an−rbr (a, b ∈ C, n ∈ N) .

2.1 Die naturlichen Zahlen 43

Setzt man hier speziell a := 1 und betrachtet b := t als Variable, so ergibtsich

(1 + t)n =nX

r=0

µn

r

∂tr .

Wir werden spater sehen, dass diese Formel auf beliebige reelle Exponenten α(anstelle von n) umgeschrieben werden kann. Dabei entsteht die sogenannteBinomialreihe.

Aufgaben

1. Man stelle durch Punkte und Pfeile,

Bsp:

• → • → •

%• → • → •

&•

,

je ein System dar, in dem(a) die Axiome (N0), (N1) und (N2) gelten, nicht aber (N3);(b) die Axiome (N0), (N1) und (N3) gelten, nicht aber (N2);(c) die Axiome (N0)–(N3) gelten mit der Abanderung, dass 0 ebenfalls

ein Nachfolger ist.

2. Zeige mit vollstandiger Induktion:

(a) Durch n Geraden “in allgemeiner Lage” wird die Ebene inn2 + n + 2

2Gebiete zerlegt. Hinweis: Jede weitere Gerade zerlegt eine ganz be-stimmte Anzahl der schon vorhandenen Gebiete in zwei Teile.

(b)n−1X

k=0

qk =qn − 1q − 1

(q 6= 1).

(c) Ist n ≥ 2 und 0 < xk < 1 (1 ≤ k ≤ n), so gilt

nY

k=1

(1− xk) > 1−nX

k=1

xk .

(d) Die Summe aller weder durch 2 noch durch 5 teilbaren naturlichenZahlen < 10n betragt 20n2.

(e)nX

k=1

k2 =n(n + 1)(2n + 1)

6, (f)

nX

k=1

k3 =n2(n + 1)2

4.

2.2 Geordnete Korper

Korperaxiome

Um die “Verknupfungen”, die in den verschiedenen Zahlensystemen N, Z, . . .,C vorhanden sind, in der Sprache der Mengen und Abbildungen (Funktionen)beschreiben zu konnen, benotigen wir noch die folgenden Begriffe:Es sei A eine beliebige Menge. Funktionen φ : A × A → A, die also fur jeein x ∈ A und ein y ∈ A einen Wert φ(x, y) ∈ A festlegen, heissen binareOperationen auf A; man verwendet dafur Symbole wie +, ·, ◦, ∗ usw. undschreibt x + y, x · y usw. anstelle von +(x, y), ·(x, y). Eine binare Operation∗ auf A heisst kommutativ, wenn fur alle x, y ∈ A gilt:

x ∗ y = y ∗ x ,

und assoziativ, wenn fur alle x, y, z ∈ A gilt:

(x ∗ y) ∗ z = x ∗ (y ∗ z) ;

fur den gemeinsamen Wert des letzten Ausdrucks schreibt man dann einfachx ∗ y ∗ z.

©1 Die Addition und die Multiplikation der reellen Zahlen sind kommutativund assoziativ (s.u.). Das Potenzieren (x, y) 7→ xy ist keins von beiden:

23 6= 32 ,°22

¢3 6= 2(23) .

©

Eine Menge K heisst ein Korper, wenn K mit zwei binaren Operationen+ und ·, genannt Addition und Multiplikation, versehen ist, die folgendeEigenschaften besitzen:

(K1) (a) x + y = y + x , (b) x · y = y · x .

(K2) (a) (x + y) + z = x + (y + z) , (b) (x · y) · z = x · (y · z) .

(K3) x · (y + z) = x · y + x · z .

(K4) In K gibt es zwei ausgezeichnete Elemente 0 (Null) und 1 (Eins), 0 6= 1,so dass fur alle x ∈ K gilt:(a) x + 0 = x , (b) x · 1 = x .

(K5) (a) Zu jedem x ∈ K gibt es ein y ∈ K mit x+y = 0 (additives Inverses).(b) Zu jedem x ∈ K∗ := K \{0} gibt es ein z ∈ K∗ mit x ·z = 1 (multi-

plikatives Inverses).

2.2 Geordnete Korper 45

Die Axiome (K1)(a), (K2)(a), (K4)(a) und (K5)(a) besagen zusammen, dassK eine (kommutative) Gruppe bildet bezuglich der Addition, die entspre-chenden Axiome (b), dass K∗ eine Gruppe bildet bezuglich der Multiplika-tion. Die beiden Operationen sind verknupft durch das Distributivgesetz(K3); seiner Schreibweise liegt die Vereinbarung zugrunde, dass ‘ · ’ engerbindet als ‘+ ’. Eigentlich musste man ja schreiben x ·(y+z) = (x ·y)+(x ·z).Der · wird im ubrigen meist weggelassen: x · y =: xy .

Die beiden Inversen eines Elements x sind durch x eindeutig bestimmt: Giltgleichzeitig x + y = 0 und x + y0 = 0, so ist x + y + y0 einerseits gleich y0,anderseits gleich y; folglich ist y = y0. Analog schliesst man fur das multipli-kative Inverse. Das additive Inverse von x wird mit −x, das multiplikativeInverse mit 1/x bezeichnet; ferner schreibt man zur Abkurzung

x + (−y) =: x− y , x · 1y

=:x

y(y 6= 0) .

Die binare Operation (x, y) 7→ x−y heisst Subtraktion. Die Division (x, y) 7→x/y ist keine binare Operation auf K, wohl aber auf K∗.

Eine Struktur, in der alle Korperaxiome gelten mit Ausnahme von (K5)(b)(Existenz von multiplikativen Inversen), heisst ein Ring mit Einselement.

©2 Beispiele von Korpern sind Q, R, C, aber auch die Menge B := {0, 1},versehen mit den Operationen

+ 0 1

0 0 11 1 0

· 0 1

0 0 01 0 1

In der Algebra wird gezeigt, dass es zu jeder Primzahlpotenz pk “bis aufIsomorphie” genau einen Korper mit pk Elementen gibt.

Die stetigen Funktionen f : R → R, die “im Unendlichen verschwinden”, dasheisst: mit x → ±∞ gegen 0 konvergieren, bilden zusammen einen Ring ohneEinselement. ©

In jedem Korper gelten die “ublichen Regeln der Algebra”. Wir beginnenmit

(2.4) Ist ∗ eine assoziative binare Operation auf einer Menge A, so kommtes auch bei mehr als drei Operanden nicht auf die Stellung der Klammernan.

46 2 Zahlen und Vektoren

Wir legen fur n ≥ 1 Operanden x1, . . ., xn durch

°· · ·

°(x1 ∗ x2) ∗ x3

¢∗ x4 · · ·

¢∗ xn

eine Normalform der Beklammerung fest und behaupten: Alle endlichenKlammerausdrucke haben denselben Wert wie ihre Normalform. Klammer-ausdrucke der Lange 1 oder 2 stehen von selbst in der Normalform. DieBehauptung sei daher richtig fur Klammerausdrucke der Lange n, und es seiP ein Klammerausdruck der Lange n + 1, zum Beispiel (n = 7):

°x1 ∗ (x2 ∗ x3)

¢∗↑

°(x4 ∗ x5) ∗

°(x6 ∗ x7) ∗ x8

¢¢.

Die letzte Operation beim Aufbau von P (im Beispiel durch einen Pfeil mar-kiert) fugt zwei Klammerausdrucke P1 und P2 der Lange≤ n zusammen: P =P1∗P2. Nach Induktionsvoraussetzung lasst sich P2 durch seine Normalform,also insbesondere durch einen Ausdruck der Form P3 ∗ xn+1 ersetzen, und esergibt sich weiter

P = P1 ∗ (P3 ∗ xn+1) = (P1 ∗ P3) ∗ xn+1 =: P4 ∗ xn+1 ,

dabei hat der Ausdruck P4 genau n Operanden. Er lasst sich daher, wiederumnach Induktionsvoraussetzung, durch seine Normalform P 04 ersetzen, und wirerhalten P = P 04 ∗ xn+1. Damit ist P auf Normalform gebracht.

Nach diesem Satz sind wir berechtigt, auch bei beliebig vielen Operanden dieKlammern wegzulassen. — Ganz ahnlich (ebenfalls via eine Normalform)beweist man den analogen Satz uber kommutative binare Operationen (wiruberlassen den Beweis dem Leser):

(2.5) Ist ∗ eine kommutative und assoziative Operation auf einer Menge A,so kommt es auch bei mehr als zwei Operanden nicht auf die Reihenfolge an.

Aus diesen beiden Satzen zieht man noch den folgenden Schluss: Ist I einebeliebige endliche Indexmenge und ist (ai)i∈I eine Familie von Elementeneiner (additiv geschriebenen) kommutativen Gruppe A, so ist die Summe

Xi∈I

ai

dieser Familie wohlbestimmt.

2.2 Geordnete Korper 47

Rechenregeln

Nun zu den Rechenregeln im eigentlichen Sinn. Die folgende kleine Listezeigt, was damit gemeint ist:

−(−x) = x ,1

1/x= x (x 6= 0) (1)

0 · x = 0 , (−1) · x = −x , (2)

x · (y − z) = x · y − x · z ,

x · y = 0 =⇒ x = 0 ∨ y = 0 . (3)

(1) folgt aus (−x) + x = 0 bzw. (1/x) · x = 1 und der eindeutigen Be-stimmtheit der Inversen. — Die Formelzeilen

0 · x = 0 · x + 0 · x− 0 · x = (0 + 0) · x− 0 · x = 0 · x− 0 · x = 0

undx + (−1) · x = 1 · x + (−1) · x =

°1 + (−1)

¢· x = 0 · x = 0

beweisen (2). — Schliesslich noch (3): Ist x 6= 0, so existiert 1/x, und ausx · y = 0 folgt dann y = 1 · y = (1/x) · x · y = (1/x) · 0 = 0.

Eine Menge K heisst ein geordneter Korper, wenn K erstens ein Korper undzweitens geordnet ist, wobei drittens die Korperstruktur und die Ordnungverknupft sind durch

(OK1) x > y =⇒ x + z > y + z .

(OK2) x > 0 ∧ y > 0 =⇒ x · y > 0 .

Ein Element x ∈ K∗ heisst positiv oder negativ, je nachdem, ob x > 0 oderx < 0 ist. — In jedem geordneten Korper gelten die “ublichen Regeln uberdas Rechnen mit Ungleichungen”. Wir zahlen einige davon auf:

x > y ⇐⇒ x− y > 0 ,

x > y ∧ u > v =⇒ x + u > y + v ,

x > 0 ∧ y < 0 =⇒ xy < 0 , x < 0 ∧ y < 0 =⇒ xy > 0 ,

x > y ∧ a > 0 =⇒ ax > ay , x > y ∧ a < 0 =⇒ ax < ay ,

x 6= 0 =⇒ x2 > 0 , 1 > 0 , (4)

x > y > 0 =⇒ 0 <1x

<1y

, (5)

x > y > 0 =⇒ x

y> 1 .

Wir beweisen nur (5): Es gilt1y− 1

x= (x− y) · 1

x· 1y

,

und hier sind alle Faktoren rechter Hand positiv.

48 2 Zahlen und Vektoren

©3 Q und R sind geordnete Korper, C nicht, und zwar lasst sich C grund-satzlich nicht zu einem geordneten Korper machen, denn i2 = −1 ist mitRegel (4) nicht vertraglich.

Legt man auf der Menge

K :=©r + s

√2

ØØ r, s ∈ Q™

die gewohnliche Addition und Multiplikation reeller Zahlen sowie die von Rgeerbte Ordnung zugrunde, so wird K ein geordneter Korper. Es gilt namlich

(r + s√

2) · (r0 + s0√

2) = (rr0 + 2ss0) + (rs0 + r0s)√

2 ,1

r + s√

2=

r

r2 − 2s2− s

r2 − 2s2

√2 ,

wobei benutzt wurde, dass r2−2s2 fur rationale r, s nur verschwindet, wennr = s = 0 ist. ©

Betrags- und Signumfunktion

Auf einem geordneten Korper K definiert man den absoluten Betrag, eineFunktion abs : K → K≥0 (Fig. 2.2.1), durch

|x| := absx :=Ω

x (x ≥ 0)−x (x ≤ 0) .

Beispiel: −5 < 0 =⇒ |− 5| := −(−5) = 5 .

x

y

y = x y = !x

y = |x|

Fig. 2.2.1

Die Grosse |x| ist immer ≥ 0 und stellt den Abstand des Punktes x vomUrsprung dar. Es gilt (Fig. 2.2.2):

|x| < ε ⇐⇒ −ε < x < ε (ε > 0) .

2.2 Geordnete Korper 49

0 ax

a+!

!!

!! ! a!!

! !

Fig. 2.2.2

Allgemein ist |x − a| der Abstand des Punktes x vom Punkt a auf derZahlengeraden, und es gilt:

|x− a| < ε ⇐⇒ a− ε < x < a + ε (ε > 0) .

Die Betragsfunktion ist multiplikativ:

|x · y| = |x| · |y| ,

und sie genugt der Dreiecksungleichung

|x + y| ≤ |x|+ |y| . (6)

Beide Seiten von (6) bleiben unverandert, wenn x und y gleichzeitig mit−1 multipliziert werden. Wir durfen daher x + y ≥ 0 annehmen und habendann wegen x ≤ |x|:

|x + y| = x + y ≤ |x|+ |y| .

©4 Wir behandeln die folgende Aufgabe: Man zeichne den Graphen derFunktion

f(x) :=ØØ2− |1− x|

ØØ − |x| .

Die Terme |1 − x| und |x| bewirken, dass jedenfalls an den Stellen 0 und 1“etwas passiert”. Wir haben daher vorweg drei Falle, die sich (wegen derausseren | · |-Klammer) unter Umstanden weiter aufteilen.1 : x ≤ 0 (=⇒ 1− x ≥ 0)Hier ist

f(x) =ØØ2− (1− x)

ØØ − (−x) = |1 + x| + x .

Wir unterscheiden daher weiter: Im Fall1.1 : x ≤ −1 (=⇒ 1 + x ≤ 0)

giltf(x) = −(1 + x)− (−x) = −1 ,

und im Fall1.2 : −1 ≤ x ≤ 0 (=⇒ 1 + x ≥ 0)

hat manf(x) = 1 + x− (−x) = 1 + 2x .

50 2 Zahlen und Vektoren

1 3

!3

!1!1

y

x

y = f(x)

1

Fig. 2.2.3

2 : 0 ≤ x ≤ 1 (=⇒ 1± x ≥ 0) .

Hier ist

f(x) =ØØ2− (1− x)

ØØ − x = |1 + x| − x = 1 + x− x = 1 .

3 : x ≥ 1 (=⇒ 1− x ≤ 0) .

Man hatf(x) =

ØØ2 + (1− x)ØØ − x = |3− x| − x

und muss daher weiter unterscheiden: Im Fall3.1 : 1 ≤ x ≤ 3 (=⇒ 3− x ≥ 0)

giltf(x) = 3− x− x = 3− 2x ,

und im Fall3.2 : x ≥ 3

schliesslichf(x) = −(3− x)− x = −3 .

Alles in allem erhalten wir den in Fig. 2.2.3 dargestellten Graphen. ©Die in der Betragsfunktion verlorengegangene Information uber x ist gespei-chert in der Signumfunktion (Fig. 2.2.4)

sgnx :=

1 (x > 0)0 (x = 0)−1 (x < 0)

.

Es gelten die folgenden Identitaten:

x = sgnx · |x| , sgn (x · y) = sgnx · sgn y ;

die Signumfunktion ist also ebenfalls multiplikativ.

2.2 Geordnete Korper 51

x

y

1

!1

y = sgn x

Fig. 2.2.4

Aufgaben

1. In R2 werden folgende Operationen eingefuhrt:

(x1, x2) + (y1, y2) := (x1 + y1, x2 + y2) ,

(x1, x2) · (y1, y2) := (x1y1, x2y2) .

Wird damit ein Korper definiert?

2. Beweise: Fur beliebige x, y ∈ R gilt

|x|+ |y|+ØØ |x|− |y|

ØØ = |x− y|+ |x + y| .

Hinweis: Verifiziere vorweg, dass die beiden Seiten dieser Identitat gegen-uber x √ −x, y √ −y und x ! y invariant sind. Man darf daher imweiteren x ≥ y ≥ 0 annehmen.

3. Die Funktion f sei definiert durch

f(x) :=

x + 2 (x < −1)−x (−1 ≤ x ≤ 1)x− 2 (x > 1)

.

Stelle f mit Hilfe der Betragsfunktion durch einen einzigen, fur alle x ∈ Rgultigen Ausdruck dar.

4. Die Funktionen fn : R → R seien rekursiv definiert durch

f0(x) := |x| , fn+1(x) :=ØØ1− fn(x)

ØØ (n ≥ 0) .

Zeichne den Graphen von f100.

5. Zeige: Die drei reellen Zahlen a, b, c sind genau dann alle positiv, wenndie folgenden Ungleichungen simultan erfullt sind:

a + b + c > 0 , ab + bc + ca > 0, abc > 0 . (∗)

Hinweis: Sind die drei Ungleichungen (∗) erfullt, so hat die Gleichungx3 − (a + b + c)x2 + (ab + bc + ca)x− abc = 0 keine Losungen ≤ 0.

2.3 Konstruktion von R

Ganze und rationale Zahlen

Der Ring Z der ganzen Zahlen entsteht aus N mit Hilfe einer gewissen alge-braischen Konstruktion. Das Ergebnis ist uns von Kindsbeinen an vertraut:

(2.6) (a) Die ganzen Zahlen bilden ein System Z mit einer Addition, einerMultiplikation und einer Ordnung, in dem alle Axiome eines geordnetenKorpers gelten mit Ausnahme von (K5)(b) (Existenz des multiplikativen In-versen).

(b) Z enthalt die naturlichen Zahlen (mit ihrer Addition, Multiplikation undOrdnung).

(c) Z = {. . . ,−3,−2,−1, 0, 1, 2, 3, . . .} .

In Z ist nun auch die Subtraktion unbeschrankt moglich, und es gelten alleRegeln der Algebra, soweit sie nicht ausdrucklich die Existenz des multiplika-tiven Inversen voraussetzen. Insbesondere gilt in Z auch der Schluss

x · y = 0 =⇒ x = 0 ∨ y = 0 ,

bzw. die damit aquivalente Kurzungsregel

ax = bx ∧ x 6= 0 =⇒ a = b .

Auch die Erweiterung von Z zum Korper Q erfolgt im Rahmen der Algebra,wir haben das in Beispiel 1.3.©4 skizziert. Diese Konstruktion fuhrt zu demfolgenden, uns ebenfalls vertrauten Ergebnis:

(2.7) (a) Die rationalen Zahlen bilden einen geordneten Korper Q.

(b) Q enthalt die ganzen Zahlen (mit ihrer Addition, Multiplikation undOrdnung).

(c) Jedes Element α ∈ Q ist als Quotient zweier ganzer Zahlen darstellbar:

α =p

q, p ∈ Z, q ∈ N∗ .

Diese Darstellung ist durch α nicht eindeutig bestimmt, und zwar gilt

p

q=

p0

q0⇐⇒ pq0 = p0q .

(d) Die Ordnung auf Q ist wie folgt mit derjenigen auf Z verknupft:

p

q<

r

s⇐⇒ ps < rq .

Konstruktion von R 53

Zum numerischen Rechnen sind die gemeinen Bruche eher weniger geeig-net, da beim Aufaddieren von Zahlenkolonnen die Nenner ins Uferlose zuwachsen pflegen. Dazu kommt, dass sehr nahe beieinanderliegende Zahlensehr verschieden aussehende Darstellungen haben konnen.

Bsp:

ØØØØ233610

− 377987

ØØØØ = 0.00000166 .

Dualbruche

In unserem taglichen Umgang mit nichtganzen Zahlen verlassen wir unsnaturlich seit jeher auf Dezimalbruche. Fur die Konstruktionen dieses Ab-schnitts wollen wir allerdings statt Dezimalbruchen lieber Dualbruche ver-wenden. Inhaltlich lauft das auf dasselbe hinaus, aber die Formeln werdenetwas einfacher. Wir fuhren die folgenden Bezeichnungen ein:

Dn :=n z

2n

ØØØ z ∈ Zo

(n ≥ 0) , D :=[

n≥0Dn ;

die Elemente von D nennen wir Binarzahlen. Mit der Abkurzung

ιn := 2−n (n ≥ 0)

besitzt jedes a ∈ D eine (bis auf uberflussige Nullen) wohlbestimmte endlicheDualbruchentwicklung der Form

a =nX

k=0

xk ιk =: x0 . x1 x2 . . . xn (1)

mit Ziffernx0 = bac ∈ Z , xk ∈ {0, 1} (1 ≤ k ≤ n) ;

dabei hangt n von a ab. Beachte, dass in diesem Zahlenformat die samtlichenVorkommastellen sowie das Vorzeichen von a in der Anfangsziffer x0 abgelegtwerden.

Bsp: a = −9 . 1101 bezeichnet den Sachverhalt a = −9+ 12 + 1

4 + 116 = −131

16 .

Wir wollen hier das (genaue) Rechnen mit Binarzahlen bzw. endlichen Du-albruchen nicht weiter hinterfragen. Besonders erfreulich ist, dass die “natur-liche” Ordnung der Binarzahlen mit der lexikographischen Ordnung der zuge-horigen Dualbruche ubereinstimmt. Es ist daher moglich, eine Liste vonDualbruchen von blossem Auge der Grosse nach zu ordnen.

54 2 Zahlen und Vektoren

0 1/21/2 1

Fig. 2.3.1

In Fig. 2.3.1 wurde versucht, den selbstahnlichen, das heisst: sich in un-endlich vielen Massstaben reproduzierenden Charakter der Menge D zeich-nerisch umzusetzen. Algebraisch gesehen ist D ein Ring, aber kein Korpermehr, da die Division von Dualbruchen im allgemeinen nicht aufgeht. Nurdurch Potenzen von 2 kann man jederzeit dividieren. Das wird in Kaufgenommen, da D in der Menge aller reellen Zahlen dicht liegt (s.u.) und mansich in der Praxis mit einer hinreichenden Approximation zufrieden gibt.

So lauft zum Beispiel der in der Schule gelernte Divisionsalgorithmus auffolgendes hinaus: Es seien a und b gegebene Dualbruche, b > 0, deren Quo-tient a/b als Dualbruch dargestellt werden soll, und es sei ε > 0 eine beliebigkleine vorgegebene Toleranz, zum Beispiel ε := ι20. Dann kann man (durch“Herunterholen von Nullen”) immer ein q ∈ D finden, so dass gilt:

q ≤ a

b< q + ε .

In anderen Worten: Der vom Divisionsalgorithmus gelieferte Dualbruch q istweniger als ε von der “gemeinten” Zahl a/b entfernt.

©1 Es soll die Zahl a/b := 53/11 in einen Dualbruch “entwickelt” werden.Der Divisionsalgorithmus (mit expandierten Vorkommastellen) liefert

az }| {110101 . :

bz}|{1011 =

qz }| {100 . 1101

1001 011 10

11001 (“Rest”) .

Wird an dieser Stelle abgebrochen, so ist b q < a (wegen des Rests) undb(q + ι4) > a (sonst ware q grosser ausgefallen). Damit ist die Eingabelungq < a/b < q + ι4 sichergestellt. ©

Konstruktion von R 55

Reelle Zahlen, intuitiv

Schon die Pythagoraer wussten, dass die rationalen Zahlen fur eine befriedi-gende Theorie zum Beispiel des Quadrats nicht ausreichen, und es heisst, dass“der Mann, der als erster die Betrachtung der irrationalen Grossen aus demVerborgenen an die Offentlichkeit brachte, durch einen Schiffbruch umgekom-men sei, und zwar deshalb, weil das Unaussprechliche und Bildlose fur immerhatte verborgen bleiben sollen.”

©2 Wir zeigen: Die Zahl√

2 ist irrational.

Ist√

2 rational, so gibt es eine Darstellung√

2 = p/q, p und q nichtbeide gerade. Wegen p2 = 2q2 ist jedenfalls p gerade: p = 2r, und wir haben4r2 = 2q2 bzw. q2 = 2r2. Hiernach ist auch q gerade, im Widerspruch zurAnnahme uber p und q.

©

Wir sind also gezwungen, den Zahlenbereich Q (bzw. D) zu einem um-fassenderen System zu erweitern, in dem dann auch Zahlen wie

√2 (bzw.

53/11 wieder) vorhanden sind und mindestens in Gedanken mit unendlicherGenauigkeit erfasst, addiert und multipliziert werden konnen. Dies wird dasSystem R der reellen Zahlen sein.

Die “reellen Zahlen” sind gewisse ideale Objekte, mit denen wir von derSchule her und im taglichen Leben etwa folgende Vorstellungen verknupfen:

(a) Die reellen Zahlen bilden einen geordneten Korper.

(b) Jede reelle Zahl α lasst sich beliebig genau durch Dualbruche von untenannahern. Genau: Zu jeder noch so kleinen Toleranz ε > 0 (zum Beispielε := ι20) gibt es ein a ∈ D mit

a ≤ α < a + ε .

(c) Ist a.= α und b

.= β , so gilt a + b.= α + β und a · b .= α · β .

Dieser entscheidende Sachverhalt ermoglicht, in Gedanken und Formelnzwei “unendlich genaue” reelle Zahlen exakt miteinander zu multipli-zieren, fur die “numerische Simulation” dieser Rechnung aber endlicheDualbruche zu verwenden.

(d) Jeder “unendliche Dualbruch” stellt eine reelle Zahl dar, und umgekehrt:Jede reelle Zahl besitzt eine im wesentlichen eindeutige Darstellung als“unendlicher Dualbruch”.

(Die Elemente von D besitzen genau zwei derartige Darstellungen, alleandern reellen Zahlen genau eine. So stellen zum Beispiel 0.1111 . . . und1.0000 . . . beide die Zahl 1 ∈ R dar — daruber unten mehr.)

56 2 Zahlen und Vektoren

©3 Die reelle Zahl α := 4/7 besitzt die nicht abbrechende Dualbruchent-wicklung

0.10010010010010 . . .°= 1

2 + 116 + 1

128 + 11024 + . . . = 4

7

¢

und lasst sich folglich durch die endlichen Dualbruche

0.10.10010.10010010.1001001001001...

besser und besser approximieren. ©

Dass sich nach diesen vagen Vorstellungen tatsachlich ein logisch konsistentesSystem R fabrizieren lasst, hat Dedekind 1872 als erster bewiesen. Dedekindhat sogenannte “Schnitte” (s.u.) von Q betrachtet. Wir bringen im folgendeneine von Timothy Gowers vorgeschlagene Konstruktion, die die reellen Zahlenelementweise als eine “uberabzahlbare Liste” von Dualbruchen prasentiert.Wer es auch so glaubt, darf direkt zum Axiom (R) am Schluss dieses Ab-schnitts springen.

Reelle Zahlen als unendliche Dualbruche

Ein unendlicher Dualbruch ist eine unendliche Folge

x = (xk)k≥0 =: x0 . x1 x2 x3 x4 . . .

mitx0 ∈ Z , xk ∈ {0, 1} (k ≥ 1) .

Die Gesamtheit dieser Folgen bezeichnen wir mit X. Die Menge X ist vonvorneherein lexikographisch geordnet und enthalt die speziellen Elemente

0 . 0000 . . . =: 0 , 1 . 0000 . . . =: 1 .

Die zu Grunde liegende Vorstellung ist naturlich die, dass ein x ∈ X die“unendlichstellige” Zahl

∞X

k=0

xk ιk = x0 . x1x2x3x4 . . .

reprasentiert. Immerhin lasst sich jede Binarzahl a resp. jeder endliche Dual-bruch (1) durch Anhangen von unendlich vielen Nullen als Element von X

Konstruktion von R 57

auffassen. Damit erscheint D als Teilmenge von X, und zwar unter Erhaltungder Ordnung. In diesem Zusammenhang treffen wir die folgende Verein-barung: Wenn eine Folge x ∈ X mit lauter Nullen endet:

∃n : xk = 0 (k > n) ,

so bezeichnet x auch die BinarzahlPn

k=0 xk ιk , und fur zwei derartige Folgenx, y bezeichnet x + y die Summe der betreffenden Zahlen, ausgedruckt alsein Element von X; analog fur das Produkt x · y.

Die Elemente x ∈ D haben die besondere Eigenschaft, dass sie in X einenunmittelbaren lexikographischen Vorganger x0 besitzen: Bezeichnet x dieganze Zahl z, so ist

x = z . 0000 . . . , x0 = (z − 1) . 1111 . . . .

Ist x ∈ D \ Z, so weist x eine letzte 1 nach dem Komma auf, und man hat

x = x0 . x1 . . . xn−1 1 0000 . . . , x0 = x0 . x1 . . . xn−1 0 1111 . . . .

Bsp: x = 5 . 0110000 . . . , x0 = 5 . 0101111 . . . .

In diesen Fallen lasst sich kein y ∈ X angeben, das echt zwischen x0 undx liegt. Dies widerspricht unserer vielfach erharteten Gewissheit, dass zwi-schen je zwei verschiedenen Zahlen unendlich viele weitere Zahlen liegen. DerAusweg aus diesem Dilemma ist einfach: Wir betrachten x und x0 als zweiverschiedene Darstellungen ein und derselben reellen Zahl. Abstrakt: DieMenge R der reellen Zahlen ist die Quotientenmenge von X bezuglich derso definierten Aquivalenz x ∼ x0, x ∈ D. Da die Sache so ubersichtlich ist,fuhren wir keine eigene Bezeichnung fur die Aquivalenzklassen ein, sondernarbeiten weiterhin mit den Folgen x ∈ X selbst und werden die notwendigenUberprufungen an Ort und Stelle vornehmen.

Das Hauptwerkzeug unserer Konstruktion sind die Abrunde-Operatoren

Tn : X → Dn (⊂ X) , x→ Tnx (n ≥ 0) ,

die wie folgt definiert sind:

°Tnx

¢k

:=Ω

xk (0 ≤ k ≤ n) ,0 (k > n) .

Man hat die folgenden Rechenregeln:

(a) Tnx ≤ x ; n ≤ n0 ⇒ Tnx ≤ Tn0x < Tnx + ιn ;

(b) Tnx ≤ y ∀n ≥ 0 ⇒ x ≤ y ;

(c) |Tnx| ≤ |x0|+ 1 (n ≥ 0) ;

(d) Tn ◦ Tm = Tmin{n,m} .

58 2 Zahlen und Vektoren

Wir zeigen als erstes, dass sich zwei verschiedene reelle Zahlen nicht beliebignahe kommen konnen, sondern immer durch ein “binares Intervall” positiverLange voneinander getrennt sind:

(2.8) Sind x und y zwei Elemente von X mit x µ y, so gibt es ein r ∈ Nund Binarzahlen u, v ∈ Dr mit

x ≤ u < v ≤ y . (2)

Wegen x < y ist y0 − x0 ≥ 1, oder es gibt ein m ≥ 1 mit

Tm−1x = Tm−1y =: a , xm = 0 , ym = 1 .

Es wird genugen, den Fall a = 0, xm = 0, ym = 1 (m = 0 zugelassen) weiterzu verfolgen. Wegen x ø y trifft mindestens eines der beiden folgenden zu:

(I) In der Folge y erscheint nach ym eine erste weitere 1, das heisst, es gibtein r > m mit

x = . . . 000 0m

xm+1 . . . , y = . . . 000 1m

00 . . . 001r

yr+1 . . . .

In diesem Fall trennen die Zahlen u := ιm und v := ιm + ιr die beidenFolgen x und y wie angegeben.

(II) In der Folge x erscheint nach xm eine erste weitere 0, das heisst, es gibtein r > m mit

x = . . . 000 0m

11 . . . 110r

xr+1 . . . , y = . . . 000 1m

ym+1 . . . .

In diesem Fall trennen die Zahlen u := Trx + ιr = ιm − ιr und v := ιmdie beiden Folgen x und y wie angegeben.

Eine unendlichstellige reelle Zahl als Resultat einer Rechnung (Addition, Mul-tiplikation, . . .) konnen wir nur uber einen “Grenzprozess” erhalten. Wirbetrachten also Folgen

j 7→ xj (j ≥ 0), (xj)k =: xj.k ,

von unendlichen Dualbruchen. Eine derartige Folge ist monoton wachsend,wenn fur alle j ≥ 0 gilt: xj+1 ≥ xj , und beschrankt, wenn es ein M ∈ Ngibt mit

ØØxj.0

ØØ ≤ M fur alle j ≥ 0.

Das universelle Instrument zur Erzeugung von bestimmten reellen Zahlen istder folgende Satz:

Konstruktion von R 59

(2.9) (e) Es sei°xj

¢j≥0

eine monoton wachsende und beschrankte Folge inX. Dann gibt es ein wohlbestimmtes Element s ∈ X und fur alle n ≥ 0 einjn mit

Tns = Tn(xj) (j ≥ jn) .

(f) Dabei gilt xj ≤ s fur alle j ≥ 0 .

In Worten: Die auf n Stellen nach dem Komma abgerundeten “Zahlen” xj

sind fur alle j ≥ jn gleich der auf n Stellen angegebenen “Limeszahl” s.

(e) Es kann hochstens ein derartiges s geben. Fur den Existenzbeweishalten wir n ≥ 0 zunachst fest. Die Folge

j 7→ Tn(xj) (j ≥ 0)

ist nach Regel (a) monoton wachsend. Da ihr nur (2M+1)·2n mogliche Wertezur Verfugung stehen, muss dieses Wachstum nach endlich vielen Schrittenzum Stillstand kommen. Es gibt also ein jn und ein sn ∈ Dn mit

Tn(xj) = sn (j ≥ jn) .

Dieses sn inkorporiert die ersten n Stellen der gesuchten “Limeszahl” s: Istn0 ≥ n, so gilt fur j := max{jn, jn0} die Beziehung

Tn(sn0) = Tn ◦ Tn0(xj) = Tn(xj) = sn ;

in Worten: Die einmal berechneten Stellen der Limesfolge s andern sich beihoherem Genauigkeitsanspruch nicht mehr und konnen als definitive Ziffernvon s verwendet werden. Der unendliche Dualbruch s = (sk)k≥0 wird alsoerklart durch

sk := sn.k (n ≥ k ≥ 0) .

Dann giltTns = sn = Tn(xj) (j ≥ jn) ,

wie behauptet.

(f) Gabe es ein j mit xj > s, so hatte man Tn(xj) > Tns fur ein gewisses nund folglich

Tn(xj0) ≥ Tn(xj) > Tns = sn (j0 ≥ j) ,

im Widerspruch zur Definition von sn.

Wir bezeichnen das in (2.9) beschriebene s im Weiteren mit limj→∞ xj .Beachte: Der so definierte Grenzwert ist “rein digital” erklart; es werdenkeine Abstande gemessen. Wir notieren noch die folgende Rechenregel:

(g) Ist (xj)j≥0 eine Folge der in Satz (2.9) beschriebenen Art und gilt xj ≤ yfur alle j, so folgt limj→∞ xj ≤ y .

60 2 Zahlen und Vektoren

Rechnen mit reellen Zahlen

Wir kommen nun zur Definition der Rechenoperationen. Fur das Rechnenmit reellen Zahlen mussen wir uns naturlich auf das etablierte Rechnen mitendlichen Dualbruchen abstutzen. Dabei verwenden wir weiterhin + und ·fur die vorhandene Addition und Multiplikation in D und verwenden ⊕ und⊙ fur die in R neu einzurichtenden Operationen.

Zunachst die Addition. Fur beliebige x, y ∈ X sind die Folgen

j 7→ Tjx , j 7→ Tjy

monoton wachsend und beschrankt, und dasselbe ist dann auch fur die Folge

j 7→ Tjx + Tjy (j ≥ 0)

der Fall. Mit Hilfe von Satz (2.9) definieren wir nun

x⊕ y := limj→∞

(Tjx + Tjy) .

In Worten: Man erhalt n korrekte Stellen der Summe x ⊕ y, indem manhinreichend genaue Approximationen Tjx und Tjy in D addiert und dasResultat auf n Stellen abrundet. Die so definierte Addition ⊕ : X ×X → Xist offensichtlich kommutativ, und 0 wirkt als Neutralelement. Wie manleicht nachpruft, gilt

(h) x⊕ y = x + y (x,y ∈ D) ,

das heisst, die Operation ⊕ ist eine konsistente Erweiterung der in D vorhan-denen Addition auf X.

Um die Assoziativitat der Operation ⊕ zu beweisen, benotigen wir die furjedes n ≥ 0 geltenden Ungleichungen

(i) Tn(x⊕ y) ≤ Tjx + Tjy (j ≥ jn) ; Tnx + Tny ≤ Tn(x⊕ y) .

Erstens ist

Tn(x⊕ y) = Tn(Tjx + Tjy) ≤ Tjx + Tjy (j ≥ jn) ,

und zweitens hat man fur j := max{n, jn} die Abschatzung

Tn(x⊕ y) = Tn(Tjx + Tjy) ≥ Tn(Tnx + Tny) = Tnx + Tny .

Damit schließen wir nun wie folgt: Zu jedem n ≥ 0 gibt es ein j und ein j0

mitTn

°(x⊕ y)⊕ z

¢≤ Tj(x⊕ y) + Tjz ≤ Tj0x + Tj0y + Tj0z

≤ Tj0x + Tj0(y ⊕ z) ≤ Tj0°x⊕ (y ⊕ z)

¢

≤ x⊕ (y ⊕ z) .

Konstruktion von R 61

Hieraus folgt (x ⊕ y) ⊕ z ≤ x ⊕ (y ⊕ z) nach Regel (b), und aus Symme-triegrunden gilt dann auch die umgekehrte Ungleichung.

Das Axiom (OK1) haben wir zunachst nur in der folgenden schwacherenForm:

(j) x ≤ y ⇒ x + z ≤ y + z .

Fur alle j gilt nach (2.9)(f)

Tjx + Tjz ≤ Tjy + Tjz ≤ y ⊕ z ,

und mit (g) folgt die Behauptung.

Um weiter zu kommen, benotigen wir die folgende schlanke Version von (2.8)sowie deren Gegenstuck:

(k) Gilt x µ y, so gibt es ein r ∈ N mit x⊕ ιr ≤ y .

(l) Fur alle x ∈ D und alle n ≥ 0 gilt x ≤ x0 ⊕ ιn .

Nach (2.8) gibt es ein r ∈ N sowie Zahlen u, v ∈ Dr, so dass (2) gilt.Hieraus folgt mit (j) und (h):

x⊕ ιr ≤ u⊕ ιr ≤ v ≤ y .

Zum Beweis von (l) betrachten wir ein festes n ≥ 0. Fur alle hinreichendgrossen j gilt

Tjx = Tjx0 + ιj ≤ Tjx0 + ιn = Tjx0 ⊕ ιn ≤ x0 ⊕ ιn ,

und hieraus folgt die Behauptung mit (a).

Damit konnen wir nun (OK1), also die Regel

x µ y ⇒ x⊕ z µ y ⊕ z ,

beweisen:

Es gibt ein r ∈ N mit x⊕ ιr ≤ y, und hieraus folgt mit (j):

(x⊕ z)⊕ ιr ≤ y ⊕ z . (3)

Die Aquivalenz (x⊕ z) ∼ (y ⊕ z) wurde nach (l) die Ungleichungen

y ⊕ z ≤ (x⊕ z)⊕ ιn (n ≥ 0)

nach sich ziehen, was fur n > r zu einem Widerspruch mit (3) fuhrt.

62 2 Zahlen und Vektoren

Nun zu einem heiklen Punkt: Die Binarzahlen haben ja zwei Reprasentantenin X. Damit wir ⊕ tatsachlich als Addition auf R auffassen konnen, mussenwir die Aquivalenz

x0 ⊕ y ∼ x⊕ y (x ∈ D, y ∈ X)

verifizieren.

Mit (j) folgt x0⊕y ≤ x⊕y. Ware dabei x0⊕y µ x⊕y, so gabe es nach(k) und (l) ein r, so dass

x0 ⊕ y ⊕ ιr ≤ x⊕ y ≤ x0 ⊕ ιn ⊕ y

fur alle n zutrifft, im Widerspruch zu (j).

Bezuglich der Multiplikation konnen wir uns ein wenig kurzer fassen. Wirbetrachten zwei beliebige x, y ∈ X, wobei wir zunachst x > 0, y > 0 vor-aussetzen. Dann ist die Folge

j 7→ Tjx · Tjy (j ≥ 0)

monoton wachsend und beschrankt. Satz (2.9) garantiert daher die Existenzdes Produkts

x⊙ y := limj→∞

(Tjx · Tjy) .

Die so definierte Multiplikation ⊙ : X>0 ×X>0 → X ist offensichtlich kom-mutativ mit 1 als Neutralelement, und es gilt die Regel (OK2):

x > 0 ∧ y > 0 ⇒ x⊙ y > 0 .

Um die Assoziativitat der Operation ⊙ zu beweisen, benotigen wir die furjedes n ≥ 0 geltenden Ungleichungen

(m) Tn(x⊙ y) ≤ Tjx · Tjy (j ≥ jn) ; Tnx · Tny ≤ T2n(x⊙ y) .

Erstens ist

Tn(x⊙ y) = Tn(Tjx · Tjy) ≤ Tjx · Tjy (j ≥ jn) ,

und zweitens hat man fur j ≥ max{n, j2n} die Abschatzung

T2n(x⊙ y) = T2n(Tjx · Tjy) ≥ T2n(Tnx · Tny) = Tnx · Tny .

Damit schließen wir nun wie folgt: Zu jedem n ≥ 0 gibt es ein j und ein j0

mitTn

°(x⊙ y)⊙ z

¢≤ Tj(x⊙ y) · Tjz ≤ Tj0x · Tj0y · Tj0z

≤ T2j0x · T2j0(y ⊙ z) ≤ T4j0°x⊙ (y ⊙ z)

¢

≤ x⊙ (y ⊙ z) .

Konstruktion von R 63

Hieraus folgt (x ⊙ y) ⊙ z ≤ x ⊙ (y ⊙ z) nach Regel (b), und aus Symme-triegrunden gilt dann auch die umgekehrte Ungleichung.

Den ganz ahnlichen Beweis des Distributivgesetzes

(n) x⊙ (y ⊕ z) = (x⊙ y) ⊕ (x⊙ z)

uberlassen wir dem Leser.

Wie man leicht nachpruft, gilt

x⊙ y = x · y (x,y ∈ D) ,

das heisst, die Operation ⊙ ist eine konsistente Erweiterung der in D vorhan-denen Multiplikation auf X. Damit wir ⊙ tatsachlich als Multiplikation aufR auffassen konnen, mussen wir die Aquivalenz

x0 ⊙ y ∼ x⊙ y (x ∈ D, y ∈ X)

verifizieren.

Wie (j) beweist man

(o) 0 < x ≤ y ⇒ x⊙ z ≤ y ⊙ z ,

und hieraus folgt x0 ⊙ y ≤ x ⊙ y. Um nun x0 ⊙ y µ x ⊙ y auszuschließen,nehmen wir nach (k) an, es gabe ein r ∈ N mit

(x0 ⊙ y)⊕ ιr ≤ x⊙ y . (4)

Es gibt ein N mit Tjy < y0 + 1 ≤ 2N fur alle j, und hieraus folgt y ≤ 2N .Wahle nun n > r + N . Mit Hilfe von (l) und (o) ergibt sich dann

x⊙ y ≤ (x0 ⊕ ιn)⊙ y = (x0 ⊙ y)⊕ (ιn ⊙ y) ≤ (x0 ⊙ y)⊕ (ιn · 2N ) .

Dies steht wegen 2N ιn < ιr im Widerspruch zu (4).

Wir kommen zu den Inversen. Sowohl das additive wie das mutiplikativeInverse sind in R eindeutig bestimmt: Gilt y1⊕x1 ∼ 0 und y2⊕x2 ∼ 0 undist x1 ∼ x2, so folgt nach dem schon Bewiesenen:

y1 = y1 + 0 ∼ y1 ⊕ x2 ⊕ y2 ∼ y1 ⊕ x1 ⊕ y2 ∼ 0 + y2 = y2 ,

und analog schließt man fur das multiplikative Inverse.

Das additive Inverse eines beliebigen Dualbruchs x = x0 . x1 x2 x3 . . . ∈ Xlasst sich explizit angeben: Definiert man die Folge y = y0 . y1 y2 y3 . . . ∈ Xdurch

y0 := −x0 − 1 , yk := 1− xk (k ≥ 1) ,

64 2 Zahlen und Vektoren

so gibt es bei der Addition von x und y wegen xk + yk = 1 (k ≥ 1) keineStellenubertrage; folglich erhalt man ohne Weiteres

x + y = −1 . 1111 . . . ∼ 0 .

Hiernach ist y das additive Inverse von x und darf mit −x bezeichnet werden.Es gelten die Regeln −(−x) ∼ x und −(x⊕ y) ∼ (−x)⊕ (−y).

Das multiplikative Inverse erhalten wir mit Hilfe des in Beispiel©1 angedeu-teten Divisionsalgorithmus, wobei wir allerdings unendlichstellige Divisorenvorsehen mussen. Es sei also ein a > 0 gegeben, dessen Kehrwert konstruiertwerden soll. Die Zahl a kann nicht beliebig klein sein: Es gibt ein m ∈ N mitTna ≥ ιm fur alle n ≥ m. Betrachte jetzt die Mengen

Qn :=©x ∈ Dn

ØØ (Tna + ιn) · x ≤ 1™

(n ≥ m) .

Fur alle x ∈ Qn gilt ιm · x ≤ (Tna + ιn) · x ≤ 1 und folglich x ≤ 2m. WegenDn ⊂ Dn+1 und

Tn+1a + ιn+1 ≤ Tna + ιn+1 + ιn+1 = Tna + ιn

hat man die Inklusionen Qn ⊂ Qn+1 (n ≥ m). Die Folge

n 7→ qn := max(Qn) ∈ Dn (n ≥ m)

ist daher monoton wachsend und nach oben beschrankt durch 2m. Nach Satz(2.9) existiert somit der Grenzwert limn→∞ qn =: q. Wir behaupten: DieserGrenzwert ist der gesuchte Kehrwert von a, das heisst, es gilt q⊙ a ∼ 1.

Betrachte ein festes n ≥ 0. Nach (m) gibt es ein j und ein l ≥ j mit

Tn(q⊙ a) ≤ Tjq · Tja = Tjql · Tja ≤ Tlql · Tla = ql · Tla ≤ 1 .

Da dies fur jedes n zutrifft, folgt q⊙ a ≤ 1.

Es gibt ein N mit 2m + a0 + 2 ≤ 2N . Um nun q ⊙ a µ 1 auszuschliessen,nehmen wir nach (k) an, es gabe ein r ∈ N mit

(q⊙ a)⊕ ιr ≤ 1 . (5)

Nach Konstruktion von qn gilt aber fur jedes n ≥ m die Abschatzung

1 < (qn + ιn)(Tna + ιn) = Tnqn · Tna + ιn(qn + Tna + ιn)

≤ Tnq · Tna + 2N ιn ≤ (q⊙ a)⊕ 2N ιn .

Dies steht fur n > r + N im Widerspruch zu (5).

Konstruktion von R 65

Damit verbleibt als einzige Restanz die Ausdehnung der Multiplikation aufFaktoren x ≤ 0, y ≤ 0. Gestutzt auf die Regel

x µ 0 ⇔ (−x) > 0

definieren wir

x⊙ y :=

0 (x ∼ 0 ∨ y ∼ 0) ,−

°(−x)⊙ y

¢(x µ 0 ∧ y > 0) ,

−°x⊙ (−y)

¢(x > 0 ∧ y µ 0) ,

(−x)⊙ (−y) (x µ 0 ∧ y µ 0) .

Wie man sich leicht uberlegt, sind damit Kommutativitat, Assoziativitatsowie die Regel

(−x)⊙ y ∼ −(x⊙ y)

auf ganz R sichergestellt, ebenso die Distributivitat (n), mit ∼ an Stelle desGleichheitszeichens, falls y und z dasselbe Vorzeichen haben oder eine derbeteiligten Variablen ∼0 ist. Damit verbleibt der Fall x > 0, y > 0, z µ 0.Ist dabei y ⊕ z ∼ 0, also z ∼ (−y), so ist einerseits x ⊙ (y ⊕ z) ∼ 0 undanderseits auch

(x⊙ y)⊕ (x⊙ z) = (x⊙ y)⊕°−(x⊙ y)

¢∼ 0 .

Ist y ⊕ z > 0, so hat man

x⊙ (y ⊕ z) ∼ x⊙ (y ⊕ z)⊕ x⊙ (−z)⊕ x⊙ z

∼ x⊙°y ⊕ z⊕ (−z)

¢+ x⊙ z ∼ (x⊙ y)⊕ (x⊙ z) ,

und analog schließt man im Fall y ⊕ z µ 0.

Damit ist das System R in allen Punkten als geordneter Korper etabliert,und es gelten in R sowohl samtliche “Regeln der Algebra” wie die “Regelnuber das Rechnen mit Ungleichungen”. Wir konnen daher die speziellenNotationen dieses Abschnitts wieder aufheben: Die reellen Zahlen erscheinenim Weiteren nicht mehr als unendliche Folgen x ; sondern wir betrachtensie als abstrakte Individuen x, zwischen denen gewisse Bindungen bestehen.Auf die Operationszeichen ⊕ und ⊙ konnen wir furderhin verzichten, und anStelle von x µ y schreiben wir ganz einfach x < y.

66 2 Zahlen und Vektoren

Vollstandigkeit

©4 In R gibt es die Zahl√

2. Zum Beweis argumentieren wir ahnlich wiebei der Konstruktion des Kehrwerts. Betrachte die Mengen

Qn :=©x ∈ Dn

ØØ x > 0, x · x ≤ 2™

(n ≥ 0) .

Fur alle x ∈ Qn gilt x ≤ 2, und fur alle n ≥ 0 ist Qn ⊂ Qn+1. Die Folge

n 7→ qn := max(Qn) ∈ Dn (n ≥ 0)

ist daher monoton wachsend und beschrankt, besitzt also nach Satz (2.9)einen Grenzwert q ∈ X. Wir behaupten: Es gilt q · q = 2.

Betrachte ein festes n ≥ 0. Nach (m) gibt es ein j und ein l ≥ j mit

Tn(q · q) ≤ Tjq · Tjq = Tjql · Tjql ≤ Tlql · Tlql = ql · ql ≤ 2 .

Da dies fur jedes n zutrifft, folgt q · q ≤ 2.Um nun q · q < 2 auszuschließen, nehmen wir nach (k) an, es gabe ein r ∈ Nmit

(q · q) + ιr ≤ 2 . (6)

Nach Konstruktion von qn gilt aber fur jedes n ≥ 0 die Abschatzung

2 < (qn + ιn)(qn + ιn) ≤ (q · q) + ιn(2qn + ιn) ≤ (q · q) + 5ιn .

Dies steht fur n > r + 3 im Widerspruch zu (6).

©

Damit wir nicht fur jede Zahl, die wir gerne hatten, ein derartiges Kunst-stuck vorfuhren mussen, benotigen wir allgemeine Prinzipien, die unter leichtzu verifizierenden Bedingungen die Existenz des angepeilten Objektes, zumBeispiel der n-ten Wurzel aus einer beliebigen reellen Zahl c ≥ 0, garantieren.Der folgende Satz wird uns zu einem ersten derartigen Prinzip verhelfen:

(2.19) Die Gesamtheit der reellen Zahlen sei auf irgend eine Weise in eineUntermenge A und eine Obermenge B zerlegt, d.h., es sei

R = A ∪B , A 6= ∅ , B 6= ∅ ; a < b ∀a ∈ A, ∀b ∈ B .

Dann gibt es eine wohlbestimmte Zahl s ∈ R mit

x < s ⇒ x ∈ A , x > s ⇒ x ∈ B (x ∈ R) . (7)

Die Zahl s selbst gehort entweder der Untermenge oder der Obermenge an;jedenfalls erzeugt s den Schnitt (A,B) von R. Der in (2.19) beschriebeneSachverhalt wird als Ordnungsvollstandigkeit der Menge R bezeichnet.

Konstruktion von R 67

Es kann hochstens ein derartiges s geben. — Die Menge Qn := Dn ∩ Aist nach oben beschrankt durch jegliches b ∈ B; ferner gilt Qn ⊂ Qn+1 furalle n ≥ 0. Hiernach ist

n 7→ sn := max(Qn) (n ≥ 0)

eine monoton wachsende und beschrankte Folge von reellen Zahlen. Nach(2.9) existiert damit der Grenzwert limn→∞ sn =: s ∈ R, und wir behaupten,dass s die Eigenschaft (7) besitzt.Betrachte ein beliebiges x < s. Ware x ∈ B, so hatte man sn ≤ x fur alle nund folglich nach (g) auch s ≤ x, was sich mit x < s nicht vertragt.Betrachte jetzt ein x > s. Nach (2.8) gibt es ein r ∈ N und ein v ∈ Dr mits < v ≤ x. Ware v ∈ A, so hatte man v ≤ sr ≤ s. Folglich ist v ∈ B unddamit auch x ∈ B.

©5 Die Menge Q ist nicht ordnungsvollstandig.

Die beiden Mengen

A :=©x ∈ Q

ØØ x <√

2™

, B :=©x ∈ Q

ØØ x >√

2™

zerlegen Q wie verlangt in eine Untermenge und eine Obermenge; aber es gibtkeine Zahl s ∈ Q, die diesen Schnitt erzeugt: Ein derartiges s ware jedenfalls6=√

2, also zum Beispiel <√

2. Nach Satz (2.8) gabe es dann ein v ∈ D mits < v <

√2. Dieses v gehorte weder zu A noch zu B — ein Widerspruch.

©

Man kann zeigen, dass das System R durch den einen Satz

(R) Die reellen Zahlen bilden einen ordnungsvollstandigen geordnetenKorper

vollstandig charakterisiert wird. Das heisst: Jede Konstruktion eines der-artigen Korpers, ob mit Dualbruchen, Dezimalbruchen, Schnitten, Inter-vallschachtelungen oder Fundamentalfolgen (Cauchy-Folgen), liefert letztenEndes dasselbe System.

68 2 Zahlen und Vektoren

Aufgaben

1. Es sei τ ∈ R eine irrationale Zahl. Untersuche, unter welchen Bedingun-gen uber a, b, c, d ∈ Z die Zahl

λ :=aτ + b

cτ + d

rational ist.

2. Bestimme die ersten 15 Stellen der Dualbruchentwicklung von π.

3. Betrachte zwei Folgen x, y ∈ X, die den folgenden Bedingungen genugen:

x0 = y0 = 0 , xk = yk = 1 (k = 2m, m ≥ 0) , xk + yk = 1 (sonst).

(a) Bestimme x⊕ y als Element von X.

(b) Wieviele Stellen von x und y mussen zur Berechnung von T20(x⊕ y)herangezogen werden? In anderen Worten: Bestimme j20 !

4. Verifiziere das Distributivgesetz (n) im Fall x > 0, y > 0, z > 0.

5. Beweise°vgl. Beispiel ©4 ¢

: In R gibt es beliebige Wurzeln

q√a°a, q ∈ {2, 3, 4, . . .}

¢.

6. Zeige: Ist (A,B) ein Schnitt von R, so besitzt entweder A ein maximalesElement oder B ein minimales Element.

7. Betrachte den Bereich B :=©(x, y)

ØØ x > 0, y > 0, x2 + y2 < 1™

sowiedie Mengen

Qn := B ∩ (Dn × Dn) (n ≥ 1) .

Zeige: Die Folge

n 7→ sn :=#Qn

4n(n ≥ 1)

(#Qn bezeichnet die Anzahl der Elemente von Qn) ist monoton wachsendund beschrankt. Identifiziere die Zahl limn→∞ sn .

2.4 Supremum und Infimum

Maximum vs. Supremum

Im folgenden geht es um die “Extremalpunkte” von irgendwelchen MengenA ⊂ R.Es sei A eine ganz beliebige nichtleere Menge von reellen Zahlen. Gibt es eins ∈ A mit s ≥ x fur alle x ∈ A, so ist s das maximale Element von A undwird mit maxA bezeichnet. Analog ist das minimale Element minA erklart,so vorhanden.Aus den Ordnungsaxiomen ergibt sich mit vollstandiger Induktion, dass jedeendliche Menge {a1, a2, . . . , an} ⊂ R sowohl ein maximales wie ein minimalesElement enthalt. Unendliche Mengen konnen sich erstens unbeschrankt uberR ausbreiten, und auch wenn sie beschrankt sind, brauchen sie kein maxi-males Element zu enthalten.

Bsp: B := {12 , 2

3 , 34 , 4

5 , 56 , . . . , 99

100 , . . .} .

Eine Menge A von reellen Zahlen ist beschrankt, wenn es eine Zahl M gibtmit |x| ≤ M fur alle x ∈ A; die Menge A ist nach oben beschrankt, wenn esein M gibt mit x ≤ M fur alle x ∈ A. Ein derartiges M heisst eine Schrankebzw. eine obere Schranke fur die Menge A. Gibt es kein solches M , so ist dieMenge A unbeschrankt bzw. nach oben unbeschrankt.Besitzt A ein maximales Element s, so ist s die “optimale”, das heisst, diekleinste obere Schranke von A. Gibt es in A kein maximales Element, somusste die “optimale” obere Schranke “unmittelbar rechts” von A liegen.Damit kommen wir zur Hauptdefinition dieses Abschnitts:Das Supremum supA (=: σ) einer nach oben beschrankten Menge A istfolgendermassen charakterisiert (Fig. 2.4.1): In A gibt es keine Zahlen a > σ;aber fur jede links von σ gesetzte Marke σ0 := σ−ε, ε > 0, gibt es wenigstensein a ∈ A mit a > σ0. In anderen Worten: Das Supremum wird innerhalbA beliebig genau erreicht, vielleicht sogar angenommen, aber sicher nichtuberschossen. Jedenfalls ist das Supremum die kleinste obere Schranke derMenge A. — Die Menge B des obigen Beispiels besitzt offensichtlich dasSupremum 1.

A

! = sup A

R!!

Fig. 2.4.1

Analog definiert man das Infimum inf A (=: ρ) einer nach unten beschrank-ten Menge A ⊂ R : In A gibt es keine Zahlen < ρ; aber fur jede rechts von

70 2 Zahlen und Vektoren

ρ gesetzte Marke ρ0 gibt es wenigstens ein a ∈ A mit a < ρ0. Das Infimumist die grosste untere Schranke der Menge A. — Die Menge B des obigenBeispiels besitzt ein minimales Element; dieses ist dann auch das Infimumdieser Menge.

Es ist ein Ausdruck der Ordnungsvollstandigkeit von R, dass jede beschrankteMenge A von reellen Zahlen ein Supremum supA ∈ R besitzt. Genau:

(2.20) Jede nichtleere nach oben beschrankte Menge A ⊂ R besitzt einwohlbestimmtes Supremum supA ∈ R, und jede nichtleere nach unten be-schrankte Menge A ⊂ R besitzt ein wohlbestimmtes Infimum inf A ∈ R.

Aus Symmetriegrunden genugt es, uber das Supremum zu argumen-tieren. Es kann hochstens eine kleinste obere Schranke geben: Von zweiverschiedenen oberen Schranken ist stets eine kleiner. — Um nun die Exis-tenz des Supremums nachzuweisen, definieren wir einen Schnitt (R,S) von Rwie folgt:

R :=©r ∈ R

ØØ ∃a ∈ A : a > r™

S :=©s ∈ R

ØØ ∀a ∈ A : a ≤ s™

.

In Worten: R ist die Menge aller Zahlen r, die von mindestens einem a ∈ Auberschossen werden, und S ist die Menge der oberen Schranken von A.Damit gilt r < s fur alle r ∈ R, s ∈ S, und es ist R ∪ S = R. NachVoraussetzung gibt es ein a ∈ A, folglich liegt jedenfalls a − 1 in R, und daA nach oben beschrankt ist, ist auch S nichtleer. Das Paar (R,S) ist damitals Schnitt von R erwiesen.Nach (2.19) gibt es ein σ ∈ R, das diesen Schnitt erzeugt. Ware σ ∈ R, sogabe es ein a ∈ A mit a > σ. Die Zahl σ0 := (σ +a)/2 ware dann gleichzeitig< a, also in R, und > σ, also in S, was nicht geht. Somit ist σ ∈ S, und σist die kleinste obere Schranke von A.

©1 In einer “rationalen Welt” ist die zu (2.20) analoge Aussage falsch, dasheisst: Eine nach oben beschrankte Menge A ⊂ Q braucht kein Supremumσ ∈ Q zu besitzen. Zum Beweis betrachten wir wieder die Menge

A :=©x ∈ Q

ØØ x <√

2™

(siehe Beispiel 2.3.©5). Eine Zahl r <√

2 ist nach Satz (2.16) nicht obereSchranke von A, und eine Zahl r >

√2 ist nach demselben Satz nicht die

kleinste obere Schranke von A. — Als Teilmenge von R aufgefasst besitzt Aein Supremum; nach dem Vorangehenden kommt dafur nur

√2 in Frage. ©

2.4 Supremum und Infimum 71

Ist eine nichtleere Menge A von reellen Zahlen nach oben unbeschrankt, sowird supA := ∞ gesetzt. Damit bleibt es dabei, dass jede links von supAgesetzte Marke σ0 von wenigstens einem x ∈ A uberschossen wird. Ana-log besitzt eine nach unten unbeschrankte Menge definitionsgemass das In-fimum inf A := −∞. (Uber die beiden Zusatzpunkte ±∞ wirden wir inAbschnitt 3.4, im Zusammenhang mit “uneigentlichen Grenzwerten”, nochausfuhrlicher sprechen.)Setzt man noch Spasses halber sup ∅ := −∞, inf ∅ := ∞, so sind die Funk-tionen sup und inf auf der ganzen Potenzmenge P(R) definiert.

Intervalle

Zur Einubung von inf und sup behandeln wir hier den Intervallbegriff. In-tervalle sind “naturliche” Definitionsbereiche von Funktionen einer reellenVariablen. Sie lassen sich durch folgende Eigenschaft charakterisieren: EinIntervall ist eine nichtleere Teilmenge I ⊂ R, die mit je zwei Zahlen auch alledazwischenliegenden Zahlen enthalt, in Zeichen:

(I) x1, x2 ∈ I ∧ x1 < y < x2 =⇒ y ∈ I .

Jedes Intervall I besitzt ein wohlbestimmtes Infimum inf I (≥ −∞) und einSupremum sup I (≤ ∞); dies sind die beiden Endpunkte von I. Der fol-gende Satz zeigt, dass ein Intervall I durch seine Endpunkte im wesentlichenbestimmt ist. Wir benutzen die Gelegenheit, die allgemein ubliche Notationfur Intervalle einzufuhren.

(2.21) Es seien I ein Intervall und

α := inf I ≥ −∞ , β := sup I ≤ ∞

die Endpunkte von I. Dann ist I eine der vier folgenden Mengen:

[α,β ] :=©x ∈ R

ØØ α ≤ x ≤ β™

,

]α,β ] :=©x ∈ R

ØØ α < x ≤ β™

,

[α,β [ :=©x ∈ R

ØØ α ≤ x < β™

,

]α,β [ :=©x ∈ R

ØØ α < x < β™

.

Aus kombinatorischen Grunden genugt es, die Inklusionen

]α,β [ ⊂ I ⊂ [α,β ]

zu beweisen. Die rechte Inklusion ist trivial. Fur die linke Inklusion betrach-ten wir ein beliebiges y ∈ ]α,β [. Wegen α < y < β gibt es nach Definitionvon α und von β (auch in den Fallen α = −∞ oder β = ∞) ein x1 ∈ I mitx1 < y und ein x2 ∈ I mit x2 > y. Hieraus folgt y ∈ I wegen (I).

72 2 Zahlen und Vektoren

Ein beschranktes Intervall wird auch endlich genannt. Ein endliches Intervallmit den Endpunkten α und β, α ≤ β, besitzt die Lange β − α (≥ 0). DasIntervall I heisst abgeschlossen, wenn es alle im Endlichen gelegenen End-punkte (0, 1 oder 2) enthalt, offen, wenn es diese Endpunkte nicht enthalt.Ein endliches Intervall, das nur einen seiner beiden Endpunkte enthalt, heissthalboffen.Als Variable fur irgendwelche Intervalle verwenden wir weiterhin den Buch-staben I, als Variable fur abgeschlossene endliche Intervalle [α,β ] den Buch-staben Q; dabei haben wir an einen (eindimensionalen) Quader gedacht.Fur die offene und die abgeschlosssene positive Halbachse benutzen wir gele-gentlich die folgenden selbsterklarenden Bezeichnungen:

] 0,∞ [ =: R>0 , [ 0,∞ [ =: R≥0 .

Aufgaben

1. Bestimme Infimum und Supremum der folgenden Mengen. Welche dieserMengen besitzen ein minimales oder ein maximales Element?

(a)Ω

|x|1 + |x|

ØØØ x ∈ Ræ

, (b)Ω

x

1 + x

ØØØ x > −1æ

,

(c)Ω

x +1x

ØØØ12

< x < 2æ

,

(d)©x ∈ R

ØØ ∃y ∈ R : (x + 1)2 + 5y2 < 4™

.

2. Fur ein gegebenes λ ∈ R wird eine Folge a. rekursiv wie folgt definiert:

a0 := 1 , a1 := λ , ak := 2ak−1 − ak−2 (k ≥ 2) .

(a) Finde eine explizite Formel fur ak.(b) Bestimme Infimum und Supremum der Menge A :=

©ak

ØØ k ∈ N™

inAbhangigkeit von λ.

3. Es sei°Aι

¢ι∈I

eine nichtleere Familie von nichtleeren Mengen Aι ⊂ R, undes sei A :=

Sι∈I Aι. Dann gilt fur die zugehorigen Suprema sι := supAι

und s := supA die Beziehung

s = sup©sι

ØØ ι ∈ I™

.

2.5 Abzahlbarkeit

Im Anschluss an die Erweiterung von D bzw. Q zu R schalten wir hier einigeBemerkungen uber die Machtigkeit von unendlichen Mengen ein. Cantor, derBegrunder der Mengenlehre, hat als erster bemerkt, dass “unendlich” nichteinfach “unendlich” ist.

Abzahlbare Mengen

Eine Menge A von irgendwelchen Objekten heisst abzahlbar unendlich, wennes eine bijektive Abbildung

φ : N → A k 7→ φ(k) =: ak

gibt. Diese Abbildung stellt eine Liste aller Elemente von A her; wir wollensie daher als Aufzahlung der Menge A bezeichnen. Die Umkehrabbildungφ−1 : A → N weist jedem a ∈ A seine wohlbestimmte Nummer φ−1(a) ∈ Nzu und stellt daher eine Abzahlung (oder Nummerierung) der Elemente vonA dar. Fur “endlich oder abzahlbar unendlich” sagt man kurz abzahlbar.

©1 Die drei Mengen {0, 2, 4, 6, . . .}, N, Z sind abzahlbar unendlich. EineAufzahlung von Z wird zum Beispiel durch die Funktion

φ(k) :=14°(−1)k(2k + 1) − 1

¢

bewerkstelligt, die fur k = 0, 1, 2, 3, . . . nacheinander die Zahlen 0, −1, 1,−2, 2, −3, . . . produziert. Die Mengen der geraden naturlichen Zahlen, dernaturlichen Zahlen und der ganzen Zahlen sind also “gleichmachtig”, obwohljede von ihnen scheinbar doppelt soviele Elemente enthalt wie die vorange-hende. Diese Paradoxie tritt bei endlichen Mengen nicht auf. ©

Die Machtigkeit von Mengen (Anzahl der Elemente bei endlichen Mengen,“abzahlbar unendlich”, . . .) ist invariant gegenuber bijektiven Abbildungen.Ist zum Beispiel die Menge A abzahlbar unendlich und ψ : A → B eine bi-jektive Abbildung, so ist auch die Menge B abzahlbar unendlich. — Wenigertrivial ist der folgende Satz:

(2.22) Jede Teilmenge A ⊂ N ist entweder endlich oder abzahlbar unendlich.

Entweder ist A beschrankt, oder es gibt zu jedem n ∈ N ein k ∈ A mitk > n. Im ersten Fall ist A endlich (wir unterdrucken die Einzelheiten). Imzweiten Fall konnen wir rekursiv eine Funktion φ : N → A definieren durch

φ(0) := minA , φ(n + 1) := min©k ∈ A

ØØ k > φ(n)™

(n ≥ 0) ,

74 2 Zahlen und Vektoren

wobei die Annahme uber A garantiert, dass die Rekursion nicht abbricht.Fur alle n gilt φ(n) ∈ A und vor allem

φ(n + 1) > φ(n) bzw. φ(n + 1) ≥ φ(n) + 1 .

Mit vollstandiger Induktion folgt hieraus

φ(n + p) ≥ φ(n) + p (p > 0) ;

das heisst: φ ist injektiv, ferner gilt φ(n) ≥ n fur alle n. Um zu beweisen,dass jedes Element a ∈ A durch φ tatsachlich produziert wird, halten wir afest und setzen

n0 := min©n

ØØ φ(n) ≥ a™

°die Menge rechter Hand ist nicht leer wegen φ(a) ≥ a

¢. Dann gilt

φ(n0 − 1) < a ≤ φ(n0) ,

ausgenommen im Fall n0 = 0, wo nur die rechte Ungleichung zutrifft. Hierausfolgt aber φ(n0) = a, denn sonst ware φ(n0) nicht das kleinste zur “Zeit” n0

noch nicht produzierte Element von A.Die Funktion φ : N → A ist also sowohl injektiv wie surjektiv und damit inder Tat eine Aufzahlung von A.

Die dem Satz vorangestellte Bemerkung fuhrt zu der folgenden allgemeinerenAussage:

(2.23) Jede Teilmenge einer abzahlbaren Menge ist abzahlbar.

In Beispiel ©1 haben wir gesehen, dass “zwei mal abzahlbar” immer nochabzahlbar ist. Der folgende Satz zeigt, dass sogar “abzahlbar mal abzahlbar”nicht aus der Abzahlbarkeit herausfuhrt:

(2.24) Die Menge N× N ist abzahlbar.

(0, 0)s0 s2s1 s3

k

l

Fig. 2.5.1

2.5 Abzahlbarkeit 75

Die Figur 2.5.1 zeigt, wie die Elemente von N× N tatsachlich eins nachdem anderen nummeriert werden konnen. Der Leser mag sich selbst davonuberzeugen, dass die Funktion ψ := φ−1, die fur jedes Zahlenpaar (k, l) ∈N × N die zugehorige Nummer festlegt, wie folgt explizit angegeben werdenkann:

ψ(k, l) =(k + l)(k + l + 1)

2+ k .

Hinweis: Der Punkt (k, l) ist der (k + 1)-te Punkt auf der Diagonalen sr,r := k + l. Nach Durchlaufen der Diagonalen s0, s1, . . ., sr−1 hat man1 + 2 + 3 + . . . + r = r(r + 1)/2 Nummern verbraucht.

(2.25) Das kartesische Produkt zweier abzahlbarer Mengen ist abzahlbar.

Fur die Analysis hat das vor allem die folgende Konsequenz:

(2.26) Die Menge Q der rationalen Zahlen ist abzahlbar.

Jede rationale Zahl α besitzt eine wohlbestimmte Darstellung

α =p

q, p ∈ Z , q ∈ N∗ ,

mit minimalem q, und zwei verschiedene Zahlen α, β ∈ Q besitzen ver-schiedene solche Darstellungen. Damit haben wir eine injektive Abbildung

ψ : Q → Z× N

definiert. Dieses ψ vermittelt eine bijektive Beziehung zwischen Q und einerTeilmenge der abzahlbaren Menge Z× N ; somit ist Q abzahlbar.

©2 Es ist naturlich unmoglich, die rationalen Zahlen der Grosse nach zunummerieren. Eine konkrete Abzahlung von Q erhalt man zum Beispiel,indem man aus der Folge

− 11,01,11, −4

2,−3

2, . . . ,

02, . . . ,

32,42, −9

3, . . . ,

93,

− q2

q,−q2 − 1

q, . . . ,−1

q,0q,1q, . . . ,

q2 − 1q

,q2

q, . . .

alle Zahlen herausstreicht, die schon weiter links aufgetreten sind. ©

76 2 Zahlen und Vektoren

Die fur (2.26) benutzte Beweisidee liefert allgemein den folgenden Satz:

(2.27) Die Vereinigung von hochstens abzahlbar vielen abzahlbaren Mengenist abzahlbar.

(Skizze) Zu abzahlbaren Mengen Ai (i ∈ N) gibt es injektive Funktionen

ψi : Ai → N , x 7→ ψi(x) .

Betrachte jetzt die Vereinigung

S :=∞[

i=0

Ai .

Jedes x ∈ S liegt in wenigstens einem Ai und bestimmt damit erstens eineZahl

imin(x) := min©i ∈ N

ØØ x ∈ Ai

™.

Die Funktion ψimin(x) weist zweitens dem x eine wohlbestimmte Nummerinnerhalb der Menge Aimin(x) zu, so dass wir insgesamt die Abbildung

Ψ : S → N× N , x 7→°imin(x), ψimin(x)(x)

¢

ansetzen konnen. Dieses Ψ ist injektiv und vermittelt damit eine bijektiveBeziehung zwischen S und einer Teilmenge von N× N.

Ein fundamentaler Satz der Mengenlehre

Nach diesen Erfahrungen wird der Leser mit Recht fragen, ob es uberhauptuberabzahlbare Mengen gibt. Die Antwort lautet: ja. Wir werden namlichzeigen, dass es zu jeder Menge X eine “machtigere” Menge, das heisst: eineMenge mit “echt” mehr Elementen, gibt, so dass der Machtigkeit von Mengennach oben keine Grenze gesetzt ist.

Das angekundigte Resultat ergibt sich aus dem folgenden fundamentalenSatz:

(2.28) Es sei X eine beliebige Menge und

φ : X → P(X) x 7→ Ax

eine Funktion, die fur jedes x ∈ X eine Teilmenge Ax ⊂ X festlegt. Dann istφ nicht surjektiv.

Wir betrachten die Menge U derjenigen x, die nicht in “ihrem” Ax liegen:

U :=©x ∈ X

ØØ x /∈ Ax

™∈ P(X) ,

und behaupten: Es gibt kein x ∈ X mit Ax = U .

2.5 Abzahlbarkeit 77

Jedes x ∈ X liegt in “seinem” Ax oder eben nicht. Aus x ∈ Ax folgt x /∈ U ,und aus x /∈ Ax folgt x ∈ U . Keins von beiden ist mit Ax = U vertraglich.

Eine beliebige Menge A heisst uberabzahlbar, wenn es keine surjektive Ab-bildung φ : N → A gibt. Die Menge aller Teilmengen von N ist nach dem ebenbewiesenen Satz uberabzahlbar. Fur diesen Sachverhalt geben wir nun nocheinen anschaulicheren Beweis (im Grunde ist es derselbe); es wird dann auchklarer werden, warum man in diesem Zusammenhang vom (Cantorschen)Diagonalverfahren spricht.

Jede Teilmenge A ⊂ N lasst sich als Binarfolge

xA : N → B , k 7→ xA(k) :=Ω

1 (k ∈ A)0 (k /∈ A)

codieren. Damit haben wir eine bijektive Beziehung zwischen P(N) und derMenge BN aller Binarfolgen hergestellt. Wir zeigen, dass BN uberabzahlbarist.Ware BN abzahlbar, so konnte man sich einen Computer vorstellen, der diesamtlichen Binarfolgen in unendlich langen Zeilen

xj := (xj.0, xj.1, xj.2, . . .) (j ≥ 0)

nacheinander ausdruckt. Wahrend der Computer an der Arbeit ist, betrach-ten wir die Hauptdiagonale der entstehenden Matrix [xj.k] und bilden einebesondere Folge x∗ = (x∗0, x∗1, x∗2, . . .) gemass der Vorschrift

x∗k :=Ω

0 (xk.k = 1)1 (xk.k = 0) .

Diese Folge wird vom Computer nicht produziert, denn sie unterscheidet sichvon jeder ausgedruckten Folge an wenigstens einer Stelle. Eine Aufzahlungvon BN kann daher nicht existieren.

Fur die Analysis ist naturlich das Folgende entscheidend:

(2.29) Die Menge R der reellen Zahlen ist uberabzahlbar.

Es gibt also viel mehr irrationale Zahlen als rationale, oder, anders aus-gedruckt: Die rationalen Zahlen bilden in R eine verschwindende Minderheit.

Gemass den Ausfuhrungen in Abschnitt 2.3 stellt

φ : BN → [ 0, 2 ] , x→ x0 . x1 x2x3 . . .

eine surjektive Abbildung von BN auf das reelle Intervall [ 0, 2 ] dar, wobeijede Zahl ξ ∈ [ 0, 2 ] hochstens zwei Urbilder besitzt. Ware das Intervall[ 0, 2 ] abzahlbar, musste sich demnach auch BN abzahlen lassen, was oben alsunmoglich erwiesen wurde.

78 2 Zahlen und Vektoren

Aufgaben

1. Eine Folge x. von naturlichen Zahlen heisse zulassig, wenn nur endlichviele xk von 0 verschieden sind. Zeige: Die Menge der zulassigen Folgenvon naturlichen Zahlen ist abzahlbar. — Mit Hilfe von Primzahlpotenzenlasst sich ubrigens eine Nummerierung dieser Folgen explizit angeben.Wie steht es mit der Menge aller Folgen von naturlichen Zahlen?

2. Im Beweis von Satz (2.24) wurde eine bijektive Abbildung ψ : N×N → Nexplizit angegeben. Leite Formeln her fur die Umkehrabbildung ψ−1 =: φ,die also fur jedes n ∈ N den zugehorigen Gitterpunkt (k, l) ∈ N × Nproduziert. Hinweis: Untersuche erst den Zusammenhang zwischen nund der Grosse r := k + l.

3. Von Calkin und Wilf stammt die folgende schone Abzahlung der positivenrationalen Zahlen:

Mit 11 an der Spitze (das ist die nullte Generation) wird nach dem Rekur-

sionsschemaab

. &a

a+ba+b

b

ein unendlicher binarer Baum generiert. Damit ist folgendes gemeint:Jeder hingeschriebene Bruch a

b hat einen linken und einen rechten Nach-folger wie angegeben. Die n-te Generation enthalt demnach 2n Bruche.

(a) Berechne die ersten vier Generationen dieses Baumes.(b) Zeige: Alle Bruche erscheinen in gekurzter Form.(c) Zeige: Kein Bruch erscheint mehr als einmal.(d) Zeige: Jede positive rationale Zahl a

b kommt in dem Baum vor.

Werden die in dem Baum erscheinenden Zahlen generationenweise nach-einander ausgelesen, erhalt man eine Abzahlung von Q>0.

4. Eine reelle Zahl ξ heisst algebraisch, wenn sie Losung einer Gleichung

anxn + an−1xn−1 + . . . + a1x + a0 = 0 , an 6= 0,

mit ganzzahligen Koeffizienten ak (0 ≤ k ≤ n) ist. — Zeige: Die Mengeder algebraischen Zahlen ist abzahlbar unendlich.

5. Konstruiere eine bijektive Abbildung der reellen Achse R auf(a) R∗ , (b) eine Kreislinie.

2.6 Komplexe ZahlenDieses Buch handelt in erster Linie von reeller Analysis. Trotzdem sollen hiergleich auch die komplexen Zahlen eingefuhrt werden, und zwar aus den fol-genden Grunden: Zahlreiche Formeln und Satze der Analysis gelten genausoim Komplexen wie im Reellen, ja, in noch viel allgemeinerem Zusammenhang,und wir mochten diese Satze nicht auf jeder Stufe der Verallgemeinerung vonneuem beweisen, sondern moglichst nur einmal. Zweitens werden uns diekomplexen Zahlen bei der Einfuhrung und Behandlung der trigonometrischenFunktionen zu Hilfe kommen und eine befriedigende, rein analytische Theo-rie dieser Funktionen ermoglichen. Diese Auffassung wird uns zum Beispielauch dazu fuhren, die Losungsfunktionen von linearen Differentialgleichungen(Schwingungsprobleme!) von Anfang an komplexwertig anzusetzen.

Konstruktion des Korpers CDie komplexen Zahlen bilden einen Korper C, und zwar einen Erweiterungs-korper von R, das heisst: Die reellen Zahlen sind (mitsamt ihren Operationenund Unterstrukturen) in das System der komplexen Zahlen eingebaut. ZurErweiterung von R wird man bekanntlich gedrangt durch die Tatsache, dassdie Gleichung

x2 + 1 = 0 bzw. x2 = −1 (1)

in R keine Losung hat.

Wir stellen uns also vor, es sei K ein Erweiterungskorper von R, in dem dieGleichung (1) losbar ist: Es gibt ein Element i ∈ K mit i2 = −1. Dann istjedenfalls i /∈ R. Auf Grund der Korperaxiome enthalt K wenigstens alle“Zahlen” der Form

z := x + iy , x, y ∈ R .

Dabei sind der Realteil x =: Re z und der Imaginarteil y =: Im z durch zeindeutig bestimmt: Aus x + iy = u + iv folgt zunachst y = v, denn sonsthatte man

i =x− u

v − y∈ R ,

und anschliessend x = u.Es sei jetzt

C :=©x + iy ∈ K

ØØ x, y ∈ R™

die Menge der eben betrachteten z. Wir behaupten: Schon diese TeilmengeC ⊂ K ist bezuglich der in K erklarten Operationen ein Korper.

Es seien z := x + iy und w := u + iv zwei beliebige Elemente von C.Die in jedem Korper, also auch in K, geltenden Rechenregeln liefern folgendeWerte fur z + w, −z, z · w und 1/z:

z + w = x + u + i(y + v) , −z = −x + i(−y) , (2)

80 2 Zahlen und Vektoren

z · w = xu + xiv + iyu + i2yv

und somit wegen i2 = −1:

z · w = (xu− yv) + i(xv + yu) , (3)

1z

=1

x + iy=

x− iy

(x + iy)(x− iy)=

x− iy

x2 + y2

und somit1z

=x

x2 + y2+ i

−y

x2 + y2(4)

— letzteres naturlich nur, falls z 6= 0, das heisst: (x, y) 6= (0, 0) ist. Mit z,w ∈ C sind also auch die “Zahlen” z+w, −z, z ·w und 1/z von der Form a+ibund damit in C. Die ubrigen Korpereigenschaften vererben sich automatischvon K auf C.

Aus alledem lasst sich der folgende Schluss ziehen: Falls es uberhaupt einenErweiterungskorper von R gibt, in dem die Gleichung (1) losbar ist, so gibt eseinen kleinsten solchen Korper, und diese minimale Erweiterung ist (“bis aufIsomorphie”) wohlbestimmt: Ihre Operationen sind notwendigerweise durchdie Formeln (2), (3) und (4) mit denen von R verknupft. Der so charakteri-sierte Korper heisst Korper der komplexen Zahlen und wird mit C bezeichnet.Um die Existenz dieses Korpers wirklich nachzuweisen, prasentieren wir nunein explizites “Modell”, wobei wir uns naturlich von den Formeln (2)–(4)inspirieren lassen. Wir definieren auf der Menge R2 =

©(x, y)

ØØ x, y ∈ R™

eine Addition durch

(x, y) + (u, v) := (x + u, y + v)

sowie eine Multiplikation durch

(x, y) · (u, v) := (xu− yv, xv + yu)

und bezeichnen das so erhaltene System mit K. Man rechnet in einigenZeilen nach, dass diese beiden Operationen kommutativ und assoziativ sind,dass das Distributivgesetz gilt, ferner, dass das Paar (0, 0) als Nullelement,das Paar (1, 0) als Einselement wirkt und dass gilt:

−(x, y) = (−x,−y)

(x, y)−1 =µ

x

x2 + y2,

−y

x2 + y2

∂,

letzteres naturlich nur, falls (x, y) 6= (0, 0). Das System K ist somit einKorper. Weiter enthalt K als Teilmenge eine Kopie von R, denn die speziellen

2.6 Komplexe Zahlen 81

Paare (x, 0), x ∈ R, addieren und multiplizieren sich untereinander wie dieentsprechenden reellen Zahlen, das heisst, es gilt

(x, 0) + (u, 0) = (x + u, 0) ,

(x, 0) · (u, 0) = (x · u, 0) .

Endlich ist

(0, 1)2 = (0, 1) · (0, 1) = (0 · 0− 1 · 1, 0 · 1 + 1 · 0) = (−1, 0) .

Hiernach ist K ein Erweiterungskorper von R, der ein Element i enthalt,zum Beispiel i := (0, 1), mit i2 = −1. Damit ist die Existenz des Korpers Cbewiesen, und zwar ist das eben angegebene K gerade eine Realisierung vonC.

©1 Die komplexe Zahl z :=µ

8− i5 + i

∂4

soll in Real- und Imaginarteil zerlegt

werden. — Zunachst ist

8− i

5 + i=

(8− i)(5− i)(5 + i)(5− i)

=40− 1 + i(−5− 8)

25 + 1=

12

(3− i) .

Im weiteren durfen wir die binomische Formel naturlich auch im Komplexenanwenden und erhalten

z =116

(3− i)4 =116

°34 − 4 · 33i + 6 · 32i2 − 4 · 3i3 + i4

¢

=116

°81− 54 + 1 + i (−108 + 12)

¢=

14

(7− 24i) .©

Elementare Eigenschaften von CEine komplexe Zahl ein Ding und soll daher, wo immer moglich, mit einemBuchstaben, zum Beispiel mit z, bezeichnet werden. Zum Rechnen mitkomplexen Zahlen verwendet man am besten die Notation x + iy; fur ge-ometrische Uberlegungen ist es aber vorteilhafter, die komplexen Zahlen alsPaare (x, y), das heisst: als Punkte einer Ebene, der sogenannten Gausss-chen Zahlenebene, aufzufassen (Fig. 2.7.1). Die x-Achse entspricht dabeidem Grundkorper R und wird daher reelle Achse genannt, die y-Ache ist dieimaginare Achse.Die Gleichung z2 + 1 = 0, die die Zahl i “definiert”, besitzt die beidenLosungen i und −i. Das hat letzten Endes zur Folge, dass die Korperstrukturvon C bezuglich der “Spiegelung” i 7→ −i symmetrisch ist. Ist z = x + iy,so heisst z := x− iy die zu z konjugiert komplexe Zahl; die beiden Punkte zund z liegen spiegelbildlich zur reellen Achse. Die Konjugation

C → C , z = x + iy 7→ z := x− iy

82 2 Zahlen und Vektoren

z = x + iyiy

xx

y iR

R

C

z = x – iy

10

i

Fig. 2.6.1

genugt den folgenden Rechenregeln, deren Verifikation wir dem Leser uber-lassen:

x = Re z =z + z

2, y = Im z =

z − z

2i,

z ∈ R ⇐⇒ z = z ,=z = z ,

z1 + z2 = z1 + z2 , z1 · z2 = z1 · z2 , 1/z = 1/z .

Fur jede komplexe Zahl z ist

zz = (x + iy)(x− iy) = x2 + y2

eine nichtnegative reelle Zahl und besitzt somit, wie wir spater zeigen werden,eine wohlbestimmte nichtnegative reelle Quadratwurzel. Man nennt

|z| :=√

zz =p

x2 + y2

den absoluten Betrag der Zahl z; geometrisch lasst sich |z| als Abstand desPunktes z vom Ursprung interpretieren. Der absolute Betrag besitzt diefolgenden Eigenschaften:

|z1 · z2| = |z1| · |z2| ,

z ∈ R =⇒ |z|C = |z|R ,

|Re z| ≤ |z| , |Im z| ≤ |z| ,

|z| ≥ 0 , |z| = 0 ⇐⇒ z = 0 ,

|z1 + z2| ≤ |z1|+ |z2| (Dreiecksungleichung) .

Es gilt|z1z2|2 = z1z2 · z1z2 = z1z1z2z2 = |z1|2|z2|2 ;

2.6 Komplexe Zahlen 83

und hieraus folgt die erste Regel durch Ziehen der Quadratwurzel. — Diezweite Formel besagt, dass die Betragsfunktion auf C eine Fortsetzung derauf R ⊂ C bereits vorhandenen Betragsfunktion darstellt. Ist z := x ∈ R,so gilt |z|C =

√x2 = |x| = |z|R. — Der Rest ist klar, ausgenommen die

Dreiecksungleichung, die im nachsten Abschnitt bewiesen wird.

Komplexe Zahlen z besitzen ausser der Zerlegung in Real- und Imaginarteileine sogenannte Polardarstellung

z = r(cosφ + i sinφ) bzw. z = reiφ .

Die Etablierung und Diskussion dieses Sachverhalts findet in Kapitel 6 statt.

Wir schliessen diesen Abschnitt mit einer Bemerkung uber algebraische Glei-chungen. Anstoss zur Einfuhrung der komplexen Zahlen war ja, die Losbar-keit der Gleichung (1) zu erwirken. Es ist nun einigermassen uberraschend,dass im Korper der komplexen Zahlen nicht nur diese spezielle, sondernuberhaupt jede algebraische Gleichung eine Losung besitzt. Es gilt namlichder sogenannte Fundamentalsatz der Algebra:

(2.30) Jedes Polynom

p(z) = zn + an−1zn−1 + . . . + a1z + a0

vom Grad n ≥ 1 mit komplexen Koeffizienten ak (0 ≤ k ≤ n − 1) besitztwenigstens eine Nullstelle z0 in C.

Aus diesem Satz folgt weiter, dass sich jedes Polynom vom Grad n ≥ 1in n Linearfaktoren zerlegen lasst und somit genau n komplexe Nullstellen(mehrfache mehrfach gezahlt) besitzt. Fur 1 ≤ n ≤ 4 gibt es klassischeLosungsformeln, wobei man aber fur alle n > 2 mit numerischen Methodenbesser fahrt. Ein respektabler Teil der numerischen Mathematik handeltnamlich gerade von dem Problem, die Nullstellen eines gegebenen Polynomsmit vertretbarem Rechenaufwand so genau wie notig zu bestimmen.Wir werden auf den Satz (2.30) zuruckkommen und ihn bei Gelegenheit auchbeweisen.

Aufgaben

1. Zerlege die folgenden komplexen Zahlen in Real- und Imaginarteil:

(a)1

1 + i+

12 + i

+1

3 + i, (b)

2− 3i2 + i

+1− i

1 + 3i.

2. Es sei c := a + ib eine gegebene komplexe Zahl. Bestimme die Real- undImaginarteile der beiden Quadratwurzeln von c. (Gemeint sind die beidenLosungen z = x + iy der Gleichung z2 = c.)

84 2 Zahlen und Vektoren

3. Durch z 7→ w := 1/z wird die punktierte Ebene°:= C \ {0}

¢in die

w-Ebene abgebildet. Man zeichne die Bilder(a) der reellen Achse, (b) der imaginaren Achse,(c) eines Kreises |z| = r, (d) der Geraden Re z = 1.

4. Zeichne den Bereich B :=©z ∈ C

ØØ |z2 − 1| ≤ 1™. Beschreibe die Rand-

kurve dieses Bereichs (Lemniskate) als geometrischen Ort.

5. Beweise: Das Dreieck ∆ mit den Eckpunkten 0, z1, z2 ∈ C besitzt denFlacheninhalt

µ(∆) =12ØØIm(z1z2)

ØØ .

2.7 Der n-dimensionale euklidische Raum

Spatere Teile dieses Buches handeln von mehrdimensionaler Analysis, zumBeispiel von krummen Bahnen oder Flachen im dreidimensionalen Raum.Aus bereits genannten Grunden wollen wir daher das Notigste uber den n-dimensionalen Raum Rn, n ≥ 1, schon hier zusammenstellen.

Rn ist definitionsgemass die Menge aller n-Tupel x = (x1, x2, . . . , xn) vonreellen Zahlen; ihre Elemente heissen auch Punkte oder Vektoren. Die einzel-nen Eintrage xk (1 ≤ k ≤ n) sind die Koordinaten des Vektors x. Auf Rn

ist eine Addition erklart durch

x + y := (x1 + y1, x2 + y2, . . . , xn + yn) .

Dieser komponentenweisen Addition der Vektoren entspricht geometrisch dasbekannte Bild vom “Parallelogramm der Krafte” (Fig. 2.7.1). Wir erwahnendiese Tatsache nur zur Unterstutzung der Anschauung und verzichten aufeinen Beweis.

a

b

a + b

0

Fig. 2.7.1

Die Addition der Vektoren ist offensichtlich assoziativ und kommutativ, derNullvektor 0 := (0, 0, . . . , 0) ist Neutralelement, und jeder Vektor x besitztein additives Inverses −x := (−x1,−x2, . . . ,−xn). Ist weiter λ eine beliebigereelle Zahl oder, wie man in diesem Zusammenhang auch sagt, ein Skalar, soist das λ-fache des Vektors x definiert durch

λx := (λx1,λx2, . . . ,λxn) .

Diese aussere Verknupfung von Vektoren x mit Zahlen λ ∈ R lauft geo-metrisch auf eine Streckung von x um den Faktor |λ| und allfallige Spiegelungan 0 hinaus; sie genugt in Verbindung mit den ubrigen Operationen in R undRn den folgenden Axiomen bzw. Rechenregeln:

(λ + µ)x = λx + µx ,

λ(x + y) = λx + λy ,

1x = x , 0x = 0 , (−1)x = −x .

86 2 Zahlen und Vektoren

Alle diese Fakten besagen zusammengenommen: Rn ist ein reeller Vektor-raum im Sinn der linearen Algebra.Im Rn gibt es als weitere Verknupfung das Skalarprodukt

x •y :=nX

k=1

xkyk = x1y1 + x2y2 + . . . + xnyn . (1)

Das Skalarprodukt der beiden Vektoren x und y ist eine reelle Zahl; diegeometrische Bedeutung dieser Zahl wird in Beispiel 6.6.©1 untersucht. Istx •y = 0, so heisst das Paar x, y orthogonal. Als Funktion Rn × Rn → Rbesitzt das Skalarprodukt die folgenden Eigenschaften:

x •y = y •x ,

(x + y) •z = x •z + y •z ,

(λx) •y = λ (x •y) .

Diese Identitaten besagen zusammen: Das Skalarprodukt ist eine symmetri-sche bilineare Funktion von zwei Vektorvariablen. Mit Hilfe des Skalarpro-dukts definiert man den absoluten Betrag eines Vektors x durch

|x| :=√

x •x =q

x21 + x2

2 + . . . + x2n ,

in Ubereinstimmung mit elementargeometrischen Vorstellungen: |x| stelltden Abstand des Punktes x vom Ursprung dar, und |x−y| ist der euklidischeAbstand der beiden Punkte x und y. Die Betragsfunktion | · | : Rn → Rbesitzt folgende Eigenschaften:

|λx| = |λ| |x| ,

|x| ≥ 0 , |x| = 0 ⇐⇒ x = 0 ,

|x •y| ≤ |x| |y| (Schwarzsche Ungleichung) , (2)

|x + y| ≤ |x|+ |y| (Dreiecksungleichung) , (3)

|x− z| ≤ |x− y|+ |y − z| ,ØØ |x|− |y|

ØØ ≤ |x− y| . (4)

Zum Beweis von (2) betrachten wir den Betrag des Hilfsvektors

z := |x|2y − (x •y)x .

2.7 Der n-dimensionale euklidische Raum 87

Nach den Rechenregeln fur das Skalarprodukt ergibt sich

|z|2 = (|x|2y − (x •y)x) • (|x|2y − (x •y)x)

= |x|4(y •y)− 2|x|2(x •y) (x •y) + (x •y)2(x •x)

= |x|4|y|2 − 2|x|2(x •y)2 + |x|2(x •y)2

= |x|2°|x|2|y|2 − (x •y)2

¢.

Ist x = 0, so ist (2) trivialerweise erfullt. Ist x 6= 0, so folgt aus unsererRechnung:

|x|2|y|2 − (x •y)2 =|z|2|x|2 ≥ 0 ;

somit ist |x|2|y|2 ≥ (x •y)2, und durch Ziehen der Quadratwurzel folgt (2).Aus (2) ergibt sich weiter

|x + y|2 = (x + y) • (x + y) = |x|2 + 2x •y + |y|2

≤ |x|2 + 2 |x| |y|+ |y|2 =°|x|+ |y|

¢2

und somit (3). — Substituiert man in (3) x := z−y, so folgt |z| ≤ |z−y|+|y|bzw.

|z|− |y| ≤ |z− y| .

Aus Symmetriegrunden gilt dann auch

|y|− |z| ≤ |y − z| = |z− y| .

Die beiden letzten Ungleichungen besagen zusammenØØ |z| − |y|

ØØ ≤ |z − y|,wie in (4) behauptet.

Mit (3) ist zugleich auch die Dreiecksungleichung in C bewiesen, denn bezug-lich Addition und Betragsfunktion ist C “identisch” mit R2.

Im dreidimensionalen Raum R3 steht noch eine zweite multiplikative Ver-knupfung der Vektoren zur Verfugung, das sogenannte Vektorprodukt. Dawir es vorderhand nicht benotigen, verzichten wir hier auf eine detaillierteBeschreibung. Fur den Wissenden halten wir immerhin folgendes fest: DasVektorprodukt ist eine schiefsymmetrische bilineare vektorwertige Funktionvon zwei Vektorvariablen:

(x,y) 7→ x× y ,

und es genugt der Ungleichung

|x× y| ≤ |x| |y|.

In den folgenden Kapiteln verwenden wir den Buchstaben X, um eine be-liebige der Grundstrukturen R, C oder Rn, n ≥ 1, zu bezeichnen.

88 2 Zahlen und Vektoren

Aufgaben

1. Durch

z •w :=nX

k=1

zk wk

wird in Cn ein (komplexes) Skalarprodukt definiert. Untersuche dessenEigenschaften: Was ist gleich wie im reellen Fall, was anders? Stichworte:Symmetrie, Bilinearitat, Betragsfunktion, Schwarzsche Ungleichung.

2. Gegeben sind die drei Punkte A := (3, 1,−2), B := (−1, 4, 0), C :=(−2, 1,−1). Bestimme einen Punkt D so, dass die vier Punkte A, B, Cund D Eckpunkte eines Parallelogramms sind. Wieviele Losungen gibtes?

3. Zeige: Die Seitenmitten eines raumlichen (nicht notwendigerweise ebenen)Vierecks ABCD liegen in einer Ebene und bilden ein Parallelogramm.

4. In welcher gegenseitigen Lage befinden sich drei Einheitsvektoren mitSumme 0?