„urteilsbildung im geschichtsunterricht“ · 1 exposé axel becker „urteilsbildung im...

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1 Exposé Axel Becker „Urteilsbildung im Geschichtsunterricht“ 1. Thema und Fragestellung Die Geschichtsdidaktik sieht ihren Gegenstandsbereich längst nicht mehr nur in der Bestimmung und Vermittlung von Unterrichtsinhalten und methodischen Ratschlägen für die Lehrenden. 1 Sie ist immer noch, aber nicht mehr ausschließlich der Unterrichtsmethodik verpflichtet, sondern wendet ihren Blick auf die gesellschaftliche Rezeption von Geschichte in theoretischer, empirischer und pragmatischer Hinsicht. Die erkenntnistheoretische Grundsatzentscheidung, Geschichte als sprachliches Konstrukt sich ständig verändernder Denkfiguren und ihre Repräsentationen als Mischformen aller drei Zeitdimensionen zu begreifen, bestimmt auch mein Interesse am Thema der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Wenn Geschichte ein dynamisches Konstrukt ist, dann muss die geschichtsdidaktische Forschung Wege aufzeigen, eine Kernfunktion von Geschichte im Unterricht an Schulen zu erforschen: Das Bedürfnis nach einer Orientierung innerhalb des historischen Ablaufs. Wer sich orientieren will, der muss die ihm verfügbaren, die ihm aufgedrängten Deutungen beurteilen, einschätzen und bewerten können. So gesehen ist Urteilsbildung eine begründbare Entscheidung mit Alternativen. Diese Alternativen aber stellt die Vergangenheit selbst nicht bereit, sondern sie stammen aus der Geschichtskultur. 2 Das ihr zugrunde liegende Forschungsparadigma gibt einen Hinweis auf verwandte Begriffe, die den Begriff Urteil beschreiben: Identität, Werte, Normen und Wahrheit. 3 So verstanden ist Urteilsbildung eine Operation, die auf einen Erkenntnisgewinn zielt und gleichzeitig die Grenzen 1 Zum Selbstverständnis der Geschichtsdidaktik sei exemplarisch verwiesen auf : Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, in: Hilke Günther-Arndt (Hg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, 11-22. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. Julian Nida-Rümelin: Anmerkungen zur Geschichtskultur, in: Ulrich Baumgärtner/Waltraud Schreiber (Hg.): Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur. Zwei geschichtsdidaktische Leitbegriffe in der Diskussion, München 2001, 159-169, bes. 160-162.

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Page 1: „Urteilsbildung im Geschichtsunterricht“ · 1 Exposé Axel Becker „Urteilsbildung im Geschichtsunterricht“ 1. Thema und Fragestellung Die Geschichtsdidaktik sieht ihren Gegenstandsbereich

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Exposé

Axel Becker

„Urteilsbildung im Geschichtsunterricht“

1. Thema und Fragestellung Die Geschichtsdidaktik sieht ihren Gegenstandsbereich längst nicht mehr nur

in der Bestimmung und Vermittlung von Unterrichtsinhalten und methodischen

Ratschlägen für die Lehrenden.1 Sie ist immer noch, aber nicht mehr

ausschließlich der Unterrichtsmethodik verpflichtet, sondern wendet ihren

Blick auf die gesellschaftliche Rezeption von Geschichte in theoretischer,

empirischer und pragmatischer Hinsicht. Die erkenntnistheoretische

Grundsatzentscheidung, Geschichte als sprachliches Konstrukt sich ständig

verändernder Denkfiguren und ihre Repräsentationen als Mischformen aller

drei Zeitdimensionen zu begreifen, bestimmt auch mein Interesse am Thema

der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht.

Wenn Geschichte ein dynamisches Konstrukt ist, dann muss die

geschichtsdidaktische Forschung Wege aufzeigen, eine Kernfunktion von

Geschichte im Unterricht an Schulen zu erforschen: Das Bedürfnis nach einer

Orientierung innerhalb des historischen Ablaufs. Wer sich orientieren will, der

muss die ihm verfügbaren, die ihm aufgedrängten Deutungen beurteilen,

einschätzen und bewerten können. So gesehen ist Urteilsbildung eine

begründbare Entscheidung mit Alternativen. Diese Alternativen aber stellt die

Vergangenheit selbst nicht bereit, sondern sie stammen aus der

Geschichtskultur.2 Das ihr zugrunde liegende Forschungsparadigma gibt einen

Hinweis auf verwandte Begriffe, die den Begriff Urteil beschreiben: Identität,

Werte, Normen und Wahrheit.3 So verstanden ist Urteilsbildung eine

Operation, die auf einen Erkenntnisgewinn zielt und gleichzeitig die Grenzen

1 Zum Selbstverständnis der Geschichtsdidaktik sei exemplarisch verwiesen auf : Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, in: Hilke Günther-Arndt (Hg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, 11-22. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. Julian Nida-Rümelin: Anmerkungen zur Geschichtskultur, in: Ulrich Baumgärtner/Waltraud Schreiber (Hg.): Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur. Zwei geschichtsdidaktische Leitbegriffe in der Diskussion, München 2001, 159-169, bes. 160-162.

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der Erkenntnis reflektiert. Urteilsbildung ist folglich im historischen Lernen

auch als Meta-Prinzip zu verstehen. Mein Dissertationsprojekt geht der Frage

nach, welche Funktion Urteilsbildung für das historische Lernen hat.

Die Arbeit soll sich auf vierfache Weise mit ihrem Gegenstand befassen:

Theoretisch, historisch, empirisch und pragmatisch.4

- Theoretisch und historisch fundiert ist die Arbeit, weil sie eine ganze

Reihe der Urteilsbildung verwandter Konzepte, wie Fakten und Fiktion,

Objektivität und Wahrheit, Sprache und Erzählung, sowie

Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur analysieren und

gegebenenfalls zusammenführen muss.

- Empirisch orientiert ist die Arbeit, da sie die Beschreibung,

Beobachtung und Veränderung eines Zustandes zum Ziel hat.

- Pragmatisch ausgerichtet ist die Arbeit, da sie sich der

geschichtsdidaktischen Praxis verpflichtet sieht und

Handlungsempfehlungen geben will.

Mein Anspruch ist es dabei, den Begriff der Urteilsbildung innerhalb der

geschichtsdidaktischen Forschung zwischen den Leitbegriffen

Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur zu etablieren.

2. Forschungsstand und Desiderata Es soll im folgenden zuerst die Diskussion innerhalb der

geschichtsdidaktischen Forschung aufgezeigt werden. Danach werde ich

übergehen zu den Leitprinzipien der Geschichtsdidaktik, ihren Arbeits- bzw.

Forschungsbegriffen und wie sich Urteilsbildung dort positioniert.

Abschließend werden der Urteilsbildung verwandte Begriffe und ihr Stand in

der Geschichtstheorie dargestellt, um die theoretische Verortung und die sich

daraus ergebenden Forschungsdiskurse bestimmen zu können.

In der geschichtsdidaktischen Forschung besteht Einvernehmen darüber, dass

die Ausbildung zur Fähigkeit der Urteilsbildung zentrales Anliegen des

Geschichtsunterrichts ist. GOSMANN stellte fest, dass der Geschichtsunterricht

„einen Beitrag zur Emanzipation und politischen Mündigkeit der Schüler

4 Zu diesen vier Ebenen der geschichtsdidaktischen Forschung vgl. Joachim Rohlfes: Geschichtsdidaktik: Geschichte, Begriff, Gegenstand, in: Geschichtsunterricht heute. Grundlagen – Probleme – Möglichkeiten, Seelze-Velber 1999, 18-21.

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leisten“ solle und daher „dem Aufbau und der Differenzierung der

Urteilsfähigkeit eine herausragende Bedeutung“ zukommen müsse.5 WEYMAR

hatte ebenfalls auf die Notwendigkeit hingewiesen den Lernenden normative

Orientierung zu vermitteln.6 Analysiert man die fachdidaktischen

Konzeptionen zur Urteilsbildung, dann wird jedoch deutlich, dass sich

„urteilen“ begrifflich nur im Gesamtzusammenhang des jeweiligen

Theoriegebäudes plausibel verstehen lässt. Die theoretischen und praktischen

Hinweise werden von der Komplexität der geschichtsdidaktischen

Leitprinzipien eher verdeckt oder eine differenzierte Betrachtung des Begriffs

wird durch einen unübersichtlichen Apparat an angeblich erklärenden, neu

eingeführten Kunstbegriffen, unmöglich gemacht, die nur im fachdidaktischen

Konzept des jeweiligen Zitierkartells Sinn ergeben. Mit anderen Worten: Jeder

meint etwas anderes, wenn er von Urteilsbildung spricht. Für die einen ist

Urteilsbildung die „Parteinahme für Humanität“.7 Andere wiederum halten

Zurückhaltung für angebrachter als „jene flinke und forsche Art, über alles und

jedes zu urteilen, die manche Lehrer und Schüler mit innerer Engagiertheit

verwechseln.“8 Erstaunlich ist die mangelnde Theoriebildung hierzu auch

deshalb, weil einerseits die Bedeutung von urteilsbildenden Prozessen für die

historische Bildung regelmäßig angemahnt worden ist9 und andererseits

Urteilsbildung mittlerweile zu einer zentralen Kategorie für die

Nachbardisziplin Politikdidaktik avanciert ist.10

GOSMANN bemerkte seinerzeit, dass es zur Urteilsbildung nicht genügend

fachdidaktische Beiträge gab, auf die er habe zurückgreifen können.11 Dies gilt

heute sicher nicht mehr. Aber es ist noch immer erstaunlich, dass es bisher nur

einen Versuch gegeben hat, eine systematische Abhandlung vorzulegen, diese

sich dann aber gleich in der Einleitung auf den Irrweg begibt, dass „Geschichte

und Politik, sowohl fachwissenschaftlich als auch fachdidaktisch,

5 Winfried Gosmann: Überlegungen zum Problem der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, in: Klaus Bergmann/Jörn Rüsen (Hg.): Geschichtsdidaktik. Theorie für die Praxis, Düsseldorf 1978, 67-84, hier 67. 6 Vgl. Ernst Weymar: Werturteile im Geschichtsunterricht, in: GWU 21 (1970) 198-215. 7 Horst Gies: Geschichtsunterricht. Ein Handbuch zur Unterrichtsplanung, Köln/Weimar/Wien 2004, 77. 8 Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik, 3. erw. Aufl. Göttingen 2005, 278. 9 Vgl. Weymar; Auch: Jörn Rüsen: Werturteile im Geschichtsunterricht, in: HbGD, 304-308, bes. 307f. 10 Für die politische Bildung immer noch maßgeblich ist: Politische Urteilsbildung. Aufgabe und Wege für den Politikunterricht hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997. 11 Vgl. Gosmann, 67.

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zusammengehören“ und damit elegant um die bestehenden

geschichtsdidaktischen Forschungslücken herummanövriert.12 WEYMARS

Dreischritt von Sachaussage, Sachurteil und Werturteil ist in JEISMANNS

Geschichtsbewusstsein aufgegangen. In beiden Konzeptionen liegt der

Schwerpunkt auf der Objektivität des historischen Erkenntnisprozesses, an

dessen Ende zweierlei Urteile stehen.13 WEYMAR hat diesen Dualismus von

Sach- und Werturteil als geschichtsdidaktischen Arbeitsbegriff eingeführt, den

KOSELLECK aus Sicht des Allgemeinhistorikers zu Recht mit einigem

Unbehagen sieht.14 Auch bei KAYSER/HAGEMANN haben die neuen

Herausforderungen, die sich der Geschichtsdidaktik im Hinblick auf narrative

Sinnbildung stellen, keine Konsequenzen für die Unterrichtspraxis. In der

Theoriebildung verwandeln sie JEISMANNS analytische Trennung der drei

Dimensionen des Geschichtsbewusstseins in einen Prozess und verknüpfen

diesen mit MASSINGS15 Kategorien zur Urteilsbildung, die sie ebenfalls

gründlich falsch verstehen. Sie legen abschließend ein Modell vor, das sich zur

Strukturierung eines Unterrichtsinhalts eignet, aber mit Urteilsbildung nur

wenig zu tun hat, wenn man sie als eigenständige Denkoperation sieht, die ein

rational begründbares und intersubjektiv überprüfbares Ergebnis zur Folge

haben soll.

Ganz offensichtlich verwenden alle Autoren Urteilsbildung synonym für eine

Orientierung des Lernenden, die mit einer gewissen Auswahl aus zur

Verfügung stehenden Alternativen zu tun hat. Besonders viel Wert auf

kontroverse und verschiedene Sehweisen legt BERGMANNS Konzept der

Multiperspektivität. Nicht erst mit diesem Prinzip beschäftigt sich die

Fachdidaktik unmittelbar mit dem Problem verschiedener Interessen und

Artikulationsformen auf der Ebene von Quellen und Darstellungen.16 Aber nur

BERGMANNS Multiperspektivität bezweifelt so entschieden den

Erkenntnisgewinn objektivierbaren Wissens für Schülerinnen und Schüler.

12 Jörg Kayser / Ulrich Hagemann: Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht, Bonn 2005, hier 3. 13 Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewusstsein- Überlegungen zu einer zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik, in: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung, Paderborn 1980, 179-222. 14 Weymar; Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/Main 2003, 338-350. 15 Vgl. Peter Massing: Kategorien des politischen Urteilens und Wege zur politischen Urteilsbildung, in: Politische Urteilsbildung, 115-133. 16 Vgl. die Aufsatzsammlung: Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens, Schwalbach/Ts. 1998.

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Wichtiger ist ihm die Einsicht in die Konstruiertheit historischen Wissens und

seiner Funktionalität in der Geschichtskultur.

Die Lücken in der geschichtsdidaktischen Forschung bestehen also vor allem

in einer systematischen Klärung des theoretischen Fundaments. So wird

Urteilsbildung selten als eigenständige Kategorie des historischen Lernens

verstanden, woraus sich folgerichtig ein Mangel an unterrichtspraktischen

Hinweisen ergibt. Häufig wird der Begriff jedoch verwendet, um die

Orientierung von gesellschaftlichen Normen und Werten zu kennzeichnen, die

jedoch in allen Modellen, ausgenommen bei BERGMANN, den Blick auf den

historischen Gegenstand versperren.

3. Methodik und Ansatz Die bisherigen Anmerkungen haben deutlich gemacht, dass historische

Urteilsbildung, verstanden als von Schülern zu erlernende Fähigkeit

(Kompetenz?), eine Vielzahl theoretischer Probleme aufwirft, die ein

interdisziplinäres Vorgehen ratsam erscheinen lässt. Die bisherige

geschichtsdidaktische Forschung konnte den Urteilsbegriff weder präzisieren

noch begründen. Die Geschichtstheorie kann und soll hier neue Perspektiven

eröffnen.

Urteilsbildung ist zunächst also ein Theorieproblem. Es ist zu klären, welche

Bedeutung Historiker (in der Geschichtskultur aber auch Laien) Urteilen

beimessen und was sie darunter überhaupt verstehen. Geht man davon aus,

dass die kollektive Beschäftigung mit Geschichte notwendig ist und keine das

Individuum allein betreffende Handlung darstellt, sondern als Teil eines

kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft fungiert17 und somit performative

Kraft besitzt, dann wäre kontrollierte und reflektierte Urteilsbildung eine

emanzipatorische Handlung, die Orientierung in der Geschichtskultur

ermöglicht. Diese Begründung würde es zudem ermöglichen, Urteilsbildung

als eigenständiges Prinzip und auch eigenständigen Unterrichtsinhalt zu

etablieren. Denn Urteilsbildung befasst sich, so verstanden, nicht nur mit der

Vergangenheit selbst, sondern mit der Art und Weise, wie Historiker mit ihr

umgehen. Wie man also zu historischen Urteilen gelangt, gehört zu den

Aufgaben der theoretischen Beschäftigung mit Geschichte. Es ist die Frage

17 Diese Argumentation bei Rüsen: Geschichtskultur, in: HbGD, 38.

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nach dem Status wissenschaftlicher Erkenntnis und ihren Begriffen:

Objektivität, Wahrheit und Methode. Es ist auch der Frage nachzugehen,

welche Qualität ein so formuliertes Urteil haben soll und wie Qualität

gemessen werden kann. Ist die Vorstellung vom objektiven oder gerechten

Urteil überhaupt angemessen? Die bisherige geschichtsdidaktische Forschung

hat dieses Problem eher vernachlässigt. So hat selbst BERGMANN bei seinem

Prinzip der Multiperspektivität sich zum Problem der Unterscheidung

zwischen angemessener oder unangemessener Darstellung wenig hilfreich

geäußert. Der obligatorische Verweis auf korrekt anzuwendende Methodik

genügt hier schon lange nicht mehr. Das formulierte Urteil wird zur

sprachlichen Konstruktion (nicht Rekonstruktion) mit dem Anspruch auf

Erklärungskraft und Vergleichbarkeit. In meiner Dissertation will ich daher

auch Überlegungen zur Qualität der Darstellung untersuchen.18 Ziel ist eine

Klärung der wesentlichen Begriffe und Analyseinstrumente, sowie eine der

Theorie verpflichtete Definition von historischer Urteilsbildung für den

Geschichtsunterricht, die als Fundament für den empirischen Zugriff dienen

soll.

Die Etablierung von Urteilsbildung als Begriff im geschichtstheoretischen

Diskurs muss die geschichtsdidaktische Verwendung im Blick behalten. Die

Befunde müssen stets nach ihren Konsequenzen für das historische Lernen in

der Schule befragt werden. Meine Arbeit soll eine modellierte Struktur von

historischer Urteilsbildung für den Geschichtsunterricht, verstanden als eine

begründete und rationale Entscheidung aus Alternativen, entwickeln. Ein

solches Modell erfüllt seinen Zweck indes nur, wenn es auch zur Gewinnung

empirischer Aussagen verwendet wird, die Handlungsempfehlungen für die

Praxis erst möglich machen. Die Frage nach der Funktion von Urteilsbildung

für das historische Lernen ist damit noch nicht hinreichend behandelt. Eine

Beschäftigung mit Vorstellungen zur Geschichtskultur soll den Bezug von

Urteilen zur Lebenspraxis klären.19 Ob dies Konsequenzen für die

Unterrichtsinhalte und Themen hat, bedarf einer Klärung.20

18 Ausgangspunkt hierfür wäre etwa: Frank Ankersmit: Narrative logic. A semantic analysis of the historian´s language, Groningen 1984. 19 Lernende sollen vom Geschichtsunterricht konkret im Alltag profitieren, fordert Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik, S. 114. 20 Vgl. zum lebenspraktischen Bezug auch Jörn Rüsen: Auf dem Weg zu einer Pragmatik der Geschichtskultur, in: Ulrich Baumgärtner / Waltraud Schreiber (Hg.): Geschichtserzählung und Geschichtskultur, bes. 82.

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Literatur zum Thema (Auwahl)

Abkürzungen:

HbGD – Handbuch der Geschichtsdidaktik, hg. von Klaus Bergmann u.a., Seelze-Velber 1997.

GWU – Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im

Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2005.

Bergmann, Klaus: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens,

Schwalbach/Ts. 1998.

Borries, Bodo von: Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher Erste repräsentative

Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und

Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland,

Weinheim/München 1995.

Burke, Peter: Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt/Main 2005.

Flach, Werner: Urteil, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe hg. von Hermann Krings

u.a., München 1974.

Goertz, Hans-Jürgen: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart

2001.

Goertz, Hans-Jürgen: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie,

Hamburg 1995.

Gosmann, Winfried: Überlegungen zum Problem der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht,

in: Klaus Bergmann/Jörn Rüsen (Hg.): Geschichtsdidaktik. Theorie für die Praxis, Düsseldorf

1978, 67-84.

Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewusstsein- Überlegungen zu einer zentralen Kategorie

eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik, in: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsdidaktische

Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung, Paderborn 1980, 179-222.

Kayser, Jörg / Hagemann, Ulrich: Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht, Bonn

2005.

Körber, Andreas: „Hätte ich mitgemacht?“ Nachdenken über historisches Verstehen und (Ver-)

Urteilen im Unterricht, in: GWU 51 (2000), 430-448

Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/Main 2003, 338-350.

Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie,

Köln/Weimar/Wien 1997.

Massing, Peter: Kategorien des politischen Urteilens und Wege zur politischen Urteilsbildung,

in: Politische Urteilsbildung. Aufgabe und Wege für den Politikunterricht hg. von der

Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, 115-133.

Müller, Hans-Peter: Max Weber. Eine Einführung in sein Werk, Köln/Weimar/Wien 2007.

Nida-Rümelin, Julian: Anmerkungen zur Geschichts-Kultur. Zwei geschichtsdidaktische

Leitbegriffe in der Diskussion, München 2001, 159-169.

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Rohlfes, Joachim: Geschichte und ihre Didaktik, 3. erw. Aufl. Göttingen 2005.

Rüsen, Jörn: Auf dem Weg zu einer Pragmatik der Geschichtskultur, in: Ulrich

Baumgärtner/Waltraud Schreiber (Hg.): Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur. Zwei

geschichtsdidaktische Leitbegriffe in der Diskussion, München 2001, 81-98

Rüsen, Jörn: Werturteile im Geschichtsunterricht, in: HbGD, 304-308.

Schönemann, Bernd: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, in: Hilke

Günther-Arndt (Hg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II,

Berlin 2003, 11-22.

Weymar, Ernst: Werturteile im Geschichtsunterricht, in: GWU 21 (1970) 198-215.

Wunderer, Hartmann: Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe II. Zweiter Durchgang oder

Förderung der Studierfähigkeit, in: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hg.): Wie weiter?

Zur Zukunft des Geschichtsunterrichts, Schwalbach/Ts. 2001, 98-112.