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Langer, Ungewollt unfairer Unterricht 301 Erziehung und Unterricht • März/April 3–4|2014 Roman Langer Ungewollt unfairer Unterricht Wie Lehrer/innen im schulischen Arbeitsalltag soziale Ungleichheit reproduzieren, ohne es zu bemerken Summary: Soziale Ungleichheit ist zwar ein Makrophänomen, wird aber durch kon- krete Interaktionen im Alltagsleben (mit-)reproduziert. Dieser Artikel gibt einen Über- blick über (Inter-)Aktionen, in denen in den täglichen Routinen des Unterrichts und Schullebens soziale Ungleichheit (re-)produziert wird, ohne dass Lehrer/innen und Schüler/innen das bewusst ist. Er zeigt (1) wie der „Mittelschichtbias“ der Schule durch implizite Erwartungshaltungen, Wahrnehmungs- und Bewertungsprinzipien aus- getragen wird, die Schüler/innen aus sozial disprivilegierten Schichten benachteiligen, (2) die entscheidende Rolle der expliziten Klärung bzw. des impliziten Verschleierns von (Leistungs- und Verhaltens-) Erwartungen und Regeln für Ungleichheitserzeugung ist, und (3) welche schulischen Interaktionen sich mit der Zeit zu Ungleichheits- beziehungen verfestigen und wie sie das tun. Einleitung Der Bildungserfolg von Jugendlichen ist in den deutschsprachigen Ländern in höherem Maße von der sozialen Herkunft abhängig als in allen anderen europäischen Ländern. Beispielsweise ist die Chance eines Kindes aus der Unter- oder Arbeiterschicht, das Gymnasium zu erreichen, drei- bis viermal geringer als die eines Kindes aus der Mittel- oder Oberschicht und zwar bei gleicher Leistung. Das ist bekannt und wird vielfach neu bestätigt. Schon weit weniger bekannt ist, warum sich diese als ungerecht empfundene Ungleichheit so hartnäckig reproduziert. Sie hat nicht nur die Bildungsexpansion der 70er Jahre, sondern bislang auch das gegenwärtige Bestreben der OECD-Mitgliedsregierungen überstanden, die Zahl der Universitätsstudierenden ihrer Länder beträchtlich zu erhöhen. In diesem Beitrag erläutere ich die wichtigsten unterrichtsbezogenen Ursachen dieser Bildungsungleichheit. 1 Es geht mir darum aufzuzeigen, wie im Einzelnen, d.h. mit welchen typischen Tätigkeiten Lehrpersonen in Unterricht und Schulleben dazu beitragen, Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern systematisch zu benachteiligen gegenüber Kindern etwa aus akademischen Elternhäusern. 2 Es handelt sich dabei oft um ganz unscheinbare, harm- los wirkende Handlungen im gewöhnlichen Schul- und Unterrichtsalltag, denen nicht anzusehen ist, dass sie ungerechte Effekte haben, und die daher auch weder Lehrer/innen noch Eltern oder Schüler/innen bewusst werden. Die verwendeten Beispiele sind fast alle wirkliche empirische Beispiele (nur ganz wenige sind vignettenartig verdichtet oder idealtypisiert) aus der deutschsprachigen Bil- dungsungleichheitsforschung. 3 Sie sind öfters aus abstrakteren Theoriesprachen „über- setzt“, stark gekürzt und so verständlich formuliert, wie es mir möglich war, damit sie an Schulen möglichst unmittelbar zur Analyse genutzt werden können. Der Preis dafür ist, dass der Sinn der Beispiele manchmal gegenüber ihrem Originalkontext verändert wurde,

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Langer, Ungewollt unfairer Unterricht 301

Erziehung und Unterricht • März/April 3–4|2014

Roman Langer

Ungewollt unfairer Unterricht Wie Lehrer/innen im schulischen Arbeitsalltag soziale Ungleichheit reproduzieren, ohne es zu bemerken

Summary: Soziale Ungleichheit ist zwar ein Makrophänomen, wird aber durch kon-krete Interaktionen im Alltagsleben (mit-)reproduziert. Dieser Artikel gibt einen Über-blick über (Inter-)Aktionen, in denen in den täglichen Routinen des Unterrichts und Schullebens soziale Ungleichheit (re-)produziert wird, ohne dass Lehrer/innen und Schüler/innen das bewusst ist. Er zeigt (1) wie der „Mittelschichtbias“ der Schule durch implizite Erwartungshaltungen, Wahrnehmungs- und Bewertungsprinzipien aus-getragen wird, die Schüler/innen aus sozial disprivilegierten Schichten benachteiligen, (2) die entscheidende Rolle der expliziten Klärung bzw. des impliziten Verschleierns von (Leistungs- und Verhaltens-) Erwartungen und Regeln für Ungleichheitserzeugung ist, und (3) welche schulischen Interaktionen sich mit der Zeit zu Ungleichheits-beziehungen verfestigen und wie sie das tun.

Einleitung Der Bildungserfolg von Jugendlichen ist in den deutschsprachigen Ländern in höherem Maße von der sozialen Herkunft abhängig als in allen anderen europäischen Ländern. Beispielsweise ist die Chance eines Kindes aus der Unter- oder Arbeiterschicht, das Gymnasium zu erreichen, drei- bis viermal geringer als die eines Kindes aus der Mittel- oder Oberschicht – und zwar bei gleicher Leistung. Das ist bekannt und wird vielfach neu bestätigt. Schon weit weniger bekannt ist, warum sich diese als ungerecht empfundene Ungleichheit so hartnäckig reproduziert. Sie hat nicht nur die Bildungsexpansion der 70er Jahre, sondern bislang auch das gegenwärtige Bestreben der OECD-Mitgliedsregierungen überstanden, die Zahl der Universitätsstudierenden ihrer Länder beträchtlich zu erhöhen.

In diesem Beitrag erläutere ich die wichtigsten unterrichtsbezogenen Ursachen dieser Bildungsungleichheit.1 Es geht mir darum aufzuzeigen, wie im Einzelnen, d.h. mit welchen typischen Tätigkeiten Lehrpersonen in Unterricht und Schulleben dazu beitragen, Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern systematisch zu benachteiligen gegenüber Kindern etwa aus akademischen Elternhäusern.2 Es handelt sich dabei oft um ganz unscheinbare, harm-los wirkende Handlungen im gewöhnlichen Schul- und Unterrichtsalltag, denen nicht anzusehen ist, dass sie ungerechte Effekte haben, und die daher auch weder Lehrer/innen noch Eltern oder Schüler/innen bewusst werden.

Die verwendeten Beispiele sind fast alle wirkliche empirische Beispiele (nur ganz wenige sind vignettenartig verdichtet oder idealtypisiert) aus der deutschsprachigen Bil-dungsungleichheitsforschung.3 Sie sind öfters aus abstrakteren Theoriesprachen „über-setzt“, stark gekürzt und so verständlich formuliert, wie es mir möglich war, damit sie an Schulen möglichst unmittelbar zur Analyse genutzt werden können. Der Preis dafür ist, dass der Sinn der Beispiele manchmal gegenüber ihrem Originalkontext verändert wurde,

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und dass auf die Darstellung rahmender theoretischer Hintergründe und methodologi-scher Erörterungen verzichtet wurde.

Der erste Abschnitt dieses überblicksartigen Textes befasst sich mit der Frage, wie kulturelle Regeln und Praktiken in der Schule Schüler/innen aus Mittel- und Oberschichten bevorzugen.4 Im zweiten Abschnitt folgen ungleichheitsbezogene Analysen der Unter-richtspraxis (Stoff, Aufgaben, Lernziele, Arbeits- und Sozialverhalten). Der dritte und letzte Abschnitt befasst sich dann mit Interaktionsformen zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen, die Ungleichheiten ‚betonieren’ können.

I. Der schulische Mittelschichtbias „Mittelschichtbias“ bedeutet: Die Schule erwartet von Schüler/innen sowohl inhaltliche Kenntnisse als auch soziale Verhaltensweisen, die in der Mittelschichtkultur gewohnt und normal sind, aber nicht in anderen Schichtkulturen. Dadurch bevorzugt sie Kinder aus der Mittelschicht.

Implizit erwartete Elemente der Mittelschichtkultur Der Mittelschichtbias realisiert sich erstens in scheinbar harmlosen, ganz alltäglichen schulischen Aufgabenstellungen, etwa in der Frage: „Wer von euch kennt ein schönes Volkslied?“ Die hier gemeinten Lieder („Der Mond ist aufgegangen“, „Im Frühtau zu Berge“ etwa) werden in Mittelschicht-Elternhäusern gesungen, nicht in denen der Unterschicht. Diese Lieder stellen inhaltliche Kenntnisse dar, die den Mittelschichtkindern einen Vorteil verschaffen. In Unterrichtssequenzen, die dieses Muster zeigen, und solche lassen sich leicht für alle Fächer konstruieren, geht es im Endeffekt um Konkurrenz: Wer kann das, was vom Lehrer/der Lehrerin erwartet wird, gut, besser, schlechter, gar nicht. Es wird mit (scheinbar!) inhaltlichen Vorgaben eine bestimmte Form des konkurrenzförmig organisier-ten Sozialverhaltens abgerufen. Die soziale Verhaltensweise, die hier einstudiert wird, ist individuelle Durchsetzung in einer Konkurrenz.

Mittelschichteltern organisieren die Freizeit ihrer Kinder so, dass die Fähigkeit zur kon-formen Konkurrenz ausgebildet wird: in Sportvereinen, durch das Erlernen eines Musik-instruments oder durch den Besuch kultureller Institutionen. Unterschichtkinder dagegen lernen in ihrer Freizeitclique eher das Befolgen von Gruppennormen und eher körper-betonte Konkurrenztechniken. Die scheinbar harmlose Volkslied-Aufgabe erzeugt also einen doppelten Vorteil für Mittelschichtkinder (vgl. Henry 1975).

Das idealisierte Schüler/innenbild Eine zweite Manifestation des Mittelschichtbias wurzelt darin, dass Lehrkräfte sich (ohne es sich bewusst zu machen) in ihrer Unterrichtsplanung und -gestaltung an imaginierten idealtypischen Schüler/innen orientieren (Becker 1975). Da die Lehrkräfte aus der Mittel-schicht stammen, statten sie ihre ideellen Normschüler/innen auch mit typischen Mittel-schichteigenschaften aus: Brav, frustrationstolerant, aufmerksam dem Unterricht folgend, angemessen gekleidet, sich in angemessener Sprache ausdrückend, gepflegt. Schüler/innen, die so auftreten, sind ihnen unwillkürlich sympathischer als Schüler/innen aus disprivilegierten Schichten, die auch einmal ungepflegt, ohne Frühstück, mit „provo-zierender“ Kleidung und sexualisierter Sprache, mit Drohgebärden, von familiären Belas-tungen erschöpft oder von Geldnöten bedrückt (also: abgelenkt) in die Schule kommen; diese Schüler/innen sind ihnen unsympathisch. Die unreflektierte, habitusbedingte Sympa-thie für die Mittelschicht- und Antipathie gegen disprivilegierte Kinder ist nicht nur an sich

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unfair, sondern geht unbemerkt in die Leistungsbeurteilung ein, insbesondere dort, wo das Arbeits- und Sozialverhalten beurteilt und die Persönlichkeit des Kindes Thema wird.

Umgang mit Eltern: Ignorierung sozialer Bedingungen und Status' Der Mittelschichtbias zeigt sich drittens in der Frage, inwieweit der soziale Hintergrund eines Kindes oder Jugendlichen von der Lehrkraft im Kontakt mit den Eltern wahr- und ernstgenommen wird. Beobachtungen von Lehrer/in-Eltern-Schüler/in-Gesprächen zeigen, dass Lehrer/innen die Einflüsse des sozialen Hintergrundes – die in den Gesprächen natür-lich nicht explizit von Kindern oder Eltern angesprochen werden, sondern sich chiffriert in verbalen Äußerungen und in Handlungen zeigen – sehr häufig nicht erkennen und/oder nicht darauf eingehen. Solche Chiffren können beispielsweise sein: Eine Mutter weiß nicht über die Noten ihrer Tochter Bescheid und äußert sich abwertend über deren schulische Fähigkeiten – möglicherweise ein Zeichen für eine bereits zerrüttete Beziehung. Ein Vater meint, dass er sich nicht mehr so gut um die Hausaufgaben des Sohnes kümmern kann, weil ihm, dem Vater, die Aufgaben zu schwierig werden, gleichzeitig deutet der Vater an, dass er das Tennistraining seines Sohnes mindestens genau so wichtig findet wie das Ler-nen für die Schule. Möglicherweise ein Hinweis, dass der Vater den sozialen Aufstieg des Sohnes nun stärker über den Sport als über die Schule anstrebt.5

Wenn Lehrer/innen die Signale nicht hören, sondern mit abstrakten Appellen oder Mahnungen reagieren („Ihr Sohn/Ihre Tochter muss sich jetzt aber endlich richtig ranhal-ten und vernünftig lernen!“), werden die Tochter und der Sohn aus dem Beispiel leistungsmäßig weiter abbauen.

Die Benachteiligung der Kinder aus bildungsfernem Elternhaus verschärft sich, wenn Lehrer/innen auf gebildete Eltern stärker eingehen als auf andere. Immerhin beeindrucken gebildete Eltern entweder durch Bildungstitel, Berufsprestige, souverän-anspruchsvolles Auftreten, Eloquenz und Macht (die von Beschwerde beim Direktor bis zur Position im Kommunalparlament oder als Schulsponsor usw. reichen kann). Oder sie sind für die Lehrer/innen angenehme Gesprächspartner, interessiert an ihrem Kind und an der Meinung der Pädagog/innen, dialog- und lösungsorientiert, bereit zur Kooperation in Erziehungs- und Lernförderungsfragen. Umgekehrt beklagen sich die Lehrer/innen im Falle von bildungsfernen Eltern vorwiegend darüber, dass diese, die es „am nötigsten“ hätten, sich selten oder nie in der Schule blicken lassen, sich zu wenig für ihre Kinder interessieren und falsch erziehen, und wenn sie doch einmal kommen, gestalten sich die Gespräche aus verschiedensten Gründen stockend und schwierig. In diesem Fall üben Mittelschicht-Eltern weit mehr Druck und Einfluss im Sinne ihrer Kinder aus als Unterschicht-Eltern (Hollingshead 1975, Becker 1975: 133, Dravenau/Groh-Samberg 2005: 121).

Das Bewertung-Prognose-Paradox als Manifestation des Mittelschichtbias Anja und Konrad haben beide auf die Schularbeit einen Zweier bekommen. Anja teilt sich ein Kinderzimmer ohne Schreibtisch mit ihrer Schwester. Sie lernt am Küchentisch und bekommt von ihrem Vater schon mal zu hören, das Lernen führe doch zu nichts, sie solle lieber allmählich daran denken, Geld zu verdienen, um die Familie zu unterstützen. Zwischendurch geht sie für ihre Eltern einkaufen, passt auf ihren kleinen Bruder auf und will eigentlich raus zu ihren Freunden. Konrad dagegen hatte zuerst allein in seinem Kinderzimmer, dann mit seiner (auf Hochdeutsch Wert legenden) Mutter für die Schul-arbeit geübt; einmal sogar mit seinem Freund, bevor sie dann online gezockt haben. Einmal hatte sein Vater ihn bei Seite genommen, und ihm ins Gewissen geredet, dass er eine ernsthaftere Arbeitshaltung an den Tag legen solle.

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Anja und Konrad haben also beide die Note 2 bekommen. Aber haben beide dieselbe Leistung erbracht? Gemessen an ihren Arbeitsvoraussetzungen nicht: Anja hat trotz vielfäl-tiger Widerstände und Hindernisse diese Leistung erbracht, Konrad dagegen mit Hilfe viel-fältiger Unterstützung und günstiger Arbeitsbedingungen. Die Schule aber abstrahiert bei der Leistungsbeurteilung von den häuslichen (und sonstigen) Bedingungen, unter denen die Kinder lernen, ignoriert also, dass Anja eine vergleichsweise bessere, weil unter wesentlich schwierigeren Bedingungen erbrachte Leistung gebracht hat. In diesem Sinn kann Anja, das Kind aus der Unterschicht, gegenüber Konrad, dem Kind aus dem Akademikerhaushalt, als benachteiligt angesehen werden.

Versetzen wir die beiden, Anja und Konrad, zurück in die Volksschule und stellen sie vor die Frage, welche weiterführende Schule sie besuchen sollen: Gymnasium oder Haupt-schule? In diesem Fall ginge es nicht darum, die Leistungen der Kinder zu bewerten, son-dern die künftigen Leistungen der Kinder zu prognostizieren, um Übergangsempfehlungen auszusprechen. Lehrer/innen denken bei diesen Prognosen häufig wie folgt: „Da Anja zu Haus keinerlei Unterstützung erfährt, wird sie, wenn sie mit den hohen Anforderungen des Gymnasiums konfrontiert ist, eine Kette von Überforderungs- und Negativerlebnissen ein-fahren, und früher oder später wieder abgehen. – Konrad dagegen hat die besten Voraus-setzungen. Die Eltern, Vater Anwalt, Mutter Lehrerin, unterstützen ihn. Mit diesem Rück-halt wird er das Gymnasium bewältigen.“ Als Konsequenz dieser Überlegungen gibt die Lehrerin Anja eine Hauptschul- und Konrad eine Gymnasial-Empfehlung.

Bei der Leistungsprognose wird also der Beitrag des Elternhauses zur Leistung des Kindes in die Beurteilung einbezogen, und zwar so, dass Kindern von gebildeten Eltern eher eine positive Prognose gegeben wird, weil sie von den Eltern unterstützt werden und Kindern aus disprivilegierten Milieus eine negative. Ganz klar eine Benachteiligung von Unterschichtkindern wie Anja (Dravenau/Groh-Samberg 2005: 110-113). Bei der Leistungs-bewertung dagegen wird vom Einfluss der Eltern (und des übrigen sozialen Umfelds) gerade abstrahiert, was die Kinder aus bildungsfernen Schichten (bei gleicher Leistung) wiederum benachteiligt, da nicht gewürdigt wird, dass sie ihre Leistungen ohne Unter-stützung oder gar gegen Widerstände aus Elternhaus und Umfeld erzielt haben, während die Konrads dieser Welt ihre Leistung tendenziell mit Unterstützung und Antrieb durch ihre Eltern erbringen (die Leistung der Eltern, für die die Kinder nichts können, wird hier also implizit mitzensiert). Das ist das Bewertung-Prognose-Paradox, das die Unterschichtkinder doppelt benachteiligt.

II. Klärung oder Verschleierung von Erwartungen, Regeln und Bedeutungen

In diesem Abschnitt geht es um die Unterrichtspraxis bzw. um die Frage, ob, wie, und welche Regeln, Erwartungen und Bedeutungen explizit ausgesprochen werden. Denn nur daran können sich Unterschichtkinder orientieren, da sie nicht intuitiv wissen, was die Schule von ihnen will. Im Gegensatz zu ihren Mittelschichtkamerad/innen, die durch ihre häusliche Mittelschichterziehung ein intuitives Verständnis schulischer Regeln und Erwar-tungen haben.6

Klärung oder Verschweigen des Sinns der Schule und ihrer Aufgabenstellungen

Kinder aus disprivilegierten Schichten bekommen mit der Zeit den Eindruck, dass sie in der Schule mit überflüssigen Dingen behelligt werden, die sie daran hindern, sich aufs Leben

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vorzubereiten: Das ewige Stillsitzen, das ständige Lesen, die lebensfernen Theorien, die sprachliche Ausdrucksweise – all dies bereitet nicht auf den harten Alltag niedrig qualifi-zierter, körperlicher, gering entlohnter Arbeit oder gar auf den in der Arbeitslosigkeit vor. Sie neigen dazu, Schule nicht mehr ernst zu nehmen. Es gibt Indizien dafür, dass Schulab-brecher/innen, die aus disprivilegierten Milieus stammen, unrealistischer Weise davon ausgehen, dass sie unabhängig von der Schule einen Job bekommen könnten; dass also Schule und Arbeit nichts miteinander zu tun hätten. Das heißt, dass in der Schule nicht (genügend) über Sinn und Nutzen der Schule für die Schüler/innen gesprochen wird, oder dass bei den Versuchen, dies zu tun, die Kommunikation fehlschlägt (Mühlgrabner 2013). Wenn es aber nicht gelingt, den disprivilegierten Schüler/innen die Bedeutung der Schul-leistungen für ihren späteren Job, ihr Einkommen und ihre Lebensqualität bewusst zu machen, dann erleiden sie einen weiteren Nachteil gegenüber den Mittelschicht-schüler/innen, für die der Nutzen des Lernens für die Schule mittelbar fürs spätere Leben hat, von Haus aus einleuchtet .

Ähnliches gilt für einzelne Aufgabenstellungen in der Schule. Allzu selten wird die Bedeutung von Lernzielen erläutert oder begründet, warum es wichtig ist und was es den Schüler/innen bringt, eine bestimmte Aufgabe zu bearbeiten. Unterschichtschüler/innen erleben in ihrem privaten Umfeld selten Handlungen, in denen komplexere mathematische Berechnungen, Feilen an sprachlicher Präzision, analytische Abstraktion oder das Erfassen komplexer Zusammenhänge wichtig wären – dies sind vielmehr typische Tätigkeiten aka-demischer und Mittelschichtberufe. Daher bleibt ihnen der Sinn schulischer Aufgaben tendenziell verschlossen, während ihre Kolleg/innen aus der Mittelschicht über die Inter-aktion mit ihren Eltern einen intuitiven Zugang zu dieser Art Aufgaben bekommen. Je weniger in der Schule explizit und in für die Schüler/innen verständlicher Weise die Bedeu-tung geklärt wird, die Aufgaben und Lernziele haben – welchen Nutzen es beispielsweise bringt, Abstrahieren zu lernen und was Abstrahieren überhaupt ist – desto größere Nach-teile entstehen den disprivilegierten Schüler/innen.

Klärung oder Verschweigen der Differenz zwischen Fachinhalt und Alltagswissen

In der guten Absicht, Aufgaben für Schüler/innen anschaulicher zu machen, werden Auf-gaben in einen (allerdings meist pseudorealistischen) Alltagsbezug eingebettet. Doch für die richtige Lösung der Aufgaben wirkt der Alltagsbezug eher hinderlich. Gerade disprivile-gierte Kinder – aber nicht nur diese! – kommen dann öfter ins Grübeln über den realisti-schen Kontext, bevor sie die eigentliche Aufgabe in den Blick nehmen. Z.B. bei folgendem Mathematikbeispiel (nach Gellert 2012): „Ein Fahrstuhl fasst fünf Personen. 25 Personen warten vor dem Fahrstuhl. Wie oft muss der Fahrstuhl fahren, um alle Personen aufwärts zu transportieren?“ Mittelschichtkinder erkennen schnell, dass es hier ums Prinzip geht, nämlich um die einfache Rechnung 25:5, und antworten: „Fünfmal“. Unterschichtkinder aber überlegen: Manche Personen sind dicker, andere dünner, eine sitzt vielleicht im Roll-stuhl und braucht mehr Platz, andere verlieren die Geduld und laufen die Treppe hinauf, wieder andere wollen vielleicht gar nicht aufwärts, sondern in die Tiefgarage. Sie strengen sich dann an, aus ihren Alltagserfahrungen eine Schätzung abzuleiten, diese ist möglich-erweise sogar recht präzise, aber im Endeffekt haben sie die Aufgabe verfehlt.

Problematisch ist auch, wenn das interaktive Unterrichtsgespräch in Alltagssprache abgehalten wird. Hier kann sich eine ähnliche Verwirrung für die Unterschicht-schüler/innen ergeben, wenn die Lehrkraft nicht deutlich macht, dass es letztlich darauf ankommt, das Fachliche zu erlernen – fachliche Methoden und Verfahrensweisen, die

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Bedeutung von Fachbegriffen, theoretische Erklärungen – sondern wenn es so wirkt, als wären schulische Inhalte mit dem Alltagswissen komplett erfassbar (Gellert 2012: 172-173).

Lernziel, Aufgabenstellung, Weg zum Erreichen des Lernziels: vorweg klar und explizit erklärt oder mehrdeutig, implizit und erst im Nachhinein formuliert

In ihrem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Find the rule“ nennt Knipping einige Faktoren, die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern im Unterricht benachteiligen können. Sie liefert dazu folgendes Mathematik-Beispiel (Knipping 2012, S.227ff):

Der Lehrer gibt zu Schuljahresbeginn den frisch in die Sekundarstufe eingeschulten Schü-ler/innen die obige Aufgabe als Hausübung und formuliert dazu: „Füllt die Leerstellen aus. Wenn ihr die ausfüllen könnt, seid ihr auf einem guten Weg, Tabellen zu verstehen.“ Am nächsten Tag im Unterricht sagt der Lehrer: „Was waren eure Ergebnisse und wie habt ihr sie gefunden? Hier noch einmal die beiden Fragen. Was sind eure drei Antworten, und: wie habt ihr sie gefunden?“ Er führt damit im Nachhinein eine Frage ein, die er als Hausaufgabe nicht gestellt hatte, nämlich die Frage, wie die Schüler/innen ihre Antworten „gefunden“ haben, welches Verfahren sie nutzten, um Ergebnisse zu erzeugen.

Für Schüler/innen aus bildungsfernen Schichten wäre es aber wichtig, von Anfang an klar zu kommunizieren, dass hier auch Vorgehensweisen und Methodiken gefragt sind, und zu erklären, was das überhaupt ist: Vorgehensweise und Methodik. So werden die Schü-ler/innen schon einmal negativ überrascht, denken vermutlich, sie hätten die Hälfte der Hausübung vergessen, da der Lehrer immerhin gesagt hat: „Hier noch einmal die beiden Fragen“. Denn Schüler/innen aus bildungsfernen Schichten wollen die schulischen Regeln befolgen und stellen weder diese Regeln noch die Lehrerhandlungen in Frage (s. u.).

Anschließend fragt der Lehrer: „Wer kann uns sagen, wie diese Zahlen zueinander pas-sen? Was habt ihr gemacht?“ Wiederum im Nachhinein wird deutlich, dass es dem Lehrer darum geht, Zusammenhänge bzw. Muster zu erkennen („wie die Zahlen zueinander pas-sen“), also nicht bloß darum, die Fragezeichen-Felder auszufüllen sind. Was dies wiederum damit zu tun hat, was die Schüler/innen „gemacht“ haben, bleibt dunkel.

Max antwortet: „Jedes Mal eins dazu addiert, auf beiden Seiten [der Tabelle]. Denn Kevin, in einem Jahr ist er in Jahrgang sechs und Alice ist vier Jahre alt. Also im nächsten Jahr wird er in Jahrgang sieben sein und sie wird fünf Jahre alt sein. Also man addiert eins auf beiden Seiten.“ – Max erklärt den Zusammenhang der Zahlen an Hand des Alltags-

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kontextes, er macht verständlich, dass immer eins addiert werden muss, indem er darauf verweist, dass immer ein Jahr vergeht. Später erklärt Max noch, dass Kevins Jahrgangsstufe immer „zwei höher“ als Alices Alter ist – oder umgekehrt Alices Alter immer „zwei niedri-ger“, dass es also immer „eine Differenz von zwei zwischen den [beiden] Zahlen“ einer Tabellenreihe gibt.

Dies sind Übersetzungen des Alltagskontextes (Kevins Jahrgang, Alices Alter) in abs-trakte Prinzipien oder Verfahrensregeln (eins addieren – plus 1, zwei höher oder niedriger – Differenz 2). Wenn diese in der Schule geleistet werden, und wenn explizit geäußert wird, dass es darum geht (= das Lernziel darin besteht), diese Prinzipien zu begreifen (und nicht bloß darum, Tabellenfelder auszufüllen), dann können Schüler/innen aus der Unterschicht eher folgen. Wird diese Übersetzung und die klare Nennung des Lernziels aber unterlassen, werden Schüler/innen aus bildungsfernem Elternhaus benachteiligt, denn nur ihre Mittel-schichtkamerad/innen, die zu Hause weit eher abstrakte Prinzipien, Begründungen und Erklärungen hören oder selbst dazu aufgefordert werden, welche zu nennen, können auch einem Unterricht mit impliziten Lernzielen noch folgen.

Der Lehrer unterlässt es im fortlaufenden Unterricht, auf Max' Begründungen und Erklä-rungen einzugehen, er gibt auch keine Hinweise, dass das Lernziel abstrakte Rechenregeln sind. Stattdessen lässt er die Schüler/innen – nach den von Max erläuterten Prinzipien – weitere Felder ausfüllen, forciert konkrete Beispiele und Rechenoperationen, als wären diese das Lernziel, und nicht die abstrakte mathematische Begründung (Regel) der Rechentechnik. Aber dann plötzlich zieht er das Tempo an und führt gegen Schluss sogar die „klitzekleine Gleichung X-2=N“ ein; ein Lernstoff, der zu diesem Zeitpunkt (Beginn Sekundarstufe) noch gar nicht aktuell ist:

„Angenommen wir weisen jedem dieser Zahlen einen Buchstaben zu. Angenommen wir

sagen, dass jede dieser Zahlen X repräsentiert. Also, jedes Mal wenn wir eine Zahl einsetzen,

ersetzen wir X durch eine Zahl. Und wenn wir sagen ist gleich einer Zahl … kann jemand

anderes herausfinden, welche klitzekleine Gleichung wir hier aufstellen könnten? Damit wir

dies hier besser ausfüllen können? – Zwei subtrahieren ist gleich die Zahl.“ (Der Lehrer

schreibt X-2 = N an die Tafel.)

Vier verschiedene Faktoren wirken in diesem Beispiel zusammen, die dazu geeignet sind, Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern im Unterricht abzuhängen: (1) Der Lehrer formu-liert Aufgaben mehrdeutig und unvollständig, (2) er nennt das tatsächliche Lernziel nicht, vielmehr deutet er scheinbare Lernziele an, (3) er zeigt nicht, wie man Aufgaben vom Alltagskontext in einen mathematischen Kontext, hier: in abstrakte Rechenregeln über-setzt, also auf welchem Weg die Schüler/innen das tatsächliche Lernziel erreichen können. Die Schüler/innen werden nicht in einen Begründungsdiskurs oder in die Erzeugung des erzeugenden Prinzips (der Regel bzw. Formel) einbezogen. (4) Stattdessen überrascht er die Schüler/innen mit Veränderungen im Nachhinein und mit plötzlichem Tempowechsel. „Was in diesem Unterricht erwartet wird, ist nicht eindeutig und verändert sich.“ (Knipping 2012: 229)

Explizite Klärung oder Verschweigen von Verhaltenserwartungen (Regeln) In der Schule herrschen Erwartungen an regelhaftes, als normal geltendes Verhalten (= Regeln) in Bezug auf Sozial-, Arbeits- und Lernverhalten. Diese Regeln sind vielfach impli-zit, werden den Kindern also nicht ausdrücklich kommuniziert. Und auch diese Regeln sind eher an typischem Mittelschichtverhalten orientiert als an typischem Verhalten in dispri-vilegierten Milieus. Mittelschichtkinder beherrschen diese Regeln deshalb intuitiv, Arbeiter- oder Unterschichtkinder aber nicht – sie beherrschen ihre eigenen milieutypischen Regeln,

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aber diese sind in der Schule nicht gefragt. Ich gehe hier nur kurz auf das Sozial- und Arbeits- bzw. Lernverhalten ein.

Regeln des Sozial- und Arbeitsverhaltens im Unterricht

Nehmen wir als Beispiel die (fiktiven) Kinder Thomas und Markus, beide aus bildungs-fernem Elternhaus, seit kurzem an der Grundschule, und keineswegs mit der Absicht ange-treten, zu Störern zu werden – disprivilegierte Kinder wollen, im Gegenteil, gerne die schulischen Regeln befolgen. Aber wenn Thomas und Markus im Unterricht etwas wissen, dann rufen sie es laut in den Raum – und werden ignoriert oder ermahnt. Das verstehen sie nicht, denn zu Hause und bei den befreundeten Nachbarskindern ist es normal, sofort zu sagen, was man sagen will, und zwar am besten laut und deutlich, wenn man Gehör finden und nicht untergehen will. Sie lachen lautstark und gern, weil sie in ihrem sozialen Umfeld gelernt haben, dass man dadurch Anerkennung und Wohlwollen ausdrückt und die soziale Gemeinschaft stärkt – doch hier im Unterricht widerfährt ihnen Missbilligung.

Regeln des Lernverhaltens (Lernmethoden und -techniken)

Kinder aus disprivilegierten Milieus wissen nicht, wie man (im schulischen Sinne) lernt. Sie sehen Lernen nicht als einen Prozess, für den es Regeln, Methoden und Techniken gibt (Jünger 2011). Lernen, das heißt ihrer Auffassung nach vielmehr: Man strengt sich irgend-wie an und dann kann man's oder man kann es eben nicht. Wenn man diese Kinder nach dem Muster „mach einfach mal“ zum Bearbeiten von Aufgaben auffordert, dann wissen sie in der Regel nicht, wie sie es machen sollen. Aus diesem Grund benachteiligt auch offener Unterricht ohne klare Anleitung und methodische Begleitung disprivilegierte Kinder systematisch (vgl. Sertl 2014).

III. Lehrer/innen-Schüler/innen-Interaktionen und kumulative Beziehungseffekte

Ungleichheit wird auch in der direkten Interaktion reproduziert. In diesem Abschnitt sollen ein paar Hinweise gegeben werden, wie das konkret geschieht (vgl. dazu auch Gellert u.a. in diesem Heft). Interaktionen können nach folgenden Gesichtspunkten unterschieden werden:

• nach dem Grad, in dem die Kommunikation zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen dialogorientiert oder hierarchisch-distanziert ist;

• nach dem Zeitregime, also Konzentration auf das möglichst rasche Absolvieren des Stoffes vs. methodische Integration aller Schüler/innen;

• nach der Fokussierung des Unterrichts: mehr auf den Inhalt oder mehr auf die Disziplinierung der Schüler/innen.

Wie diese unterschiedlichen Fokussierungen der Lehreraufmerksamkeit differenzierend im Sinne einer Benachteiligung bestimmter Gruppen von Schüler/innen wirksam werden, zeigt das folgende Beispiel (nach Bourne 2012).

Kommunikation: dialogorientiert vs. hierarchisch-distanziert Lehrkräfte stellen im Unterricht aktiv und mit einigem Aufwand Differenzen zwischen Schüler/innen, die sie für intelligent halten, und solchen, die sie für weniger intelligent halten, her. Nach dem Muster des soziologischen Thomas-Theorems („If men define situa-tions as real, they become real in their consequences“)7 beziehungsweise der von Merton

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entdeckten self fulfilling prophecy stellen sie dabei die Unterschiede erst her, die sie zunächst nur erwarten. Die interaktiven Mittel dazu sind folgende.

In einer Gruppenarbeitsphase nimmt die Lehrerin Khalid bei Seite, aus der Gruppen-situation heraus, und spricht relativ lange allein mit ihm. Dabei sitzt sie auf einem Schüler- und Khalid auf dem Lehrerstuhl, sodass sich beide auf Augenhöhe befinden. Sie nimmt auf seine bisherigen Ausarbeitungen Bezug („Du hast das in drei Teilen beschrieben“). Seine sehr knappen Antworten akzeptiert und bestätigt sie häufig („Aha.“ – „Richtig.“ – „Das [was du gesagt hast] habe ich gemacht.“). Die Fragen der Lehrerin regen Khalid zur aktiven Beteiligung am Dialog an („Oder?“ – „Was meinst du?“) an, sowie dazu, Sachverhalte verbal ausführlicher darzustellen und zu interpretieren („Worüber ist dieses Stück? … Geht es um diese Muschel?“ – „Vielleicht findest du auch noch mehr Teile“). Die Lehrerin verwendet häufig „ich“, „du“ und das Statusbarrieren senkende „wir“, und zwar immer direkt auf die Aufgabenbearbeitung bezogen („Was ich von dir möchte, ist … dann gehen wir einen der Teile durch … hol die Muschel her, dann wissen wir, worum es geht“). Sie äußert häufig Vorschläge („Soll ich einen kleinen Ring darum machen und du kannst dann an ein besseres Wort denken?“).

Später spricht die Lehrerin mit Sertab in einer nahezu diametral entgegengesetzten Weise. Sie bleibt neben der in ihrer Gruppe sitzenden Schülerin stehen und wirkt leicht ungeduldig, als wolle sie gleich weitergehen; so sind die Interaktionen zwischen beiden auch viel kürzer als im Beispiel mit Khalid. Die Lehrerin kritisiert Sertabs bisherige Arbeiten und Kenntnisse („Also ich frage mich, was Sertab gerade macht … [zeigt auf das Geschrie-bene] Was wolltest du damit sagen? Du weißt es nicht!“). Die Fragen und direkten Anwei-sungen der Lehrerin verlangen reine Reproduktion; es gibt nur eine alternativlose Antwort („Du liest es mir vor.“ – [liest vor] „'Meine Muschel ist eine braune ...'“ – Sertab: „'Venus …'“). Die Lehrerin verwendet fast nur „ich“ und „du“, kein „wir“, was zusammen mit der knappen Anweisungssprache und dem Vermeiden von Augenkontakt distanzierend wirkt – distan-zierend sowohl von Sertab als auch von der Aufgabenbearbeitung –, zumal die Lehrerin während des Gesprächs die Schüler/innengruppen beobachtet, einmal stellt sie Sertab eine Frage („Sag mir, was du … sagen wolltest“), redet aber dann mit einem anderen Kind.

Mit diesen konkreten differenzierenden Verhaltensweisen, die auf ihren impliziten Erwartungen (Vorurteilen) an die unterschiedliche Leistungsfähigkeit und -bereitschaft von Kindern beruhen, wandeln Lehrkräfte im Unterricht ungleiche soziale Ausgangsbedingun-gen in ungleiche Lernerfolge und -chancen um. Dass sie so unterschiedlich mit Kindern interagieren, fällt den Lehrkräften in der Regel nicht auf; allenfalls verspüren sie es nur dunkel und wollen darüber gar nicht so gern mehr erfahren, weil es ihrem Anspruch, sich fair zu verhalten, widerspricht.

Konzentration der Lehrkraft auf den schnellen Erfolg (= auf freiwillig lernende Schüler/innen) versus methodische Integration aller Schüler/innen in den Unterricht

Eine typische Beobachtung8 ist, dass zahlreiche Lehrer/innen ihre Aufmerksamkeit und Energie im Unterricht auf drei Sorten von Schüler/innenverhalten konzentrieren: Auf willig-konformes, auf lautes und auf störendes Verhalten. So lange eine Unterrichtsstunde eini-germaßen nach Lehrer/inwunsch läuft, arbeitet die Lehrperson nur mit den (in der Regel wenigen) Schüler/innen, die dem Unterricht halbwegs aufmerksam folgen und sich betei-ligen. Sie nimmt dagegen keinen Bezug auf drei verschiedene Schüler/innengruppen: Die „Guten“, leistungsstarken, die sich im Unterricht langweilen und sich die Zeit deshalb mit unterrichtsfernen Beschäftigungen vertreiben, die „Schlechten“, die schon längst mit dem

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Stoff nicht mehr mitkommen und die deswegen ebenfalls tratschen, spielen, träumen etc., und die „Stillen“, die zwar nicht stören und sich auch nicht nebenbei beschäftigen, die sich aber einfach gar nicht regen. Dabei reagieren die Lehrpersonen regelmäßig vorwiegend auf die Schüler/innen, die am schnellsten aufzeigen oder sich am lautesten äußern ohne aufzuzeigen (was übrigens die „Guten“ ebenso praktizieren wie die „Schlechten“ und die „Konformen“) – und übersehen dabei ebenso regelmäßig Schüler/innen, die einfach nur aufzeigen – die Stillen.

Fokussierung der Lehrer/innentätigkeit auf die Erarbeitung des Inhalts oder auf Disziplinierung des Schüler/innenverhaltens

Während die Lehrer/innen dann auf Äußerungen der „guten“ Schüler/innen inhaltlich ein-gehen, werden die „Schlechten“ in erster Linie diszipliniert. Auf den Inhalt der Äußerungen schlechter Schüler/innen gehen die Lehrkräfte selektiv und tendenziell oberflächlich ein, während sie den „guten“, konformen Schüler/innen Undiszipliniertheiten häufig unkom-mentiert durchgehen lassen. Diese Ungleichbehandlung tritt noch viel deutlicher zwischen verschiedenen Schultypen zu Tage. In Hauptschulen stehen Schüler/innen vor Beginn des morgendlichen Unterrichts häufig vor verschlossenen Türen, erst die Lehrkraft schließt die Tür auf, während Gymnasiast/innen nach und nach ins offene Klassenzimmer eingetrudelt kommen.9

Noch deutlicher wird dieser Unterschied, wenn man die allerersten Stunden, sozusagen die Eröffnungsstunden für die Neuankömmlinge in Hauptschule und Gymnasium ver-gleicht. So berichtet Gellert10 über die allererste Mathematikstunde in einer Berliner Haupt-schule, in der sehr viel vom Umgang mit Handys, genauer vom Verbot des Handys und von weiteren Regeln, an die sich Schüler ab jetzt zu halten hätten, die Rede war, aber praktisch überhaupt nicht von Mathematik. Ganz anders im Gymnasium. Hier wird schon die erste Unterrichtsstunde für Mathematik genutzt, im konkreten Fall sogar spielerisch.

Und so geht es weiter: In der Hauptschule konzentrieren sich die Lehrkräfte Stunde für Stunde stärker auf die Disziplinierung des Schüler/innenverhaltens, und geben es tenden-ziell nach und nach auf, inhaltliche Anforderungen zu stellen und Lernunterstützung zu geben. Das bedeutet, dass die Hauptschüler/innen (oder die „schlechten“ Schüler/innen in einer Klasse) kaum noch Gelegenheiten zum inhaltlichen Lernen bekommen. Damit reißt die Lernchancen- und Lernertrag-Lücke zu den inhaltlich arbeitenden „guten“ Schüler/innen oder Gymnasiast/innen mit jeder Unterrichtsstunde weiter auf.

Respektlose und diskriminierende Ansprache Für Schüler/innen ist es von zentraler Bedeutung, respektvoll behandelt zu werden. Sie verstehen darunter, dass sie (a) überhaupt angehört werden, (b) dass Lehrkräfte angemes-sen auf ihre individuellen Eigenschaften eingehen und in dieser Weise alle Schüler/innen gleich behandeln. Dieser Respekt aber kann in Schulen verloren gehen – und zwar gerade dort, wo die Lehrer/innen der Auffassung sind, dass die Schüler/innen mit ihnen respektlos umgehen. Dies ist nun tendenziell wiederum in Schultypen der Fall, in denen sich die Schüler/innen aus disprivilegierten Schichten sammeln. So beobachteten Hofstätter und Farthofer (in einer Diplomarbeit, die Formen der institutionellen Diskriminierung am Bei-spiel eines Vergleichs von Neuer Mittelschule und Hauptschule untersucht), dass die Lehr-kräfte einer Hauptschule die Schüler/innen seltener begrüßen, seltener „bitte“ oder „danke“ sagen, sich für offensichtliche Fehler nicht entschuldigen, Schüler/innen häufiger in Lernprozessen unterbrechen und sich vor den Schüler/innen darüber beklagen, mit dem Stoff bei Weitem nicht durchgekommen zu sein.

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Dort fallen dann auch direkte respektlose bzw. diskriminierende Äußerungen, etwa ruft eine Lehrerin in die Klasse, dass bei „euch wirklich nix hängen bleibt“, ein Handelsschul-lehrer meint: „Das braucht ihr nicht können, das ist zu hoch für euch“.

Die Schüler/innen haben diese Einschätzung ihrer Unfähigkeit übernommen, hadern aber noch damit, wie man am Anschlussdialog zweier Handelsschüler/innen nach der obigen Lehreräußerung erkennen kann: „Warum, sind wir vielleicht zu deppert dafür?“ – „Ja sicher du Depperte, wir sind ja in der HaSch. Dort sind ja nur Depperte“.11 Und auch an der Hauptschule äußern die Schüler/innen: „[D]as was zu hochgestochen ist … das verstehen wir hier nicht.“ (Hofstätter/ Farthofer 2013: 69)

Mit diesem respektlosen Umgang und diesen häufigen negativen Bewertungen (und Prognosen: „Die wissen ja nicht, dass am Poly[technikum] … das Gesindel noch schlimmer ist“) wird das negative Selbstbild der ohnehin schon benachteiligten Jugendlichen bestärkt.

Schulische Bezugspersonen versus Lehrer/innen als Wesen aus einer fremden Welt

Im schlimmsten Fall entsteht ein Teufelskreis wechselseitiger Respekt-, Sprach- und Bezie-hungslosigkeit zwischen Lehrkräften und Schüler/innen. Es gibt Hinweise, dass ein sehr einflussreicher Faktor für Schulabbrüche (die dann oft auch Ausbildungsabbrüche nach sich ziehen), belastende, durch Gefängnis oder schwere dauerhafte Erkrankung stark ein-geschränkte, zerstörte oder abgebrochene Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern sind (Selenko/Pils 2014). Unter diesem Aspekt wirkt es mehr als bedenklich, welches Bild sechs jugendliche Schulabbrecher/innen kürzlich im Rahmen einer Diplomarbeits-studie von Lehrer/innen geschildert haben (zum Folgenden Mühlgrabner 2013). Die Jugendlichen empfinden die Lehrer/innen nicht als menschlich, sondern eher als Wesen aus einer fremden Welt, deren Verhaltens- und Denkweisen sie nicht verstehen, und mit denen sie nicht ernsthaft sprechen können. Sprich, die Jugendlichen, deren häusliche Beziehungen schon zu Bruch gegangen sind, haben auch zu ihren Lehrer/innen keine (ver-trauensvollen) Beziehungen; umso fester klammern sie sich an ihre peer-Freund/innen, die sie in der Regel darin bestätigen, dass Schule „Mist“ sei.

Damit endet dieser kurze Überblick, der in konzentrierter Form auf Faktoren aufmerk-sam machen sollte, durch die in Unterricht und Schulalltag ungewollt soziale Ungleichheit (re-)produziert wird.

ANMERKUNGEN

1 Schulische Faktoren sind zwar gewichtig, aber keineswegs die einzigen. Im Gegenteil, vieles spricht dafür, dass Schule, trotz allem, einen mildernden Einfluss auf Bildungsungleichheit ausübt. Weitere Faktoren, auf die ich hier nicht eingehe, sind die institutionelle Diskriminierung, gesetzliche und politische Exklusions- und Diskriminie-rungsmechanismen, die Verteilungsstrukturen ökonomischen und kulturellen Kapitals, sprachliche und interkul-turelle Differenzen, die Rolle der Eltern und ihrer Werthaltungen und Entscheidungshandlungen sowie die Rolle der Schüler/innen. – Der Beitrag will aufzeigen, an welchen Bedingungen Lehrer/innen am ehesten arbeiten können, wenn sie Ungleichheitsreproduktion in ihrer täglichen Praxis mildern wollen. Dass gleichzeitig vor allem wirtschaftliche und politische „Eliten“ ihre Konkurrenzorientierung, ihren meritokratischen Glauben und ihre Ungleichheit erzeugenden und propagierenden Praktiken abbauen müssten, bleibt unbenommen. Klar gesagt werden muss: Wer den Schüler/innen, dem schwächsten Glied im Bildungssystemgefüge, die Hauptverantwor-tung für deren Bildungserfolg zuschiebt, handelt unprofessionell, unsachlich und inhuman.

2 Lösungsansätze bringe ich hier nicht an. Zum einen glaube ich, dass die Praxis diese Lösungsansätze selbst entwickeln muss, zum anderen hat Rahel Jünger (2011) sehr treffende Vorschläge gemacht.

3 Teilweise aus dem sehr alten, aber nach wie vor aktuellen und theoretisch relevanten Beiträgen aus Zinneckers 1975er (!) Sammelband zum heimlichen Lehrplan. Der dort vorgestellte Forschungsstil ist – nicht zufällig – praktisch ausgestorben.

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4 Aus didaktischen Gründen kennt dieser Text fortan in extremer Vereinfachung nur eine privilegierte Mittel-schicht gebildeter Eltern und eine disprivilegierte Arbeiter- und Unterschicht bildungsferner Eltern.

5 Unveröffentlichte eigene Beobachtungen aus einem explorativen Lehrforschungsprojekt an der JKU Linz (2012) über Erscheinungsformen von Ungleichheit im Unterricht.

6 Ich kann hier leider nicht auf die wichtige Rolle eingehen, die das gemeinsame Verhandeln, Verändern und Vereinbaren von Verhaltensregeln hat, da Schüler/innen nur die Regeln selbst mit durchsetzen, deren Sinn und Nutzen sie auch einsehen. Selbst wenn in Schulen Regeln explizit gemacht werden, werden sie doch in aller Regel zu sehr einseitig diktiert.

7 beziehungsweise des Pygmalion-Effekts (R. Rosenthal)

8 Im oben schon erwähnten Lehrforschungsprojekt.

9 Empirisches Beispiel aus einem Vortrag von Jürgen Budde, Wien 2013. (Vgl. Budde/Rißler in diesem Heft.)

10 Videografierte Beispiele vorgeführt von Uwe Gellert in Wien, Mai 2013.

11 Wiederum aus dem Lehrforschungsprojekt, Protokoll Nr. 27.1

LITERATUR

Becker, H. S. 1975: Lehrer in der Klassenschule. In: Zinnecker, J. (Hg.) 1975: Der heimliche Lehrplan. Weinheim und Basel: Beltz, S. 123-138.

Bourne, J. 2012: Vertikaler Diskurs. Die Rolle des Lehrers bei der Übermittlung und Aneignung dekontextualisierter Sprache. In: Gellert, U./ Sertl, M. (Hg.): Zur Soziologie des Unterrichts. Weinheim: Beltz Juventa, S. 191-220.

Dravenau, D./Groh-Samberg, O. 2005: Bildungsbenachteiligung als Institutioneneffekt. In: Berger, P. A./Kahlert, H. (Hg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert, München: Juventa, S. 103-129.

Farthofer, B./ Hofstetter, M. 2013: Erscheinungsformen institutioneller Diskriminierung im Rahmen schulischer Top Down-Reformen und ihre Auswirkungen auf die soziale Identität der SchülerInnen. Unveröff. Diplomarbeit, Linz.

Gellert, U. 2012: Pedagogic Device. Ein Instrument für die Analyse impliziter Prinzipien mathematischer Unterrichtspraxis. In: Gellert, U./ Sertl, M. (Hg.): Zur Soziologie des Unterrichts. Weinheim: Beltz Juventa, S. 165-190.

Henry, J. 1975: Lernziel Entfremdung. Analyse von Unterrichtszielen in der Grundschule. In: Zinnecker, J. (Hg.) 1975: Der heimliche Lehrplan. Weinheim und Basel: Beltz, S. 35-51.

Hoadley, U. 2012: Vermittlungsstrategien und soziale Reproduktion. Ein Analysemodell. In: Gellert, U./ Sertl, M. (Hg.): Zur Soziologie des Unterrichts. Weinheim: Beltz Juventa, S. 241-264.

Hollingshead, A. B. 1975: Szenen aus einer Klassenschule. In: Zinnecker, J. (Hg.) 1975: Der heimliche Lehrplan. Weinheim und Basel: Beltz, S. 139-165.

Jünger, R. 2011: Der schulbezogene Habitus von privilegierten und nichtprivilegierten Kindern im Ver-gleich – und einige Folgerungen für die Praxis. In: Schulheft, 36. Jg., H. 142, S. 88-102.

Knipping, C. 2012: 'Find The Rule'. Zur Entstehung von Leistungsdisparitäten zu Schuljahresbeginn. In: Gellert, U./ Sertl, M. (Hg.): Zur Soziologie des Unterrichts. Weinheim: Beltz Juventa, S. 223-240.

Mühlgrabner, M. 2013: Welche Faktoren beeinflussen die Bildungskarrieren von Unterschichtsjugend-lichen und machen Schul- und Ausbildungsabbrüche wahrscheinlich? Unveröff. Diplomarbeit, Linz.

Selenko, E./ Pils, K. 2014: What Keeps Young People Out of Unemployment? Ms., Sheffield.

Seligman, M. E. P. 1979: Erlernte Hilflosigkeit. München u.a.: Urban und Schwarzenberg.

Sertl, M. 2014: Was trägt die Unterrichtsgestaltung zur Reproduktion von Sozialer Ungleichheit bei? In: Erziehung und Unterricht 1-2/2014, S. 72-81.

ZUM AUTOR

Assist.Prof. Dr. Roman LANGER, Institut für Pädagogik und Psychologie der Johannes Kepler-Universität Linz, Forschungsgebiet sozialwissenschaftliche Bildungsforschung mit den Schwer-punkten Educational Governance, Bildungssystem und Gesellschaft, Bildungsreformen, Bildungs-ungleichheit, kollektive Lern- und Strukturierungsprozesse, soziale Mechanismen, Theoriebildung.