visio als bpm-tool?kus von visio. sie bleiben add-ons überlassen, zum beispiel analystview für...

2
24 STRATEGIE & PRAXIS Visio im Test S o gut wie alle Branchengrössen führen eine Lösung für das Geschäftsprozess- management im Portfolio – von EMC über Fujitsu, IBM, Oracle, SAP bis zur Software AG. In der Praxis ist aber auch Micro- softs Visualisierungs-Software Visio im Einsatz. Die Software wird oft wegen ihrer Benutzer- freundlichkeit, dem grossen Freiheitsgrad bei der Modellierung und den tiefen Lizenzkosten den professionellen Werkzeugen vorgezogen. Mit dem neusten Release, Visio Premium 2010, hat Microsoft auch einen entscheidenden Man- gel beseitigt: Die Software unterstützt erstmals die «Business Process Model and Notation» (BPMN), einen der wichtigsten Standards für die Prozessmodellierung. Indes ist die Implemen- tierung von BPMN heute schon wieder überholt, denn Microsoft setzt noch auf die Standard- version 1.2. Anfang Jahr verabschiedete das Kontrollgremium «Object Management Group» jedoch BPMN 2.0. Wenn Unternehmen trotzdem Visio für die Prozessabstimmung zwischen Fachbereich und IT nutzen wollen, stossen sie an einige Grenzen. Informatiker der Hochschule Luzern haben un- tersucht, ob sich die Grenzen überschreiten lassen – oder anders gesagt, wie gut Visio An- forderungen im Lebenszyklus von Geschäfts- prozessen erfüllt, die über die Dokumentation von Prozessen hinausgehen. GESCHÄFTSPROZESSE IN VIER PHASEN Lebenszyklusmodelle für das Geschäftspro- zessmanagement unterscheiden vier Phasen, mit denen die Anforderungen des Business von der IT umgesetzt werden: 1 Analyse: Abbilden, simulieren, analysieren, optimieren, dokumentieren von Prozessen Visio als BPM-Tool? Informatiker der Hochschule Luzern haben getestet, inwieweit sich Microsofts Visualisierungs-Tool Visio als Werkzeug fürs Business Process Management eignet. BILD: WWW.ISTOCKPHOTO.COM/SODAFISH Jana Koehler ist Informatikdozentin an der Hoch- schule Luzern. Nicolas Nussbaumer und Martin Zimmermann haben dort in diesem Jahr das Bachelor-Studium Informatik abgeschlossen. Nuss- baumer ist zurzeit Master-Student an der Universität Edinburgh, Zimmermann Systems Engineer bei At- lantis Informatik in Arisdorf www.hslu.ch BPMN-Anwendertag am 22. 11. 2011 in Luzern www.bpmn-workshop.org 2 Umsetzung: Kollaboration von Business und IT sowie Implementierung der Prozesse in den IT-Systemen, häufig auf Basis einer BPM-Suite oder ERP-Anwendung 3 Ausführung: Ablauf und Steuerung der Ge- schäftsprozesse in den IT-Systemen 4 Überwachung: Pflege und kontinuierliche Prozessoptimierung STÄRKEN & SCHWÄCHEN VON VISIO In der Analysephase hat Visio Stärken bei der Abbildung und Modellierung der Prozesse. Ins- besondere werden die Modellnavigation und das automatische Layout sehr gut unterstützt. Neu dazu kommt die Option, Teilprozesse inner- halb eines Diagramms zu expandieren oder zu kollabieren. Vermisst haben wir in dem Micro- soft-Programm native BPMN-2.0-Shapes – da Visio bei Version 1.2 stehen geblieben ist. Auch fehlt ein Wörterbuch, mit dem bei der Modellie- rung das unternehmensspezifische Business- Vokabular definiert und über die Projekte hin- weg verwendet werden kann. Wörterbuch- funktionen sind eine Neuerung bei profes- sionellen Modellierungswerkzeugen, welche die Modellqualität verbessern, indem sie für das einheitliche Benennen von Elementen sorgen. Zum Validieren von BPMN-Modellen können einfache Modellierungsregeln aus den Regelsät- zen für Flussdiagramme und SharePoint-Work- flows verwendet werden. Eine direkte Unterstüt- zung bewährter BPMN-Modellierungsgrundsätze ist allerdings nicht vorhanden. Wollen Anwen- der Visio jedoch als Modellierungs-Tool einset- zen, sollten sich betriebsinterne Begrifflichkei- ten konsistent in Modellen wiederfinden. Auch müsste die Modellierung einer gemeinsamen Konvention folgen. KOMMERZIELLE HILFE VON AUSSEN Die Simulation, Analyse und Optimierung von Prozessen kann nur mithilfe kommerzieller Drittanbieter abgedeckt werden (siehe Tabelle). Hier glänzt etwa Global 360 analystView mit Simulations- und Optimierungsfunktionen. Das Add-On ist zudem gut mit Visio integriert und setzt auf SharePoint-Workflows als Ausfüh- rungsumgebung für Prozesse. Eine Alternative ist Process Modeler vom Schweizer Software-Haus ITP Commerce, das eine eigene BPMN-2.0-Palette integriert. Pro- cess Modeler stellt Reports als Word-Template mit allen relevanten Prozessdaten bereit, etwa den zugewiesenen Rollen, Beschreibungen und benutzerdefinierten Attributen. Auch beim Umsetzen der Prozesse ver- mag Visio noch wenig zu leisten. So fehlt ein Export im XML-basierten Austauschformat des BPMN-2.0-Standards. Auch lassen sich der Ver- gleich von Modellen, die Versions- und Ände- rungskontrolle sowie ein Modell-Repository für den Zugriff im Team nur durch Add-Ons reali- sieren. Allerdings bietet zum Beispiel Process Modeler die Option, BPMN-1.2-Modelle aus Vi- sio in seine BPMN-2.0-Erweiterung zu transfor- mieren und ein standardisiertes BPMN 2.0 XML zu exportieren. Eine integrierte Ausführungsumgebung wird man bei einem Modellierungswerkzeug wie Visio vergeblich suchen. Indes wäre die In- tegration mit einer Entwicklungsumgebung zur technischen Verfeinerung von BPMN-Modellen wünschenswert. Leider existiert kein nativer Import oder Export von Modellen im BPMN-, XPDL- oder BPEL-Format. Somit können Mo- delle des Business nicht direkt an die IT über- geben werden. Auch kann die IT-Abteilung die von ihr angestossenen IT-bezogenen Prozess- änderungen nicht in Visio importieren und dem Business kommunizieren. Das Überwachen und Visualisieren von Prozessdaten im laufenden Betrieb sowie Re- ports zur kontinuierlichen Verbesserung der Prozesse liegen ebenfalls ausserhalb des Fo- VON J. KOEHLER, N. NUSSBAUMER, M. ZIMMERMANN

Upload: others

Post on 04-Jun-2020

13 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Visio als BPM-tool?kus von Visio. Sie bleiben Add-Ons überlassen, zum Beispiel analystView für SharePoint als Ausführungsumgebung. selbst entwickelte eRgänzung Die Lücken im Bereich

24 Strategie & PraxiS Visio im Test

So gut wie alle Branchengrössen führen eine Lösung für das Geschäftsprozess-management im Portfolio – von EMC über Fujitsu, IBM, Oracle, SAP bis zur

Software AG. In der Praxis ist aber auch Micro-softs Visualisierungs-Software Visio im Einsatz. Die Software wird oft wegen ihrer Benutzer-freundlichkeit, dem grossen Freiheitsgrad bei der Modellierung und den tiefen Lizenzkosten den professionellen Werkzeugen vorgezogen. Mit dem neusten Release, Visio Premium 2010, hat Microsoft auch einen entscheidenden Man-gel beseitigt: Die Software unterstützt erstmals die «Business Process Model and Notation» (BPMN), einen der wichtigsten Standards für die Prozessmodellierung. Indes ist die Implemen-tierung von BPMN heute schon wieder überholt, denn Microsoft setzt noch auf die Standard-version 1.2. Anfang Jahr verabschiedete das Kontrollgremium «Object Management Group» jedoch BPMN 2.0.

Wenn Unternehmen trotzdem Visio für die Prozessabstimmung zwischen Fachbereich und IT nutzen wollen, stossen sie an einige Grenzen. Informatiker der Hochschule Luzern haben un-tersucht, ob sich die Grenzen überschreiten lassen – oder anders gesagt, wie gut Visio An-forderungen im Lebenszyklus von Geschäfts-prozessen erfüllt, die über die Dokumentation von Prozessen hinausgehen.

Geschäftsprozesse in vier phasenLebenszyklusmodelle für das Geschäftspro-zessmanagement unterscheiden vier Phasen, mit denen die Anforderungen des Business von der IT umgesetzt werden:1 analyse: Abbilden, simulieren, analysieren, optimieren, dokumentieren von Prozessen

Visio als BPM-tool?Informatiker der Hochschule Luzern haben getestet, inwieweit sich Microsofts Visualisierungs-Tool Visio als Werkzeug fürs Business Process Management eignet.

BILD

: WW

W.IS

TOCK

PHOT

O.CO

M/S

ODAF

ISH

Jana Koehler ist Informatikdozentin an der Hoch-schule Luzern. Nicolas Nussbaumer und Martin Zimmermann haben dort in diesem Jahr das Bachelor-Studium Informatik abgeschlossen. Nuss-baumer ist zurzeit Master-Student an der Universität Edinburgh, Zimmermann Systems Engineer bei At-lantis Informatik in Arisdorf www.hslu.ch

BPMN-anwendertag am 22.11.2011 in Luzern www.bpmn-workshop.org

2 Umsetzung: Kollaboration von Business und IT sowie Implementierung der Prozesse in den IT-Systemen, häufig auf Basis einer BPM-Suite oder ERP-Anwendung3 ausführung: Ablauf und Steuerung der Ge-schäftsprozesse in den IT-Systemen4 Überwachung: Pflege und kontinuierliche Prozessoptimierung

stärken & schwächen von visioIn der analysephase hat Visio Stärken bei der Abbildung und Modellierung der Prozesse. Ins-besondere werden die Modellnavigation und das automatische Layout sehr gut unterstützt. Neu dazu kommt die Option, Teilprozesse inner-halb eines Diagramms zu expandieren oder zu kollabieren. Vermisst haben wir in dem Micro-soft-Programm native BPMN-2.0-Shapes – da Visio bei Version 1.2 stehen geblieben ist. Auch fehlt ein Wörterbuch, mit dem bei der Modellie-rung das unternehmensspezifische Business-Vokabular definiert und über die Projekte hin-weg verwendet werden kann. Wörterbuch- funktionen sind eine Neuerung bei profes- sionellen Modellierungswerkzeugen, welche die Modellqualität verbessern, indem sie für das einheitliche Benennen von Elementen sorgen.

Zum Validieren von BPMN-Modellen können einfache Modellierungsregeln aus den Regelsät-zen für Flussdiagramme und SharePoint-Work-flows verwendet werden. Eine direkte Unterstüt-zung bewährter BPMN-Modellierungsgrundsätze ist allerdings nicht vorhanden. Wollen Anwen-der Visio jedoch als Modellierungs-Tool einset-zen, sollten sich betriebsinterne Begrifflichkei-ten konsistent in Modellen wiederfinden. Auch müsste die Modellierung einer gemeinsamen Konvention folgen.

kommerzielle hilfe von aussenDie Simulation, Analyse und Optimierung von Prozessen kann nur mithilfe kommerzieller Drittanbieter abgedeckt werden (siehe Tabelle). Hier glänzt etwa Global 360 analystView mit Simulations- und Optimierungsfunktionen. Das Add-On ist zudem gut mit Visio integriert und setzt auf SharePoint-Workflows als Ausfüh-rungsumgebung für Prozesse.

Eine Alternative ist Process Modeler vom Schweizer Software-Haus ITP Commerce, das eine eigene BPMN-2.0-Palette integriert. Pro-cess Modeler stellt Reports als Word-Template mit allen relevanten Prozessdaten bereit, etwa den zugewiesenen Rollen, Beschreibungen und benutzerdefinierten Attributen.

Auch beim Umsetzen der Prozesse ver-mag Visio noch wenig zu leisten. So fehlt ein Export im XML-basierten Austauschformat des BPMN-2.0-Standards. Auch lassen sich der Ver-gleich von Modellen, die Versions- und Ände-rungskontrolle sowie ein Modell-Repository für den Zugriff im Team nur durch Add-Ons reali-sieren. Allerdings bietet zum Beispiel Process Modeler die Option, BPMN-1.2-Modelle aus Vi-sio in seine BPMN-2.0-Erweiterung zu transfor-mieren und ein standardisiertes BPMN 2.0 XML zu exportieren.

Eine integrierte ausführungsumgebung wird man bei einem Modellierungswerkzeug wie Visio vergeblich suchen. Indes wäre die In-tegration mit einer Entwicklungsumgebung zur technischen Verfeinerung von BPMN-Modellen wünschenswert. Leider existiert kein nativer Import oder Export von Modellen im BPMN-, XPDL- oder BPEL-Format. Somit können Mo-delle des Business nicht direkt an die IT über-geben werden. Auch kann die IT-Abteilung die von ihr angestossenen IT-bezogenen Prozess-änderungen nicht in Visio importieren und dem Business kommunizieren.

Das Überwachen und Visualisieren von Prozessdaten im laufenden Betrieb sowie Re-ports zur kontinuierlichen Verbesserung der Prozesse liegen ebenfalls ausserhalb des Fo-

VoN J. Koehler, N. NUSSBaUMer, M. ZiMMerMaNN

Page 2: Visio als BPM-tool?kus von Visio. Sie bleiben Add-Ons überlassen, zum Beispiel analystView für SharePoint als Ausführungsumgebung. selbst entwickelte eRgänzung Die Lücken im Bereich

25Computerworld 16/9. September 2011 www.computerworld.ch

Übersicht: kommerzielle Add-Ons für Visio

Anforderungen Global 360 analystView 3.0

Process Modeler 5 Business

Process Modeler 5 Professional

Process Modeler 5 Team Repository

BPMN-2.0-Modellierung

Simulation

BPMN-2.0-Austauschformat

Business-IT-Kollaboration: Repository

Model Roundtrip (Import/Export)

Monitoring/Reporting

Prozessoptimierung

kus von Visio. Sie bleiben Add-Ons überlassen, zum Beispiel analystView für SharePoint als Ausführungsumgebung.

selbst entwickelte eRgänzungDie Lücken im Bereich der Ausführung und der Überwachung sind akzeptabel. Inakzeptabel sind aber der fehlende Austausch von Model-len im BPMN-2.0-Format und die nicht vorhan-dene Modellierung mit Wörterbüchern und konfigurierbaren Validierungsregeln. Um diese Lücken zu schliessen, stellt Microsoft aller-dings mit den Visio-APIs und dem Visio-SDK geeignete Werkzeuge bereit, mit denen Ent-wickler passende Add-Ons selbst programmie-ren können.

Die Hochschule Luzern hat zum Beispiel mithilfe des Visio-SDK eine einfache Wörter-buchlösung implementiert, in der das Busi-ness-Vokabular während der Modellierung hin-

terlegt und über mehrere Diagramme hinweg verwendet werden kann. Wird ein Begriff modi-fiziert, so werden alle verwendenden Modelle beim Öffnen automatisch aktualisiert. Eigene Modellierungskonventionen lassen sich in Re-gelsätzen mit den Regelkonstrukten von Visio sowie der Connectivity API umsetzen.

Der BPMN-2.0-Import/Export wurde von den Luzerner Informatikern dagegen auf der Basis des Eclipse-Projekts MDT-BPMN 2.0 entwickelt (Infos unter: www.eclipse.org/modeling/mdt). Das auf Java basierende Projekt wurde mittels IKVM-Konverter in C# kompiliert und die resul-tierenden DLL-Dateien in Visual Studio einge-bunden.

Die Add-Ons decken die am häufigsten ver-wendeten BPMN-Shapes ab und sind unter http://bpmn4visio.blogspot.com inklusive Quellcode verfügbar. Der Aufwand für die Ent-wicklung lag bei ca. 100 Stunden. Auch wenn

die bereitgestellte Dokumentation noch lü-ckenhaft ist, lassen sich die APIs doch gut in der Praxis anwenden.

Fazit: Visio nachRüstenVisio modelliert in der neusten Version Prozesse auf BPMN-Basis. Leider werden BPMN-2.0-Sha-pes noch nicht unterstützt und auch das XML-Austauschformat fehlt. Erweiterungen von Drittanbietern erlauben es, Modelle zu simulie-ren, zu optimieren und im Team zu bearbeiten. Jedoch erhöhen die Add-Ons auch die Lizenz-kosten signifikant. Für Unternehmen, die Visio in grösserem Umfang für das Geschäftsprozess-management nutzen, können sich deshalb selbst entwickelte Add-Ons durchaus rechnen. Denn qualitativ bessere Modelle und ein stan-dardisiertes Austauschformat führen zu Ein-sparungen in den nachfolgenden Phasen des Geschäftsprozesslebenszyklus.

Visio-Lücken (rot) im Lebenslauf von Geschäftsprozessen bei der Umsetzung von BPMN 2.0