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Wissenswertes rund ums Thema: Risiko.

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Page 1: Wissen auf eckels art: Risiko

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1 Risiko-Definitionen

„Es ist wahrscheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches passiert.“Aristoteles

„So wie in Zeichentrickfilmen die gemalten Figuren erst dann in den Abgrund stürzen, wenn sie mitten in der Luft stehend plötzlich der Gefahr gewahr werden, so konstruieren auch Menschen ihre eigene Realität und stufen Risikennach ihrer subjektiven Wahrnehmung ein.“ Prof. Ortwin Renn, Vorstandssprecher der Akademie für Technikfolgenabschätzung, Baden-Württemberg

Begriffsklärung McK Wissen 02 Seiten: 6.7

Wer wagt, gewinnt. Es sei denn, er verliert.International Fonds Selection, Reutlingen

Ri|si|ko das; -s, Plur. -s u. …ken, österr. auch: Risken <aus gleichbed. älter it. ris(i)co, Herkunft ungeklärt>: a) mit einem Vorhaben, Unternehmenverbundenes Wagnis; b) Gefahr, Verlustmöglichkeit bei einer unsicherenUnternehmung.Duden – Das große Fremdwörterbuch

„Der Vorstand hat geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit denFortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden.“ § 91 Aktiengesetz

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„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770–1843)

Was ist Risiko? Risiko im betriebswirtschaftlichen Sinn ist die Gefahr eines unerwarteten Verlustes. Statistisch wirdRisiko häufig mit Volatilität (Standardabweichung) vom erwarteten Mittelwert gleichgesetzt.www.zinsrisiko.de, Selbstlernkurs zum Risikomanagement

„In dem Augenblick und in dem Maße, da das Risiko zurückgedrängt ist, hört auch das Unternehmen auf, Unternehmen zu sein (…), bzw. indem wir zu einer Wirtschaftsform gelangen, die ein risikofreies Wirtschaften zulässt, hat die Unternehmung aufgehört zu sein.“ Handbuch der strategischen und taktischen Bauunternehmensführung; zitiert nach Bussmann

Unter der Normalverteilungsannahme für die Risikofaktoren hat die Taylorapproximation 2. Ordnung eine Verteilung wie die Summe einer Linearkombination von unabhängigen nichtzentral Chi-quadrat- und einer unabhängigen normalverteilten Zufallsvariablen.Handbook of Statistics, zitiert nach www.mathfinance.de

„Risiko ist nicht gleich Volatilität.“ Dresdner Bank Schweiz

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Kulturgeschichte des Risikos Text: Peter Bär Risiko-Map: plantage* McK Wissen 02 Seiten: 22.23

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Der Lohn der AngstRisiko ist das Haar in der Suppe der Erkenntnis.Je mehr Wissen, desto mehr Risiko.

⌦ Der Höfling Damokles war in seiner Zeit das, was wir heute gern coolnennen. Die Legende vom mutigen Dienstboten am Hofe des TyrannenDionysios von Syrakus ist eine der tragenden Säulen des Risikobegriffs, wiewir ihn heute kennen. Da sitzt nun Damokles an einer vom Tyrannen üppig gedeckten Tafel undverspeist, was das gehobene Tagesangebot der Antike so hergab: Brot,Fisch, Bohnen, Lupinen, Käse, Asphodeloszwiebeln und natürlich Wein.Über seinem Kopf aber schwebt, das ist der Witz, ein Schwert, vom übel-launigen Chef ausgewählt, an einem einzigen dünnen Haar. Mahlzeit.Seit diesem Abendessen leidet die Menschheit unter moralischen Verdau-ungsstörungen, und im Lauf der Zeiten wurden die Beschwerden immerschlimmer. Das Damoklesschwert hängt heute überall, zieht sich vom Atomkraftwerkbis zum Zinsrisiko. Wann immer wir etwas bekommen oder erkennen, ersinnen oder beginnen, schwimmt ein Haar in der Suppe: das Risiko. Immer wenn du fröhlich bist, wenn du erhältst, was du ersehnst, bedenke,Mensch, dass es auch schief gehen kann – die Botschaft aus der Antike istzum beständigen Hintergrundrauschen der Neuzeit geworden.Freund Damokles hätte schon mit dem Begriff Risiko nichts anfangen kön-nen. Es waren Zeiten, in denen Helden noch Helden sein konnten.

Helden kalkulieren nicht. So wie Damokles unter dem Schwert speist, prügelt sich sein SagenvetterOdysseus mit riesigen Zyklopen oder lässt sich mit heimtückischen Sirenen ein. Etwas früher und südöstlich von Odysseus nagelt David miteiner kleinen Steinschleuder Goliath nieder.Wieder anderswo, im antiken Rom, werden Gladiatoren zu Volkshelden.Je tollkühner die Kämpfer auftreten, desto beliebter sind sie. Im Mittelalterwird der Ritter ohne Furcht und Tadel zum Leitbild der Eliten. In schwe-ren Rüstungen prügeln sich erwachsene Menschen, in der Regel für erha-bene Ziele. Sie ziehen tausende Kilometer durch unbekanntes Terrain, umJerusalem zurückzuerobern. Die unzähligen Generationen von David bis zu den Kreuzrittern haben eines gemeinsam: Risikobewusstsein kannten sie kaum. Irgendetwas Hehres, Hohes würde sie schon leiten, das genügte. Einzuschätzen, woher und wie scharf der Wind in Wahrheit pfeift, war ihre Sache nicht.Das erklärt sowohl Moral wie Mortalität dieser Tage.Für uns dagegen scheint es völlig unvorstellbar, die Dinge und Vorgängein unserer Welt nicht auf ihre Nebenwirkungen zu untersuchen. Das ist,ganz banal, Risikobewusstsein. Um so etwas überhaupt denken zu können,müssen Menschen sich für ihre Zukunft interessieren. Und das wiederumsetzt voraus, dass sie daran Lust haben, dafür Zeit finden, also alt � �

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Kulturgeschichte des Risikos Text: Peter Bär Risiko-Map: plantage* McK Wissen 02 Seiten: 24.25

werden und die nötigen Instrumente und Methoden besitzen, um sich etwas wie Zukunft überhaupt vorstellen zu können.Das Zeitalter der Helden von gestern war die Gegenwart. Im antiken Griechenland spielte Zukunft ebenso wenig eine Rolle wie im Imperium Romanum und im Früh- und Hochmittelalter. Das Morgen tauchte allen-falls im düsteren Orakel oder in der kühnen Prophezeiung auf. Oder als„Jenseits“. Die Menschen hatten andere Sorgen. Die agrarische Epoche wareben nur für all jene gemütlich, die nicht dabei waren. Die Energien derMenschen gingen für den täglichen Überlebenskampf drauf – den Kampfum die Ernte, gegen Naturgewalten, gegen allgegenwärtige Krankheiten.Man lebte von Tag zu Tag. In einer derart feindlichen Umwelt war manfroh, den nächsten Morgen zu erleben. Entsprechend beeindruckend er-scheinen uns heute die Heldentaten des Damokles, des Odysseus, der Gladiatoren und Ritter. Doch die Herren hatten wohl keine Wahl. Der amerikanische Autor Peter L. Bernstein beschreibt das in seinem Buch„Wider die Götter“ so: „Bis zur Renaissance wurde die Zukunft kaummehr denn als Glücksache oder als Resultat willkürlich erscheinenderWechselfälle wahrgenommen; Entscheidungen wurden meist instinktiv getroffen. Wenn die Lebensumstände so eng mit der Natur verbunden sind,bleibt für menschliche Einflussnahme wenig Raum. Solange die Erforder-nisse menschlicher Existenz auf die Grundtätigkeiten von Fortpflanzung,Getreideanbau, Jagen, Fischen und der Suche nach Schutz und Unterkunftbeschränkt bleiben, ist der Mensch schlichtweg außerstande, sich Lebens-umstände vorzustellen, in denen er die Resultate seiner Entscheidung aktiv beeinflussen könnte. Ein Sparpfennig bedeutet keinen Gewinn, so-lange die Zukunft kaum mehr als ein schwarzes Loch ist.“ Diese zukunftslose Epoche, die trostlose Zeit vor der Erkenntnis nennenwir deshalb oft das finstere Mittelalter. Wo keine Zukunft ist, ist kein Licht. Die Energie, die Zukunft speist, heißt Wissen – und das bleibt niemals ohne Folgen.

Die Erfindung des Risikos

Der Horizont klärte sich allmählich auf. Was die Dunkelheit vertrieb, warWissen. Im Zeitalter der Kreuzzüge stoßen die ritternden Europäer mit dendenkenden Arabern zusammen. Das aufstrebende Reich bedient sich amWissen des Fernen Ostens, Chinas und Indiens. Von allen neuen

Künsten ist jene vom Umgang mit Zahlen die wichtigste. In der AltenWelt misst und zählt man geradezu barbarisch, mit Rechenstöckchen undKieselsteinreihen. Das von den Hindus stammende und von den Arabernperfektionierte Zahlensystem erleuchtet den Horizont der Europäer. Am Hof Friedrich II. in Sizilien wird der Austausch des arabischen Wissens,das wiederum das Wissen des Fernen Orients bündelt, mit den europäischenWerten geübt. Von nun an ist Heldentum nicht mehr das Heldentum deralten Tage. Im 13., 14. und 15. Jahrhundert verlieren die Männer ohneNerven und ohne Zukunft allmählich ihre Bedeutung. Die Gegenwart ist nicht mehr alles, was den Menschen bleibt. Sie wird zumBasislager für die Eroberung der Zukunft. Die Menschen ändern sich. Unddiese Epoche erhält später einen ungemein treffenden Namen: Neuzeit.An der Schwelle zur Neuzeit gibt es neue Ideale, und ihre Vertreter unter-scheiden sich von den alten Haudegen durch und durch. Ab jetzt wird gerechnet. Der Umgang mit dem neuen Zahlensystem schärft den Verstand, die Fähigkeit zur Abstraktion. Zugleich wird es möglich, nach vorn zu schauen,die nächsten Tage, schließlich Monate und Jahre zu planen: Vorratswirt-schaft, Bankenwesen, Handel, Mobilität und Produktion sind die Folgen.Der venezianische Reisende Marco Polo ist an der Schwelle zum Zeitalterder Zahlen und des Kalkulierens einer jener neuen Helden, die bereits vomWissen um die Möglichkeiten der Zukunft geprägt sind. Er plant nicht nurseine Reisen, die dem Handel dienen sollen, auf Jahre im Voraus.Wer Stoffe und Gewürze über den halben Erdball vertreibt, der kann damit nicht umgehen wie mit Äpfeln und Birnen, die am Markt verkauftwerden. Langjährige Expeditionen bedürfen der genauen Planung und Kostenrechnung der Güter, für die erhebliche Anstrengungen unternom-men werden. Ohne das neue Zahlensystem und die Kunst der Kalkulation,der Risikoabwägung, ist das nicht vorstellbar. Darüber hinaus muss derneue Held des Zahlenzeitalters, der Kaufmann, im Voraus kalkulieren, wiedie Chancen nach Absatz der Ware stehen, wenn sie unter großen Mühenherangebracht worden sind. Dabei bleiben Fragen offen: Werden die poten-ziellen Kunden von heute, die nach feiner Seide und Zimt gieren, auch indrei, vier Jahren, wenn die Ware vor Ort erhältlich sein wird, noch danachverlangen? Werden sie den Preis zahlen, der heute geboten wird? Wie stehtes um die Gefahren einer langen Reise? Das und Unzähliges mehr mussder neue Held bedenken, kalkulieren, abwägen.

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Der Ritter Don Quijote ist bereits im 16. Jahrhundert, bei Miguel de Cervantes, eine lächerliche Figur, ein Mann von gestern, ein zweidimen-sionaler Mensch, der gegen Windmühlen kämpft – was uns bis heute alsChiffre für aussichtslose Unternehmungen gilt.Aus einem ganz anderen Holz ist der Genueser Christoph Kolumbus geschnitzt: „Informationen sind unerlässlich für das gute Gelingen jedesUnternehmens“, schrieb er. Kein Schicksal, keine dunkle Macht bestimmenden Lauf der Welt, sondern das Wissen um Gewinn und Verlust, um Chance und Risiko.

Die Zukünfte

Die Mathematik und die Zahlen verändern nicht nur den Umgang mit derZeit und der Zukunft, sie verändern auch den Blick auf die Welt. Wer Zu-künfte und mögliche Verläufe kalkuliert, schärft unaufhörlich seinen Geist.Er entdeckt neue Möglichkeiten. Die Proportion findet Eingang in die Malerei, die wirkliche Dimension derWelt wird abgebildet. Es ist die größte Emanzipationsbewegung aller Zeiten: Der Mensch kann es sich leisten, die Welt so zu sehen und abzu-bilden, wie sie wirklich ist. Keine Götter, kein Dämon vermögen ihn da-von abzubringen. Mit den Zahlen dämmert also die Zukunft herauf. Und mit den Kalkula-tionen erscheinen die Nebenwirkungen, die Risiken, auf der Tagesordnung.

Die Herrschaft der Kalkulation – der Risikostaat

Im 17. und 18. Jahrhundert ist der Staat eine berechnende Größe gewor-den. Der Untertan wird gezählt, seine Produktivität geschätzt, sein Daseinkalkuliert. Im frühen Kapitalismus wird die Flut der Risiken ein Problem.Weil die Forscher immer mehr Wissen zu Tage fördern und das Lebenzum Kalkül wird, häufen sich auch die potenziellen Gründe, mit Vorhabenzu scheitern. Die Schweizer Mathematiker Jakob Bernoulli und sein Neffe Nikolaus entwickeln Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts die Wahr-scheinlichkeitsrechnung. Das kalkulierte Risiko wird zum Regelfall – mankann berechnen, was wahrscheinlich eintritt. Das Gesetz der Großen Zahl empfiehlt uns den Versuch, das Experiment,um die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses vorherzusagen. Statistikenwerden angelegt. Man vergleicht, berechnet, sucht nach feineren

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Kulturgeschichte des Risikos Text: Peter Bär Risiko-Map: plantage* McK Wissen 02 Seiten: 26.27

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Methoden, die Zukunft zu erschließen. Die Auswirkungen auf die bereitsvon der Aufklärung getriebenen Europäer ist enorm: Alles ist machbar, und selbst die Folgen des Machbaren, die Risiken und Nebenwirkungen, erscheinen nun nicht mehr bloß, wie in der ersten Phase der Zahlenwelt,als endlose Risikenlisten, sondern als vorhersehbar und damit beherrsch-bar. Experiment und Versuch verändern die Welt.Was in der Zukunft zu gewinnen und zu verlieren ist, und was jetzt undheute dafür getan werden kann, wird zur neuen ökonomischen Methode,die bald die alte Ordnung vollends über den Haufen wirft: Der Kapitalismusist die Herrschaft der Kalkulation, der energische Versuch, Risiken durchWissen und Planung zu erfassen und zu umschiffen. Das Risiko selbst wirdzum Gegenstand des kapitalistischen Handelns. Versicherungen entstehen, planvolle Unternehmungen, die aus dem RisikoKapital schlagen, dieses Kapital aber auch vor allem zur Abwehr der Fol-gen des Risikos verwenden. Das Risiko wird integriert. Verliert die Zukunftihren Schrecken?Zukunftsgläubigkeit, ein Symptom des 19. und 20. Jahrhunderts, ist ohneZweifel die Folge der Offenbarungen der Zahl, die immer genauer unsereZukunft zu erfassen vermag. Aus passivem Reagieren wird aktives Zu-kunftsgestalten. Und doch vermischen sich die alten Helden mit den neuen Methoden bisin unsere Tage. Zum Ende des 18. Jahrhunderts verfasst Thomas Malthusseine nach damaligen mathematisch-statistischen Methoden astreine Apo-kalypse-Theorie von der Überbevölkerung, die er als größtes Risiko derkommenden Zeiten sieht. Bis heute leidet die Zukunftsforschung, die dasMögliche planen will und die dabei entstehenden Risiken zu erfassen sucht,an der Komplexität der Welt, die uns erst klar wurde, seit wir gelernt haben, sie zu berechnen. Je mehr Szenarien, je mehr Methoden, so scheint es, desto unüberschau-barer werden die Zukünfte – und desto unberechenbarer ihre Risiken. Deshalb wird Risiko im Laufe der vergangenen zweihundert Jahre zum Inbegriff des Schlechten auf der Welt. Der Mensch mag sich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, dassWissen seinen Preis hat: die Erkenntnis vieler Möglichkeiten, nicht bloßeines oder einiger weniger Wege, die in der dunklen, zahlenlosen WeltSchicksal genannt wurden.Wer Risiken ablehnt, lehnt gleichsam den wichtigsten Erkenntnisschrittder Menschheit ab: durch Nachdenken, Planen und Rechnen zu Wissenund damit auch zu annähernder Gewissheit zu kommen.

Unendlich viele Systeme und Netze sichern uns heute gegen alle mög-lichen Risiken ab. Der Münchener Soziologe Ulrich Beck hat in den acht-ziger Jahren mit seinem Bestseller „Die Risikogesellschaft“ dem Zaudernder Sicherheits-Gesellschaft eine Stimme gegeben. „Die gesellschaftlicheProduktion von Reichtum geht systematisch einher mit der gesellschaft-lichen Produktion von Risiken.“ Reichtum aber ist nichts weiter als das Hinzufügen von Neuem zu Altem. Das gilt für Kapital wie für Wissen. Nach Beck ist also das Neue an und für sich gefährlich – und die Risiken,denen sich die Gesellschaft heute aussetzt, so meinte Beck damals, seienlängst außerhalb des kontrollierbaren Bereiches geraten. Es sind satte Töne,die da angeschlagen wurden, und ihr Einfluss musste in der wohlhaben-den bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft groß sein. Sie sind – bei aller Kritik an ihrem nach rückwärts gerichteten Kern – auchverständlich. Die Welt ist hoch komplex, und eine Flut an Informationenund Wissen schafft automatisch auch eine Flut möglicher Risiken undNebenwirkungen. Es ist eine Frage der Zeit, bis Gesellschaften, die wie unsere zu den Information Rich gehören, nicht mehr hören wollen, was sieselbst heraufbeschworen haben: die Möglichkeit, nicht nur das Erstrebens-werte zu kalkulieren, sondern immer auch die Risiken darin zu erkennen.Der Preis von Erkenntnis ist Erkenntnis, und das führt nicht unbedingtschnurgerade zur Einsicht, sondern oft zu Verwirrung.So ist es kein Wunder, dass sich die wissende Gesellschaft bisweilen nachihren alten, tumben Helden sehnt, den Männern ohne Risikobewusstseinund Kalkulationsgabe, deren Instinkt jedes Kalkül im Keim erstickt. Die Rambos, Terminators oder die No-Risk-No-Fun-Gesellschaft, die sich – hundertfach versichert – mit Fahrrädernvon Bergen stürzt oder bei 220 Stundenkilometern auf der Auto-bahn den Odysseus rauslässt, sind nichts anderes als der Mensch,der vor seinen eigenen Möglichkeiten erschrickt: die Zukunftund ihre Risiken gestaltbar zu machen. Das geht vorbei. Die Erkenntnis hingegen kann niemand mehr zurückdrehen. DieZukunft ist da, und ihre Risiken vermögen wir zu erkennen. Siesind kalkulierbar. Wissen ist gnadenlos. Doch keine Angst: Die Welt hat weit mehr daraus gewonnen alsverloren. Und keine Sorge: Es gibt kein Entrinnen. Was für ein Glück. ⌫

Ulrich Beck: Die Risikogesellschaft.Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1986;360 Seiten; 12,50 Euro

Peter L. Bernstein: Wider die Götter –Die Geschichte von Risiko undRiskmanagement von der Antike bisheute. Gerling Akademie Verlag,München, 2000;480 Seiten; 29,60 Euro

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Und wenn?

Wagnis Wohnen Text / Foto: René Ammann McK Wissen 02 Seiten: 44.45

6 Über das unbezahlte Unglück.

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„Seien wir ehrlich, Leben ist immer lebensgefährlich.“ Erich Kästner

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� Wagnis Wohnen � Text: René Ammann McK Wissen 02 Seiten: 46.47

⌦ An sich war das ja eine schöne Idee mit den Blumen vorm Fenster.Der Frühling da, und wenn … – wir werden gerade von Polizeisirenenunterbrochen, es sind drei, und sie rasen heulend nachts um zwei durchZürich. Ja. Der Frühling. Die Kapuzinerchen blühten, die Flöhe klebten anihren Gurgeln. Und die Sonnenblumen schossen in den Himmel und verstellten den Blick auf das, was ich üblicherweise zähle, wenn mich derRettungshelikopter geweckt hat. Gebäude. Türme. Sonnenblumen. Jeden Morgen weiß ich, wann Zürich wach ist. Wenn der Helikopter übermein Dach knattert und die ersten Schwerverletzten ins Spital fliegt. DasSpital liegt weiter oben am Hügel, und ich liege in der Anflugschneise undtaste nach dem Wecker. Schepper. Das war die Ikea-Lampe. Gewesen. Danneben ohne Licht. An der Decke oben ein Riss. Der ist auch ohne Funzelgut sichtbar. Bezahlen tut das keine Versicherung. Alles eh verjährt, nichtgedeckt, Naturgewalt, Unruhen, Attentate. Abnutzung. Abnutzung. Ja.Und Zürich liegt da und schnauft schwer, weil der Stadt die Frittenbudenauf dem Magen liegen, und natürlich die Sonnenblumen, die hatten keineLäuse, die waren so schön, obwohl sie eines Tages einfach weg waren.Im Bett liegen gilt als weitgehend heitere Tätigkeit. Schön schlafen … Sicher, ein paar kleinere Tragödien. Geplatzte Träume und Beziehungen.Nasse Kissen vor Tränen. Zusammengebissene Zähne und Daniela, die er-zählt, der Waschmaschinenmann sei furioso unter der Türe gestanden mit15 verrosteten Bügeln. Bügel?, frage ich, was für Bügel? Na, BH-Bügel, ver-rostete BH-Bügel, die hat er aus dem Filterteil der Waschmaschine gefischt!BH-Bügel, sage ich, also was die Leute nicht alles so sammeln, worauf sie:Ach, du Simpel, du hast nie in einer Weiber-WG gelebt!Ist das Großmünster noch da?, frage ich scheinheilig, denn ich weiß, dassdas Thema Weiber-WG und BH-Bügel noch lange nicht ausgereizt ist.Mein einstiger WG-Partner, der reinigte mit dem Staubsauger die Katzen-kiste. Schlupp und weg. Aus den Augen aus dem Sinn, aber nicht aus derNase. Der Kater, sonst nicht der Hellste, roch es als Erster. Merkwürdigoft strich er ums Saugrohr. Irgendwann rochen auch wir es. Es musste einneuer Sauger her. Mit dem neuen sog mein einstiger WG-Partner, im

Studium durchaus eine Leuchte, Fliegen, Spin-nen und Maden ein, die aus dem Kompostkübelkrochen. Dort hinein hatte er nämlich die Restevom Katzenfutter gekippt. Nun ja, was will mandazu sagen? Wir waren alle mal blond.Die Sache mit dem verseuchten Staubsauger wardann echt schwierig. Ich meine, erzählen Sie dasmal Ihrem Versicherungsvertreter. Der selbst er-zählt einem allerdings auch die tollsten Geschich-ten, etwa jene von der ärgerlich weggeschnipp-ten Zigarettenkippe, die dummerweise in einenEierkarton fiel, jenen entzündete und im weite-ren Verlauf eine dieser hundsgemeinen Hühner-farmen, pardon, einen dieser „Geflügelaufzucht-betriebe“ abfackelte.In der Küche hat sich Daniela eben den Fingerverbrannt an dieser blödsinnigen Espresso-Schraubmaschine. Man kann es auf alle Artenversuchen: Topflappen, Handschuh, nasser Lum-pen, alles zusammen. Es trifft immer den Zeige-finger. Dabei schnorcheln die Dinger immer soschön, wenn der Kaffee bereit ist. Und Danielaerzählt beim Kaffee so schöne Geschichten ausihrer Weiber-WG. Zum Beispiel die, wo ihreWG-Kollegin einen Stromstoß erwischte, weil siesich im Bad die Haare wegmachen wollte. Mitder Maschine. Das Ding war gesichert, aberirgendwas ging schief, denn kaum hatte sich ihrebemitleidenswerte WG-Kollegin erholt, stand sieim Bad mit der Wimpernzange am Auge undblickte so Auge in Auge mit sich selbst und ihren Wimpern, da …, da fiel ihr das Lavabo

auf die Füße. NEIN!, rufe ich in jenem Moment jedes Mal von neuem.DOCH!, erwidert Daniela und sagt, irgendwie triumphierend: Sie hat sichdabei den Fuß gebrochen. AUA!, schreie ich, wer hat diese verflixten Mes-ser falsch in die Schublade gelegt? Messer gehören nicht auf den Rücken!Sei nicht so wehleidig, sagt sie, jetzt erzählst du mir sicher noch, dass esfür den Käse genau EIN Fach im Kühlschrank gibt. Genau, schreie ich, esgibt GENAU EIN RICHTIGES FACH FÜR KÄSE IM KÜHLSCHRANK!Nach Dusche und Rasur entspannt sich die Lage. Und? Ist das Großmüns-ter noch da? Schau selbst nach! Tatsächlich. Sie sind noch da. Meine Türme.Links die Predigerkirche, dann das Großmünster mit seinen Doppeltürmen,dann das Fraumünster, dann St. Peter (größtes Ziffernblatt Europas oderso), dann die Sternwarte. Alles an seinem Platz. Außer den Sonnenblumen.Glitsch. Max? Auf dem Teppich bin ich in etwas Nasses getreten. MAX!Der Köter hat auf den Teppich gemacht. Er ist ja noch jung, beschwich-tige ich mich, ist er nicht süß?, doch, ist er, dieser Scheißkerl. Er kann janix dafür, nicht wahr, kleiner Max, du MISTVIEH! Das war der iranischeSeidenteppich. Für den musste ich Strafzoll zahlen! Ich hüpfe auf den Balkon. Einbeinig. Auf dem Terrässchen hatten wir gegrillt. Gedörrt!, gibt Daniela zurück. Weil deine Curryfleischbällchen sosteinhart waren! Immerhin hat der Kater den Kugelgrill nicht umgewor-fen, sage ich. Stimmt, sagt Daniela, der wusste, was gut ist. Auf dem Grilllagen Schnitzel. Er wollte ja bloß gucken, was da so lecker riecht.Die Zürcher und ihre Tiere. Den einen Bürgermeister haben sie abgewählt,weil er das Halten großer Hunde verbot. Es gibt in dieser Stadt sogar eineHunde-Partei. Ein Ehepaar war mit seinen Hunden am See unten spazierengewesen und hatte den Leinenzwang nicht befolgt. Worauf es zu einemWortwechsel zwischen der Ordnungsmacht und den Hundebesitzern kam.Dem Zwist folgte die Gründung der Hunde-Partei (HUP). Denn der Hundehalter war Jurist. (Auszug aus den Statuten: Art. 3: „Die Hunde-Partei erstrebt die Förderung von Achtung und Toleranz gegenüber den in Gemeinschaft mit dem Menschen lebenden Hunden. Grundlage derVereinstätigkeit bildet die ,Resolution über die Verantwortung des � � �

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Menschen gegenüber der Kreatur und im Speziellen gegenüber dem Hundfür ein artgerechtes Dasein‘, wie sie mit Datum vom September 2001 amZürichhorn verabschiedet worden ist und zu deren Durchsetzung und Einhaltung sich die Unterzeichner der Erklärung verpflichtet haben. Die Resolution ist den Statuten als Anhang beigeheftet und bildet deren inte-grierenden Bestandteil.“)Zurück zum Terrässchen. Da saßen wir zu zweit am Tisch, und Gion, einMann von Welt und 105 Kilo, legte auf. Da ratterte ein Helikopter übersDach. Ohne vom Fleischmocken, den er gerade mit der Zange fasste, auf-zublicken und ohne Max, der gerade seine Wade ableckte, zu beachten,sagte Gion: Ah, so. Der erste Grill-Unfall! Und wendete sein Würstchen.Grillen, das wissen wir alle, ist Männersache. „Bei den rund 80 bis 100Millionen Grillfeuern, die in der Bundesrepublik zwischen April und Oktober entfacht werden, passieren Jahr für Jahr zwischen 3000 bis 4000Grill-Unfälle, 400 bis 500 von ihnen enden mit schwersten Verbrennun-gen“, weiß www.das-sichere-haus.de. Gion weiß das aus nächster Nähe.Er ist Notfallarzt.Die Klöpse wurden vertilgt, der Prosecco gekippt – ohne dass wir wegendes Korks ein Auge lassen mussten. Dafür klemmte Daniela ihren Zeh imSpalt ein. Und während ich auf dem Stuhl saß und mir überlegte, wo manauch noch Finger oder Zehen einklemmen konnte, wurde es dunkel unddunkler, und Daniela erzählte die Geschichte vom Pott mit den siedendheißen Frankfurtern drin, die sie auf den Steinway gestellt hatten. Das wardem Flügel nicht gut bekommen. Und ich erzählte vom Klavier, das genauunter der Stromschiene stand, und die Stromschiene, die war per Zufallgleich dort angebracht, wo die Waschmaschine leckte, und so tropfte dieWaschmaschine piano, piano ins Klavier.Und wir trugen das Geschirr in die Küche und amüsierten uns über dieGeschichte der Zürcher Vorstadtfrau, die Wäsche wusch und einkaufenging, und als sie zurückkehrte, da war das Haus abgebrannt. Sie hatte ver-gessen, das Wasser anzudrehen, worauf die Wäsche in Flammen aufging,und wir fanden das völlig unglaublich und erfunden und ein Hirngespinst,da roch es merkwürdig verrottet. NEIN!, sagte Daniela. DOCH! Ich warin ein Würstchen von Max getreten – und lang hingeschlagen.

Mein Vater hat mal auf einen Stein in einer Baked Potatoe gebissen und verlor die Zahnfül-lung, sagte sie, und meiner hat mal in ein Bröt-chen gebissen und seine Brücke war weg, sagteich. Und der Milena ist mal ein Glas Wasser aufsNotebook gekippt, und ihren ganzen Roman gab’snur noch als unkorrigierten Ausdruck, sagte ich,und mir ist mal das Handy ins Klo gefallen, sagtesie, ja dem Martin auch, sagte ich, und als ichmeine Militäruniform abgeben musste, da wardie verschimmelt, weil der Keller unter Wasserstand und dann wieder nicht, und wir haben das nicht gemerkt, und krieg’ ich noch einenSchluck? Aber ja, mein Großvater, der ist mal aufden Hinterkopf gefallen, weil er derart lachenmusste, dass die Stuhllehne brach, und ich habeden Weihnachtsbaum umgeworfen, und bei unsbrannte mal das Réchaud mit dem Fondue ab,und der Onkel packte das Tischtuch an den vierEcken mitsamt Gabeln und Kirsch und warf dasZeug in den Schnee hinaus.Und was gab es zu essen, als das gesamte Fon-due im Schnee lag? Ich weiß es nicht.Und der Dings ist von der Leiter gefallen, und ich habe schon dreimal an diesem blöden Tisch-chen mit der gemeinen Kante die Zehe aufge-schnitten, und ich habe den Kopf schon x-malam Balken angeschlagen, mir blaue Flecken andiesem beschissenen Designertisch geholt, unddie Virginia hat sich beinahe das Auge ausge-schlagen an der Wendeltreppe, die dieser dummeLuigi gemacht hat, und es ist wahrscheinlicher,dass man von einer Kokospalme erschlagen

wird, als von einem Haifisch gebissen, und weißt du was, wir hocken hierwie Klageweiber. Na und?Ich habe mir mal wegen einer Engadiner Nusstorte einen Teil des Zahnsausgebissen, meine Schwester ist beim Sport mit einer anderen zusam-mengestoßen und hat sich einen Zahn ausgeschlagen, die Mutter hat aufeinem Kaugummi gesessen, die Nachbarn sind mitsamt dem Balkon runtergefallen, weil der Balkon morsch war, der Bömmeli, der ist einer Politesse über den Fuß gefahren, als sie ihm ein Knöllchen unter den Schei-benwischer klemmen wollte, und dem Peter fiel ein Bild auf den Fuß, derErnst ist in der Dusche ausgerutscht, das Kind von der Livia kämmte sichmit der Klobürste das Haar, der Frau Hammer lief der Boiler über, weil erso uralt war, und mir fiel mal ein brennendes Zündholz in den offenen Hosenschlitz, und dem Andreas ist beim Raketenbauen ein Finger abge-rissen worden, und meiner Schwester beim Karamelkochen … und meinUrgroßvater, der …Mooo-ment. Sag mal, wann musste die Versicherung eigentlich deinenSchaden decken?(Ruhe.)Als ich nach Hause kam und die Sonnenblumen waren nicht mehr da.Was? Ja, ich kam nach Hause, und plötzlich war es so unglaublich hell.Das Telefon läutete, und ich sagte zu Susanna: „Ich glaube, meine Son-nenblumen sind ausgeflogen. Ich ruf’ dich zurück.“Und dann?Dann rannte ich die sechs Etagen runter und …Ou, wow …Es stimmte. Die hatten sich mitsamt dem elend schweren Topf verab-schiedet und einen Triangel in einen Volvo gestanzt.Und was kostete das?7000 Franken. Und zwei Bier für den Besitzer des Volvos. Und beinaheeine Anzeige wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder so.Und wer hat das bezahlt?Meine Haftpflicht. Ja … die haben das bezahlt … ja, wirklich, haben sie,HE!, da läuft was Warmes in meine Schuhe. Max? MAX!! ⌫� �

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Wagnis Wohnen Foto: René Ammann McK Wissen 02 Seiten: 48.49

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Wagnis Wohnen Foto: René Ammann McK Wissen 02 Seiten: 50.51

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Wagnis Wohnen Foto: René Ammann McK Wissen 02 Seiten: 52.53

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Finanzkrisen / Buchbesprechung Text: Steffan Heuer McK Wissen 02 Seiten: 92.93

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Sie betreiben in Ihrem Unternehmen professionelles Riskmanagement? Prima, dann sind Sie natürlich auch auf die nächste Finanzkrise bestens vorbereitet. Kennen sämtliche mikroökonomischen Indikatoren und verfügen über ein breites Instrumentarium,das Ihnen erlaubt, rechtzeitig auf volkswirtschaftliche Veränderungen zu reagieren.Wenn nicht, haben Sie ein Problem.

Vorsicht Krise

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� Finanzkrisen / Buchbesprechung � Text: Steffan Heuer McK Wissen 02 Seiten: 94.95

Drittens: Unternehmer, Banker und Anleger tragen mindestens genauso vielVerantwortung wie Politiker und internationale Bürokraten, wenn es da-rum geht, das globale Finanzsystem transparenter, stabiler und feuerfesterzu machen. Das nächste flammende Inferno, so viel ist sicher, kommt bestimmt. Wirt-schaftliche Liberalisierung und steigende Mobilität haben zunehmend integrierte Märkte geschaffen, in denen sich schwache Volkswirtschaftennoch weniger vor Schocks schützen können als die großen Finanzdreh-scheiben New York und London. Von 1980 bis ins Jahr 2000 wuchs dasVolumen internationaler Wertpapier-Transaktionen pro Jahr um 20 Prozentauf derzeit 1,8 Billionen Dollar – am Tag. Auf eine ähnliche Summe sindauch grenzüberschreitende Bankkredite gestiegen. Im Jahr 2000 gabenUnternehmen weltweit Schuldverschreibungen im Wert von 5,6 BillionenDollar aus.

Ein immenser Kreislauf mit teuren Nebenwirkungen

Angesichts derartiger globaler Abhängigkeiten brechen immer öfter Krisenaus, und ihre Folgen sind ernster als je zuvor. „Man kann weglaufen, aberman kann sich nirgendwo verstecken“, ist das düstere Fazit der Berater,was den Schutz vor Finanzkrisen im 21. Jahrhundert angeht. In den acht-ziger Jahren zählte die Weltbank 45 Bankenkrisen, bei denen ein Großteildes Finanzkapitals im System (sprich Land) vernichtet wurde; in den neun-ziger Jahren lag die Zahl schon bei 63, betroffen waren unter anderem Thai-land, Korea, Brasilien, Osteuropa und die Türkei. Die Vorstellung, dass nach dem Eingreifen der jeweiligen Regierung undder Weltbank eine Krise schnell gemeistert sei, wird von Statistiken in„Dangerous Markets“ als gefährlicher Irrglaube entlarvt: Mehr als die Hälfte aller Finanzkrisen der vergangenen zwei Jahrzehnte dauerte mindes-tens vier Jahre. Ein Kollaps vernichtet in der Regel Werte in Höhe von 15bis 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP); in Indonesien und Argentinien waren es sogar ruinöse 55 Prozent. „Geschäfte und Banken brechen zusammen, die Verbrauchernachfrage und Investitionen könnenauf Jahre hinaus Schaden nehmen“, warnen die McKinsey-Berater. Nebenden direkten Kosten einer Krise sind die langfristigen Opportunitätskostenenorm: Für Mexiko schätzen die Autoren sie auf zehn Prozent des ver-schenkten BIP-Wachstums.

⌦ Es gibt viele Möglichkeiten, sich vor der nächsten Feuersbrunst zuschützen. Man kann sich einen Rauchmelder kaufen und gebannt auf dieAnzeige starren. Man kann eine Brandschutzmauer zu den Nachbarn auf-bauen. Man kann nachschauen, ob die von nebenan genügend Wassereimerbereithalten. Man kann aber auch schon heute seine eigene Feuerwehr auf-stellen und sich Gedanken darüber machen, welche Lehren die alten Asche-haufen für die nächste Katastrophe parat halten.Die Berater von McKinsey & Company plädieren für diese Variante undhaben sich in unterschiedlichen Formationen als „Feuerwehren“ spezialisiert:auf den Zusammenbruch von Finanzmärkten, auf Bankenrettungen, wacke-lige Währungen und andere kapitale Kalamitäten. Finanzkrisen sind einSpezialgebiet im weltweiten Consulting-Netzwerk, das drei Autoren jetztkompakt kommunizieren. Dominic Barton, Roberto Newell und GregoryWilson haben die Finanzkrisen der neunziger Jahre hautnah erlebt und ihreErfahrungen in einem Buch gebündelt: „Dangerous Markets“ erscheint imSeptember in den USA und soll helfen, Risiken im Voraus zu erkennen undzu minimieren. Dass so etwas möglich ist, ist eine der Kernthesen der Autoren, auch wenndie Krisen von Mexiko 1994 über Russland, Indonesien und Thailand1997/98 bis zu Argentinien in diesem Jahr unterschiedlich sein mögen: „DieWarnsignale“, schreibt das Trio, „sind von Land zu Land gleich, von eini-gen regionalen und nationalen Variationen abgesehen.“

Das nächste flammende Inferno kommt bestimmt

Krisen entstehen und entwickeln sich nach gemeinsamen Mustern. Deshalbsind aus Beratersicht auch Finanzkrisen vorhersehbar, und ihr Ausmaßlässt sich abschätzen. Und deshalb lassen sich auch Vorsichtsmaßnahmenergreifen, strategische Optionen entwickeln und Korrekturmaßnahmeneinleiten, um die Schäden zu begrenzen.„Dangerous Markets“ untersucht die Trümmer der jüngsten weltweiten Finanzkrisen, um drei Dinge klar zu machen: Erstens sind Krisen eine teureAngelegenheit und erfordern Jahre des Wiederaufbaus. Zweitens sichernFirmen ihr Überleben, wenn sie sich rechtzeitig ein Instrumentarium zule-gen, um die Zeichen der Zeit zu erkennen und um mit wohl vorbereitetenAktionsplänen darauf zu reagieren. Mehr noch: Die Vorbereitung lässt siesogar mit mehr Marktanteil in die Zukunft gehen. � �

Zum Weiterlesen:Dominic Barton/Roberto Newell/GregoryWilson: Dangerous Markets – Managing in Financial Crises. John Wiley &Sons, September 2002; 320 Seiten; 49,95 Dollar

Dominic Barton/Roberto Newell/GregoryWilson: Preparing for a financial crisis. In: McKinsey Quarterly: 2002 Special Edition – Risk and resilience.Seite 78–87

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Am Anfang steht immer eine Schwäche in der Volkswirtschaft, vor allemdie wachsende Unfähigkeit von Unternehmen, effizient und profitabel zuproduzieren. Leichtsinnige Kredite der örtlichen Banken schüren die Glut.Die Regierung macht Druck, weil Investitionen aus dem Ausland boomenund ehrgeizige Wachstumsträume beflügeln. Die Aufsichtsbehörden sehendem Schwelbrand meist hilflos zu, bis eine verfehlte Wirtschaftspolitik oderein externer Schock den Feuersturm entfacht. Für ein Unternehmen kann es dann allerdings schon zu spät sein. Da wer-den plötzlich Kredite fällig gestellt, von heute auf morgen geht Lieferantendie Luft aus, oder Abnehmer sind nicht mehr zahlungsfähig. Vorbeugungheißt deshalb die wichtigste Maxime, für die McKinsey eine Liste vonSchlüsselfaktoren identifiziert hat, die hilft, Signale einer Finanzkrise recht-zeitig zu erkennen. „Die Warnung vor einem Finanzsturm liegt in den mikroökonomischen Bedingungen. Sie kündigen eine Finanzkrise an, lange bevor sie zur Katas-trophe wird.“ Mit relativ einfachen Messgrößen jedoch, so die Autoren,lasse sich nicht nur bestimmen, wo eine Krise wahrscheinlich ausbrechenwird, sondern auch wann ungefähr (siehe nächste Seite).Und auch dann bleibt für das Management genug zu tun: „Wie Führungs-kräfte eine Reihe taktischer Entscheidungen in den ersten paar Tagen managen, kann über Leben und Tod einer Firma entscheiden“, warnen dieAutoren – und legen jedem Unternehmer fünf Ratschläge für die erstenhundert Tage einer Krise ans Herz. Erstens sollte der Unternehmer die Cash-Position seiner Firma in- und aus-wendig kennen und schnell maximieren können – sei es durch radikale Kostenkontrolle, das Abstoßen von Ladenhütern oder das Eintreiben vonAußenständen. Zweitens: Schwierigkeiten in der Lieferkette lassen sichvermeiden, wenn man ein gutes Verhältnis zu den wichtigsten Herstellernund Abnehmern pflegt. Denn operative Risiken sind genau so brisant wieEbbe in der Kasse. Drittens sind Planungen wichtig, in denen Worst-Case-Fälle durchgespielt werden können. Viertens sollten Unternehmer ihre Per-formance täglich überwachen und bereit sein, schwächelnde Geschäfte abzustoßen. Ebenso wichtig für die Zukunft ist, fünftens, die offene Kom-munikation mit allen wichtigen Parteien – Mitarbeitern, Gläubigern, Anlegern. Idealerweise sollten diese Schritte vorher durchdacht und dieAufgaben auf rechtzeitig aufgestellte Krisenteams verteilt sein.Professionalität im Vorfeld minimiert die eigenen Probleme – und ver-schafft im Zweifel sogar Wettbewerbsvorteile: Wenn die Konkurrenz

reihenweise Pleite geht, so argumentieren die Berater, wenn Kunden undPartner sich neu formieren und alte Regeln und Normen plötzlich in Fragegestellt werden, tun sich gut vorbereiteten Firmen neue Märkte auf. Dasgilt für Multis wie Johnson & Johnson oder die Citigroup ebenso wie fürLocal Champions von Brasilien bis Indien – wenn sie ihr Umfeld gut kennen. „Im tiefsten Tal einer Krise, wenn sich die Schwachen und die Misstrauischen zurückziehen, findet der Visionär die besten strategischenGelegenheiten“, loben die Autoren kalkulierten Wagemut. Sehr amerikanisch lassen sich die Chancen einer Krise zu einer Checklisteeindampfen, die im Buch „Die fünf Stufen der Freiheit“ heißt:

1 Regulierungen weichen auf und erlauben ausländischen Investoren größeren Einfluss.

2 Das Wettbewerbs-Umfeld ändert sich und schafft Platz für neue Branchenführer.

3 Kunden-Bedürfnisse und -Verhalten wandeln sich. Das führt entweder zueiner Flucht in bewährte Marken oder zu einer größeren Bereitschaft,neue Anbieter auszuprobieren.

4 Organisatorische Reformen lassen sich plötzlich viel einfacher realisieren, weil sowieso alles im Fluss ist.

5 Eine Finanzkrise krempelt gesellschaftliche Werte um und kann einemausländischen Unternehmen so den Eintritt in einen bisher kritischenMarkt erlauben. Risikomanagement und eine Vision für die unternehmerische Zukunft sindalso eng miteinander verzahnt. Nur wer die Gefahren der globalen Märktefortwährend im Blick behält und sich in alle möglichen Szenarien hinein-denkt, kann im Brandfall gelassen „Feuer“ rufen, den Alarmknopf drü-cken und sein Team zur Krisenbewältigung losschicken. Das jedenfalls istdie Vision, die das Berater-Trio seinen Lesern mit auf den Weg gibt, an-gereichert mit zahlreichen Statistiken, Ablaufplänen und Fallbeispielen ausaller Welt.

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Es bedarf einer Mischung aus Kunst und Wissenschaft,um die Warnsignale einer bevorstehenden Finanzkrise zuerkennen. Jeder Manager sollte die folgenden acht Haupt-indikatoren besonders im Auge behalten. Nicht nur dasNiveau, sondern auch der Trend ist wichtig. Wenn sichmehrere der Indikatoren gleichzeitig in die falsche Richtungbewegen, könnte sich eine Krise zusammenbrauen.

1 Wertvernichtung in der Privatwirtschaft:In jeder Krise lässt sich beobachten, dass die aggregierteRendite auf das eingesetzte Kapital (Return on InvestedCapital, ROIC) in der Privatwirtschaft vor der Krise mehrereJahre lang unter dem gewichteten, durchschnittlichenKapitalkostensatz (Weighted Average Cost of Capital, WACC)lag. Beispiel: In Kolumbien gelang es 90 Prozent der 500 größten Unternehmen in den beiden Jahren vor derKrise 1998 nicht, ihre Kapitalkosten zu erwirtschaften.

2 Zinsdeckungsverhältnis: Das Zinsdeckungsverhältnis (Interest Coverage Ratio, ICR)eines Unternehmens ist das Verhältnis seines Cashflows zum Zinsaufwand. Wenn das ICR bei vielenUnternehmen unter den Wert 2 sinkt, ist die Wirtschaftinsgesamt anfälliger für eine Pleitewelle. Beispiel: 1999 wiesen 40 Prozent der börsennotierten Unternehmenin Südkorea ein ICR von unter 1 auf.

3 Bankenprofitabilität:Wenn die Gesamtkapitalrentabilität (Return on Assets,ROA) unter ein Prozent fällt und die Nettozinsmarge unter zwei Prozent, könnte eine Krise bevorstehen. Auch eineSteigerung der Verzinsung für Interbank-Kredite könnte aufProfitabilitätsprobleme hindeuten. Beispiel: Die ROA des kolumbianischen Bankensektors betrug vor derKrise 1998 minus 1,03 Prozent.

Finanzkrisen / Buchbesprechung Quelle: McKinsey Quarterly McK Wissen 02 Seiten: 96.97

Vorzeichen einer drohenden Krise

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4 Schnelles Wachstum der Kreditportfolios:Wachsen die Kreditportfolios der Banken länger als einJahr um mehr als 20 Prozent jährlich, stellen sich viele dieser Kredite nach Erkenntnissen der Berater alsNot leidend heraus. Daraus kann sich ebenfalls eineFinanzkrise entwickeln. Beispiel: In Kolumbien wuchsenFirmenkredite vor der 1998-er Krise um 25 Prozent proJahr.

5 Rückläufige Einlagen:Man sollte sich in Acht nehmen, wenn die Kunden lokalerBanken verstärkt ihre Einlagen abheben. Hält der rückläufige Trend bei den Einlagen zwei Quartale lang an,ist größte Vorsicht geboten. Die Einlagenentwicklung kann den Berichten der Notenbanken und den Bilanzender Geschäftsbanken entnommen werden. Beispiel: Im vergangenen Jahr transferierten argentinische Anleger22 Prozent ihrer Guthaben ins Ausland, um sich vor dem drohenden Währungsverfall zu schützen, nachdem dieneue argentinische Regierung zuvor die 1:1-Bindung desPesos an den US-Dollar aufgegeben hatte.

6 Not leidende Kredite:Eine Krise könnte sich anbahnen, wenn Not leidendeKredite mehr als fünf Prozent der Bilanzsumme derBanken ausmachen. Die Berichte privater Analysten sindhäufig die beste Informationsquelle für Not leidendeKredite, da die Banken das wahre Ausmaß des Problems

häufig erst sehr spät preisgeben. Beispiel: In Thailandstieg der Anteil Not leidender Kredite an der Bilanzsummeim Jahr 1997 auf 22,5 Prozent. Im Zuge der Krise stieg dieser Anteil explosionsartig und erreichte 1998 mit54 Prozent seinen Höhepunkt.

7 Kreditwachstum und -laufzeiten ausländischer Banken: Kreditnehmer sollten aufmerksam sein, wenn Kredite ausländischer Banken zunehmen und die meisten dieserKredite Laufzeiten von weniger als einem Jahr aufweisenoder in ausländischen Währungen lauten. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) liefert ent-sprechende Daten. Beispiel: In Thailand stiegen die ausländischen Kredite vor der 1997-er Krise dreieinhalbJahre lang um 45 Prozent pro Jahr, und 37 Prozent der Kredite hatten Laufzeiten von höchstens einem Jahr.Der Anteil der kurzfristigen Kredite erreichte 1995 mit 50 Prozent seinen Höhepunkt.

8 Aufblähung der Vermögenspreise:Ein jährlicher Anstieg der Vermögenspreise um mehr als 20 Prozent über mehrere Jahre hinweg kann auf eine künstliche Aufblähung hindeuten, die im nächsten Momentplatzen könnte. Man sollte die Immobilien- und Aktien-märkte sehr genau verfolgen, da Vermögenswerte dieserArt den Banken als Sicherheit dienen. Beispiel: InThailand stiegen die Immobilienpreise in den Jahren 1993bis 1996 um nicht weniger als 395 Prozent. ⌫�